Askeria: Hüter des Seelenfeuers - Juliet May - E-Book
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Juliet May

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Beschreibung

„Kannst du dich daran erinnern, wie alles seinen Anfang nahm? Ich habe dich vergessen lassen, nur für einen Augenblick. Doch es hat gereicht, um dir die schöne Seite des Lebens zu zeigen. Was dich erwartet hätte, wärst du das andere Kind gewesen.“ Nach Soutas Geständnis ist für Piara nichts mehr wie zuvor. Entschlossen, das Schicksal zu wenden, unterstützt sie ihn und seine Freundin Lia bei einem waghalsigen Plan; ein Funken Hoffnung, der den beiden Geschwistern nach ihren Differenzen wieder ein gemeinsames Ziel vor Augen führt: Das Seelenfeuer, welches Menschen und Ceri gleichermaßen innewohnt, gewährt zwei Vertrauten die Chance, sich auf ewig zu binden. Körper und Geist legen ihre Barrieren voreinander nieder und schnüren ein Band, das selbst den Tod überwindet. Den immensen Preis, den dieser Segen fordert, nimmt Souta bereitwillig in Kauf. Rigoras sieht sich gefangen in einem Konflikt, der weit über das Schicksal Fayons hinausgeht. Als er sich der Vergangenheit stellt und seine Schwester nach über zehn Jahren erstmals wieder aufsucht, nagen schwere Zweifel an ihm. Und auch Lycenar wartet nicht länger in den Schatten darauf, dass das Blatt sich zu seinen Gunsten wendet. Stattdessen stößt er Piara in die offenen Arme der blutigen Sünde, die sie ihr ganzes Leben lang erwartet hat. Auf welch ungleichen Kampf sie und Souta sich eingelassen haben, zeigt sich ihnen jedoch erst, als sie ihrem Bruder wieder gegenüberstehen.

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Inhaltsverzeichnis

Der Kontinent Malluma

Der Kontinent Mitaeria

Flüstern

Blindes Vertrauen

Seelenfeuer

Das Monster, das ich rief

Epilog

Playlist

Juliet May

Hüter des Seelenfeuers

Askeria – Band 2

Fantasy-Roman © 2020 Juliet May

Juliet May

Rogue Books I.Service

Inh. Carolin Veiland

Franz-Mehring-Str. 70

08058 Zwickau

[email protected]

https://julietmay.at

Social Media: @prinnycup

Für meine Leser*innen

weil das Schreiben dank euch so viel schöner ist

Dieses Buch enthält Trigger-Hinweise unter:

https://julietmay.at/triggerwarnungen

»Die Zeit driftet hinfort,

grundlos und ungestüm.

Sag auch kein Wort,

mit dem ich mich rühm,

längst an eurer Seite zu stehen.

Die einzige Chance,

die Xist noch erhält,

im Sande der Uhr nun fällt.

D’rum sieh nicht mehr weg,

sieh niemals weg,

richte dich himmelwärts,

schicke ein Gebet,

um richtigzustellen,

gottgegeben doch längst verweht,

nennen sie uns Rebellen.

Sagen es sei nicht Ziel,

in niemandes Gunst,

dem Feind in die Hände zu spielen.

Bete und sei stark,

du weißt es kommt der Tag,

an dem wir geeint aus diesem Chaos gehen.

In geeinter Freiheit,

sobald die Sonne für alle scheint.«

Der Kontinent Malluma

Im Gegensatz zu Mitaeria gliedert sich Malluma nicht in Provinzen, sondern besteht aus zwölf autonomen Ländern:

1. Aspana

2. Prau-Flela

3. Chioze

4. Driola

5. Ot'rana

6. O'bren

7. Espring

8. Oclya'n

9. Aluria

10. Ecros

11. My

12. Ye

Eine detailliertere Ansicht gibt es hier:

Der Kontinent Mitaeria

Der Kontinent gliedert sich in acht Provinzen:

1. Acea Liore mit der Hauptstadt Ilyria: Sitz des Ordens von Corasil.

2. Vrin: Spezialisiert auf Azeth-Magie, liegt jenseits enger Gebirgsketten.

3. Iporaz: Sitz der Geisteswissenschaften. Regenreich und städtisch.

4. Sithrieta: Flüsse, tiefe Gewässer und weite Ebenen, eher ländlich.

5. Fayon: Dicht bewaldete und naturbelassene Region im Süden.

6. Saetam: Vielseitige Wüsten- und Steppenlandschaft im Süd-Westen.

7. Jedroya: Kalte Bergregion im Norden. Bekannt für seine Bodenschätze.

8. Mim’Atoll: Inselgruppe mit warmem Klima und vielfältiger Kultur.

Eine detailliertere Ansicht gibt es hier:

Flüstern

»Normalerweise kümmert uns gar nicht, was andere über uns zu sagen haben; zumindest so lange, bis sie hinter vorgehaltener Hand zu flüstern beginnen. Leise gehauchte Worte haben etwas Bedrohliches an sich, umgeben von einem Schleier der Heimlichkeit. Erscheint es da nicht geradezu paradox, wenn ein Flüstern bloß darauf wartet, gehört zu werden? Gar krampfhaft versucht, aus den steinernen Wänden, die um es herum errichtet wurden, auszubrechen?

Seine Kunde, so sagt man, ist bösen Ursprungs – führt andere in Versuchung.

Seine Kunde, so hört man sie selbst sprechen, erzählt von den Lügen derer,

die sie zum Schweigen bringen wollen.«

1

Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung?

Deutlich zeichnete sich der Wald vor seinen Augen ab. Die hohen Wipfel der Bäume, von denen kaum ein Mensch wusste, wie weit sie in den Himmel ragten. Fröhliches Lachen ertönte von allen Seiten – unbefangen, kindlicher Natur. Er sog die klare Luft tief in seine Lungen und verharrte im Moment. Das Zwitschern der Vögel, der kühle Wind. Es war so schön hier draußen. Friedlich, er hatte nicht das Geringste zu befürchten.

»Rigo, Rigo!« Die Stimme eines Mädchens, schrill und laut. Kleine Hände packten ihn an den Schultern, jemand sprang auf seinen Rücken. Er sah sie vor sich, mit ihren Augen: leuchtend wie Quarzkristalle schimmerten sie in sanftem Grau-Violett.

»Rigo, spiel mit mir!«

Der Boden knisterte, unzählige Blätter wehten bereits durch Myrefall. Ein Farbenspiel gelblicher Brauntöne, einzelne strahlend orange. Wie das Haar, das dem Mädchen bis zur Hüfte reichte. In langen Wellen fiel es ihren Rücken hinab, erinnerte Rigoras an seine Mutter.

»Später«, hörte er sich selbst sagen. Er war nichts weiter als ein stiller Beobachter seiner eigenen Erinnerung; der Erinnerung vom Anfang. »Du musst hier warten, hörst du? Wir gehen alleine.«

»Aber …« Seine kleine Schwester senkte den Blick, kämpfte mit den Tränen. »Aber ich will mitspielen. Immer geht ihr alleine!«

»Wir spielen nicht, Aerin. Wir gehen auf eine Mission!« Rigos Stimme strotzte nur so vor Stolz, als er nach dem schweren Bogen griff und seiner Schwester behutsam übers Haar fuhr. »Und wenn ich zurück bin, spielen wir. Dann habe ich viel Zeit.«

»Aber du musst doch immer lernen«, protestierte sie. »Dabei ist das so unfair.«

»Das ist ja der Plan!« Eine weitere Stimme erklang, es dauerte einen Moment, bis er sie zuordnen konnte: Es war Souta. »Rigo will seinem Vater beweisen, dass er ein großer Krieger ist. Damit er nicht mehr lernen und Anführer werden muss«, sagte er und nickte euphorisch.

Wie alt sie wohl waren? In Wahrheit erinnerte er sich genau. Es war im zwölften Monat des Jahres 46’13, kurz vor Rigoras’ sechstem Geburtstag.

In einem nebeligen Schleier zogen die nächsten Szenen an ihm vorbei. Doch es war nicht notwendig, sie im Detail zu sehen, die Erinnerungen quälten ihn seit Jahren mit all ihren Einzelheiten. Der kurze Abschied fiel Aerin schwer, sie wollte Rigoras nicht ziehen lassen. Sein Vater hatte es doch verboten, niemand durfte in den östlichen Teil des Waldes gehen. Sie erinnerte ihren Bruder an das Monster, das dort hauste, bat ihn, vernünftig zu sein. Natürlich erzählte man das nur den Kindern Myrefalls – Rigoras hatte bereits mitbekommen, dass die Erwachsenen sich nicht über ein Monster unterhielten, wenn es um die östlichen Wälder ging. Es gab einen anderen Grund für die Absperrung; dunkler, mystischer. Ihm gefiel, was er gehört hatte. Und wenn er ganz alleine dafür sorgte, dass der Wald wieder für alle sicher war, würde sein Vater die Zügel endlich lockern.

Der Kopf des Jungen dröhnte von all den Buchstaben und Zahlen, die er täglich auswendig lernen musste. Mit vier Jahren hatte er damals seine Grundausbildung begonnen, lange vor seiner Zeit: weil er als einziger Sohn des Clanführers früh vorbereitet werden sollte. Doch nun war Marcie nicht hier und er konnte seiner wahren Bestimmung nachgehen. Ihm würde nichts passieren, davon war Rigoras überzeugt. Und wenn er schon Rad nicht mitnehmen konnte, da dieser ja doch in den Diensten seines Vaters stand, würde Souta bestimmt auf ihn aufpassen.

Die beiden schlichen im Süden eine Böschung hinab und gelangten in einen Hohlweg. Er kannte die Wälder um Myrefall in- und auswendig. In diesem Abschnitt waren keine Wachleute positioniert, da der Weg in den östlichen Wald ein wenig holprig war. Auch das würde seinem Vater sicherlich imponieren. Beim Hinabsteigen des Hangs verfing Rigos Bein sich in einem Strauch, kopfüber plumpste er auf den weichen Waldboden. Ein wenig Blut an seinem Kinn, nichts weiter. Er war hart im Nehmen, Verletzungen gehörten dazu. Souta half Rigo hoch und gab ihm seinen Köcher wieder, dessen gesamter Inhalt im Dickicht verstreut lag. Viel zu groß hing der Behälter an seiner Schulter, reichte dem Jungen dabei bis zu den Knien. Genauso wie der Bogen, den er aus dem Büro seines Vaters mitgenommen hatte. In Gedanken malte er sich bereits aus, wie er den Geist eines uralten Baumes zur Strecke brachte, der darin hauste und ringsum sein Unwesen trieb. Rigoras war überzeugt, dass er mit einer ordentlichen Waffe größere Chancen auf den Sieg hatte; wogegen auch immer er hier kämpfen würde. Sein eigener Bogen war schließlich nur zum Üben gedacht.

»Willst du wirklich noch weitergehen?« Unsicher blickte Souta zu ihm hinüber. Dass sie sich unerlaubterweise in den Wald geschlichen hatten, bereitete ihm sichtlich Unbehagen. An seinem Gürtel trug er einen Dolch mit breitem Griff, doch wirklich umgehen konnte Souta damit noch nicht, wie er immer sagte.

»Absolut sicher«, entgegnete Rigoras. »Wir kennen uns hier doch aus. Und wenn ich nicht mehr ständig lernen muss, kann ich endlich zu euch nach Clay.« Stolz reckte er das Kinn nach vorne und grinste seinen Freund an. »Euch beschützen, weil ich dann ja ein Krieger bin.« Er wollte nicht, dass ihnen nochmal so viel Schlimmes widerfuhr.

Zögerlich nickte Souta. »Ja.« Die beiden setzten sich wieder in Bewegung, Rigos Worte ließen ihn sanft lächeln. »Du hast ja recht.«

Der Nebel wurde mit jedem Schritt dichter, ab da erlebte Rigoras alles wie im Zeitraffer. Sobald die Stimme in seinen Kopf drang, hielt sie ihn gefangen. Er meinte, dass sie aus dem Inneren eines Baumes käme – dabei wusste er ganz genau, dass es keine sprechenden Pflanzen gab. Auch, wenn man das kleinen Kindern manchmal erzählte, hatte er das längst durchschaut. Er war für sein Alter eben sehr weit, gab sich von all den Märchen über dunkle Geister in den Wäldern unbeeindruckt, sie ängstigten ihn nicht. Und falls er ihnen doch begegnete, war er gewappnet.

Zweige raschelten, hastige Schritte liefen durch den Matsch. Jemand keuchte, hechtete zu ihm.

»Rigo, warte!«

Ihre Quarz-Augen wurden glasig, weinten schließlich, als er sie grob an den Schultern packte. Aerin sollte doch nicht mitkommen, er konnte unmöglich auf seine kleine Schwester aufpassen und gleichzeitig seine Aufgabe erledigen. Was auch immer hier hauste, sie durfte sich nicht in Gefahr begeben.

»Du musst wirklich zurückgehen. Hör auf Rigo.« Souta beugte sich zu Aerin und wischte ihre Tränen mit seinem Hemdärmel fort. »Findest du allein zurück?«

Trotzig blickte sie sich um. Da vernahm Rigoras es deutlicher: Der Nebel zog sich zusammen, glitt schwer zu Boden und füllte die Lücken zwischen den Bäumen zunehmend mit schwarzem Dampf. Mittlerweile war es so kalt geworden, dass sein Atem Wölkchen bildete.

»Ich weiß nicht«, hörte er ihre Stimme. »Der Weg ist fort. Keine Ahnung, woher ich gekommen bin.«

Der Weg.

Ruckartig wandte Rigoras sich um. Seine Hand umschloss den schweren Bogen seines Vaters. Jetzt musste er den Geist nur noch finden und ihn zur Strecke bringen.

Aber ist es auch wirklich dein Weg?

Souta packte ihn am Arm. Rigo spürte, wie sein Griff fester wurde. »Lass uns gehen. Es ist richtig dunkel hier.« Er zerrte an Rigoras, seine grünen Augen stachen in all der Finsternis deutlich hervor, waren schreckgeweitet. »Und unheimlich. So düster war es hier noch nie. Vielleicht ist wirklich …«

»So ein Unsinn!«, sagte Rigoras schnippisch. Er war viel zu aufgekratzt und entschlossen, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Und alleine bei dem Gedanken daran, wieder lesen zu lernen, zog sich ihm der Magen zusammen. Marcie war so fies, wenn er Fehler machte. Nein, er wollte nicht zurück. »Das erzählen sie uns doch nur, damit wir brav zuhause bleiben. Wenn du zu feige bist, bring Aerin für mich nach Hause!«

Genau, soll er doch gehen.

Rigo erschauderte; er bildete sich das alles nur ein. Hier war nichts, vor dem er sich zu fürchten brauchte.

»Ich lass dich nicht allein.« Die Anspannung in Soutas Stimme war deutlich spürbar. Doch Rigoras war bereits meilenweit entfernt von den beiden, als er abermals jemanden zu sich sprechen hörte. Wie Glas, das zu Boden fiel und in tausend Teile zersplitterte, kratzte die Stimme sich bis ins Innerste seines Bewusstseins.

Du bist auf dem richtigen Weg.

Seine Beine führten ihn wie von selbst ins Unterholz, das nur noch einer schwarzen Wand glich. Sie drohte alles zu verschlucken, die Nebelschwaden waberten bedrohlich.

»Wer bist du?«, fragte er. Seine Stimme bebte vor Angst, doch vielleicht konnte er etwas herausfinden. Etwas, das seinen Vater überzeugte. Er wollte nicht mehr lernen, alles fiel ihm so schwer.

Du willst viel lieber draußen spielen nicht wahr?

Erschrocken wich er zurück, wandte seinen Kopf suchend um.

»Rigo, jetzt lass uns endlich gehen!«

Doch er ignorierte Soutas Stimme, die ihn davor warnte, weiter auf die Schatten zuzuschreiten, die der Nebel in Wahrheit verbarg.

Das hier ist dein Weg. Nicht der deines Vaters.

Er tat einen weiteren Schritt. Wenn jemand Fremdes derselben Meinung war, musste es doch wahr sein. Geister sahen schließlich alles. Rigoras senkte den angespannten Pfeil, hielt seine Arme und den Bogen lockerer.

»Wo bist du?«, fragte er. Hinter sich vernahm er die Stimme seiner Schwester, die sich seltsam fern anfühlte. Sie und Souta mussten nach ihm suchen. Angestrengt sah er sich um, doch nichts als ein dunkler Schleier hing in der Luft, der alle Bäume und Sträucher bedeckte. Die feinen Nadeln und Blätter waren kaum mehr erkennbar und verschwanden allmählich vor seinen Augen. Da packte Rigoras etwas am Arm, zog ihn gewaltsam fort. Fingernägel, scharf wie Klauen, bohrten sich ins Fleisch, durchschnitten selbst den Stoff seiner Jacke und drückten sich fest in seinen Bauch. Er sah etwas aufblitzen, vernahm Umrisse einer Gestalt, doch das Bild schien seltsam unwirklich. Die spitzen Krallen quollen über vor Blut, Rigoras taumelte rückwärts.

Er schrie, umfasste die fremde Hand mit beiden Armen und drückte sie mit aller Kraft fort. Seine Rufe blieben ungehört, von Souta und Aerin fehlte jede Spur. Die Schmerzen vernebelten seine Sinne, ließen ihn nur noch bunte Farben sehen. Sie tropften zu Boden, als sich ein breiter Abgrund unter Rigoras’ Beinen auftat. Und dann fiel er unaufhörlich durch einen Himmel greller Schatten, die in farbigen Kreisen um ihn herum tanzten. Die Bäume des Waldes versanken mit ihm, als ob sie ihn beschützen wollten. Nur die Stimme überlebte die Welle der Zerstörung, die über ihm hereingebrochen war, als ihr einstiges Flüstern sich in ein schrilles Krächzen verwandelte:

Ich zeige dir den Weg, nach dem du suchst. Und wenn du ihm folgst, führt er dich geradewegs zu mir. Ins Land zwischen gestern und morgen.

2

Manchmal spielt einem der Verstand Streiche. Aus den Untiefen des Gedächtnisses blitzen längst vergessene Gesichter auf. Stimmen, die Namen rufen, Hoffnung schüren. Ringt man mit dem Tod, werden sie deutlicher und zeigen sich in Fieberträumen. Die Urängste der Menschen drängen an die Oberfläche, während der Körper ums Überleben kämpft.

Souta schlug die Augen auf und begegnete dem Blick eines Fremden. Jemand stand neben ihm, großgewachsen und dunkel in seiner Erscheinung. Mit langen, spitzen Fingernägeln kratzte die Gestalt am Bettrahmen; das Geräusch fuhr ihm durch Mark und Bein. Augen, schwebend wie knallrote Luftballons, funkelten ihn bedrohlich an. Doch er war zu müde, um sich zu fürchten, viel mehr verharrte er in einer Woge der Gleichgültigkeit. Wie ein stiller Beobachter. Allerdings begann diese Fassade allmählich zu zerbröckeln.

Vahel. Eine Erinnerung zwängte sich in den Traum, verschaffte sich Aufmerksamkeit durch ihr brüskes Erscheinen in Form eisigen Regens. Er musste in Vahel sein, bestimmt währte der Kampf immer noch.

»Wie hoch ist es?«

Souta hob den Kopf, erblickte nichts als Schutt und Geländer, das wirr durch die Gegend geschleudert wurde. Und diesen riesigen Baum mit weit ausladenden Ästen. Wie hoch er war? Zu hoch, viel zu hoch. Bis in den bunten Himmel ragte seine Krone empor, die durch Zahnräder getrieben geradewegs ins Unendliche wuchs. Als hätte man ein Loch ins Firmament gerissen, verbarg sich diese gespenstische Mechanik dahinter; wie ein Stück alte Tapete, das von der Wand geschält wurde.

Etwas wurde ihm auf die Stirn gedrückt, kalt und metallen. Souta verlor das Gleichgewicht, sah ein dünnes Netz aus Eis von seinem Kopf baumeln. Der Regen hatte ihn getroffen, panisch stieß er die Hand gegen seine Stirn.

»41,2°C.«

Unsinn, jeder wusste doch, dass sich Frost erst im Minusbereich bildete.

Ein Rauschen, dumpf und weit entfernt, erklang in seinen Ohren. Etwas packte Souta am Arm. Wie war die Person nur zu ihm in diese Ruinen gekommen? Und war er nicht längst wieder in Trissae? Er versuchte, sich zu orientieren, nur um zu merken, wie entsetzlich kalt ihm war. Das Kratzen am Bett kehrte zurück. Eine Erinnerung blitzte in ihm auf, nur für den Hauch eines Wimpernschlags. Nein, er konnte nicht mehr in Vahel sein.

»Ich hab dir frischen Tee gemacht«, sprach die Stimme. Etwas berührte Souta erneut an der Stirn, sofort durchfuhr ihn wieder dieser eisige Schauer.

»Sein Kopf ist immer noch furchtbar heiß.«

Richtig, er war verletzt und hatte Fieber. Die Gestalt war sicher nur ein Traum, ein weiteres Produkt seines überhitzten Stoffwechsels. Eine böse Erscheinung. Dabei klang ihre Stimme so vertraut. Er blinzelte, doch es kostete ihn zu viel Kraft, die Augen offen zu halten. Und so schloss er sie wieder, um in seinen Fieberträumen zu versinken. Souta wollte in den dichten Nebel des Vergessens eintauchen, in den sein Schlaf ihn führte.

Etwas schlug dumpf zu Boden, Metall klirrte, dazwischen vernahm er Worte in einer fremden Sprache. Kraftlos setzte er sich gegen die Bilder zur Wehr, die ihn zurück ins Fiebermeer zogen.

»Er braucht nur Ruhe, sein Körper kämpft gegen das fremde Blut an.«

Blut. Es quoll aus jeder Ecke, ergoss sich über ihn. Dunkelrot und klebrig.

»Dein Bruder wird sich erholen.«

Er fiel durch dunkle Wolken und dichte Nebelschwaden. Sie waren kalt, überzogen seine Haut mit einer Schicht aus feinen Wassertropfen.

»Und wir können nichts tun, damit es ihm besser geht?«

Piara. Er hatte sie gefunden, konnte weit entfernt ihre Stimme hören. Sie war in Sicherheit. Doch wo war er?

Der Himmel, strahlend hell und weiß. Die Wolken kamen auf ihn zu, wurden immer kleiner, je näher sie drangen. Wie Regentropfen drangen Buchstaben aus ihnen hervor. Sie formierten sich zu Worten, die unentwegt an Souta vorbeizogen.

»Gras.«

Nein, er las es falsch herum. Die Letter drehten sich. Er blinzelte, sah genauer hin. Da schossen sie auf ihn zu, bedrohlich und dunkel.

SARG.

Er vernahm das Knarren einer Tür und wandte sich um.

»Lieb.«

Souta wich zurück, stieß gegen etwas Festes, als er das Wort wieder von hinten nach vorne las.

BEIL.

Holz. Er war gegen Holz gefallen. Und ihm war, als würden scheue Augen ihn beobachten. Aus sicherer Distanz und doch in unmittelbarer Nähe. Besorgt lag ihr Blick auf ihm, aber etwas verbarg sich dahinter.

»Ich werde dich einfach schlafen lassen.«

Ich werde dich einfach töten.

Souta schreckte hoch. Er tastete umher, doch sein linker Arm blieb reglos. Schwer atmend fasste er sich an die Brust, sein Herz klopfte wie wild.

»Hast du schlecht geträumt?«

Die Stimme ließ nicht von ihm ab. Da erkannte er, dass sie seiner Schwester gehörte, die immer noch neben ihm auf dem Sessel saß und ihr Buch zuklappte. Piara reichte ihm eine Tasse, die er kaum wahrnahm. Souta war so schwindelig und übel, dass er bewusst gegen jede einzelne Welle anatmen musste. Mit zittrigen Fingern griff er nach dem Teebecher und nahm einen zögerlichen Schluck. Der Schmerz in seinem linken Arm fuhr ihm durch den ganzen Körper. Vorsichtig neigte er den Kopf.

»Wir sind nicht mehr in Vahel, richtig?«, fragte er.

Seine Schwester lächelte und schüttelte ihm das Kissen auf. »Nein, schon lange nicht mehr. Hast du davon geträumt?«

Die Erinnerung verblasste bereits, Souta konnte nicht mehr sagen, was ihn hatte aufschrecken lassen. Er lächelte erschöpft. Vom Schüttelfrost gepackt ließ er sich zurück auf sein Polster fallen.

»Vielleicht.« Er seufzte, schloss die Augen. »Ich weiß nicht.«

Zwei weitere Tage vergingen, bis Souta sich daran erinnern konnte, was während seiner Reise nach Vahel geschehen war. Und in jedem Moment, den er zwischen seinen wirren Träumen klar denken konnte, wurde ihm bewusst, wie viel Glück er doch gehabt hatte:

Glück, dass er Piara, Senia, Tesiph und Rigoras tatsächlich hatte aufspüren können. Glück, ihrer Widersacherin gewachsen gewesen zu sein. Glück, dass ihnen auch die Flucht von diesem verhängnisvollen Ort gelungen war. Und Glück, dass seine Freundin Lia sich auf einen Fall wie diesen vorbereitet hatte. Abgesehen von ein paar Verletzungen waren alle wohlauf.

Souta war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen, als er ein weiteres Mal erwachte. Schmerzen, alles tat weh. Er fragte sich, wie einem Menschen im Liegen bloß so verdammt schwindelig werden konnte. Mit dem rechten Arm stützte er sich auf und ließ den Blick schweifen. Seine Sicht war verschwommen, der Raum abgedunkelt. Doch eine Sache war seit seinem letzten Erwachen unverändert: Piara saß bei ihm. Sie las in einem dicken Buch, dessen Titel vor seinen Augen jedoch verschwamm.

»Wieder wach? Wie geht es dir?« Sie setzte sich zu ihm ans Bett.

Ihr Bruder erwiderte ein erschöpftes Seufzen. »Besser.« Er lächelte matt. »Gibst du mir was von den Schmerzmitteln? Vielleicht hilft mir aber auch ein bisschen frische Luft.« Zögerlich stand er auf.

»Warte, ich kann dir doch ein Fenster öffnen.«

»Nein, wenn ich mich bewege, dann geht es mir immer besser. Gehst du ein Stück mit mir?«

Piara reichte ihrem Bruder die Dose mit den kleinen runden Pillen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gleich. Sitz lieber noch ein bisschen, bevor du herumläufst. Sonst kippst du wieder um.«

Souta winkelte eine Braue an und spülte zwei Tabletten auf einmal mit einem großen Schluck Tee hinunter. Als spürte sie seine Skepsis, ergänzte Piara noch ein: »Ich kann dich nicht auffangen, wenn du fällst.«

Der Gedanke veranlasste ihn zu einem Grinsen. »Wäre mir einen Versuch wert, um mal aus diesem Bett rauszukommen.«

»Du bist furchtbar, wenn du krank bist«, warf Piara lachend ein.

»Du auch.«

»Ich bin nie krank.« Sie ließ sich wieder in ihren Sessel fallen. Erst da fiel Souta auf, wie müde seine Schwester aussah. Als hätte sie seit Tagen kein Auge zugetan, zeichneten sich dunkle Ränder um ihre Lider ab. »Fast nie. Und wenn, hab ich mich immer an eure Anweisungen gehalten.«

»Anweisungen.« Lachend fuhr er sich durchs dunkle Haar, seine Stirn war nass und warm. »Du warst ein unkompliziertes Kind. Schon immer.« Vorsichtig streckte er seine müden Beine. »Und jetzt bist du richtig erwachsen. Als ob ich Jahre weg gewesen wäre oder geschlafen hätte.«

Piara lächelte. Sie griff nach einem feuchten Lappen, den sie Souta reichte. Das kühle Wasser auf seinem Gesicht machte ihn munter und war die reinste Wohltat.

»Es waren nur vier Tage.«

Er ließ das Tuch fallen und starrte seine Schwester entgeistert an.

»Was? Ich liege seit vier Tagen hier?«

Piara nickte. »Ja. Du wachst alle paar Stunden auf, torkelst dann meist ins Bad und trinkst ein wenig Tee. Wenn du die Schmerzmittel genommen hast, schläfst du wieder eine Weile. Und manchmal isst du davor sogar ein paar Bissen.«

Ihm entfuhr ein resignierter Seufzer.

»Sag bloß, du hast das nicht mitbekommen.«

»Ich weiß schon, dass ich öfter mal wach war, klar. Aber ich kann mich kaum daran erinnern. Es ist alles verschwommen und durcheinander. Ich hätte schwören können, dass es nur ein paar Stunden waren.« Souta biss sich auf die Lippe; die Tatsache bereitete ihm Unbehagen. »Und du warst die ganze Zeit hier? Das ist das Einzige, an das ich mich wirklich erinnere.«

Ein Lächeln huschte über Piaras Gesicht, das Stolz verriet. »Natürlich war ich bei dir. Genauso wie Lia, sie hat oft nach dir gesehen. Sie meinte auch, dass das mit der Orientierungslosigkeit bei so hohem Fieber ganz normal sei. Da schaltet der Körper auf Sparflamme.« Piara spielte an einer Haarsträhne und musterte ihren Bruder eingehend. »Aber gerade siehst du zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder recht munter aus.« Ihre Miene hellte sich auf. »Bald bist du wieder gesund und kannst mir auf die Nerven gehen. Wie es sich für Brüder gehört.« Schmunzelnd tippte sie ihm gegen die Nase.

Souta war froh, sie lachen zu sehen. »Das schaff ich auch jetzt schon, wetten?«

Piara seufzte, als er aufstand und ihr einen verwegenen Blick schenkte. »Das war nicht als Herausforderung gedacht«, sagte sie und flüsterte noch ein beiläufiges »Sturkopf«, in seine Richtung.

Zu Soutas Erleichterung ließ sie ihren Protest dabei jedoch bewenden. Stattdessen griff sie in eine Papiertüte neben sich und reichte ihrem Bruder einen Pfirsich mit weißer Schale. Skeptisch nahm er das Obst entgegen und betrachtete es von allen Seiten.

»Sieht komisch aus, nicht wahr?«, meinte Piara und zog eine weitere Frucht heraus, um genüsslich hineinzubeißen. »Die gibt es momentan überall in der Stadt, probier mal.«

Zögerlich kam Souta ihrer Aufforderung nach und stellte zufrieden fest, dass der Pfirsich nicht so sauer war, wie er aussah.

»Der schmeckt nach purem Zucker«, sagte er und schritt langsam hinüber zum Kleiderschrank. »Also perfekt, die sollten wir auf Vorrat kaufen.«

Piara hob eine Braue, sichtlich verwundert.

»Na ja, bevor die Saison vorbei ist, meine ich. Was hast du denn?« Ihr verdatterter Blick verunsicherte ihn. Er nahm den Pfirsich in den Mund, um den Kasten nach seinem Rucksack zu durchsuchen.

»Nichts, du bist nur auf einmal wieder so munter. Noch vor drei Stunden hast du kaum reagiert, wenn ich mit dir gesprochen habe.« Die Stuhlbeine kratzten am Boden. Piara schritt auf ihren Bruder zu, als er kurz darauf ihre Hand auf seiner Stirn fühlte. Er deutete ein Schulterzucken an und schluckte den letzten Rest der Frucht hinunter, bevor er den Kern zwischen seine Zähne nahm, um ihn auszuspucken.

»Keine Ahnung, aber gerade fühl ich mich ganz in Ordnung.« Vier Tage im Bett waren wirklich genug Zeitverschwendung, wie er fand; Souta war froh, endlich wieder auf die Beine zu kommen. »Vielleicht ist es dein Wunderobst.«

»Dein Fieber scheint auch weg zu sein. Oder zumindest viel niedriger, ich bin so froh.« Piara strahlte über beide Ohren. »Aber übernimm dich nicht gleich, hörst du?«

Souta tat die Aufforderung seiner Schwester mit einem Augenrollen und anschließenden Nicken ab. Obwohl sie sich immer über seinen starken Beschützerinstinkt beklagte, stand Piara ihm darin in nichts nach. Doch er wollte sich nicht einmal ausmalen, wie schlimm die vergangene Woche für seine kleine Schwester gewesen sein musste; wäre er an ihrer Stelle gewesen, hätte er es kaum bei diesem kleinen Appell bewenden lassen. Also ergänzte er seine Reaktion um ein wohlwollendes Lächeln.

»Ist gut. Aber sag, wo sind denn meine ganzen Sachen? Ich brauch mal einen frischen Pullover.« Eigentlich hätte er viel lieber eine kalte Dusche genommen, doch damit würde er bis nach dem Essen warten.

Piara entfuhr ein heiteres Schnauben.

»Du meinst die Überreste deines Rucksacks? Das Ding war schon völlig ramponiert, als wir noch in Ascot waren. Ich hab ihn zum Kürschner gebracht, der entnimmt, was davon noch verwertbar ist.«

Ein schmerzhaftes Ziehen in seiner linken Schulter hinderte Souta daran, die Arme vor der Brust zu verschränken.

»Und den Inhalt hast du der Kirche gespendet?«

Der Sarkasmus in seiner Frage erheiterte Piara erneut.

»Keine Sorge, ich hab ihn vorher ausgeräumt.«

Souta seufzte und zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, ehe er sich setzte. »Du sollst doch nicht an meinen Kram gehen.«

Grinsend beugte sie sich zu ihm hinunter. Sie hatte ihm so gefehlt, diese kleine Nervensäge.

»Wieso?«, fragte sie amüsiert.

»Privatsphäre! Schon gehört?« Gespielt beleidigt verzog er das Gesicht.

»Ich hab deine Kleidung gewaschen und den Rest nicht angerührt. Es ist alles hier drüben in der Schublade.« Sie deutete zur Kommode neben dem Schreibtisch. »Aber ein Pullover ist bestimmt schon trocken, ich komme gleich wieder.« Piara wandte sich gerade um, als die Zimmertür geräuschvoll aufgestoßen wurde.

»Souta. Avis. Brenay.« Tesiph stand vor ihnen, das Gesicht vor Wut verzerrt. Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill im Raum.

»Du!« Sie trat ein, stapfte auf Souta zu, den sie mit ihren Augen fixierte.

Er selbst wich zurück und ließ sich wieder aufs Bett fallen. »Verflucht«, raunte er und hielt sich schützend sein Kissen vors Gesicht. »Lass mich mit ihr bloß nicht alleine, Piwi.« Wie konnte eine derart kleine Gestalt wie Tess nur so furchteinflößend sein?

Sie krallte sich ins Kissen, noch ehe Piara hätte reagieren können. Souta schluckte, bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten. Die Schmiedin beugte sich zu ihm, ihre Augen funkelten bedrohlich. »Was zum Henker hast du dir nur dabei gedacht? Wir waren quitt, du alte Dachplatte!«

Stille.

»B-bitte?«, stammelte er und lugte hinter dem Polster hervor. Hatte er sich verhört?

Tesiph stieß einen ärgerlichen Laut aus und packte Souta am Kragen. »Ich sagte, dass wir quitt waren!« Schnaubend ließ sie von ihm ab und schmiss sich in den Sessel, wo sie die Arme verschränkte und ein beleidigtes Gesicht zog. »Als ich dir letzten Laumond die Glasscherbe aus dem Fuß gezogen habe, war ich dir endlich nichts mehr schuldig.«

Piara riss die Augen auf. »Wann hattest du bitte eine …« Ihr Aufschrei verstummte, da Tesiph erneut das Wort ergriff.

»Weißt du noch? Damit ich’s keinem verrate, weil du Hohlkopf zu feig…«

»Piara, du wolltest mir doch einen Pullover holen.« Souta nickte seiner Schwester auffordernd zu und übertönte Tesiph. »Und bringst du mir vielleicht noch was zu essen? Und Tee? Irgendein Buch aus dem Laden und noch einen ganzen Eimer dieser Zuckerpfirsiche?«

Piara stieß einen Seufzer aus und schritt in Richtung der Zimmertür. »Du brauchst nichts zu erfinden, ich lass euch gern allein.«

Und als die Tür sich klackend schloss, stand Souta auf – nur, um von Tesiphs wilder Umarmung überrumpelt zu werden. Ihre Finger krallten sich so fest in seinen Rücken, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb. Mit leicht glasigen Augen sah sie zu ihm auf. Und doch wusste er, dass diese plötzliche Gefühlsregung nicht ihm galt. Selbst ihre nächsten Worte brachten ihn nicht von dieser Überzeugung ab.

»Ich könnte dich erwürgen«, murrte sie und machte keinerlei Anstalten, ihre aufkommenden Tränen zu verbergen; sie waren bereits verschwunden, noch ehe sie Tesiphs Augen richtig zum Schimmern gebracht hatten.

»Versuch’s doch.« Souta stupste ihr mit der Faust gegen die Schläfen. Ihr Blick verfinsterte sich, als würde sie seiner Aufforderung sogleich nachkommen wollen.

Abwehrend hob er die Hände. »Komm schon, Tess. Mir ist doch nichts passiert.«

Sie zog den Stuhl näher ans Bett und ließ sich achtlos darauf nieder. »Ich weiß«, antwortete sie knapp. »Ich hab mir auch gar keine Sorgen um dich gemacht.« Ihr Blick verlor sich im Nichts. »Aber jetzt stehe ich nun mal wieder in deiner Schuld, nachdem du mich ja so heldenhaft retten musstest. Das ist alles.«

»Nächstes Mal lasse ich dich dort.« Soutas Grinsen wurde breiter. Er zog die Beine an und sog hörbar Luft durch die Zähne, sobald seine Schmerzen erneut aufflammten.

»Nächstes Mal lässt du mir gefälligst noch was von unserem Gegner übrig«, ergänzte Tesiph gereizt. Trotzdem ließ sie sich zu einem schwachen Lächeln hinreißen. »Danke.«

»Wofür? Du warst doch diejenige, die Piara nach Vahel begleitet hat. Ich muss dir danken.«

Sie schüttelte den Kopf, sah ihn aus ihren hellen Augen an, eine Braue skeptisch erhoben. »Dafür, dass du uns zur Hilfe gekommen bist. Wäre ich nicht verletzt gewesen, dann …« Tess’ Energie, mit der sie einen Raum normalerweise sofort zum Leben erweckte, war wie weggeblasen. »Ich hätte einfach aufpassen müssen«, sagte sie seufzend. Sie so aufgelöst zu sehen, war ungewohnt. Souta überlegte, sie auf ihren Kummer anzusprechen, doch die Chance dazu war bereits nach wenigen Sekunden wieder verflogen; wie immer, wenn sie jemandem Einblick in ihre Gefühlswelt gab.

»Und jetzt sag schon.«

In Gedanken versunken fiel ihm der feste Griff an seinem Kopf zu spät auf. Tesiph bohrte spielerisch mit ihrer Faust hinein; sie war noch genauso grob wie als Kind. »Du hast was bei mir gut, also.« Auffordernd blickte sie ihn an, doch Souta war bereits nach dem kurzen Gespräch wieder erschöpft und wollte nichts lieber, als ein wenig essen und zu schlafen.

»Ich weiß nicht, bring mir einfach Schokolade.«

Ein höhnisches Schnauben erklang. Tesiph warf ihren Kopf in den Nacken und lachte. Sie zog eine kleine Papiertüte aus der Hosentasche und reichte sie Souta.

»Das ist ja wohl das Mindeste. Hab ich dir jemals keine mitgebracht?« Immer noch lachte sie, ihr kirschrotes Haar, das sie wie so oft zu einem Knoten gebunden hatte, lockerte sich dabei ein wenig.

»Du kannst mir bestimmt irgendetwas schmieden.« Noch ehe er den Satz richtig beendet hatte, kam ihm eine Idee. Er ging hinüber zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Zu seiner Erleichterung schien tatsächlich alles Wichtige in einem Stück mit ihm zurück nach Trissae gekommen zu sein. Unter einem Ledergürtel mit zahlreichen daran befestigten Fläschchen zog er einen schweren Stoffbeutel hervor, den er Tesiph entgegenwarf. Sie fing ihn mühelos auf und wog ihn in ihren Händen.

»Kannst du damit etwas anfangen? Meine Waffen sollten hier irgendwo sein«, meinte Souta, doch Tesiph nahm seine Worte kaum wahr: Sie war zu sehr damit beschäftigt, die schimmernden Steinbrocken und Splitter zu studieren, die sich im Inneren des Beutels befanden. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern darüber und hob einen der roten Steine, um ihn genauer zu betrachten.

»Sowas hab ich ja noch nie gesehen«, stieß sie aufgeregt hervor. »Das ist echter Korallenstein, nicht wahr? Du warst also wirklich in Malluma.« Tesiph hob ihren Blick und sah ihr Gegenüber ungläubig an.

»Hat dir Piara davon erzählt?«, fragte Souta und schluckte die Frage, warum sie das so skeptisch machte, lieber herunter. Stattdessen griff er wieder nach seinem Teebecher.

»Sie hat es nur angedeutet, aber nicht direkt gesagt. Bei den Göttern!« Ihre Stimme wurde leise, sobald sie sich den Mineralien zuwandte. »Ich bekomme echten Korallenstein zu verarbeiten!« Ruckartig stand Tesiph auf und sah sich mit leuchtenden Augen um. »Wo hast du gesagt, waren deine Waffen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann sie mit ihrer hemmungslosen Suche: Bücher, Kleidungsstücke und allerhand anderes aus Piaras Besitz wurde von der energischen jungen Frau kurzerhand ans Tageslicht befördert, noch ehe Souta etwas entgegnen konnte. Eine abgrundtiefe Erschöpfung machte sich in ihm breit, er war zu müde, um mit Tesiphs stürmischer Art mitzuhalten. Am Kleiderschrank angekommen, stieß sie einen zufriedenen Laut aus.

»Ha! Da hast du sie versteckt«, rief sie triumphierend und griff nach den beiden Waffen, die an der Rückseite des Bettes lehnten: Eine Para-Glefe1, wendig und kaum schwerer als der zierliche Dolch mit gebogener Klinge, der ihm ebenfalls gehörte. Tesiph befühlte die metallenen Schneiden eingehend; in ihrem Blick lag etwas Schelmisches.

»Viel zu leicht«, meinte sie grinsend. »Die Glefe hat doch gar keinen Wumms. Sicher, dass ich dich immer noch nicht für eine ordentliche Streitaxt begeistern kann?«

Seufzend stützte Souta den Kopf in seine rechte Hand. »Bei Waffen kommt es doch nicht auf ihr Gewicht an. Du als Schmiedin solltest das eigentlich wissen.«

Tesiph tat seinen Kommentar mit einer Handbewegung ab und klemmte sich Soutas Ausrüstung unter den Arm. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Aufregung ab. »Dann mach ich mich mal ans Werk. Es wird eine Weile dauern, aber momentan sitzt du hier sowieso fest, nicht wahr?«, fragte sie und deutete ein Nicken an, das Soutas Verletzungen galt.

»Sicher. Lass dir Zeit«, war alles, das er zu entgegnen wusste; er hielt es für das Beste, ihre Sprunghaftigkeit einfach auszusitzen. Die Schmerzen benebelten seine Sinne ohnehin. Tesiph war bereits mit einem Bein aus dem Zimmer, als sie noch einmal innehielt.

»Ich bin so froh, dass du okay bist. Mach das bitte nie wieder.«

Souta schwieg, nickte bloß stumm, obwohl sie es bestimmt nicht sah.

»Ich bring dir später noch Suppe vorbei, die bringt dich schnell wieder auf die Beine.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, stürmte sie aus dem Raum und hinterließ nichts als Wehmut. Tess hatte sich kein bisschen verändert, war herzlich und unnahbar zugleich, überrollte einen, um sich sofort wieder zu verstecken. Und doch rang sie Souta damit ein Lächeln ab. Denn wenn es einen Ort gab, an dem er sich noch annähernd zuhause fühlte, war es hier: In Askeria, umgeben von vertrauten Menschen, die ihn bereits sein ganzes Leben lang begleiteten und füreinander da waren. Doch ohne Ineas fiel es ihm schwer, dieses Gefühl an sich heranzulassen.

3

Es war eine dieser Nächte, in denen Piara keinen Schlaf fand. Den Grund dafür konnte sie nicht genau benennen, denn es trafen mehrere Faktoren aufeinander, die sie wachhielten. Selbst nach der knappen Woche, die seit ihrer Aussprache mit Souta vergangen war, drifteten ihre Gedanken in jeder ruhigen Minute zurück zu jenem Abend; seine Offenbarungen, Gefühle, die er endlich ausgesprochen hatte, und schließlich auch die Aufgabe, die nun vor Piara lag, spukten ihr im Kopf herum. Sie rüttelten das Mädchen wach, sobald es kurz davor war, sich zu entspannen und einzuschlafen. Und wenn sie ihnen doch entkam, plagten sie Albträume.

Verschlafen wandte sie den Kopf zur Seite und verlor sich im schimmernden Licht, den das kleine Glas im Dunkeln spendete: Himmelsfunken, so hatte Souta sie genannt, als er Piara das fest verschlossene Gefäß aus Malluma überreicht hatte. Erst hatte sie nicht ganz verstanden, was an einem Glas mit Deckel und ein paar farbigen Punkten so besonders war, doch sobald es Nacht wurde, entflammten sie zu bunten Funken, die der Dunkelheit trotzten. Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk, hatte Souta gesagt und es ihr vor einigen Tagen gegeben. Seitdem stand es neben ihrem Bett, wo es in hellem Grün und Orange leuchtete, Piaras Lieblingsfarben.

Soutas Zustand bereitete ihr nach wie vor Sorgen. Sowohl körperlich, wenn sie an seine Verletzungen dachte, als auch psychisch. Sobald sie sich seine Situation vergegenwärtigte, sprangen ihre Gedanken zu unterschiedlichsten Ideen, ihn ein wenig aufzumuntern und ihm Mut zuzusprechen. Dafür fehlte ihr allerdings – wie sie kurz darauf feststellte – die nötige Energie. Und dann war da schließlich noch Lia, die Piara in den wenigen Tagen mehr als liebgewonnen hatte. Doch selbst diese tröstliche Tatsache hatte einen bitteren Beigeschmack: Denn Lia, das hatte Souta ihr noch vor seinem Fieberschub verraten, war eine Ceri, die sich mithilfe ihrer Blutmagie tarnte; soweit stimmten die Behauptungen des Ordens also, dass es Ceri gab, die unter den Menschen wandeln und leben konnten. Piara war natürlich bewusst, dass Souta in Malluma nicht nur mit Menschen zu tun gehabt hatte, dennoch musste sie sich zu ihrer Schande eingestehen, dass sie die erste Zeit nach dieser Offenbarung etwas vorsichtiger geworden war. Doch Lia war nun einmal Lia. Und wenn Souta so viele Monate unter den Ceri verbracht hatte, wollte auch Piara ihre Scheu ablegen.

Schließlich gab es noch eine letzte Sache, die sie von dem erholsamen Schlaf abhielt, den sie so dringend nötig hatte – und diese traf sie sogleich unvorbereitet: Souta verpasste ihr im Schlaf einen solchen Tritt, dass sie bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht zu Boden fiel. Spätestens jetzt wurde ihr wieder bewusst, warum sie seit so vielen Jahren nicht mehr mit ihm in einem Bett geschlafen hatte.

Sie stieß einen wütenden Laut aus, schnappte ihr Kissen, warf es jedoch gleich wieder zu Boden. Im Gegensatz zu ihr, lag Souta da wie die Ruhe selbst und einzig die Tatsache, dass er immer noch verletzt war, hielt Piara davon ab, mit dem zerknautschten Kissen auf ihn einzuprügeln. Stattdessen überlegte sie, sich einfach wieder aufs Sofa zu legen – es war zwar klein und alles andere als bequem, allerdings hätte sie dort zumindest Ruhe. Aber sie wollte im Moment nicht alleine sein. Piara war bewusst, dass sie eigentlich viel zu alt dafür war, um wegen Albträumen ihre hart erarbeitete Selbstständigkeit und ihren Stand als junge Erwachsene zu gefährden. Doch der Gedanke an die Zukunft setzte ihr mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Sobald sie ihre Augen schloss, holte sie alles ein. Zu wissen, dass jemand in ihrer Nähe war, gab ihr Halt und ließ sie zur Ruhe kommen.

Daher vergaß sie das Sofa und kletterte auf die Innenseite des Bettes, das direkt an dem großen Fenster in Richtung der Stadtmitte Trissaes stand. Sie quetschte sich mit verschränkten Beinen vor die Scheibe, um nach draußen in den Nachthimmel zu schauen. Nachdem sie ohnehin keinen Platz hatte, stützte sie ihren Kopf auf Soutas Rücken und hoffte, so eine Weile von seinem unruhigen Schlaf verschont zu bleiben.

Während Piara ihren Blick über den schimmernden Horizont schweifen ließ und ihre Beine entlang des Fensterglases ausstreckte, drifteten ihre Gedanken unweigerlich zu Rigoras, der nur wenige Zimmer weiter lag; mit Senia an seiner Seite, was Piaras Blut zum Kochen brachte. Er hatte sein Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, war ansonsten allerdings unverletzt. Was sie jedoch am meisten beunruhigte, war der seltsam komatöse Zustand, in dem er sich befand – sein Körper war wie eingefroren. Rigoras Atem ging ruhig und gleichmäßig, doch sein gesamter Stoffwechsel hatte ausgesetzt. Fast so, als wäre er zu jenem Zeitpunkt stehen geblieben, in dem er Vahel verlassen hatte.

Er hatte sie gewarnt, dass so etwas passieren könnte, in der Nacht vor seiner Hochzeit. Doch Piara hatte keinerlei Kraft, die Erinnerungsstücke und ihre Gedanken zu sortieren. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Senia Rigoras für sich beanspruchte und ihn von den anderen abzuschotten versuchte, machte dem Mädchen einen Strich durch die Rechnung. Seit ihrer Hochzeit, so kam es Piara jedenfalls vor, war sie in ihrer Herrschsucht noch wesentlich dominanter. Selbst die geringe Verbindung, die die beiden während ihrer Reise aufgebaut hatten, trat Senia mittlerweile mit Füßen. Sie wollte nichts lieber, als sofort von hier abzureisen. Hattous Verhaftung und die noch ungeklärte Frage, ob diese eine Auswirkung auf Rigos Pilgerfahrt haben würde, waren weitere Schwierigkeiten, mit denen sie alle zu kämpfen hatten und die unweigerlich zu Senias Unmut beitrugen. In diesem Moment, als Piaras Gedanken wieder zu Rigoras wanderten und sie sich klein und unbedeutend fühlte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Yuri ihre Drohung wahr machte und Senia wegen ihres respektlosen Verhaltens aus der Gilde schmiss. Würde sie nicht ständig an Rigo kleben und Piara um jede Minute an seinem Bett kämpfen müssen, könnte sie ihr Wort an ihn halten. Es zumindest versuchen. Irgendwie musste sie es schaffen, sich an alles zu erinnern und Senia für eine Weile loszuwerden. Nichts auf der Welt war Piara wichtiger, als zu ihren Versprechen zu stehen. Und jenes, das sie und Rigoras sich in der Nacht vor seiner Hochzeit gegeben hatten, lastete schwer auf ihren Schultern.

»Was machst du denn hier?«, hörte sie die verschlafene Stimme ihres Bruders. Er wandte sich um und drückte Piara damit näher ans Fenster.

»Konnte nicht schlafen«, antwortete sie knapp und neigte ihren Kopf zur Seite.

»Du hättest mich wecken können, damit ich dir Platz mache. Das sieht furchtbar unbequem aus«, meinte Souta und rückte an die Bettkante.

»Am Anfang hatte ich genug Platz, aber du hast mich rausgeschmissen. Mir tut deine zukünftige Frau ja wirklich leid.« Sie grinste frech, woraufhin ihr Souta die Decke über den Kopf zog.

»Keine Sorge, die Damenwelt bleibt noch vor mir verschont. Immerhin müsste ich denen erklären, warum meine Schwester wie ein kleines Kind nachts einfach …«

»Ja, ist gut! Lass mich jetzt schlafen!«, maulte Piara und schnitt ihrem Bruder das Wort ab; wie so oft vergeblich, wenn er sie ärgern wollte.

»… zu mir ins Bett gekrochen kommt!« Er lachte, als sie sich beleidigt aufsetzte und ihm gegen sein Schienbein trat.

»Du hast doch letztens gemeint, es wäre okay, wenn ich nicht allein sein will! Oder nicht schlafen könnte«, murmelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du verträgst gerade keinen Spaß, oder?«, fragte Souta. »Ach, sei nicht beleidigt. Eigentlich wollte ich, dass du lachst.« Er tippte seine Schwester an, doch mit seinen Kommentaren hatte er einen wunden Punkt getroffen. Sie legte sich auf den Boden, bereute es jedoch gleich wieder: Die alten Bretter waren hart und bohrten sich schmerzhaft in ihre Schulter.

»So, jetzt bin ich nicht ganz so alleine und hoffentlich vor deinem unruhigen Schlaf sicher. Ein guter Kompromiss.« Piaras Worte endeten in einem ärgerlichen Schnauben.

Souta hängte sich quer über die Bettkante und streckte seinen rechten Arm nach unten. Das Tippeln seiner Finger war das Einzige, das Piara hörte, als ihr Bruder im Dunkeln herumtastete.

»Dann tut dir morgen sicher alles weh, das ist ja noch unbequemer. Ich hab doch nur Spaß gemacht, sei bitte nicht beleidigt. Das sieht dir sonst gar nicht ähnlich«, meinte er und runzelte die Stirn.

»Bin ich nicht. Ich schlafe nur gerade besser, wenn ich nicht alleine bin.«

Souta lächelte und rollte vom Bett hinunter auf den Boden, um sich wieder neben sie zu legen; was er dabei jedoch außer Acht ließ, waren die Verletzungen an seinem linken Arm, auf den er fiel. Er fluchte und hielt sich den Ellenbogen.

»Du Schaf, was machst du? Alles okay?« Piara griff nach seiner Hand.

»Oh ja. Fürchterlich.« Er schniefte gekünstelt.

»Warum habe ich eigentlich Mitleid mit dir?« Sie verdrehte die Augen, musste letztendlich aber doch lachen.

»Willst du jetzt wirklich hier unten liegen? Auf dem kalten und harten Boden? Wenn du dann besser schläfst, bleib ich bei dir.«

Piara rückte näher und drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Träumst du eigentlich nie schlecht?«, fragte sie.

»Doch, sicher.« Er hielt inne. »Ist es gerade so schlimm?«

Piara nickte. Wortlos rückte sie ein Stück näher an Souta, dem bereits der Rücken schmerzte. Doch anstatt aufzustehen oder etwas zu sagen, ließ er seiner Schwester Zeit; ihm war klar, dass er Mitschuld an ihrem Zustand trug – immerhin hatte er sie monatelang alleine gelassen. Letztendlich war es jedoch Piara, die sich wieder aufsetzte und ihrem Bruder ein betretenes Lächeln schenkte.

»Aber es wird schon, wie du immer sagst. Nicht wahr?«, meinte sie und legte damit eine weitere Reihe Steine auf die unsichtbare Mauer, die sie zwischen sich und ihren Gefühlen aufgezogen hatte. Den Grundstock dafür hatte sie nach Soutas Enthüllungen gelegt, unverwüstlich und robust. Insgeheim fragte er sich jedoch, ob diese Barriere nicht eigentlich ihm galt.

»Willst du spazieren gehen?«, meinte er und rieb sich die Augen.

»Wie bitte? Es ist mitten in der Nacht.« Piara sah ihn ungläubig an.

»Wenn ich in Malluma nicht schlafen konnte, bin ich immer raus gegangen. Am Strand spazieren, wobei das eigentlich nur eine Ansammlung von Felsen und Geröll war. Aber dann war es besser.« Souta machte eine kurze Pause und setzte lachend nach: »Und ich will runter von diesem blöden Fußboden.«

Piara winkelte eine Braue an. »Ich weiß nicht. Eigentlich würde ich lieber ein bisschen schlafen.«

»Dann mach das. Es ist kurz nach fünf, ich werde trotzdem rausgehen und mir die Beine vertreten. Schlaf du ruhig, vielleicht wecke ich Tess, damit sie mich begleitet«, meinte Souta und stand auf, um in seinem Schrank nach einem Pullover zu suchen; dass er in dieser Unordnung überhaupt etwas fand, war Piara immer wieder ein Rätsel. Ihr Zimmer war das reinste Chaos, seit sie es sich aus Platzmangel in der Gilde mit ihm teilte. Doch für den Moment war sie froh darum, ihren Bruder bei sich zu haben. Er saß bereits angezogen am Bettrand und verknotete seine Schnürsenkel ungeschickt mit einer Hand und seinem linken Daumen.

»Tess wird dich umbringen, wenn du sie um die Zeit weckst«, entgegnete Piara. Sie mochte die aufbrausende Art, die die junge Frau an den Tag legte. Wenn sie mit Souta zusammen war und ihn mit Geschichten von früher aufzog, hatte Piara immer etwas zu lachen.

»Ich muss ihr nur meinen Arm vor die Nase halten. Dann hat sie ein schlechtes Gewissen«, antwortete ihr Bruder mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen. »Solange ich diese Verbände trage, kriege ich von ihr alles, was ich will. Ich wäre ein Idiot, wenn ich das nicht ausnutzen würde!«

Piara stieß ihn leicht mit der Faust in die Seite. »Das heißt nicht, dass du es drauf anlegen musst«, meinte sie, als ihr eine Idee kam. »Und dir ist auch nicht mehr schwindelig?« Sie legte sich wieder ins Bett. Mit der Decke bis zur Nasenspitze gezogen streckte sie sich.

»Nein. Durch den ganzen Schlaf bin ich schon wieder recht fit, darum macht mir auch das frühe Aufstehen nichts.«

»Kannst du mir dann einen Gefallen tun?«

Souta wandte sich zu ihr um. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, da er seine Bürste wieder einmal verlegt hatte.

»Sicher«, antwortete er.

»Meinst du, du könntest heute Mittag Senia eine Weile … beschäftigen?« Piara biss sich auf die Zunge; das klang viel negativer als beabsichtigt. Auch Soutas Reaktion entnahm sie, dass er ihr nicht ganz folgen konnte.

»Senia? Aber wie soll ich sie denn in ein Gespräch verwickeln? Oder gar aus dem Haus locken?« Er zog die Brauen zusammen.

»Keine Ahnung. Mach ihr auch ein schlechtes Gewissen, sie soll dich irgendwohin begleiten, weil du ihre Hilfe beim Tragen brauchst«, meinte Piara. »Was weiß ich. Aber ich kann Rigo gar nicht mehr sehen, weil sie ständig an ihm klebt.«

»Na ja«, antwortete er und neigte den Kopf. »Sie ist seine Frau, ist doch logisch, dass sie bei ihm sein will.«

Ein fester Knoten zog sich in Piaras Magen zusammen. Wie sollte Souta sie in diesem Punkt denn auch verstehen?

»Schon, aber«, sie hielt inne und suchte seinen Blick, »ihr habt doch gesagt, dass Rigo noch nicht wieder ganz hier angekommen ist. Also hier, in unserer Welt.«

»Richtig, so scheint es«, antwortete ihr Bruder und wurde mit einem Mal wieder ernst. »Ich habe uns dort alle hinausteleportiert. Während wir vier aber bei Bewusstsein waren, war Rigo aus einem anderen Grund in Vahel und ist auch auf anderem Wege dort hingelangt.« Souta seufzte; für seine Schwester klang es, als gäbe er sich die Schuld an dem Zustand seines Freundes. Doch sie wusste nicht recht, was sie ihm darauf entgegnen sollte. Ihre eigenen Sorgen drückten Piaras Empathie schwer zu Boden, vernebelten ihren Handlungsspielraum. Sie nahm ihren Mut zusammen, um zum Punkt zu kommen.

»Und wenn seine Seele noch etwas dort hält, hilft es Rigo kein bisschen, dass Senia ihn hier ständig erwartet. Er mag sie nicht. Kein bisschen, egal, ob sie verheiratet sind, Souta«, sagte sie und bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Senia tut es außerdem sicher auch gut, wenn sich jemand um sie kümmert. Mich kann sie nicht ausstehen, dir wird sie die Bitte aber nicht abschlagen. Immerhin hast du sie gerettet.«

Wortlos blickte er seine kleine Schwester an. Hitze stieg ihr ins Gesicht, als sie seinen skeptischen Blick bemerkte. Hatte sie sich verraten? Zu ihrer Erleichterung zuckte Souta jedoch bloß mit den Schultern.

»Meinetwegen.« Er stand auf und streckte sich vorsichtig. »Ich lass mir was einfallen, damit du heute Mittag ein wenig nach Rigo sehen kannst. Aber erwarte dir nicht zu viel.«

Erleichtert nickte Piara und schloss die Augen. Das Bett war so viel bequemer, als das kleine Sofa, auf dem sie seit Tagen schlief. Doch die Ruhe, die sie gerade zu genießen begann und die ihren überreizten Geist ein wenig besänftigte, war nur von kurzer Dauer. Souta zog ihr das Kissen weg, um es ihr gleich darauf fest ins Gesicht zu drücken. Piara streckte den Kopf zur Seite, um nach Luft zu schnappen.

»Schlaf gut!« Sie hörte ihn nur noch die Tür zuwerfen und die Treppe hinablaufen. Schnaubend drückte sie das weiche Kissen an sich.

»Dieser Idiot«, murmelte sie und gähnte. Piara hatte ihn vermisst – ihn und seine einzigartige Gabe, sie mühelos auf die Palme zu bringen. Ihre ganze Reise über war er so damit beschäftigt gewesen, sie zu beschützen, dass sie für derartige Blödeleien kaum Zeit gehabt hatten. Doch nun, da er sich der Unterstützung seiner Schwester sicher war und sich die nächsten Monate über ohnehin von seinen Verletzungen erholen musste, schien Souta wieder mehr er selbst zu werden. Schritt für Schritt, denn die Stimmung zwischen den beiden war noch weit davon entfernt, normal zu sein. Vermutlich kompensierte ihr Bruder das auf die einzige Art und Weise, die er kannte und in solchen Situationen immer heranzog: Durch Unsinn und eine geballte Ladung Humor, wenn er eigentlich ein wenig Ernst an den Tag legen sollte. Doch so war er nun einmal und Piara musste zugeben, dass sie das Geplänkel zwischen ihnen mehr vermisst hatte, als sie ihm gegenüber zugab.

Als ihre Lider immer schwerer wurden und ihre Gedanken allmählich verstummten, driftete sie in einen kurzen und traumlosen Schlaf. Die nächsten Wochen waren ihnen die Hände gebunden. Ohne Soutas Blutmagie würden sie sich Ineas nicht stellen können. Bis dahin wollte sie sich so wenig wie möglich den quälenden Visionen hingeben, die ihr Verstand für sie bereithielt. Viel mehr hoffte Piara, sich endlich wieder an alles erinnern zu können, das in der Nacht vor Rigos Hochzeit passiert war, um ihm zu helfen.

4

Nervös stand Souta vor dem Zimmer seines besten Freundes. Eine Handvoll Möglichkeiten hatte er sich überlegt, um Piaras Bitte nachzukommen, obwohl ihm letzten Endes keine davon so recht behagte. Er wippte unruhig umher, fasste sich letztendlich jedoch ein Herz und klopfte gegen die Tür. Quietschend öffnete sie sich, das Innere war in Dunkelheit gehüllt.

»Oh, Souta«, hörte er Senias Stimme, konnte die junge Frau selbst im ersten Moment aber nicht ausmachen. Erst, als sie ein wenig nähertrat und ein Lichtstrahl vom Gang auf ihr Gesicht fiel, erkannte er sie. Senia stand im Türrahmen und lehnte den Kopf daran. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr seitlich über die Schulter fiel.

»Morgen. Ich hab dich hoffentlich nicht geweckt?«, fragte Souta und kratzte sich an der Nase; wie hatte sich Piara das bloß vorgestellt? Insgeheim hoffte er, dass Senia ihm seine Unsicherheit nicht anmerkte.

»Nein, ich bin schon eine Weile auf«, antwortete sie knapp. Ihre dunklen Augen wanderten umher, als könnte sie sein plötzliches Auftauchen nicht richtig deuten. »Willst du nach Rigo sehen?«

Souta nickte. »Hat sich was getan?«, fragte er hoffnungsvoll.

Beklommen schüttelte Senia den Kopf. Er sah ihr an, dass sie nicht die geringste Lust auf ein Gespräch hatte. Aber vielleicht lag Piara tatsächlich richtig und ein wenig Ablenkung würde ihr guttun. Um ein wohlwollendes Lächeln bemüht, startete er seinen ersten Versuch.

»Ich wollte dich um etwas bitten.«

Senia bedachte ihn mit einem neugierigen Blick.

»Das kommt vielleicht ein wenig plötzlich, aber würdest du mir mit meinem Training helfen?«

Skepsis zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Und da kommst du zu mir? Du kennst hier jeden anderen besser als mich.«

Souta deutete auf seinen linken Arm. »Piara würde mich umbringen, wenn sie das wüsste. Tesiph hat keine Zeit, die meisten anderen sind im Moment bei Aufträgen. Und da du letztens meintest, ich hätte noch einen Gefallen bei dir offen …«

Ihre Miene wurde versöhnlicher, Souta hatte ihre Aufmerksamkeit. »Hm, deine Schwester weiß also nichts davon?«

Er hielt inne; war das das Einzige, das Senia daran interessierte? Piara schien tatsächlich kein hohes Ansehen bei ihr zu genießen.

»Richtig. Sie würde mich in meinem momentanen Zustand niemals gehen lassen, gerade schläft sie aber. Und ich lag jetzt eine ganze Weile im Bett, ich brauche einen Trainingspartner.« Ihm selbst erschien diese Ausrede mehr als absurd, doch zu seiner Überraschung war Senia ehrlich interessiert. Trotzdem schüttelte sie behutsam den Kopf.

»Ich muss mich selbst noch schonen, meine Handgelenke sind verletzt«, antwortete sie, als Soutas Blick auf die Bandagen fiel. Er biss sich auf die Zunge; daran hätte er wirklich denken müssen.

»Aber wir können laufen. Das tut uns sicher gut«, entgegnete er, befürchtete jedoch, sich wie der größte Idiot anzustellen. Ihn selbst hätten diese seltsamen Vorschläge jedenfalls skeptisch gemacht, und auch Senia hielt die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt.

»Zum Laufen brauchst du aber keinen Trainingspartner«, antwortete sie. Ihr Misstrauen wurde immer spürbarer. »Was willst du wirklich?«

Seufzend senkte Souta den Blick; dann musste er eben zu seinem nächsten Plan greifen. »Die Wahrheit ist«, begann er und atmete tief aus, »dass ich mir große Sorgen um Rigo mache. Und auch um dich, seit du kaum noch das Zimmer verlässt.« Wieder tippte er nervös mit seinem rechten Fuß auf dem Teppich umher. »Darum finde ich, dass wir uns alle ein wenig Halt geben sollten. Piara und du, ihr habt offensichtlich eure Differenzen, und ansonsten kennst du hier kaum jemanden. Also, was sagst du? Nur ein kleiner Spaziergang durch die Stadt, um den Kopf freizukriegen. Und zu reden, wenn dir danach ist.«

Souta wusste, dass das seine letzte Chance war. Nach ihren argwöhnischen Blicken freute er sich umso mehr über den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht.

»Bis gerade eben dachte ich schon, du willst mich loswerden«, antwortete sie. »So, wie alle anderen. Aber ein wenig frische Luft klingt vernünftig. Gib mir zehn Minuten und wir treffen uns unten.«

Noch bevor Souta etwas entgegnen konnte, hatte Senia ihm tatsächlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er legte den Kopf in den Nacken und lehnte sich an die Wand. Zwar war ihm sein Vorhaben gelungen, aber die Aussicht darauf, die nächste Stunde mit Senia über Gefühle und womöglich auch noch ihre Beziehung zu Piara oder gar Rigoras zu reden, ließ Souta innerlich aufschreien. Er hatte sie zuletzt gesehen, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, für ihn war sie fast eine Fremde. Aber was tat er nicht alles für seine Schwester? Zumal er nach dieser etwas unbehaglichen Begegnung nicht ausschließen wollte, dass auch Rigo ein wenig Ruhe in seinem Zustand gelegen kam.

Wenig später schlenderten die beiden durch einige Seitengassen Trissaes. Der Wind pfiff um die Ecken, die Mittagssonne erhellte die Ziegelbauten nur entfernt; sie hatte sich hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Niemand sagte ein Wort.

»Also«, begann Souta schließlich, ohne so recht zu wissen, wie er den Satz weiterführen sollte, »ich brauche dich wohl nicht zu fragen, wie es dir geht.« Vorsichtig lugte er zu ihr.

»Nein«, antwortete Senia. »Die Situation ist einfach absurd. Als ob Rigo wirklich nicht mehr bei mir sein wollte.«

Souta schluckte, überrascht von ihrer plötzlichen Offenheit. »Das sagst du dir sicher nur, um eine Erklärung zu finden. In Wahrheit wissen wir nicht, was seinen Geist in Vahel hält. Aber es hat bestimmt nichts mit dir zu tun«, meinte er und hoffte, sensibel genug reagiert zu haben.

»Mag sein«, sagte Senia und blieb abrupt stehen. Unsicher blickte sie durch die große Glasscheibe eines Teehauses und studierte den Aushang daneben. »Können wir uns setzen? Mir ist nicht mehr nach spazieren. Es ist viel zu kalt.«

»Sicher«, antwortete Souta. In Wahrheit war es ihm egal, was sie taten, solange er auch ein wenig raus aus der Gilde kam. Womöglich konnte er sich hinterher tatsächlich Zeit nehmen, um eine Runde laufen zu gehen – alleine der Gedanke daran ließ ihn etwas zuversichtlicher durch die schmale Tür der Teestube schreiten. Senia und er setzten sich an einen freien Tisch im ersten Stock, bestellten Tee und einen Teller mit gefüllten Lindenblättern, einer Spezialität der Provinz, die nur selten außerhalb Iporaz’ zu finden war. Zögerlich betrachtete Senia eine der fest gewickelten Rollen.

»Keine Sorge, die schmecken nicht bitter oder so«, antwortete Souta unbedacht und tunkte eine davon in ein Schälchen Honig und Sesam. »Sonst würde ich die nicht anrühren. Bitteres Essen ist das Letzte.« Um etwas Zeit zu gewinnen, hatte er eine ganze Kanne grünen Tee mit Holunderbeeren bestellt, wofür er sich gleichermaßen verfluchte; die Situation war mehr als seltsam, Senia taute kein Stück auf.

»Was ist da drinnen?«, fragte sie, während Souta die erste Rolle noch im Mund hatte.

»Pistazien, Birne, irgendwelche Nüsse«, er kaute, nahm einen weiteren Bissen, »und Pflaumensirup. Vielleicht ist es aber auch Veilchensirup.«

»Wie kommst du denn von Pflaumen auf Veilchen?«, fragte sie irritiert.

»Na beides ist lila«, antwortete Souta, als wäre damit alles gesagt.

»Und wonach schmeckt lila?« Senia zog die Brauen zusammen und nippte an ihrem Getränk. Entweder hatte sie seinen Witz nicht verstanden, oder sie ritt bewusst darauf herum; er entschied sich jedenfalls, nicht zu viele Gedanken an eine Antwort zu verschwenden.

»Nach Pflaumchen – das ist das Geschmacksspektrum von Pflaume bis Veilchen. Pflaumchen eben.«

Diesmal prustete Senia los, als hätte sie die lustigste Geschichte aller Zeiten gehört. Ungläubig runzelte Souta die Stirn.

»Ich erinnere mich daran, dass du früher schon viel Unsinn geredet hast. Und ich vermute ja, dass Rigo sich das ein wenig von dir abgeguckt hat, als wir noch Kinder waren«, sagte sie, ohne von ihrem Getränk aufzusehen. Dass der Tee noch brühend heiß war, schien ihr nichts auszumachen.

»Tut mir leid, ich weiß nicht mehr allzu viel von damals«, gab Souta kleinlaut zu. Warum nur nahm das Gespräch schon wieder eine solch ungünstige Wendung? »Ich war mit anderen Dingen beschäftigt zu der Zeit. Nach Myrefall konnte ich nicht mehr so oft.«

»Du und dein Bruder habt Piara alleine großgezogen?«, fragte sie zu seiner Überraschung.

»Ja, aber wir hatten zu Beginn viel Hilfe. Von Yuri, Tess, vielen unserer Nachbarn. Auch Marcie war eine ganze Weile bei uns in Clay.«

»Dann musst du ja sehr an deiner Schwester hängen«, sprach sie weiter. Souta wurde mulmig zumute; er hatte das Gefühl, dass Senia das Gespräch immer wieder auf Piara lenkte.

»Natürlich«, antwortete er und verschränkte die Arme, so gut seine Verletzungen es zuließen. »Ist doch ganz normal, wenn man Geschwister hat. Man will sie erwürgen und liebt sie trotzdem.«

Senia zuckte mit den Achseln, ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinab auf die menschenleere Straße. Das Glas war leicht beschlagen, draußen musste es inzwischen wirklich frisch sein. »Ist es das?«

Ihm war, als wollte sie gar keine Antwort auf ihre Frage, trotzdem vernahm er den Kummer, der dahintersteckte, deutlich.

»Sicher. Du hast doch selbst zwei, wenn ich mich recht erinnere?«, sagte Souta und merkte, dass er seinen Tee zu lange hatte ziehen lassen.

»Drei. Zwei Brüder und eine Schwester. Alle jünger als ich.«

Er lächelte; endlich etwas, worüber er mit weniger Anspannung reden konnte. »Ich hab mir oft eine große Schwester gewünscht. Versteht ihr euch denn gut?«

Senias Miene verfinsterte sich zusehends. »Nicht sonderlich«, sagte sie. Souta war, als ginge eine eisige Kälte von ihren Worten aus. »Mit meinen Brüdern verbringe ich nicht viel Zeit, sie absolvieren ihre Ausbildung im Süden Fayons. Und meine Schwester kann mich nicht ausstehen, wie viele andere.«

Betretenes Schweigen.

»Das bildest du dir bestimmt nur ein. Mit deiner Schwester und uns anderen hier«, antwortete er zögerlich, doch sie schüttelte bloß den Kopf.

»Ich bin zu aufbrausend, zu abweisend. Und ich habe keine Geduld, wenn Tienna etwas von mir will. Darum kann Rigo mich auch nicht leiden und hat sich geradezu auf Piara gestürzt, als sie in Myrefall war. Um keine Zeit mit mir verbringen zu müssen.«

Ein dumpfes Rauschen erfüllte Soutas Kopf.