Asphaltfieber - Michael Horeni - E-Book

Asphaltfieber E-Book

Michael Horeni

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Beschreibung

Zwei Welten prallen aufeinander: Sammy aus Neukölln, der sich durchschlagen muss, trifft Dani aus Dahlem, der sehr behütet aufwächst. Doch eines haben beide Jungs gemeinsam: Die Leidenschaft für Käfigfußball. Und für Mädchen, die gut Fußball spielen. Jede freie Minute verbringen sie im Käfig. Als Ahmet, Jugendtrainer bei Herta BSC, die Fünfer-Truppe um Sammy beim Spielen beobachtet, entdeckt er sofort ihr Talent. Von da an geht es bergauf, doch der Weg nach oben ist alles andere als einfach. Vor allem die Armut in Sammys Familie treibt den guten Spieler immer wieder fast ins Abseits. Aber mit Danis Hilfe schaffen sie es zum großen Berliner Käfig-Cup ... Jetzt heißt es: Alles auf Sieg!


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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressum1. Willkommen in Neukölln2. Der Typ auf dem Sofa3. Dani4. Duell in Dahlem5. Doppelpass im Käfig6. Ein neuer Trainer7. Deal auf dem Friedhof8. Die Entscheidung9. Ausweglos10. Rettung in letzter Minute11. Ehrensache12. Der Käfig-Cup

Über das Buch

Zwei Welten prallen aufeinander: Sammy aus Neukölln, der sich durchschlagen muss, trifft Dani aus Dahlem, der sehr behütet aufwächst. Doch eines haben beide Jungs gemeinsam: Die Leidenschaft für Käfigfußball. Und für Mädchen, die gut Fußball spielen. Jede freie Minute verbringen sie im Käfig. Als Ahmet, Jugendtrainer bei Herta BSC, die Fünfer-Truppe um Sammy beim Spielen beobachtet, entdeckt er sofort ihr Talent. Von da an geht es bergauf, doch der Weg nach oben ist alles andere als einfach. Vor allem die Armut in Sammys Familie treibt den guten Spieler immer wieder fast ins Abseits. Aber mit Danis Hilfe schaffen sie es zum großen Berliner Käfig-Cup ... Jetzt heißt es: Alles auf Sieg!

Über den Autor

Michael Horeni, geboren 1965, hat in Frankfurt Politologie studiert. Seit 1989 ist er in der Sportredaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, seit 2008 als Sport-Korrespondent in Berlin. Wie wenige andere blickt er hinter die Kulissen der deutschen Fußballwelt und ihrer Strippenzieher.

Michael Horeni

Asphaltfieber

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Greta Steenbock

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2382-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1. Willkommen in Neukölln

»Und, trinkst du schon wieder?«, fragte Sammy seine Mutter.

»Was redest du für dummes Zeug? Ich hatte einen harten Tag. Ich entspanne mich.«

Die Leute in seinem Viertel sagten oft, dass Sammy dummes Zeug redet, wenn er sich über Dinge aufregte, die nicht in Ordnung waren. Er wusste, dass das nicht stimmte. Er erzählte keinen Quatsch. Sammy verstand nur nicht, warum die Leute ihm das immer einreden wollten. Das, was ihn wütend machte, war doch ganz offensichtlich nicht in Ordnung. Jeder, der Augen im Kopf hatte und nur ein bisschen bei Verstand war, konnte das sehen. Er fragte sich, ob das alles vielleicht zu offensichtlich war, sodass kein Erwachsener glaubte, noch darüber reden zu müssen. Vielleicht konnten die Erwachsenen in seinem Viertel all das aber auch schon nicht mehr sehen. Sammy wusste es nicht. Er wusste nur, dass seine Mutter in diesen Fragen genauso war wie die meisten hier. Und das kotzte ihn an.

Jennys Hände hielten sich an einem halb gefüllten Glas fest, das man für ein Wasserglas halten konnte, wenn ihm nicht wieder dieser beißende Geruch aus dem Mund seiner Mutter entgegengeschlagen wäre, den jene ätzende Flüssigkeit verbreitete, die sie nun in einem Zug hinunterkippte. Sammy hasste es, von diesem Geruch begrüßt zu werden, wenn er aus der Schule kam.

»Es ist erst vier Uhr, Mama. Das wird noch ein harter Tag.«

»Werde nicht frech zu deiner Mutter.«

Sammy schwieg.

Er lehnte im Türrahmen und versuchte, ihren Blick aufzufangen. Es war nicht so, dass er glaubte, in ihren Augen eine Betriebsanleitung zu finden, in der stand, was ein Vierzehnjähriger tun muss, wenn seine Mutter an einem sonnigen Septembernachmittag im Bademantel auf dem Sofa neben einem Mann sitzt, den er noch nie gesehen hatte, in den Fernseher glotzt und eine Flasche Schnaps für 5,49 Euro vom Späti um die Ecke leert.

Das Wohnzimmer war abgedunkelt, nur der Fernseher spendete flackerndes Licht. Um die Sonne und die Blicke der Nachbarn nicht hereinzulassen, ließ seine Mutter an solchen Tagen meist die Rollläden runter. Vielleicht hatte sie aber heute auch nur keine Lust gehabt, sie morgens hochzuziehen. Sammy wusste es nicht.

Wenn er in diesen Momenten in die wässrig blauen Augen seiner Mutter schaute, sagte ihm ein untrügliches Gespür, dass dieser sonnige Scheißtag noch eine Menge Arbeit für ihn bereithalten würde. Sammy kannte diese Tage nur zu gut.

»Wo sind Pascal und Janis? Noch nicht von der Schule zurück?«, fragte er.

»Keine Ahnung, hab sie nicht gesehen.«

Seine Mutter sah kurz zu ihm hoch. Die vom Wodka erschlafften Lider gaben nur einen schmalen blauen Streifen frei. Sammy kannte diesen Blick. Er hasste ihn, fürchtete ihn aber nicht mehr so sehr wie vor ein paar Jahren, als der Alkohol allmählich anfing, von seiner Mutter Besitz zu ergreifen.

Ihre Augen waren nur noch zwei blasse Aquamarine, die sich hinter halb geschlossenen Lidern verbargen. Das leuchtende Blau, das er so geliebt hatte und, mit dem sie ihn früher angestrahlt hatten, war nur noch eine ferne Erinnerung.

Sammy hätte diese Zeiten vielleicht schon völlig vergessen, wenn ihn nicht ein Foto auf seinem Nachttisch immer wieder schmerzlich daran erinnern würde. Die Aufnahme war ein bisschen verwackelt, sein kleiner Bruder Janis hatte das Bild gemacht. Aber man konnte trotzdem genau sehen, wie seine Mutter ihn mit einem unbeschwerten Lachen im Arm gehalten hatte. Sammy reckte stolz den ersten Pokal in den Himmel, den er mit seinem Klub Neukölln 88 damals gewonnen hatte. Sieben Jahre war das her. Eine Menge Fußball-Pokale hatte er seitdem mit nach Hause gebracht, aber seine Mutter bekam davon nicht mehr viel mit.

Der kleine Junge mit den strubbelblonden Haaren, der aus den gleichen strahlend blauen Augen schaute wie einst seine Mutter, überragte sie mittlerweile um einen Kopf. Für sein Alter war Sammy nicht außergewöhnlich groß. Ein bisschen größer vielleicht als die meisten in seiner Mannschaft, aber wiederum auch nicht so riesig, dass er entscheidende Vorteile beim Kopfballspiel gehabt hätte. Er war außerdem ziemlich schlaksig, selbst für einen Vierzehnjährigen, bei denen Arme und Beine ohnehin gerne wild in die Länge schießen. Seine Muskeln verrieten jedenfalls überhaupt kein Interesse, mit dem Wachstum seines Körpers auch nur annähernd Schritt zu halten. Zu alledem machten auch noch seine Haare, was sie wollten. Sosehr Sammy morgens mit Bürste und Gel versuchte, ihnen die Widerspenstigkeit auszutreiben, spätestens nach ein paar Stunden führten sie wieder ihr strubbeliges Eigenleben. Seine Mutter veranlasste eine alte, eigentlich längst vergessene Sorgfaltspflicht gelegentlich noch dazu, ihm dann wie einem Kind durch die Haare zu fahren – so wie sie es früher gemacht hatte, als er noch zu ihr aufblickte und alles in Ordnung war.

Der Blick seiner Mutter verhieß für heute nichts Gutes. »Wenn du kotzen musst, geh ins Bad«, fluchte er. Er wollte nicht wieder den Wohnzimmerboden aufwischen müssen. Dennoch klang es viel härter, als es eigentlich sollte. »Und wer ist der Typ auf dem Sofa?«, fuhr er fort. Diesmal aber genau so hart und abfällig, wie er es wollte.

Der Typ war ziemlich fett und saß breitbeinig auf den braun karierten, durchgewetzten Polstern. Die wenigen Haare fielen ihm strähnig in die Stirn. Der Kerl glotzte ihn aus stumpfen Augen an und sagte kein Wort. Er legte nur die Hand auf den Oberschenkel von Sammys Mutter – und grinste. Sammy hätte ihn am liebsten umgebracht. Doch eigentlich war es ihm vollkommen egal, wer der Typ war, wenn er nur bald wieder verschwinden würde. So wie die anderen.

Die Antwort seiner Mutter wartete Sammy nicht ab. Er ging in die Küche und blickte auf das Chaos, das ihn dort empfing. In der Spüle türmten sich Teller und Töpfe vom gestrigen Abendessen, das er beim Spiel des FC Bayern für Janis und Pascal gemacht hatte. Er schob die Ärmel seines Sweatshirts hoch und machte sich an die Arbeit.

Es war ein toller Fußballabend mit seinen Brüdern gewesen, wenn man mal davon absah, dass er mit dem FC Bayern nicht viel anfangen konnte. Okay, die Mannschaft spielte den besten Fußball der Welt. Das schon. Aber Sammy mochte keine Gewinner, zumindest nicht solche, die schon vor dem Spiel ganz genau wussten, dass sie gewinnen würden. Noch schrecklicher als diese Sorte von Gewinnern fand er nur, dass man vielen Gegnern der Bayern schon vor dem Anpfiff ansah, dass sie genau wussten, dass sie keine Chance hatten. Und dass sich daran niemals etwas ändern würde. Sammy erkannte Verlierer an ihren Augen, dafür genügte ihm ein Blick. Da machte ihm keiner was vor. Wer in diesem Viertel lebte, erkannte Verlierer sofort.

Sammy hatte mittlerweile eine Ahnung davon, wie man sich kleine Vorteile verschaffen konnte. Auf der Straße kannte er sich aus. Das traurige Anschauungsmaterial, das ihn hier ständig umgab, wollte er später auf keinen Fall bereichern. Aber den Geschmack des Gewinnens, sich wirklich wie ein Sieger zu fühlen, kannte Sammy auch nicht von seinen Geschäften in Neukölln, selbst wenn dabei etwas für ihn abfiel. Und schon gar nicht von zu Hause oder aus der Schule. Dieses gute Gefühl schenkte ihm nur der Fußball.

Seine kleinen Brüder jedenfalls liebten die Bayern. Vor allem deswegen, weil sie Gewinner waren. Sie konnten sich eigentlich jeden Samstag, wenn sie die Sportschau sahen, darauf verlassen, mit ihnen zu den Gewinnern zu gehören. Und wenn die Bayern dann auch noch dienstags oder mittwochs in der Champions League siegten, dann gehörten sie sogar zweimal in der Woche zu den Gewinnern.

Janis war zehn und Pascal elf. Um genau zu sein, waren sie sechzehn Monate auseinander, also mehr als ein Jahr, worauf Pascal größten Wert legte. Außer ihrer Leidenschaft für den FC Bayern, Fußball im Allgemeinen und die Playstation hatten sie nicht viel gemeinsam. Auch vom Aussehen erkannte man sie nicht als Brüder, und richtige Brüder waren Janis, Pascal und Sammy auch tatsächlich nicht. Sie waren Halbbrüder, jeder hatte einen anderen Vater. Pascal und Janis kamen ganz offensichtlich nach ihren männlichen Erzeugern, von der Mutter hatten sie nicht viel geerbt.

Pascal trug einen pechschwarzen Kamm, der sich von der Stirn bis in den Nacken zog. Die Seiten waren raspelkurz rasiert. Janis hatte eigentlich gar keine Frisur, und es kümmerte ihn auch nicht weiter. Er freute sich, wenn Sammy ihm alle paar Wochen die hellbraunen Haare ein bisschen schnitt, und was dabei herauskam, sah meistens gar nicht mal so schlecht aus. Viel wichtiger als modischer Schnickschnack war ihm, dass er einen athletischen und kräftigen Körper besaß. Janis fragte sich nicht, woher seine Muskeln kamen, sie waren einfach da – und verdammt hilfreich. Wenn sich die beiden Jungs in die Haare kriegten, dann machten seine Kräfte den Altersunterschied zu Pascal mehr als wett. Früher hatte sich Pascal bei den täglichen Raufereien am liebsten triumphierend auf Janis’ Brustkorb gesetzt, aber mittlerweile geschah das auch umgekehrt. Nur wenn Fußball lief, gab es nie Streit.

Die ersten zehn Minuten des Bayernspiels hatten die Jungs gestern jedoch verpasst, weil sie die Fernbedienung nicht finden konnten. Sie lag irgendwo unter einem Haufen Klamotten neben dem Sofa. Irgendwann zog Janis sie jubelnd hervor, und als sie den Fernseher gerade eingeschaltet hatten, fiel auch schon das erste Tor.

»Die Bayern zocken wieder alle ab, Bruder. Geniales Tor. Wir schlagen alle!«, rief Janis nach dem ersten Treffer. Die Fernbedienung hielt er dabei noch in der Hand. Es hatte tatsächlich wieder nur elf Minuten gedauert, bis die Bayern in der Champions League in Führung gegangen waren.

»Athen nehmen wir auseinander, alles Gurken. Und wer soll uns überhaupt schlagen? Niemand!«, pflichtete Pascal siegessicher bei.

Sammy hatte sich insgeheim einen Sieg des hoffnungslos unterlegenen Außenseiters gewünscht. Aber da seine Brüder die Bayern so sehr vergötterten, vertrieb er den Gedanken an einen Sieg des Underdogs schnell wieder. Er ging in die Küche und machte Spaghetti.

Sammy hatte die Nudeln in einen Topf geworfen, der schnell überkochte, weil er viel zu klein war, und dann die Herdplatte mit salzigen Schlieren überzog. Aber einen anderen gab es nicht. Sammy hatte auch ein bisschen viel Salz ins Wasser gegeben, aber auch das machte nichts. Nudeln schmeckten einfach immer super, selbst wenn ein paar Spaghetti am Boden des Topfes festklebten. Und am Ketchup sparte Sammy ohnehin nicht. Ketchup war die beste Spaghettisoße, die sich die drei Brüder vorstellen konnten. Und Janis und Pascal liebten ohnehin alles, was Sammy ihnen vorsetzte. In der Halbzeitpause vertilgten die drei Brüder genüsslich ihre Spaghetti, und Janis holte sich aus der Küche sogar noch eine Extraportion Ketchup.

Sammy beschloss, seine Hoffnung für die Verlierer aus Athen vollständig aufzugeben und sich an diesem Abend lieber über die Momente zu freuen, wenn sich seine Brüder in den Armen lagen. Und das würde, so gut wie die Bayern waren, so sicher passieren wie die wirklich coolen Dribblings von Costa und Coman, Robben und Ribéry.

Nach den Spaghetti und der Halbzeitpause lagen sich seine Brüder noch viermal in den Armen. Die Bayern gewannen 5:0. Mit gefüllten Bäuchen und beseelt von den super Toren, fielen Janis und Pascal nach dem Schlusspfiff in ihre Betten. Bis in ihre Träume begleitete sie das Gefühl des Sieges. Sammy wusste genau, wie sich seine Brüder fühlten, denn die geheimen Träume teilte er mit ihnen.

Die Ketchupreste und die festgebackenen Nudeln im Topf erinnerten ihn nun wieder an den Bayernsieg des Vorabends. Sie waren eine klebrige Verbindung mit Frühstücksresten und ausgedrückten Kippen eingegangen. Kalter Rauch hing in der Luft. Im Abfluss löste sich eine zerknüllte Zigarettenschachtel in schmierig aufgeweichten Nudeln und klebriger Asche auf. Den Markennamen auf der Packung konnte Sammy nicht mehr entziffern, aber er wusste, dass seine Mutter sonst billigere Sachen rauchte.

»Immerhin zieht der Typ ihr nicht auch noch die Kippen ab«, dachte Sammy.

Als Sammy den Topf schrubbte, verlangte sein Magen plötzlich nach Aufmerksamkeit. Das laute Knurren und wilde Glucksen erinnerte ihn daran, dass er den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen hatte. Er war vertraut mit diesem Gefühl der Leere, das sich von der Magengrube bis in seinen Kopf ausbreitete und ihn nach der Schule öfter überfiel.

Der Kühlschrank bei ihnen zu Hause war meistens leer. Nur in ihren lichten Momenten hatte Jenny mit Äpfeln, Frühstücksflocken und Nudeln vorgesorgt. Aber heute war nichts da. Und weil das verdammt häufig passierte, hatte Sammy wenigstens gelernt, wie er dieses nagende Gefühl in seinem Magen besänftigen konnte. Denn vollständig vertreiben ließ es sich nicht. Er musste an etwas Schönes denken, so intensiv wie möglich. Dann ging es besser. Und so dachte Sammy an Fußball, an die Spiele im Käfig. Denn es gab nichts Schöneres. Schon gar nicht an solchen Tagen.

Diesmal funktionierte der Trick aber nicht. Denn der Typ, der eben noch auf dem Sofa gesessen hatte, war gerade so selbstverständlich in die Küche hereinspaziert, als ob es seine eigene wäre. Er scherte sich nicht um Sammy und holte stumm die nächste Flasche aus dem Kühlschrank.

Er musste raus hier, zum Käfig. Ganz schnell. Im fensterlosen Flur, den eine Glühbirne an der Decke schwach beleuchtete, schnappte er sich seinen Ball und rannte die Treppe runter. Sammy machte einen kurzen Umweg zum Damaskus-Grill, um sich seinen Lieblings-Schawarma für 2,45 Euro zu holen, wie immer mit der extrascharfen roten Soße, die ihm Selin, der Chef des Ladens, mittlerweile, ohne nachzufragen, dick auf den Fladen schmierte. Schawarma gab es nirgendwo günstiger in der Gegend, und schon gar nicht besser. Und das wollte etwas heißen in diesem Kiez mit seinen Dutzenden arabischen und türkischen Fastfood-Läden.

»Dönerzwiebelalles?«, fragte Selim.

»Ja. So wie immer, Chef. Aber bitte ein bisschen mehr Fleisch, wenn’s geht. Ich hab voll Hunger.«

Selim nickte. Er kannte den Unterschied, ob Jungs hier nur etwas umsonst rausschlagen wollten oder ob es wirklich ihr leerer Magen war, der zu ihm sprach.

»Klar, Junge, bist doch ein guter Kunde.«

Sammy biss kräftig in den Fladen, mit geschlossenen Augen. Er genoss den Augenblick, als sich sein Magen beruhigte. Der erste Bissen war immer der beste. Sammy hielt sich nicht lange mit dem Essen auf. Er nahm den Schawarma auf die Hand, klemmte den Ball unter den freien Arm und lief weiter zum Käfig.

Der Platz lag in der Schierker Straße, nur ein paar Minuten von seiner Wohnung und dem Damaskus-Grill entfernt. Als Sammy die Altenbraker Straße mit ihren grauen Siedlungshäusern kreuzte und sich mit dem Handrücken die letzten Reste der Soße aus den Mundwinkeln wischte, hörte er schon den scheppernden, metallenen Klang, der ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Der Klang des Käfigs.

Es war ein ganz spezielles Geräusch, das er schon aus hundert Metern Entfernung aus dem Straßenverkehr heraushörte. Wenn er das Scheppern hörte, konnte er vor seinem inneren Auge förmlich sehen, wie der Ball gegen das dunkelgrüne Metallgitter klatschte, dann auf den Asphalt fiel und sofort wieder nach dem nächsten Schuss gegen das Gestänge knallte. Sammy konnte den Spielverlauf hören. Und der Klang des Käfigs sagte ihm noch etwas anderes: Er war nicht allein.

Sammy lief nun noch ein bisschen schneller, und als er um die letzte Straßenecke bog, rannte er, so schnell er konnte. Erdal, Ibrahim und Sead begrüßten ihn lautstark. Die »Schierker Street Kings« waren mit ihm nun komplett. Der Tag war gerettet. Da konnte passieren, was wollte.

Die Street Kings aus der Schierker Straße waren das beste Käfig-Team in Neukölln, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. In diesem Jahr hatten sie jedes Spiel in ihrem Käfig gewonnen, sogar gegen Jungs, die zwei Jahre älter waren. In der ganzen Umgebung gab es keine Mannschaft in ihrem Alter, die es mit den Street Kings aufnehmen konnte. Und es gab auch nicht den geringsten Zweifel, wie gut es sich für die vier Jungs anfühlte, hier die Besten zu sein.

Sead im Tor war Bombe. Und Erdal, Ibrahim und Sammy wirbelten und tricksten auf dem Feld, wie man das bei keiner anderen Mannschaft sah. Die »Schierker Street Kings« spielten schon über fünf Jahre zusammen. Und selbst wenn man ihnen die Augen verbunden hätte, hätten sie ganz genau gewusst, was der andere gerade mit dem Ball macht und wohin er ihn spielt, so gut kannten sie sich. »Hey, Alter, high five. Gut, dass du kommst. Machen wir gleich Spielchen?«, fragte Ibrahim zur Begrüßung. »Aber warum guckst du so?«

»Meine Mutter …«, sagte Sammy.

»Schon kapiert, Alter. Geht gar nicht klar, oder?«

»Nee, Mann. Ist aber auch egal jetzt. Spielen wir zwei gegen zwei – und nur mit geschnickten Toren.«

Sammy hatte keine Lust, zu erklären, was los war. Die Jungs wussten ohnehin, wie es ihm ging. Stress hatten alle zu Hause, jeder auf seine eigene Weise.

Die Jungs nickten und klatschten Sammy ab.

»Wechsel bei fünf, letzter Torschütze entscheidet«, sagte Erdal.

»Klar, Mann. Ich fange mit Sammy an«, sagte Sead und legte den Arm um Sammys Schulter.

»Sead ist Handicap. Und Handicap darf entscheiden«, sagte Ibrahim lachend, den alle nur Ibra nannten – so wie Zlatan Ibrahimovic. Der war sogar noch cooler als Cristiano Ronaldo, Sammys Idol, und auch seine Tore waren noch ein bisschen geiler, fand Ibra. Sammy verstand nicht, wie man einen Spieler besser finden konnte als Ronaldo. Das war einfach nicht logisch, denn Ronaldo war der Beste auf der Welt. Aber wie auch immer: Ibra war wahnsinnig stolz darauf, dass die Street Kings ihm diesen ehrenvollen Spitznamen verliehen hatten.

»Ibra, du spielst auch gleich mit dem Handicap zusammen. Also mach dich nicht unbeliebt – und jetzt stampft dich das Handicap in den Boden. Los geht’s«, entgegnete Sead feixend.

Sie spielten zwei gegen zwei, zumindest so lange, bis irgendwann die anderen Kicker aus dem Viertel dazukamen. Wer beim zwei gegen zwei das Pech hatte, mit Sead im Feld zu spielen, der hatte dummerweise eigentlich schon verloren. Das wussten alle. Sead war zwar ein Supertorwart mit unglaublichen Reflexen, als Feldspieler war er aber längst nicht so stark wie Erdal und Ibra – und erst recht nicht wie Sammy. Wer jedoch bei einem Spiel vier gegen vier Sead im Tor hatte, konnte eigentlich nicht verlieren. Und auch das wussten alle.

Am besten war natürlich ein Spiel vier gegen vier. Jede Mannschaft spielte dann mit einem festen Torwart. Für zwei gegen zwei war der Käfig eigentlich zu groß, da fielen die Tore zu leicht, und so hatten es sich die Street Kings zur Regel gemacht, dass Tore nur dann zählten, wenn man den Ball über die Torlinie lupfte. Schießen war verboten. Um aber mit dem Ball bis zur Torlinie zu kommen, musste man vorher alle seine Gegner ausgespielt haben, und so dribbelten sie im Käfig, was das Zeug hielt.

Es gewann das Team, das zuerst fünf Tore erzielte, und der letzte Torschütze durfte dann einen neuen Mitspieler aus der anderen Mannschaft wählen, bis jeder einmal mit jedem gespielt hatte – und jeder einmal Sead durchgeschleppt hatte. Dann stand der Sieger fest. Sammy packte an diesem Tag all seine Wut ins Spiel, so wie es die anderen auch immer wieder taten. Seine Angriffslust suchte sich im Käfig immer neue Wege im Dribbling gegen Erdal und Ibra. Er fand Wege auf dem harten Asphalt, die es auf einem normalen Fußballplatz nicht gibt. Die Gitter im Käfig waren nun seine besten Freunde, mit ihnen spielte er blind Doppelpass, auf die Gitterstäbe konnte er sich immer verlassen. Sammy musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Ball wieder zu seinem Fuß zurückkehren würde, wenn er ihn gegen das Metall knallte. Von außen schien der Käfig mit seinen meterhohen Gittern ein Gefängnis, aber darin fühlte Sammy eine Freiheit, wie er sie jenseits der Gitter nicht kannte.

Sammy schlug Haken wie ein Hase auf der Flucht, seinen Jägern immer einen blitzschnellen Gedanken voraus. Plötzlich aber drehte er sich mit dem Ball um die eigene Achse und schien sich in einen Eiskunstläufer zu verwandeln, so elegant, ja schwerelos glitt er über den grauen Asphalt. Auf wundersame Weise behielt er dabei immer den Ball am Fuß, er schien wie verwachsen mit dem Ball, ganz eins – bis ihm Erdal den Ellbogen in die Magengrube rammte. Er wollte offenbar Bekanntschaft mit Sammys Schawarma machen.

Sammy blieb die Luft weg. Aber er ließ sich nichts anmerken und spielte einfach weiter. So wie auch Erdal, Ibra und Sead niemals einen Ton von sich gaben, wenn es zur Sache ging. Im Käfig herrschten eigene Gesetze, und wenn es mal wehtat, wie in diesem Moment, galt die eherne Regel, die sie jeden Tag auch auf der Straße lernten: Augen zu und durch.

Sie brauchten keinen Schiedsrichter im Käfig, denn die Regeln, die sie sich selbst gegeben hatten, auch unter Schmerzen anzuerkennen, war Ehrensache. Und wenn dann im Eifer des Gefechts doch mal ein Foul geschah, das nach ihren Regeln tatsächlich ein Foul war, dann gaben sie den Ball freiwillig her. Auch das war Ehrensache.

Es stand 4:4, als Sammy nach Erdals Ellbogencheck um Luft rang – und ein paar Augenblicke später zum ersten Mal jenen Trick auspackte, der den »Schierker Street Kings« den zweiten Teil ihres Namens gab: den »Street-King«. Diesen Wahnsinnstrick eines holländischen Straßenkickers hatten die Jungs vor ein paar Jahren auf YouTube entdeckt und sich immer wieder reingezogen. Aber keiner von ihnen beherrschte diesen Trick. Er war so kompliziert, dass dabei immer etwas schiefging. Im Käfig hatte Sammy den »Street-King« ohnehin noch nie ausprobiert, zumindest nicht, wenn seine Freunde dabei waren. Seine Tricks übte Sammy immer alleine, und erst wenn er sie konnte, zeigte er sie im Match.

Nun aber zog er den Ball mit der rechten Sohle überraschend nach hinten und schnellte mit dem anderen Bein nach vorne. Dann spielte er den Ball leicht nach vorne und baute einen verwirrenden Übersteiger ein. Sammy balancierte nun auf dem rechten Fuß und sprang aus dem Stand auf den Ball – und trat gleichzeitig mit dem anderen Fuß nach hinten aus wie ein wilder Esel. Obwohl Erdal und Ibra den Trick ganz genau kannten, wussten sie nicht, wie ihnen geschah, als Sammy den Ball blitzschnell mit dem rechten Fuß über den Spann zur Seite schnickte und ihn sich so bei der Landung auf den linken legte. Erdal konnte gar nicht so schnell gucken, wie das ging – und schon war Sammy an ihm vorbei. Er hatte nun nur noch Ibra vor sich, der alleine die Torlinie verteidigte. Sammy lief im vollen Tempo auf Ibra zu, stoppte kurz vor ihm aber abrupt ab – und spielte den Ball mit der rechten Hacke kurz nach hinten, nahm ihn dann sofort mit der linken Innenseite wieder auf und drehte sich dann um die eigene Achse: der alte »Zidane-Trick«, der große Klassiker.

Ibra versuchte Sammy noch mit einer Grätsche zu stoppen, doch Sammy war zu schnell und schnickte den Ball locker über sein ausgestrecktes Bein hinweg ins Tor – 5:4. Erdal und Ibra lagen geschlagen am Boden.

»Geiler Move – hab dir auch super den Rücken freigehalten«, rief Sead von hinten und grinste. »Jetzt sind wir echt die Street Kings. Und mit mir im Team gewinnt einfach jeder.«

»Echt krass. Den Street-King hat sonst keiner drauf«, sagte auch Ibra anerkennend. »Wie lange hast du den trainiert?«

Sammy grinste nur und sagte: »Bis ich ihn konnte.«

»Den Trick werden wir übrigens noch brauchen, Sammy. Wir haben bald ein Spiel.«

»Wir sind doch eh die Besten. Wir gewinnen hier auch ohne Street-King alles. Wir sind doch die Street Kings«, sagte Erdal und klopfte sich auf die Brust, als hätte er soeben mit dem Street-King und dem Zidane-Trick alle schwindelig gespielt.

»Kommt mal her. Jetzt zeig ich euch was«, sagte Ibra und kramte sein Handy aus der Tasche.

»Käfig-Könige«, fuhr er bedeutungsvoll fort und rief die entsprechende Seite auf.

»Hier, schaut’s euch an. Kannst doch lesen, Alter, oder?«, sagte Ibra und drückte Sammy das Handy in die Hand.

»Gib her, Alter«, sagte Sammy und las vor: »Wer sind die Käfig-Könige von Berlin? Wer holt den Käfig-Cup?«

»Käfig-Könige. Das sind doch wir, Alter. Ist doch klar. Musst du doch nicht vorlesen«, sagte Erdal so gelangweilt, als hätte Sammy ihm gerade erklärt, dass der Fußball-Weltmeister Deutschland heißt.

»Erdal, gut jetzt«, sagte Sammy in einem Tonfall, als spräche er zu einem Hund. Dann knallte er den Ball auf Erdal, der unter dem Gelächter der Jungs gerade noch ausweichen konnte.

»Richtig geile Sache«, fuhr Sammy mit einem Blick auf das Handy fort. »Käfig-Cup in Berlin – für alle bis fünfzehn Jahre. Das Turnier ist im Olympiastadion. Und wer ins Finale kommt, spielt dann um die Deutsche Käfigmeisterschaft. Das ist echt Hammer.«

»Wie geil ist das denn?! Käfig-Könige!«, platzte es aus Sead heraus.

»Sag ich doch. Die Anmeldung geht bis nächste Woche. Hab ich aber schon gemacht«, sagte Ibra.

»Echt, Mann – wir sind dabei?«, fragte Sead, der immer noch ein bisschen ungläubig schaute, genau wie alle anderen.

»Nennt mich ab jetzt einfach King. Und geht auf die Knie. Die Street Kings sind dabei. Aber es gibt noch ein Problem«, sagte Ibra. »Hast du es gelesen?«

Er blickte zu Sammy, der sich auf dem Handy die Ausschreibung noch einmal genau anschaute.

»Ja.« Sammy hob den Blick. »Hier steht: Die Spiele sind fünf gegen fünf, nicht vier gegen vier.«

»Shit«, stieß Sead hervor.

»So sieht’s aus, Alter. Wir brauchen noch jemanden für unser Team. Und genau das ist jetzt unser Problem. Wir haben noch vier Wochen«, sagte Ibra.

»Machen wir doch Casting: Street Kings suchen fünften Superstar«, schlug Erdal vor.

»Echt witzig.« Ibra rollte mit den Augen. Dann stolzierte er mit wackelndem Hintern über den Asphalt, als ob er gerade mit High Heels auf dem Catwalk unterwegs wäre. Und als er vor Sead stand, sagte er mit piepsiger Stimme: »Ich habe heute leider kein Foto für dich.«

Die Jungs lachten sich schlapp.

»Ist vielleicht gar keine so blöde Idee. Wir brauchen doch wirklich den Besten – nur dann können wir den Pokal gewinnen«, sagte Sead.

»Guter Plan – für einen Torwart«, sagte Erdal grinsend.

»Wer nen besseren Vorschlag hat, kann’s ja sagen, ihr Hirn-Genies«, gab Ibra zurück.

»Und voll demokratisch – zumindest für nen Araber«, sagte Erdal und grinste so breit, dass seine obere, schiefe Zahnreihe zum Vorschein kam.

Ihre Sprüche hauten sich die Street Kings genauso um die Ohren wie die Bälle im Käfig, und auch dabei galt: Man musste schnell und clever sein, um zu gewinnen.

»Aber was ist mit Ayse und Selin? Die sind doch echt die Besten hier. Da brauchen wir doch gar nicht lange zu suchen«, sagte Sammy.

Er wunderte sich, warum darauf noch niemand gekommen war. Ayse und Selin waren fünfzehn Jahre alte Zwillinge – und Superkickerinnen. Sie waren echt gut, technisch stark und mit Übersicht. Ayse spielte hart. Nicht so hart wie die härtesten Jungs, aber hart. Und sie konnte einstecken, genauso wie ihre Schwester. Selin und Ayse jammerten nie, wenn es zur Sache ging. Und coole Tricks hatten sie auch drauf. Selin war im Zweikampf etwas weniger robust als ihre Schwester. Aber wenn es darauf ankam, konnte auch sie austeilen.

Wenn sie jetzt noch einen fünften Spieler für den Käfig-Cup brauchten, dann waren die Zwillinge einfach super. Und mit Ayse und Selin wären sie zu sechst, dann hätten sie sogar einen Auswechselspieler. Was wollte man mehr? Es war also ganz logisch, dass die Mädchen im Käfig-Cup mitspielen mussten, fand Sammy. Aber mit Logik hatten es offenbar nicht nur die Erwachsenen nicht so.

»Mädchen bei den Street Kings? Hast du sie noch alle, Sammy? Wir spielen doch nicht mit zwei Tussen. Nicht in einem richtigen Spiel – und schon gar nicht im Käfig-Cup. Da spiele ich lieber zu viert«, sagte Sead.

»Geht echt nicht, Alter«, pflichtete Erdal bei. »Die beiden spielen gut, klar. Aber die halten doch nix aus.«

»Da lachen sich doch die anderen kaputt, wenn wir mit zwei Girls auflaufen. Wir sind die Street Kings – und nicht die Street-Girls. Oder spielen dann alle ohne Schwanz?«, sagte Ibra.

Die Jungs grölten und schlugen sich auf die Schultern. Und damit war die Sache entschieden.

»Okay, Männer«, sagte Sammy. »Wir holen den Käfig-Cup. Wir finden schon noch jemanden.«

»So sieht’s aus«, sagte Ibra.

»Street Kings bleiben Street Kings!«, rief Erdal.

Als sie den Käfig verließen, klatschten sich Ibra und Erdal zufrieden ab. Sammy grübelte auf dem Heimweg immer noch darüber, warum Ayse und Selin nicht mitspielen sollten. Nur weil sie Mädchen waren? Das war doch bescheuert.

Sammy nahm den Ball, jonglierte ihn auf dem Fuß und ging dabei einfach weiter. In seinem Kopf spielte er schon das Finale des Käfig-Cups. Er stellte sich vor, wie sie im Olympiastadion vor Tausenden Zuschauern spielten und er in der letzten Minute das Siegtor schoss. Er nahm den Ball volley aus der Luft und hämmerte ihn genau in den Torwinkel.

Als er die Eingangstür zum Treppenhaus aufschloss, empfing ihn ein unangenehmer Geruch. Modrig und nach billigem Essen. Wenn Hartz IV einen Geruch hat, dachte Sammy, dann ist es diese Mischung. Der Gestank ließ sich schon lange nicht mehr aus dem Treppenhaus vertreiben. Vor ein paar Jahren hatte der Hausbesitzer zusätzliche Schlösser an den Fenstern anbringen lassen, sodass jetzt niemand mehr lüften konnte. Denn zuvor hatte es immer wieder ins Treppenhaus reingeregnet, weil sich niemand im Haus veranlasst sah, bei schlechtem Wetter die Fenster zu schließen. Das Regenwasser sickerte in den Holzboden ein, weil auch niemand die Pfützen wegwischte, und so moderte die Treppe über Jahre vor sich hin. Nun mussten sie eben mit dem Moder leben.

Schlimmer als der übliche Gestank im Treppenhaus waren nur noch die Ausdünstungen billigen Alkohols, die ihn zu Hause gleich wieder erwarten würden. Sammys Gedanken verdüsterten sich schlagartig. Als er die Wohnung betrat, sagte er zu sich: »Was für ein Scheißtag.« Willkommen in Neukölln.

2. Der Typ auf dem Sofa

Sammy war so müde, dass es wehtat. Er konnte sich kaum bewegen, als sein Radiowecker um 6.35 Uhr ansprang. Fünfzehn Minuten früher als sonst, wenn er zur ersten Stunde rausmusste. Er hatte noch die Mathehausaufgaben zu erledigen, die er in den Tagen zuvor nicht geschafft hatte. Am ersten Abend hatte er viel lieber mit seinen Brüdern vor dem Fernseher gesessen. Immer wenn Sammy für Janis und Pascal kochte und sie dann gemeinsam Fußball schauten, hatte Sammy das Gefühl, in einer richtigen Familie zu leben. Da konnten die Hausaufgaben warten. Und am nächsten Tag hatte er sich so über diesen Typen auf dem Sofa aufgeregt, dass er Mathe glatt vergessen hatte. Und so hatte er den Wecker für diesen Morgen früher als sonst gestellt.

Sammy kalkulierte morgens mit jeder Minute. Er wusste natürlich, dass es besser gewesen wäre, wenn er den Wecker noch fünf Minuten früher gestellt hätte, auf Punkt halb sieben. Aber er mochte es nicht, von den Nachrichten geweckt zu werden. Lieber war ihm Rihannas Stimme. Um 6.35 Uhr standen die Chancen dafür nicht schlecht. Auch Lady Gaga und Lorde waren zum Aufstehen okay, weit besser jedenfalls, als den Tag um Punkt halb sieben mit einem Bombenattentat von Islamisten oder einem blutigen Familiendrama in Berlin zu beginnen.

Es war Sido, der Sammy an diesem Morgen weckte. Sammy drückte den Song mit geschlossenen Augen weg. Eigentlich mochte er Sido, aber nicht diesen Song. Sammy kannte »Bilder im Kopf« auswendig, jede Zeile. Obwohl er das Radio mit einem routinierten Schlag in der Dunkelheit sofort zum Schweigen gebracht hatte, sang Sido in seinem Kopf einfach weiter. Warum konnte er diesem verfluchten Lied nicht entkommen?

Es war diese eine ganz bestimmte Stelle, die Sammy nicht losließ: »Und mein Vater … Über den will ich nicht reden. Ich erwarte nichts mehr.«

Sammy wehrte sich gegen die Worte, aber sie drangen trotzdem in seinen Kopf ein. Da hätte ich mich auch von einem Schulmassaker in Amerika wecken lassen können, dachte er. Und ich hätte noch fünf Minuten gespart. Mit einem Satz schwang sich Sammy aus dem Bett. Er packte seinen Mathehefter aus und versuchte den Bayern-Aufkleber zu ignorieren, den Janis ihm vor ein paar Wochen draufgepappt hatte.

Sammy hatte natürlich versucht, diesen dämlichen Bayern-Aufkleber umgehend in den Müll zu befördern. Aber das Ding klebte so hartnäckig, dass es seinem Ordner nicht gut bekommen wäre, wenn er ihn mit Gewalt abgerissen hätte. Und ein neuer Hefter kam nicht infrage. Das Bayern-Wappen mit einem anderen Aufkleber abdecken wollte Sammy allerdings auch nicht, weil Janis sonst womöglich gemerkt hätte, dass er ihn ärgern konnte. Also blieb der Aufkleber da, wo er war.

Mathe machte Sammy sogar Spaß. Natürlich nur so weit, wie einem in der Schule überhaupt etwas Spaß machen konnte. Eigentlich ging nicht einmal das. Alle seine Freunde waren genervt von der Schule, und das war das Mindeste, was man dazu sagen konnte. Einen anderen Zustand gab es für die Jungs der 8B der Paul-Ehrlich-Schule jedenfalls nicht, sie unterschieden nur den Grad ihres Genervtseins. An einem normalen Schultag gab es drei Varianten: »total genervt«, »krass genervt« oder »voll krass genervt«. Die Jungs hätten Sammy also ziemlich schief angeschaut, wenn er ihnen gesagt hätte, dass er Mathe eigentlich ganz cool fand, und so behielt er es für sich.

Sammy weckte seine Brüder und kümmerte sich ums Frühstück. Der Kühlschrank war leer. Seine Mutter schlief. »Ende des Monats. Immer die gleiche Scheiße«, sagte er zu sich. Jetzt musste er nach der Schule auch noch Geld besorgen. Immerhin stand noch eine angebrochene Tüte Milch im Kühlschrank. Viel war nicht mehr drin, aber wenigstens war das Haltbarkeitsdatum erst ein paar Tage abgelaufen. Ab Mitte des Monats kaufte seine Mutter nur noch Sachen im Supermarkt, deren Frischegrenze bald erreicht oder gerade rum war. Milch, Butter und Wurst aus diesem Sortiment zu nehmen fand Sammy okay, denn die Sachen waren noch vollkommen in Ordnung und kosteten nur die Hälfte.

»Dann reicht doch auch unser Geld«, sagte Sammy dann zu seiner Mutter, auch wenn er wusste, dass es meistens nicht so war.

Wenn nicht gerade der Alkohol ihr Gehirn vernebelte und sie den ganzen Tag auf dem Sofa vor sich hin döste, bestand seine Mutter jedoch darauf, in den ersten Wochen des Monats stets reguläre Ware mit nach Hause zu bringen. Dann erklärte sie Sammy, dass sie ihren Kindern gutes und gesundes Essen schuldig sei. Früher, als sie noch halbtags als Krankenpflegerin ihr Geld verdiente, hatte sie immer verächtlich auf die Leute herabgeschaut, die sich an den Regalen mit dem abgelaufenen Zeug eindecken mussten.

»Wir sind doch keine Asis, wir doch nicht«, hatte sie damals betont. Aber das sagte seine Mutter schon seit zwei Jahren nicht mehr.

Die Schoko-Cornflakes im Küchenschrank reichten gerade noch für seine Brüder. Sammy machte Janis und Pascal zwei Plastikschälchen zurecht und stellte sie auf den Tisch. Sein morgendliches Hungergefühl überging er.

In der ersten Stunde hatten sie Kunst. Selin hatte ihre Sachen nicht dabei. Keine Stifte, keinen Block, nichts. Karim, Jussuf, Kevin, Janina und Denise auch nicht, so wie immer eigentlich.