Funkenschlag - Juliet May - E-Book

Funkenschlag E-Book

Juliet May

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Beschreibung

Zehn Geschichten entführen euch abermals in die Welt von Askeria. Sie komplettieren die Geschehnisse des ersten Bandes, erweitern ihn um neue Perspektiven und lassen auch Charaktere zu Wort kommen, die sich sonst eher im Hintergrund gehalten haben. Zehn Impulse begleiten die Figuren durch ihren Alltag und zeigen neue Wege auf. Anekdoten, alte Bräuche sowie Tagebucheinträge und Erin-nerungen erwarten euch. Zehn Ausflüge in die Gedankenwelt, Vergangenheit und Freizeit, über die es sich lohnt, zu lesen.

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Inhaltsverzeichnis

Nachwort und Danksagung

Hinweis zu sensiblen Inhalten und Triggern

Zu diesem Buch:

Zehn Geschichten

entführen euch abermals in die Welt von Askeria. Sie komplettieren die Geschehnisse des ersten Bandes, erweitern ihn um neue Perspektiven und lassen auch Charaktere zu Wort kommen, die sich sonst eher im Hintergrund gehalten haben.

Zehn Impulse

begleiten die Figuren durch ihren Alltag und zeigen neue Wege auf. Anekdoten, alte Bräuche sowie Tagebucheinträge und Erin-nerungen erwarten euch.

Zehn Ausflüge

in die Gedankenwelt, Vergangenheit und Freizeit, über die es sich lohnt, zu lesen.

Über die Autorin:

Katzen, Kaffee und Sarkasmus: Juliet May schreibt ihre Geschichten am liebsten nachts, weil die Welt dann ein Stückchen ruhiger ist. Aufgewachsen in Wien und Niederösterreich studierte sie anschließend Germanistik und Psychologie, um sich nach Jahren des wissenschaftlichen Schreibens ihrem Fantasy-Debüt zu widmen.

Seit 2019 erscheint jährlich ein Band ihrer Dark Fantasy Reihe »Askeria«. Stereotypen und Happy Ends sagt sie in ihren Geschichten gerne mal den Kampf an – denn auch das Leben verläuft nur selten nach Plan.

https://julietmay.at

Instagram, Facebook, Twitter: @prinnycup

© 2021 Juliet May Rogue Books I. Service Carolin Veiland Franz-Mehring-Str. 70 08058 Zwickau

Lektorat und Korrektorat: Claudi Feldhaus Cover: Olivia Prodesign, Juliet May Illustrationen: Juliet May, Daniela Matache, Patrik Friess, Ruslan Shuvalov Buchsatz: Juliet May

Eigentlich ging Piara gern zur Akademie. Die Anlage am Rande Clays, umgeben von den letzten Ausläufern der Dorfmauern und leuchtend roten Granitfelsen, bot einem so wissbegierigen Mäd-chen wie ihr alle Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Von einem großzügigen Trainingsgelände bis hin zu selbst angelegten Kräutergärten, die von einzelnen Jahrgängen betreut wurden, fand sich dort wohl der größte Bestand an Büchern, den es in diesem Teil Saetams gab. Auch ihre Lehrkräfte, darunter ganz besonders ihre Betreuerin Rhilina, hatte Piara ins Herz gesch-lossen. Nichts liebte sie mehr, als über all die Fragen zu dis-kutieren, die ihr immer wieder im Kopf herumschwirrten. Die Gelehrten waren geduldig und lobten den kritischen Geist, der in ihr steckte, wenngleich Piara von ihren Brüdern natürlich gelernt hatte, bestimmte Themen besser nicht anzusprechen.

Und obwohl sie durchaus gerne Zeit in der Akademie verbrachte und sich selten über das Lernen beklagte, ging ihr der heutige Tag gewaltig auf die Nerven – und dabei war es gerade einmal zwölf Uhr.

»Aber meine Antwort scheint dich ja kein bisschen zu interessieren.«

Der Satz schlug ein wie ein Blitz und riss Piara aus ihren Gedanken. Mit lodernden Wangen suchte sie Rhilinas Blick.

»D-doch«, stammelte Piara. »Ich hab’ dir ja auch zugehört.« Seufzend legte sie die Stirn in Falten und gab sich einen Ruck. »Aber eine wirkliche Antwort war das ja gerade nicht.«

Schweigen. Alle anderen Schüler im Raum verfolgten die Diskussion zwischen den beiden gespannt – nur Piara wünschte sich gerade, Rhilina nicht dermaßen provoziert zu haben.

»Ich meine doch nur, dass da mehr sein muss. Wenn unsere Zeitrechnung darauf beruht, und Horoskope und Sternbilder zur Vorhersage der Ernte und Wetterphänomene herangezogen werden, dann gibt es doch sicherlich bewiesene Grundlagen, auf denen das Ganze entwickelt wurde. Fakten, meine ich«, ergänzte Piara und hoffte auf ein wenig Milde in Rhilinas Gesicht zu stoßen; doch das genaue Gegenteil war der Fall. Miki, Piaras beste Freundin, stieß sie unter der Bank gegen das Bein und zog die Brauen zusammen – für einen Rückzieher war es allerdings zu spät.

Rhilina lachte höhnisch auf. »Bewiesen?« Ihre stechend blauen Augen formten sich zu schmalen Schlitzen. »Sterne, Kosmos und Beweise? Piara, damit verlassen wir die Astrologie und begeben uns in die Wissenschaft.« Ihre Stimme wurde eindringlicher, nahm einen bedrohlichen Tonfall an. »Und du weißt, wie diese Disziplin genannt wird?«

Piara unterdrückte ein ärgerliches Schnauben. »Astronomie«, gab sie mürrisch zur Antwort.

Rhilina ließ von Piara ab und wandte sich der gesamten Gruppe zu. Zwölf Augenpaare richteten sich auf sie, denen man allesamt entnahm, was ihre Lehrerin kurz darauf aussprach:

»Und Astronomie zählt …«

»… zu den verbotenen Wissenschaften«, ergänzte der Jahrgang im Chor; Piaras Stimme mischte sich mit einer gehörigen Portion Trotz darunter, was auch Rhilina nicht entging. So gerne Piara sie auch hatte – heute eckten die beiden bereits seit der ersten Unterrichtsstunde in Völkerkunde pausenlos an. Diese erneute Zurechtweisung stieß ihr sauer auf. Es machte Piara traurig und wütend zugleich – bei Corasil! Hatte Rhilina einfach nur einen schlechten Tag oder begann Piaras Wissensdurst nach sieben Jahren Unterricht nun doch, ihr auf die Nerven zu gehen?

Unfähig, ihren Ärger herunterzuschlucken, presste Piara die Lippen aufeinander; sie würde ihren Standpunkt ein letztes Mal verdeutlichen.

»Mir ist nicht klar, warum wir hier etwas lernen sollen, dessen Grundlagen verboten oder schlichtweg erfunden sind. Überall bringt man uns zuerst die Basiskenntnisse bei. Ihr Erwachsenen wollt immer, dass wir alles verstehen, bevor wir damit arbeiten. Und bei den Sternbildern nicht?«, brach es aus ihr heraus.

Doch die Diskussion mit ihrer Lehrerin fand ein jähes Ende, als die Fenster des Klassenzimmers vom Innenhof aus geöffnet wurden – die Unterrichtsstunde war damit vorbei, eine halb-stündige Pause wurde für alle eingeläutet. Sie selbst machte jedoch keinerlei Anstalten, ihren Platz zu verlassen. Zähneknirschend wirbelte sie ihren Stift zwischen den Fingern umher und wartete auf die Standpauke, die Rhilina ihr bestimmt gleich halten würde. Stattdessen packte Miki sie am Ärmel und zog sie mit sich auf den Gang. Vorbei an Bücherregalen, Schaukästen und Sitzbänken, die sich nach und nach mit plaudernden Schülern füllten, ließ Piara sich von ihrer Freundin bis hinaus in den Innenhof führen. Die Sonne schlug ihr so grell entgegen, dass ihre Augen schmerzten.

»Hast du mich jetzt weggezerrt, damit du mir eine Predigt halten kannst?«, fragte sie zynisch. Zur Antwort boxte Miki ihr kräftig gegen den Oberarm und schüttelte den Kopf.

»Du Donnermaul! Ich musste dich schnell wegschaffen, bevor du Rhilina noch ins Gesicht springst.« Sie seufzte und setzte sich neben Piara auf eine blau gestrichene Holzbank, wie sie im gesamten Hof zu finden waren. »Was sollte das denn? Nach Astronomie zu fragen, stellt nun wirklich eine Grenze dar, die nicht mal du so einfach überschreiten darfst!«

Piara entgegnete nichts und blickte betreten zu Boden. Sie trat nach einem Stein, was einen unschönen Fleck an ihrer rechten Schuhspitze hinterließ.

»Ich weiß«, murmelte sie. »Aber was soll ich mit diesem Aberglauben, den sie uns heute als Fakt verkauft hat?« Abermals kochte Zorn in Piara hoch. Ein wenig ruhiger ergänzte sie dann: »Dass ich besonders willensstark wäre, nur, weil ich im siebenten Monat geboren bin? Wenn dem so ist, dann will ich wissen, was dahintersteckt.«

Während Piara ihren Ärger entweichen ließ und froh darum war, dass Rhilina sie gerade nicht mehr hören konnte, hatte Miki ihr Mittagessen ausgepackt. Auffordernd hielt sie ihrer Freundin eine Schale mit kalter Pfeffersuppe hin. Ein angenehmer Geruch wehte Piara in die Nase – Mikis Mutter war die mit Abstand beste Köchin diesseits des Severanes.

»Nimm, ich teile mit dir«, sagte Miki und ging damit nicht weiter auf die Argumente ihrer Freundin ein. »Du hattest gar keine Zeit, deine Tasche mitzunehmen, weil ich dich wegge-schleift habe. In der nächsten Pause teilen wir uns dann einfach dein Essen.« Miki pustete sich einige ihrer roten Strähnen aus dem braungebrannten Gesicht. »Und ein Mikroskop teilen wir uns auch. Letzte Woche hab ich mich an so einem Glasplättchen geschnitten. Du kannst das besser.«

Piara lächelte und schluckte ihren Frust fürs Erste mit einem großen Löffel Suppe hinunter. Das Fleisch darin war so zart und die Gewürze dermaßen kräftig, dass sie die letzten Stunden für eine Weile vergaß. Sie blickte einem vielversprechenden Nachmittag in angewandter Naturkunde entgegen, an dem das Mikros-kopieren von Wasserproben und Wildbeeren auf dem Plan stand. Rhilina unterrichtete Piaras Jahrgang in Völkerkunde, Kultur sowie Überlebenstraining und Nahkampf – immerhin sahen sie einander also erst nächste Woche wieder.

Die Pause mit Miki und nicht zuletzt das ausgezeichnete Mittagessen brachten Piara allmählich auf andere Gedanken. Die wimmelnden Tierchen in den mikroskopierten Wassertropfen taten ihr Übriges – sie würde sich damit abfinden: Naturwiss-enschaften waren wohl die einzige Disziplin, in der sie mit ihren Fragen nie auf Grenzen stieß. Sie sollte ihren Schwerpunkt einfach auf diese Fächer legen.

Als Piara nach diesem lehrreichen Ausflug in die Welt der Mikroorganismen jedoch zurück in ihren Klassenraum ging, um ihre Tasche zu holen, war dieser gute Vorsatz wieder dahin. Auf ihrem Tisch fand sie ein dünnes Buch mit einem abgegriffenen Zettel darin, der so wirkte, als hätte ihn jemand hastig aus einem Schreibheft gerissen. Rhilinas Handschrift stach ihr dabei sofort ins Auge. Doch ehe sie die aufgeschlagene Seite mit der Notiz näher betrachten konnte, fiel Miki ihr von hinten über die Schultern.

»Komm schon! Wenn du noch mehr liest, hast du bloß weiteren Zündstoff für Diskussionen mit Rhilina«, sagte sie und klappte das Buch zu.

Nachdem die beiden an der großen Kreuzung vor dem Marktplatz schließlich getrennte Wege gingen, schwirrten Piaras Gedanken wieder unkontrolliert in alle Richtungen. Die Luft war trocken, die Sonne an diesem Nachmittag immer noch kräftig und bohrend heiß. Nur wenige Leute waren zu dieser Zeit draußen unterwegs, die Straße vor Piara war bis auf eine zierliche Eidechse, die hastig über den Lehmboden kroch, vollkommen leer. Und da ihre Neugierde kaum zu bändigen war, zog sie kurzerhand das fremde Buch aus ihrer Tasche, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Während ihre Schritte sie zielstrebig den altbekannten Weg nach Hause führten, durchforstete sie das Inhaltsverzeichnis, um wieder zu Rhilinas Zettel zurückzukommen. Piara strich die Seiten glatt und schirmte das Buch mit ihrem Handrücken vor der Sonne ab, die unbarmherzig auf ihrer Haut brannte.

Ich meine es nur gut.

Piara schluckte. Irgendwie hatte sie mehr erwartet, doch wenigstens waren die Worte ihrer Lehrerin versöhnlich ausgefallen. Beim Anblick des Buches vorhin im Klassenzimmer hatte sie eigentlich eine extra Hausaufgabe vermutet, um ihren Starrsinn quittiert zu bekommen. Erleichtert atmete Piara auf und las die Seiten, zwischen denen die Notiz gelegen hatte.

»Für den Zweifler sind die Sterne interessant, funkelnd schön leuchten sie über uns, ein Mysterium, das er zu entdecken vermag.

Der Glaubende wandelt voll Zuversicht unter ihrem Licht, dabei bewundert er ihr Vorbeiziehen und Aufblinken, obwohl sie doch stillstehen müssten?

Doch der Wissende alleine kennt der Sterne wahres Gesicht und betrachtet sie als das, was sie wirklich sind: Kaltes Geröll, hässlich, emotionslos. Tot. Ihr Studium ist daher nichts als Zeit-verschwendung.«

»Diese blöde …«, zischte Piara und klappte das Buch geräuschvoll zu, ehe sie ins Haus stürmte. Ihre Müslischale stand immer noch am Tisch, wo sie sie heute Morgen stehen gelassen hatte. Zerknirscht ließ Piara sich auf einen Stuhl fallen und schlug die Beine übereinander. Ihr war, als hätte sie irgendetwas Wichtiges vergessen, doch im Moment konnte sie sich nur auf eine Sache konzentrieren. Gedankenversunken ließ sie ihren Blick über die helle Holzdecke schweifen und zählte, wie so oft, die Anzahl der Dielen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Dass Rhilina nicht vor dem gesamten Jahrgang mit ihr hatte diskutieren wollen, hatte Piara ja noch verstanden. Dass sie nun allerdings nichts weiter als diesen blöden Text für sie übrig hatte, anstatt ihr eine brauchbare Antwort zu liefern, ging zu weit.

Die Eingangstür flog auf und krachte gegen die Wand. Erschrocken fuhr Piara zusammen und erblickte einen Berg ineinander gestapelter Töpfe, die notdürftig von zwei Armen gehalten wurden. Sie sprang auf und nahm ihrem Bruder einige der Pflanzen ab, die von der Mittagssonne völlig ausgezehrt waren. Bei Corasil! Schweiß trat auf ihre Stirn.

»Es tut mir so leid, ich habe völlig vergessen, dass ich dich abholen sollte«, stammelte Piara.

Souta winkelte eine Braue an. »Vergessen?«, fragte er und ließ sich inmitten seiner geretteten Pflanzen auf den Tisch sinken. »Wenn du deinen einzig wahren Lieblingsbruder in der Sonne vergisst, geht er ein!« Er grinste, erntete jedoch bloß ein genervtes Schnauben seiner Schwester, die ihm ein Glas Saft hinschob. Er wirkte tatsächlich gerädert, doch im Moment hatte Piara wirklich keine Nerven für seine Theatralik.

»Übergieß dich mit dem Saft, wenn du welkst. Tut mir leid«, antwortete sie knapp und ließ ihren Blick über die Setzlinge in all den Töpfen schweifen. »Wo sollen die denn alle hin?«

»Keine Ahnung.« Souta zuckte mit den Schultern und ließ sich erneut auf die Tischplatte fallen. »Notfalls in mein Zimmer.«

»Das ist doch jetzt schon ein Gewächshaus.« Piara verschr-änkte die Arme vor der Brust.

Souta schnaubte halb belustigt halb beleidigt. »Bissige Piwi!«, raunte er und sah auf. »Hast du wenigstens daran gedacht, uns etwas zu essen mitzubringen?«

Bei seinen Worten zuckte Piara zusammen; stimmt, es war der letzte Tag vor dem Wochenende. Ihr Gesicht verfinsterte sich.

»Aber ich verhungere!«, jammerte Souta umgehend. Er griff über den Tisch hinweg nach Piaras Händen und zog daran. »So richtig, richtig! Extrem! Doll! Fürchterlich! Hungrig!«

»Oh verflucht, Souta!«, schoss sie zurück. Gerade hatte sie wirklich keine Nerven für seine Spinnereien. »Es tut mir ehrlich leid, heute ist einfach ein völlig beschissener Tag.« Piara stand auf und griff nach einer Orange, die sie ihrem Bruder zuwarf. »Ich gehe das Essen später noch holen, bis dahin wird dich das am Leben erhalten.«

»Warum ist dein Tag mies?«, fragte Souta und pellte wider-willig die Schale von der Frucht. »Und sag nicht »beschissen« – wenn wir gewollt hätten, dass du solche Wörter verwendest, hätten Ineas und ich nicht ständig darauf achten müssen, vor dir nicht zu fluchen.« Sein Beisatz klang eher wie etwas, das er aus reinem Pflichtbewusstsein sagte und ihm in Wahrheit voll-kommen egal war.

»Ach, ich hab’ bloß total blöde Hausaufgaben bekommen«, wich Piara seiner Frage aus. Stattdessen machte sie sich daran, Soutas neu angeschleppten Pflanzen in der Spüle wieder etwas Leben einzuhauchen. Sie wartete, bis das Wasser aus der Leitung kühl wurde und befeuchtete nacheinander das Blattwerk und die herausstehenden Wurzeln.

»Wenn es nur Hausaufgaben sind, kann ich dir doch helfen«, antwortete er. »Außer es ist irgendwas Kreatives.« Sie hörte ihn auflachen. »Du weißt ja, ich kann weder mit einem Pinsel noch irgendeinem Instrument umgehen. Und wenn du was bauen musst, wird es mit meiner Hilfe höchstens schief.«

»Du hast vergessen, dass du auch nicht tanzen kannst«, antwortete Piara und ertappte sich dabei, wie sie der Situation doch noch etwas Lustiges abgewöhnen konnte; Souta brachte sie letzten Endes doch immer zum Lachen.

»Danke für die Erinnerung«, entgegnete er und warf sich eine Orangenspalte in den Mund. »Du im Übrigen auch nicht.«

»Dann ist es ja gut, dass ich mich übers Wochenende bloß mit Sternbildern befassen und sie nicht nachtanzen muss.«

Souta schluckte und zupfte ein weiteres Stück aus der Frucht heraus. »Du bist heute wirklich bissig. Was ist denn an Sternbildern so schlimm? Die kennst du doch, seit du plappern kannst.«

»Schon«, entgegnete sie seufzend. »Aber das ist doch alles nur Aberglaube. Und wenn nicht, warum erzählt man uns dann nichts über ihre Entstehung?«

Souta hielt inne und schluckte das Stück in seinem Mund herunter, ohne weiterzukauen.

»Es sind doch nur Bäume! Und ich soll übers Wochenende die gesamte Liste durcharbeiten und mich intensiv mit meinem eigenen Sternbild auseinandersetzen. Beschreiben, welche Bedeutung ihm zugrunde liegt, Literatur vergleichen und meine Meinung dazu formulieren. Aber wie soll ich eine Meinung zu etwas haben, das man mich nicht verstehen lässt?«

Nun war es raus. Piara wünschte nur, sie hätte Rhilina in so klaren Worten sagen können, was sie daran störte. Doch der bohrende Blick ihrer Lehrerin und die Aufmerksamkeit des gesamten Jahrgangs hatten sie nervös gemacht; Souta hingegen war bereits wieder mit seiner Orange beschäftigt.

»Und warum schreibst du das nicht einfach genau so auf?«

»Weil Rhilina schon total wütend geworden ist, als ich nur nachgefragt habe, wozu eine solche Aufgabe gut sein soll. Sie würde mir die Hausarbeit ohne Umschweife um die Ohren hauen!«

»Bitte sag mir nicht, dass du dich mit Rhilina angelegt hast.«

»Na ja, nicht wirklich angelegt«, gab Piara zurück. »Wir haben diskutiert. Auf eine sehr niveauvolle Art, also keine Sorge!«

»Du musst aufpassen, was du vor den anderen deines Jahrgangs sagst, Piwi«, entgegnete Souta und schenkte seiner Schwester einen vorwurfsvollen Blick. »Ich bin übrigens immer noch hungrig und kann dir in meinem geschwächten Zustand sicher keinerlei Hilfe sein.«

Piara verzog das Gesicht und ging hinüber zum Vorratsschrank. Sie griff nach dem Erstbesten, das ihr in die Hände fiel und reichte ihrem Bruder ein Glas mit eingelegten Kirschen, Nelken und Honigblüten. Sein Blick sprach Bände, doch Piara führte ihr Gespräch von vorhin nahtlos fort.

»Ja, weiß ich doch. Es nervt mich nur, dass ich etwas lernen muss, das nicht bewiesen ist. Was soll ich dem denn bitte abgewinnen?« Sie hielt inne. »Du als Alchemist musst das doch verstehen! Du hast von Astronomie immer noch mehr Ahnung als viele andere.«

»Was ich in meiner Ausbildung gelernt habe, kannst du kaum noch Astronomie nennen«, antwortete er und fischte mit den Fingern eine Kirsche aus dem Glas. »Das wirklich Brauchbare stammt nur aus meiner Eigenlektüre. Aber die Sternbilder erkennt man fallweise auch am Nachthimmel, die existieren sehrwohl.«

»Aber warum sind sie nach Bäumen benannt? Und was ist mit diesen seltsamen Eigenschaften, die alle besitzen sollen, die in einem bestimmten Monat geboren sind?«, schoss sie zurück. Vielleicht konnte sie das Thema wenigstens mit Souta ausdisku-tieren. Und wenn sie Glück hatte, hatte er sogar eine Antwort, die sie zufriedenstellte.

»Na weil sie in bestimmten Monaten erstmals blühen. Und du bist doch willensstark, wie man es dir nachsagt«, antwortete er mit einem Grinsen, wohlwissend, dass Piara diese Aussage ärgerte.

»Na und? Hunderte Pflanzen blühen erstmals in irgendeinem Monat. Und du und Ineas habt im selben Monat Geburtstag, sogar am selben Tag, und ihr seid total verschieden!«

»Weißt du denn, welche Eigenschaft man uns andichtet?«

»Nein«, erwiderte sie knapp. »Und das will ich auch gar nicht lernen. Darum geht es schließlich. Wissenschaften muss man beweisen können. Bevor man etwas zu einem Gesetz macht, sollte es Tatsachen entsprechen.«

»Es geht nicht immer um Beweise«, sagte Souta, der mit einer weiteren Kirsche zwischen den Fingern herumspielte. »Manche Dinge funktionieren oder stimmen einfach, ohne, dass wir die Gründe dafür kennen. Einsicht kann auch ohne Beweise erfolgen. Erfahrung, Beobachtung und Glaube spielen dabei eine viel stärkere Rolle. Irgendwann mal gab es Gründe dafür, dass die Sternbilder so entstanden sind. Ob wir damit heute noch etwas anfangen können, ist uns überlassen. Es gehört nun einmal zu unserer Kultur und prägt unseren Alltag.«

Piara stutzte und dachte über seine Worte nach. »Glaubst du daran?«, fragte sie schließlich und erntete einen skeptischen Blick. »Also an Sternbilder und die Eigenschaften irgendwelcher Bäume, meine ich.«

»Klar.« Die Schnelligkeit seiner Antwort überrumpelte Piara. »Der Planet ist ständig verschiedenen Anziehungskräften ausge-setzt. Dass die Mondphasen eine Auswirkung auf uns und unseren Kontinent haben, könntest du genauso zur Astrologie zählen. Und die ist nicht verboten.«

»Aber das mit den Monden ist doch bewiesen!«, antwortete Piara ohne Umschweife.

»Quatsch, wie willst du das beweisen?« Souta lachte auf. »Wir glauben es, weil es sich beobachten lässt. Genauso ist das bei den Sternbildern. Nur, dass ihnen irgendwann weniger Bedeutung zugemessen wurde als den Monden. Sobald Azeth- und Natur-magie dazu verwendet werden konnten, Städte zu errichten und technischen Fortschritt zu erreichen, geriet alles andere einfach zunehmend in den Hintergrund.«

Mit seinen saftdurchtränkten Fingern, die wieder tief im Einmachglas verschwanden, mochte Souta gerade wie ein kleines Kind wirken, doch die Logik hinter seiner Argumentation über-raschte Piara.

»Du glaubst also, dass es Grundlagen dazu gab, die jedoch in Vergessenheit geraten sind?«

»Jain, viel eher …«, antwortete er und suchte nach den passenden Worten, als die Eingangstür sich erneut öffnete. Soutas Augen weiteten sich.

»Bei den Göttern, ich danke dir!«, rief er und stürzte auf Ineas zu, der gerade mit drei dampfenden Schalen hereingekommen war. »Du bist der beste Bruder. Nie lässt du mich verhungern, oder vergisst mich«, Souta warf Piara abermals einen gespielt beleidigten Blick zu, bevor Ineas ihm mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn schlug.

»Und du hast klebrige Finger, du Klette«, antwortete er mit ungerührter Miene. »Timo hat mich auf dem Heimweg darauf aufmerksam gemacht, dass unser Essen noch bei ihm im Gasthaus steht.« Ineas wandte sich Piara zu und setzte sich.

»Ich hab es einfach vergessen«, wiederholte sie und bemühte sich, nicht genervt aufzustöhnen. »Danke fürs Abholen. Aber du bist ungewöhnlich früh hier.«

Souta löffelte bereits seine gefüllte Süßkartoffel, noch bevor Ineas die anderen beiden Schalen verteilt hatte; ihr Gespräch von vorhin war damit fürs Erste unterbrochen.

»Hm, ja. Wir haben uns heute rangehalten, damit wir nicht die ganze Sonnenflut1 über durcharbeiten müssen.« Er zupfte vorne an seinem Hemd und versuchte so, ein wenig kühle Luft darunter zu fächeln. »Der Laumond dieses Jahr ist echt das Letzte. Ich bin froh, wenn mittags bald wieder frei ist.«

Piara lächelte und entschloss sich dazu, das Thema mit den Sternen einstweilen bleiben zu lassen. Stattdessen lauschte sie dem Gespräch ihrer Brüder, bis ihr Ärger weitestgehend verflogen war.

Erst spät abends, nachdem sie kalt geduscht und ihre nassen Haare wieder hochgesteckt hatte, setzte Piara sich mit dem Buch, das Rhilina ihr gegeben hatte, aufs Bett und sah es genauer durch. Die markierte Seite umging sie bewusst, weil ihr die Passage wie eine Aufforderung vorkam, das darin Geschriebene nicht weiter zu hinterfragen. Stattdessen dachte sie über Soutas Worte nach und blätterte zu dem Kapitel über das Sternbild des siebenten Monats, in dem sie Geburtstag hatte. Es stand im Zeichen der Euonis, einem Baum, dessen Ursprung in Vrin vermutet wird. Piara kannte die Fakten bereits, die hier auf den ersten Seiten beschrieben wurden. Dennoch war sie so vertieft in das Kapitel, dass sie nahtlos den nächsten Abschnitt las.

Im Bild der Euonis Geborene zeichnen sich durch Willensstärke und Durchsetzungsfähigkeit aus. Ihnen wird besonderer Realitätssinn sowie Beharrlichkeit zugeschrieben.

Piara schnaubte und verließ ihr Zimmer. Am Ende des Gangs klopfte sie an Soutas Tür, der mit einem verschlafenen Murren reagierte. Er lag auf dem Bett, die Beine gegen die Wand gelehnt und den Kopf auf den Boden hängend. Neben ihm stand das Glas eingelegte Kirschen, aus dem eine Gabel ragte.

»Was zum Henker«, sagte Piara und setzte sich auf die Holzdielen neben Soutas Kopf. »Ich nehme an, dass dir der Rücken weh tut, was deine seltsame Pose erklären würde, aber …«, ihr Blick fiel auf das Einmachglas.

»Die sind wirklich gut«, antwortete er und reichte Piara die Gabel. »Erst fand ich es fies von dir, dass du mir nichts Ordentliches gegeben hast, aber das war Schicksal. Die Kirschen sind weltklasse, überzeug dich selbst!«

Lustlos kaute Piara an einer der Früchte und befand sie für viel zu süß. »Kannst du mir ein Buch leihen? Über Bäume.«

»Sicher, zweites Regal, unterstes Fach. Wühl dich durch.« Piara stand auf und zog einen dicken Einband heraus, der ihr vielversprechend erschien. Damit setzte sie sich wieder auf den Boden und durchforstete das Stichwortverzeichnis.

»Euonis?«, fragte Souta und erntete ein Nicken. »Such lieber mal nach Eldorn und sag mir, wie unähnlich Ineas und ich uns doch sind! Das liegt sicher auch nur an den Sternen. Du hast es heraufbeschworen mit deinem Starrsinn!«

»Zieh mich nicht ständig auf«, gab Piara zurück und schob Soutas Kopf mit ihrem Fuß zur Seite. »Du bist so eine verfluchte Nervensäge! Iss deine Kirschen.«

»Dir ist klar, wie beharrlich du in der Sache bist? Du willensstarkes Paradebeispiel einer Euonis!«

Piara warf ihm einen giftigen Blick zu. Mit aufgeblasenen Backen legte sie das Buch auf Soutas Gesicht ab, um ihn als Buchstütze zu benutzen und ihn zum Schweigen zu bringen. Als sie ein passendes Kapitel gefunden hatte, begann sie zu lesen.

Bäume gelten als Symbol für das Lebendige und Beständige. Fest mit der Erde verbunden strecken sie ihre Äste nach den Sternen und wachsen ihnen entgegen. Von ihrem eigenen Charakter gezeichnet entwickelt jeder Baum seine eigene Form, geprägt von seiner Umwelt. Wie die Menschen sind sie an diese angepasst.

Einen völlig gleichmäßig gewachsenen Baum sucht man in dieser Welt vergeblich: Es gibt immer Äste, die kürzer oder gar nicht gewachsen sind, sein Laub mag stellenweise dichter oder der Stamm schief gewachsen sein.

---ENDE DER LESEPROBE---