Die Begnadeten - Michael Horeni - E-Book

Die Begnadeten E-Book

Michael Horeni

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Beschreibung

In den Himmel gehoben und tief gefallen: Aufstieg und Absturz der Fußballlegenden von Beckenbauer und Maradona bis Özil

Sie sind Legenden des Weltfußballs: Franz Beckenbauer, George Best, Diego Maradona, Mesut Özil, Michel Platini und Sócrates. Aber diese Kicker waren auch Künstler, manche Lebenskünstler. Sie verkörperten, jeder auf seine spezielle Weise, die Schönheit des Spiels. Doch ihrer Leichtigkeit auf dem Platz, auf dem sie herrschten und der sie gleichzeitig beschützte, folgten schwere Abstürze im realen Leben. Sie fielen tief und bezahlten teuer: mit ihrer Ehre, ihrer Heimat, ihrem Leben. Bestsellerautor Michael Horeni lässt Glanz und Elend dieser Fußballgötter in seinen Porträts noch einmal unmittelbar lebendig werden.

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Buch

Sie sind Legenden des Weltfußballs: Franz Beckenbauer, George Best, Diego Maradona, Mesut Özil, Michel Platini und Sócrates. Aber diese Kicker waren auch Künstler, manche Lebenskünstler. Sie verkörperten, jeder auf seine spezielle Weise, die Schönheit des Spiels. Doch ihrer Leichtigkeit auf dem Platz, auf dem sie herrschten und der sie gleichzeitig beschützte, folgten schwere Abstürze im realen Leben. Sie fielen tief und bezahlten teuer: mit ihrer Ehre, ihrer Heimat, ihrem Leben. Bestsellerautor Michael Horeni lässt Glanz und Elend dieser Fußballgötter in seinen Porträts noch einmal unmittelbar lebendig werden.

Autor

Michael Horeni, Jahrgang 1965, ist Fußballkorrespondent Europa der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und veröffentlichte u. a. »Klinsmann« (2005), »Die Brüder Boateng« (2012) sowie in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Watzke den Bestseller »Wahre Liebe« (2019). Horeni ist seit über zwanzig Jahren als Berichterstatter zuständig für die deutsche Nationalelf und hat von 15 Welt- und Europameisterschaften im Fußball berichtet. Horeni, der Politische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie studiert hat, wurde ausgezeichnet mit dem deutschen Fair-play-Preis.

Michael Horeni

Die Begnadeten

Schönheit, Schmerz und Einsamkeit:

Fußballgötter und ihre Abstürze

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. © 2022 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Lektorat: Eckard Schuster Bildredaktion: Annette Baur Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagabbildung: © Imago / Werek; © Fotolia / jessicahyde Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Vorspiel: Der Fall der Götter

Vorspiel

Der Fall der Götter

Franz Beckenbauer, George Best, Diego Maradona, Sócrates, Michel Platini, Mesut Özil

Diese unglaublichen Spieler zu erleben bedeutete für viele Millionen Menschen rund um den Globus ein großes Glück. Mit ihrem hinreißenden Spiel verkörperten sie zu ihren besten Zeiten die Essenz des schönen Fußballs, sein Wesen, seine Leichtigkeit. Doch sie alle, die den Fußballhimmel berührten, erlebten und erlitten tiefe Abstürze. Manche wurden zu Höllentrips, denen nur der Tod ein Ende setzen konnte. Maradona (2020), Sócrates (2011) und Best (2005) vernichteten ihre Körper durch Kokain, Alkohol und andere Drogen. Beckenbauer und Platini kosteten ihre späten Abstürze als Fußballfunktionäre, bei denen es um Millionenzahlungen und Korruption ging, Amt und Ehre. Und Özil verlor seine Heimat, seine deutsche Heimat.

Das, was sie über die Zeiten und Generationen hinweg verbindet, lässt sich erst erkennen, wenn man diese Begnadeten gemeinsam in den Blick nimmt. Dann werden neben der Genialität, die sie eint, auch andere Parallelen sichtbar, die für ihre Abstürze wichtige Rollen spielten.

Zweifellos waren die Verlockungen für diese Ausnahmeerscheinungen groß, sich auch nach dem Abpfiff weiter als jene Ikonen und Kunstfiguren zu begreifen, zu denen sie sich auf dem Spielfeld selbst gemacht hatten. Oder zu denen sie gemacht wurden. So gehörten alle diese Fußballgötter des letzten halben Jahrhunderts irgendwann nicht mehr sich selbst. Die Wirklichkeit präsentierte ihnen schonungslos die Rechnung. Eine Wirklichkeit allerdings, der sich die Auserwählten schon kaum mehr zugehörig fühlten, gleichgültig, zu welcher Zeit sie lebten. Götter akzeptieren keine Richter, zumindest keine weltlichen. Auch die Fußballgötter taten es nicht.

Der Preis, den sie am Ende bezahlen mussten, lässt sich mit ihren menschlichen Schwächen allein nicht hinreichend erklären. Klar ist: Auch der jeweilige Zeitgeist wurde ihnen irgendwann zum Feind. Ein tückischer, unsichtbarer Feind, der sich den meisten erst im Nachhinein zu erkennen gegeben hat, wenn überhaupt.

In den Abstürzen der Fußballheroen wird auch ihre Einsamkeit spürbar. Obwohl sie stets einer Mannschaft angehörten und in ihrer Genialität immer auch als Teil eines Teams wahrgenommen wurden, standen sie am Ende meist allein da. Zu ihrem Leben im Profigeschäft gehört untrennbar die Erfahrung, dass sich auch innerhalb einer Mannschaft jeder immer selbst der Nächste ist. Und Loyalitäten nur so lange bestehen, wie sie Erfolg versprechen.

Was die Lebenswege von Maradona, Beckenbauer und Platini angeht, kommt der dunklen Seite der überbordenden, wilden und maßlosen 80er-Jahre eine zentrale Rolle zu. In dieser exzentrischen, glamourösen und materialistischen Zeit, die immer auch starke zerstörerische und selbstzerstörerische Züge in sich trug und in der es ausgesprochen respekt- und distanzlos zuging, konnten sich Superstars plötzlich alles leisten. Sicher, Geld war schon immer wichtig gewesen, nicht nur in den Achtzigern. Doch erst in dieser Zeit wurden Geld und Äußerlichkeiten zu überragenden gesellschaftlichen Werten, zu ihren Fixpunkten, wie es sie in so hemmungslos ausgelebter Weise seit dem Krieg nicht gegeben hatte. Reichtum entschied nun nicht nur darüber, was man sich kaufen und leisten konnte, sondern auch darüber, was man sich in der Gesellschaft erlauben durfte.

Die Weltstars Maradona, Beckenbauer und Platini, deren Mythos nicht zuletzt in jener Zeit entstand und deren Wege sich in den 80er-Jahren immer wieder kreuzten, wurden zu Leitbildern dieser flirrenden Zeit: gut aussehende und millionenschwere Heroen, die begriffen, dass sie sich alles herausnehmen konnten. Und die sich scheinbar für nichts, was sie taten, rechtfertigen mussten. Dieses Spiel jenseits des Rasens ging viele Jahre gut, jedoch eben nur so lange, bis sich die Zeiten und Interessen änderten. Und damit die Spielregeln. Bei Maradona war dies schon während seiner aktiven Karriere in Neapel der Fall. Platini und Beckenbauer ereilte ihr Schicksal dagegen weit später, während oder nach ihren Karrieren als Fußballfunktionäre, als der französische Spielmacher und der deutsche Libero dem Rasen schon seit Jahrzehnten den Rücken gekehrt hatten.

All diese Fußballgötter, von Best in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts bis hin zu Özil fünfzig Jahre später, waren der Öffentlichkeit von den ersten Tagen ihres märchenhaften Aufstiegs an in einer bestürzenden und unheilvollen Weise ausgeliefert. In ihrer eigenen Maßlosigkeit und Selbstgefälligkeit glaubten manche Medien damals, jegliche Rechte an den Stars zu besitzen und sie ihrer Privatsphäre berauben zu dürfen. Der Lieblinge ihrer Nationen bedienten sie sich, wie es ihrer Zeit gefiel: maßlos, skrupellos.

Die Öffentlichkeit störte sich daran nicht. Und die Superstars, die meist nur ihr Spiel schützte, nahmen die Bedrängungen, Vereinnahmungen und Verletzungen wie selbstverständlich hin. Oder sie schlossen Pakte mit den Medien, aus denen sie sich wiederum kaum befreien konnten oder wollten. Auch das war ein Preis, den sie zahlten, manche bis zu ihrem letzten Atemzug.

Maradona wurde in den 80er-Jahren von den Massen in Argentinien und Neapel wie ein Heiliger verehrt. Ein Heiliger allerdings, der sich mit der Camorra gemein machte, der seinem Körper und seiner Seele großen Schaden zufügte, der schon während seiner Profikarriere dem Kokain verfiel, der Droge der Achtziger.

Der beste Fußballer der Welt zu sein bedeutete in dieser exzessiven Zeit in einer Welt des Machismo für Maradona aber auch, der größte Macho der Welt sein zu wollen. Oder sein zu müssen, nicht zuletzt, weil das Millionen Männer von ihm geradezu erwarteten. Weil Frauen bloß als Trophäen galten und sonst nicht viel, besonders im Fußball. In Maradona vereinigte sich die Schönheit und Poesie des Spiels auf beispiellose Weise mit hedonistischen Exzessen, drogenumrauschten Allmachtsfantasien und einer schädlichen Vorstellung von Männlichkeit.

Mit seinem Fußballgenie hatte er in den 80er-Jahren nicht weniger als die Schmach eines verlorenen Kriegs in seinem Heimatland getilgt. Durch jenen in Argentinien auf ewig unvergesslichen Sieg bei der Weltmeisterschaft 1986 über England mit seinen beiden epischen Toren, eines erschaffen durch die »Hand Gottes« und das andere mit dem Solo des Jahrhunderts. Mit dem Triumph im Finale in Mexiko-Stadt bei jener Weltmeisterschaft, vier Jahre nach dem verlorenen Kampf um die Falklandinseln, hatte er endgültig den Mythos Maradona erschaffen. Der sollte sich von dem Jungen, der sich aus dem Elendsviertel Villa Fiorito vor den Toren von Buenos Aires nun seinen Weg in den Olymp gebahnt hatte, für immer ablösen.

Anders als Franz Beckenbauer und Michel Platini, die schon früh die Nähe zu den Mächtigen suchten, zog Maradona stets die Ablehnung der Eliten seines Landes auf sich. Den Klassenhass eines Establishments, dass einem Jungen aus der Unterschicht nicht verzeihen konnte, zu einer weltweiten Ikone aufzusteigen, zum berühmtesten Menschen Argentiniens im 20. Jahrhundert, neben Che Guevara und Eva »Evita« Perón, einer Frau aus dem Volk, der ebenfalls unversöhnliche Verachtung entgegengeschlagen war. Auch vielen Menschen in Neapel, den ewigen Verlierern aus dem italienischen Süden, hatte Maradona die Scham und die Stigmatisierung durch große Siege über die großen Klubs und das Establishment aus dem Norden genommen. Die beiden Titelgewinne in der italienischen Serie A, die er ihnen schenkte, wurden in Neapel zu unvergessenen Siegen über die ewige Verachtung der armen Leute.

Trotz der allgegenwärtigen Bestürzung über seinen Lebenswandel fiel Maradona in Argentinien und in Neapel bei den Massen nicht in Ungnade, jedenfalls nie dauerhaft. Sein Mythos überdauert am Ende jeden Skandal. Vor allem die, wie man oft so leichthin sagt, einfachen Menschen fühlten sich ihm verbunden. Die kurze Phase der Abwendung, die es in Neapel auch unter seinen treuen Fans gegeben hatte, nachdem Maradona Italien den Traum vom Triumph bei der Weltmeisterschaft 1990 im eigenen Land ausgerechnet in Neapel mit einem Sieg im Halbfinale durch einen von ihm verwandelten Elfmeter zerstört hatte, wich bald wieder großer Dankbarkeit für das, was er ihnen geschenkt hatte. In vielen neapolitanischen Vierteln finden sich noch heute kleine Schreine zu Maradonas Ehren, das Stadion trägt seinen Namen.

Es ist kein Zufall, dass die Abstürze von Beckenbauer und Platini – die sie anders als Best, Sócrates und Maradona nicht ihr Leben kosteten, wohl aber Ehre und Macht – sich in jüngerer Zeit vollzogen haben. Erst vor rund zehn Jahren bildete sich in Westeuropa jene moralisch aufgeladene und die öffentliche Diskussion bis heute prägende Haltung heraus, die es sich nicht mehr wie in den 80er-Jahren erlauben mag, Künstler und Superstars allein nach ihren Werken und ihren Leistungen zu bewerten, sondern ihr gesamtes Verhalten einer scharfen moralischen und rechtlichen Prüfung unterzieht. Meist schon, bevor Gerichte ein Urteil gesprochen haben.

Beckenbauer stieg in Deutschland schon in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren zum »Kaiser« auf, doch erst in den 80er-Jahren erreichte seine Popularität eine neue Stufe, als er die Nationalelf übernahm und sie sechs Jahre später als ihr Teamchef zum Sieg im WM-Finale 1990 von Rom führte. Nun wurde aus dem Kaiser eine Lichtgestalt. Größere und kleinere Verfehlungen – Steuerprobleme, Scheidungen oder ein uneheliches Kind –, die andere Prominente in größte Schwierigkeiten gebracht hätten, prallten am deutschen Liebling ab wie von einer unsichtbaren Wand. Auch deswegen, weil es Beckenbauer als allgegenwärtiger Medienfigur gelang, nützliche Allianzen zu schließen, die ihn schützten.

Diese Unangreifbarkeit nahm Beckenbauer, der über viele Jahre der bekannteste Deutsche der Welt war, wie selbstverständlich auch auf seine weiteren Karrierestationen mit. Mit unermüdlichem Einsatz holte er die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland, die er als Chef des Organisationskomitees schließlich zu jenem legendären »Sommermärchen« machte, dem bis heute schönsten und fröhlichsten Sportereignis, das dieses Land je erlebt hat.

Im Herbst 2015 nahm der stets schwelende Verdacht, dass die von Beckenbauer in einem notorisch korruptionsanfälligen Funktionärsumfeld 15 Jahre zuvor an Land gezogene Weltmeisterschaft gekauft sein könnte, konkrete Gestalt an. Beckenbauer stand plötzlich im Zentrum einer Affäre, die sich im Kern um eine Zahlung von 6,7 Millionen Euro drehte, die von seinem Konto über den Weltverband an einen korrupten und später gesperrten FIFA-Funktionär erfolgte und deren Zweck bis heute nicht geklärt werden konnte. Korruption oder Steuerhinterziehung waren im Jahr 2015 nicht mehr jene Kavaliersdelikte, als die sie auch hierzulande über Jahrzehnte angesehen worden waren, selbst von Steuerbehörden. Seine einflussreichen Freunde und Helfer konnten Beckenbauer nun nicht mehr schützen wie früher. Der Zeitgeist forderte seinen Tribut von einem Kaiser und Fußballgott, der sich nicht mehr jeder Kontrolle entziehen konnte und machen durfte, was er wollte.

Obwohl Beckenbauer um das Jahr 2010 herum begonnen hatte, alle seine Ämter und führenden Rollen aufzugeben, schaffte es die Lichtgestalt nicht mehr über die Ziellinie. Im Jahr 2014 wurde Beckenbauer vorübergehend für sämtliche Aktivitäten im Weltfußball gesperrt, weil er glaubte, Fragen der Ethikkommission des Weltverbandes zu Bestechungsvorwürfen wegen der Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 an Katar weiter ungestraft ignorieren zu können. Beckenbauer durfte daraufhin nicht einmal mehr zu den Spielen bei der Weltmeisterschaft in Brasilien. Der Kaiser verstand die Welt nicht mehr.

Der größte aller deutschen Fußballer geriet nun auch in den Fokus von Justiz und Steuerbehörden. In Vernehmungen schrumpfte der wortgewaltige Kaiser, der auf allen Kanälen über Jahrzehnte hinweg präsent war, zu einem sprachlosen und hilflosen Mann. Einer, der sich an nichts mehr erinnern konnte und selbst wichtige Entscheidungen in seinem Leben nicht selbst getroffen haben wollte. Beckenbauer zog sich, auch gesundheitlich geschwächt, nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit zurück. Zu einer Verurteilung kam es nicht. Die Dinge, für die er sich zu verantworten hatte, waren verjährt. Doch Beckenbauers Glaubwürdigkeit nahm Schaden, sein Glanz verblasste. An seiner Rolle als Lichtgestalt hielt er eisern fest. Noch an seinem 75. Geburtstag beharrte Beckenbauer in einem Interview darauf, dass an den Vorwürfen gegen ihn nichts dran sei. Auf die Rolle seines Lebens sollte kein Schatten fallen.

Die Wege von Beckenbauer und Platini ähneln sich auf verblüffende Weise. Auch der geniale französische Mittelfeldstratege führte seine Nationalelf als Kapitän zu einem internationalen Titel, zum Gewinn der Europameisterschaft 1984 in seinem Heimatland. Er wurde später ebenfalls zum Teamchef der französischen Auswahl, dann zum Organisator der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich und schließlich zu einem der einflussreichsten internationalen Fußballfunktionäre. Platini war ebenfalls einer, dem alles zufiel. So schien es zumindest.

Als virtuoser Spielmacher und Torschützenkönig prägte er die Europameisterschaft 1984 so nachdrücklich wie Maradona zwei Jahre später die Weltmeisterschaft 1986. Auch in seiner spielerischen Leichtigkeit war Platini der Einzige, der es zu Lebzeiten mit Maradona aufnehmen konnte. Der lässige, lockige Franzose wurde zu jener Zeit gleich dreimal nacheinander zum Fußballer des Jahres in Europa gewählt. Platini, das war über Jahre und Jahrzehnte der französische Fußball- und Sonnengott in einer Person.

Seine Karriere als Fußballfunktionär, nach einem kurzen und glücklosen Intermezzo als Trainer der Équipe Tricolore, baute auf seiner Vizepräsidentschaft im WM-Organisationskomitee 1998 auf. Das Turnier wurde auch dank Platini mit dem Titelgewinn der französischen Gastgeber zu einem glanzvollen Ereignis. Zunächst unterstützte er den Schweizer Joseph »Sepp« Blatter, der 1998 zum Präsidenten des Internationalen Fußballverbandes FIFA gewählt wurde, als Berater. Auch dieses Projekt wurde ein großer Erfolg. Platini zog in der Folge selbst ins FIFA-Exekutivkomitee ein. Der Franzose, der auf dem Platz eine wunderbare Leichtigkeit ausstrahlte, nahm nun seine weitere Verbandskarriere zielstrebig ins Visier. Nur fünf Jahre später wurde er zum Präsidenten der Europäischen Fußball-Union UEFA gewählt.

Platinis Weg an die Spitze der FIFA schien vorgezeichnet. Doch nur wenige Stunden nachdem er im Herbst 2015 die notwendigen Unterstützerstimmen für seine Kandidatur als Präsident zusammenhatte, suspendierte ihn die Ethikkommission. Er hatte einige Jahre zuvor zwei Millionen Schweizer Franken von der FIFA für die Beratung von Blatter erhalten, aber seinen Anklägern erschien das als Erklärung nicht plausibel. Platini musste seine Kandidatur als FIFA-Präsident aufgeben. Auch als UEFA-Präsident war Platini nach Ermittlungen der Justiz nicht mehr haltbar. Er trat zurück. Nur ein Jahr nachdem die Ethikkommission des Weltverbandes mit Beckenbauer keine Gnade mehr kannte, hatte sie auch Platini zu Fall gebracht.

Eine Woche nachdem Platini für zunächst acht Jahre für alle Tätigkeiten im Weltfußball gesperrt worden war, kam in Deutschland der Skandal um das Sommermärchen 2006 ans Licht. Die Bereitschaft in der Gesellschaft, die Zügellosigkeiten der Eliten zu akzeptieren und weiterhin beide Augen zuzudrücken, war dahin. Das Pendel schlug zurück. Die Zeit der Abrechnung war gekommen.

Die französische Finanzstaatsanwaltschaft nahm Platini im Sommer 2019 für eine Nacht in Gewahrsam und vernahm ihn. Es ging um private Korruption, kriminelle Vereinigung sowie Einflussnahme im Zusammenhang mit den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 anlässlich eines Treffens im Élysée-Palast mit Staatspräsident Nicolas Sarkozy und dem Kronprinzen und späteren Emir von Katar. Ein Verfahren gegen Platini wurde nicht eröffnet, sein Anwalt sprach von »viel, viel Lärm um nichts«. Platini war nie Beschuldigter. Im Sommer 2020 eröffnete die Schweizer Bundesanwaltschaft schließlich ein Verfahren wegen des Verdachts ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung, später auch wegen des Verdachts des Betrugs gegen Platini und Blatter. Platini erklärte sich vom ersten Tag an für unschuldig. Doch niemand glaubte ihm noch.

Aus Protest gegen die langjährige Sperre, die nach Einsprüchen von Platini zunächst auf sechs und dann auf vier Jahre verkürzt wurde, zog einer der lange einflussreichsten Sportpolitiker der Fußballwelt bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch die Richter bescheinigten dem gefallenen Fußballgott dort im Frühjahr 2020 bloß, dass die gegen ihn ausgesprochene Strafe weder zu hoch war noch willkürlich. Platini wirkte wie aus der Zeit gefallen.

Die Öffentlichkeit konnte sich nach den zahlreichen Skandalen im Fußball gar nicht mehr vorstellen, dass ein führender Funktionär womöglich fälschlich angeklagt oder von der Ethikkommission des eigenen Verbandes zu Unrecht suspendiert worden sein könnte. Das Bundesstrafgericht in Bellinzona sprach Platini jedoch im Sommer 2022 von den Vorwürfen frei, nach sieben Jahren. Seine Version, über all die Jahre das Opfer eines Komplotts geworden zu sein, ließ sich plötzlich nicht mehr so leicht abtun.

Die Wege von Platini,Beckenbauer und Maradona unterscheiden sich markant von den Aufstiegen und Abstürzen von Best und Sócrates. Die lassen sich auch nur aus ihrer jeweiligen Zeit und Herkunft begreifen. Obwohl die sportliche Glanzzeit von Sócrates mit der von Platini und Maradona zusammenfiel, umgab den Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft ein völliger anderer Geist als derjenige, der zu dieser Zeit in Westeuropa vorherrschte.

Sócrates wuchs im Schatten einer Militärdiktatur zu einem feinsinnigen Fußballer und eigensinnigen Linksintellektuellen heran, der in konsequenter Opposition zu den Autoritäten seines Heimatlandes nach seinem eigenen Weg suchte. Er machte sich gegen große Widerstände für die Demokratie stark. Er forderte Freiheit. Für viele Brasilianer verkörperte Sócrates in der dunklen Zeit der Diktatur nicht weniger als die Hoffnung auf das Gute und Schöne. Er wurde zu einem Helden des Volkes. Und der Intellektuellen, weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.

Sócrates ließ sich im fußballverrücktesten Land der Welt auch nicht von den Ansprüchen des Profifußballs vereinnahmen. Der hochgewachsene Mittelfeldstratege bestand darauf, auch als Fußballprofi so zu leben, wie es ihm gefiel. Er ließ sich als 18-Jähriger eine Klausel in seinen ersten Vertrag schreiben, die ihm die Fortsetzung seines Medizinstudiums garantierte. Wegen der Doppelbelastung musste sein Klub in Kauf nehmen, dass Sócrates über viele Jahre nicht so regelmäßig wie seine Kollegen beim Training erscheinen konnte. Und er selbst, dass sich unter der Doppelbelastung sein sportlicher Durchbruch verzögerte, ebenso wie sein Studienabschluss. Erst mit 25 Jahren wurde der faszinierendste brasilianische Spieler der 80er-Jahre in die Nationalmannschaft berufen. Ein Jahr nachdem er sein Arztdiplom abgelegt hatte.

In Brasilien herrschte, als ein paar Fußballspieler in São Paulo beschlossen, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, seit rund zwanzig Jahren das Militär. Sócrates war der Anführer in diesem scheinbar aussichtslosen Kampf, den die Fußballspieler mit aufsehenerregenden Aktionen in ihrem Klub Corinthians begannen. Bald ging es dort so demokratisch zu wie nirgendwo sonst im Land. Corinthians schuf ein Selbstverwaltungssystem, in dem Funktionäre, Spieler und auch alle anderen Angestellten gleichberechtigt über alle Fragen entschieden, die entschieden werden mussten: Neuverpflichtungen, Entlassungen, Trainingszeiten. Die Demokratisierung im Klub reichte sogar bis zur Organisation des Mittagessens.

Das brasilianische Establishment hasste Corinthians. Doch Sócrates und seine Kollegen machten den Klub trotz der Widerstände unbeirrt zu einem demokratischen Versuchslabor. Und sie riefen ihre Fans auf, sich für die direkte Wahl des Staatspräsidenten starkzumachen. Eine Wahl, die in Brasilien seit rund einem Vierteljahrhundert nicht mehr gegeben hatte. Die sogenannte Democracia Corinthiana, das Leitmotiv des Klubs, das die Spieler auch auf ihre Fußballtrikots drucken ließen, wurde zur größten politischen Bewegung in der Geschichte des brasilianischen Fußballs. Sie wurde von allen, und nicht zuletzt von ihren Feinden, als genau das verstanden, was sie war: eine Kampfansage an die Diktatur. Und der Traum, sie zu beenden.

Sócrates, der Che Guevara und Fidel Castro zu seinen weltanschaulichen Vorbildern erklärte, war der Profi, der im ganzen Land am besten verdiente. Er handelte mit dem Klub aus, dass 25 Prozent der Einnahmen von den Heimspielen in die Taschen der Spieler flossen, wenn sie das Spiel gewannen. Und für sich selbst schloss der demokratische Sozialist, als der sich Sócrates verstand, profitable Werbeverträge ab. Das war für ihn kein Widerspruch. Oder einer, der zu ihm passte.

Sócrates unterwarf sich auch nicht den ungeschriebenen Regeln, nach denen ein Profisportler zu leben hat. Es beförderte vielmehr das Image des aufsässigen Linksintellektuellen und Lebenskünstlers, wenn er als Profi sagte, was sonst keiner sagte: »Ich rauche. Ich trinke. Ich denke.«

Er sagte, was er dachte. Er trainierte, wann er wollte. Und er lebte, wie es ihm gefiel. Doch niemand sah, welche Macht der Alkohol schon in seiner Zeit als Fußballprofi über eine der revolutionärsten Erscheinungen gewonnen hatte, die jemals im Fußball existierte. Der Kampf gegen den Alkohol war ein Kampf, den Sócrates nie wirklich führte. Oder für den seine Kraft nicht reichte. Nach seiner Karriere leitete Dr. Sócrates eine Kinderarztpraxis, aber lange hielt es ihn dort nicht. Er suchte sich nun immer wieder neue Aufgaben, doch alles geriet flüchtig.

Für seine Landsleute war es kaum zu begreifen, wie dieser Anführer, diese scheinbar gefestigte Persönlichkeit, die auf dem sportlichen und dem politischen Spielfeld über viele Jahre so entschlossen vorangegangen war, allmählich die Kontrolle über sein eigenes Leben verlieren konnte.

Im Jahr 2011 war ein septischer Schock das Ende für seinen geschundenen Körper. Sócrates wurde nur 57 Jahre alt. Sein Tod erschütterte das Land. »Brasilien hat einen seiner beliebtesten Söhne verloren. Auf dem Platz war er ein Genie, außerhalb des Platzes besorgt um sein Volk und sein Land«, sagte die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff. Ihr Vorgänger, der charismatische Sozialist Luiz Inácio Lula da Silva, stand mit Sócrates bis kurz vor dessen Tod in Kontakt. Seine Ansichten waren dem langjährigen Präsidenten bis zuletzt wichtig gewesen. »Doktor Sócrates war ein Star auf dem Spielfeld und ein großartiger Freund«, sagte Lula, der selbst ein glühender Anhänger von Corinthians war. »Er war ein Beispiel für Staatsbürgerschaft, Intelligenz und politisches Bewusstsein, zusätzlich zu seinem immensen Talent als Fußballprofi. Sócrates’ großzügiger Beitrag für Corinthians, den Fußball und für die brasilianische Gesellschaft wird nie vergessen werden.«

Der Nordire George Best verkörperte und vereinigte in seinem Spiel- und Lebensstil prägende Entwicklungen der späten 60er-Jahre: die Zerrissenheit seiner nordirischen Heimat, die Popkultur auf der britischen Insel und das Unbändige der studentischen Revoluzzerjahre auf dem Kontinent. 1968, das war auch sein Jahr. Best wurde zum besten Fußballer in England und in Europa gewählt. Und er verhalf Manchester United mit seinen Toren zum Triumph im Europapokal der Landesmeister, dem Vorläufer der Champions League. Den hatte bis dahin noch kein britischer Klub gewonnen.

Ein langhaariger und enorm attraktiver Nordire, der in England sein Glück suchte, brach auf dem Fußballplatz mit allen Regeln und Konventionen, aber auch im Leben, Tag und Nacht. Auf dem Rasen tat er das auf geniale Art, abseits davon auf zerstörerische, selbstzerstörerische Weise. Best wurde in den 60er-Jahren wie ein Popstar des Fußballs gefeiert, er war vielleicht der erste überhaupt: der fünfte Beatle.

Diese Rolle war auch das Resultat einer der ersten Medieninszenierungen im Profifußball, eine, die ihm gefiel. Und der er entsprechen wollte. Best legte sich schnelle Autos zu, betrieb Kneipen und Boutiquen, umgab sich mit Models, leistete sich Affären und Exzesse. Bis zu seinem Tod hielt er an dem Image fest, das seinem öffentlichen Leben eingeschrieben war: ein Popstar, der sich an keine Regeln hält. Der so lebt, wie es ihm gefällt, der nichts bereut. Und der glaubt – und die anderen glauben macht –, immer ein Ass im Ärmel zu haben. In Wahrheit wartete auf Best nur der Tod. »Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Weiber und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach verprasst.« Sein legendärer Spruch, mit dem George Best seinen Weg in den Abgrund adelte, sollte ihn überleben. In ihm zeigte sich ein Image und ein Männlichkeitsbild, von dem er meinte, auch wenn es reines Gift für ihn war, es trotzdem immer weiter ausfüllen und bedienen zu müssen, bis zum Tod.

Als Alkoholiker, zu dem George Best schon als Teenager wurde, war er rund vierzig Jahre auf Droge. Er schlug seine Frau, beschimpfte Polizisten, setzte sich betrunken in Fernsehstudios, fuhr sternhagelvoll mit dem Auto durch die Gegend, wurde spielsüchtig, verkaufte seine Trophäen und landete im Gefängnis. Schon mit 26 Jahren hatte einer der größten Fußballer den Höhepunkt seiner Karriere überschritten. »Ich wurde mit großem Talent geboren, und manchmal hat ein solches Talent auch einen zerstörerischen Charakter«, sagte Best einmal über sich selbst und sein Leben.

George Best war vermutlich die erste von der Presse nahezu über seine gesamte Lebenszeit begleitete, aber von ihr auf gewisse Weise auch bestimmte Berühmtheit des Fußballs. Best stammte aus einfachen Verhältnissen. Er wuchs in einem protestantischen Arbeiterviertel in Belfast auf. Sein Vater war Hafenarbeiter. In seiner Glanzzeit ließen ihm der Klub und die Medien lange vieles durchgehen. Es war jedoch nicht nur die betörende Schönheit seines Spiels, die ihn schützte, sondern auch die Zeit, in der er lebte. Während seiner Karriere kam niemand auf die Idee, seine Schwächen gegen seine Fußballkunst in Stellung zu bringen. Und auch nicht danach. Die Medien wirkten dabei in seinem Leben wie ein allgegenwärtiger Verstärker, nicht zuletzt seiner dunklen Seiten. Auf gewisse Weise boten sie George Best damit auch lange eine trügerische Sicherheit in diesem scheinbar niemals endenden Working-Class-Spektakel, von dem die Zeitungen und das Publikum nie genug bekommen konnten.

Die unerbittliche presbyterianische Disziplin in seiner entzweiten irischen Heimat hatte GeorgeBest in seiner Kindheit mitunter dreimal am Sonntag in die Kirche gezwungen. Es schien, dass er in seinem Leben immer wieder auch nach Wegen suchte, um dieser Prägung und Enge zu entfliehen. Dass er sich an Freiheit und Wildheit herausnahm, was sich kein ordentlicher Protestant in Nordirland wagte, sicherte ihm zugleich Sympathien unter Katholiken. Auch seine Verwundbarkeit machte ihn zu einem Mann des Volkes, über den Tod hinaus. Er wurde zu einem Mythos der gesamten tief gespaltenen irischen Nation.

Auf seinem letzten Weg folgten ihm in Belfast über 100 000 Menschen im strömenden Regen. Die Kosten für die Beisetzung übernahm die Regierung. Anlässlich seines ersten Todestages brachte eine nordirische Bank eine Million Fünf-Pfund-Noten mit seinem Konterfei heraus. Nach fünf Tagen waren alle vergriffen. Der Flughafen Belfasts trägt heute den Namen von George Best. Und an einer Hauswand in seiner Heimatstadt stehen in großen Lettern die unsterblichen Worte seiner Fans, die George Best weiter als dem Fußballgott huldigen, der er in seinem kaputten Leben einmal war: »Maradona good, Pelé better, George Best.«

Deutschland erlebte im Jahr 2018 den Absturz eines Weltmeisters, wie man ihn sich bis dahin nicht vorstellen konnte. Mesut Özil, ein in Gelsenkirchen geborener Sohn türkischer Einwanderer, wurde in jenem Sommer zum Symbol eines aufwühlenden Identitätskonflikts, von dem das Land zu diesem Zeitpunkt gar nicht so richtig wusste, dass er existiert. In der Folge trat Özil aus der deutschen Nationalmannschaft zurück und brach mit dem Land, in dem er aufwuchs. Und das Land brach mit ihm.

Dieser Riss zwischen einem Star und seinen Fans ging tiefer als jede Verfehlung, die sich all die anderen Fußballheroen in den fünfzig Jahren zuvor geleistet oder zuschulden hatten kommen lassen. Selbst wenn es sie das Leben kostete. Diego Maradona, George Best und Sócrates polarisierten zwar in ihrer Heimat, ihre Abstürze wurden jedoch immer als Folge jener menschlichen Schwächen verstanden, die jeder aus seinem eigenen Familien- oder Freundeskreis kennt, wenn man sie nicht selbst sogar am eigenen Leib erlebt hat. Der Absturz von Özil hatte dagegen existenziellen Charakter ganz anderer Art. Einen, der die Menschen nicht einte, sondern trennte.

Im Fall Özil fand ein Identitäts- und Kulturkampf seinen Ausdruck, der sich in Deutschland allmählich und für viele zunächst unmerklich über viele Jahre entwickelt hatte. Plötzlich standen sich auf einmal Deutsche und Deutsch-Türken gegenüber, Christen und Muslime, Demokraten und Autokraten. Der Konflikt ging sogar quer durch diese Gruppen. Und der Rassismus kochte hoch. In die Affäre schaltete sich auch der Bundespräsident ein, um Wogen zu glätten, die jedoch kaum mehr zu glätten waren.

Kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland hatten Mesut Özil und İlkay Gündoğan dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Trikot mit ihrer Unterschrift geschenkt. Einige Jahre zuvor hätte diese Geste noch kein Aufsehen erregt, und das hatte sie tatsächlich nicht, denn Özil hatte Erdoğan in der Vergangenheit immer wieder ein Trikot von sich überreicht. Aber zu jener Zeit befand sich die Türkei noch auf einem demokratischen Weg.

Knapp drei Jahre nach seinem Rückzug aus der Nationalelf wechselte er im Januar 2021 aus England zu Fenerbahçe Istanbul. Seine Ankunft in der Türkei wurde live im Fernsehen übertragen. Es war, als kehre ein verlorener Sohn in seine Heimat zurück. Ein Schauspiel, das zugleich wie eine endgültige Abwendung von Deutschland wirkte. Neue Wurzeln, nachdem er die alten in Deutschland rigoros gekappt hatte, konnte er beim Lieblingsklub seiner Kindheit allerdings auch nicht schlagen. Nach nur einem Jahr wurde Özil von Fenerbahçe suspendiert. Im Sommer 2022 hat er den Klub verlassen. In Deutschland ist das nur noch eine Randnotiz gewesen.

Hierzulande war schon sein in der Türkei gefeierter Transfer nach Istanbul nur noch schulterzuckend zur Kenntnis genommen worden. Der Bruch mit einem begnadeten Fußballspieler, der in Deutschland zum Integrationsvorbild gemacht worden war, hatte sich zu dieser Zeit längst vollzogen. Aus dem deutschen Weltmeister Mesut Özil ist ein Vergessener im eigenen Land geworden, ein Fremder. Ein tiefer und trauriger Fall, nicht nur für eine geniale und zwischen den Welten verlorene Fußballseele.

1: Franz Beckenbauer

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Franz Beckenbauer

Das Geheimnis

Ermittler: Waren Sie bei der Weltmeisterschaft 2002 außer als Präsident des deutschen WM-Organisationskomitees für die WM 2006 anderweitig beruflich tätig?

Herr B.: Das weiß ich nicht.

Ermittler: Sagt Ihnen die Sendung »Schau’n mer mal« im Zuge der Weltmeisterschaft 2002 etwas?

Herr B.: Hat es eine solche Sendung gegeben? Das weiß ich nicht mehr. Soll ich die gemacht haben?

Ermittler: In welcher Zeit waren Sie bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea?

Herr B.: Ich war dort. Ich war auch bei der Wahl von Herrn Blatter alsFIFA-Präsident vor Ort. Dass ich aber die vollen sechs Wochen vor Ort war, kann ich mir nicht vorstellen. Das glaube ich nicht.

Ermittler: Warum haben Sie dieses Konto gemeinsam mit Herrn Schwan eröffnet, und warum haben Sie Herrn Schwan nicht nur eine Verfügungsberechtigung eingeräumt?

Herr B.: Keine Ahnung, ich bin kein Banker. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten es da gibt. Ich habe Herrn Schwan voll vertraut. Aber es ist richtig, dass das meine Unterschrift ist.

Ermittler: Gibt es Beitragsgrenzen, bei denen die Unterschrift von Ihnen zwingend erforderlich gewesen wäre, für Dinge, die Herr Schwan regelte?

Herr B.: Nein, das hat es nicht gegeben. Es gab insoweit keine Schmerzgrenze.

Ermittler: Als Verwendungszweck wurden in den vorgelegten Auslandsüberweisungen »TV- und Marketingrechte« mit dem Hinweis »Asien-Spiele 2006« angegeben.

Herr B.: Keine Ahnung, hat es die Asien-Spiele überhaupt gegeben?

Ermittler: Steht das Darlehen in Höhe von 10 Millionen Schweizer Franken im Zusammenhang mit der Insolvenz von Firmen aus der Kirch-Gruppe?

Herr B.: Keine Ahnung.

Ermittler: In der Zusammenfassung wird festgehalten, dass Sie zusammen mit Innenminister Otto Schily und FIFA-Präsident Joseph Blatter im Oktober 2004 beschlossen haben, dass die FIFA die vollständigen Kosten der Eröffnungsfeier in Höhe von 22 Millionen Euro übernehmen wird. Sie als Präsident des WM-Organisationskomitees hatten die Oberleitung.

Herr B.: An das Treffen habe ich keine Erinnerung. Ich wüsste auch nicht, wo das stattgefunden haben könnte.

Ermittler: Sie haben sich beim Emir von Katar für die Stimme und die gewonnene WM-Wahl bedankt. Der Emir bat seinerseits um Unterstützung, auch bei der Bewerbung um die Asien-Spiele 2006. Wie sah Ihre Unterstützung Katars konkret aus?

Herr B.: Ich weiß gar nicht, ob uns der Emir unterstützt hat. Welche Unterstützung hier für den Emir angesprochen ist, weiß ich nicht. Was haben wir mit den Asien-Spielen zu tun gehabt? Nichts.1

Der 3. August 2017 ist ein heißer Tag, aber vormittags ist es noch angenehm, als Franz Beckenbauer zur Vernehmung bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft erscheint. Er betritt einen schmucklosen Zweckbau im Zentrum der Stadt, fünf Ermittler sitzen ihm gegenüber. Beckenbauer ist als Zeuge geladen, nicht als Angeklagter.

Er wird auf seine Rechte hingewiesen, insbesondere auf sein Recht, die Auskunft zu verweigern. Auf Fragen, mit deren Beantwortung er sich selbst belasten könnte, muss er nicht antworten. Die Befragung ist schneller vorbei als ein Fußballspiel. Nach 83 Minuten.

Als sich nach Ende der Vernehmung die Tür hinter Beckenbauer schließt, ist es für die Ermittler, als entschwinde ein Geist. Ein Mann, der sich auf Knopfdruck unsichtbar machen kann. Einer, der sich an nichts erinnert. Einer, der sich auflöst. Plötzlich steht eine andere Frage im Raum: Franz Beckenbauer, wer ist das eigentlich?

Für Beckenbauer, so scheint es, versteht sich das von selbst: der, der er immer war. Für ihn haben sich vor allem die Zeiten verändert, und mit ihnen viele Menschen, die in ihnen leben. Aber nicht er selbst.

Im Winter 2021 scheint es ihm ein Bedürfnis zu sein, über die Vorwürfe zu sprechen, die im Zuge der Ermittlungen rund um das Sommermärchen ihren Weg in die Welt gefunden haben. Die sich verselbstständigt haben, die nicht mehr zu kontrollieren gewesen sind, die sein Leben verändert haben.

Beckenbauer ist 76 Jahre alt, als das Jahr 2021 ins nächste übergeht und er darüber nachdenkt, sich über seine dunkle Zeit zu äußern. In dem Jahr, als sich Schatten über das Sommermärchen legten, starb sein Sohn. Danach ist nichts mehr gewesen wie vorher in seinem Leben. Vielleicht möchte er die Dinge nun einordnen, auch einiges für sich ordnen, mit etwas Abstand. Wer weiß, wie viel Zeit noch bleibt. Auch seine Gesundheit macht ihm zu schaffen.

Beckenbauer macht zum Jahreswechsel 2021/22 den Eindruck, in eigener Sache sprechen zu wollen, um wieder gehört zu werden, Souveränität zurückzugewinnen. Und das letzte Wort nicht weiter den Leuten zu überlassen, die Vorwürfe konstruieren und verbreiten, aus ihren Amtsstuben, aus ihren Redaktionen.

Beckenbauer ist umgeben von Ratgebern, auch von Anwälten, seit vielen Jahren. Er zögert. Er berät sich, auch mit seiner Frau. Irgendwann, so scheint es, ist sein Wunsch zu reden unter Kontrolle gebracht. Wer weiß, was alles hochkäme, wenn er spricht, vielleicht der wahre Beckenbauer? Nach einigen Monaten lässt Beckenbauer sein Schweigen ausrichten.

Die Frage, wer er eigentlich ist, hat sich Beckenbauer selbst öffentlich gestellt. Das war an seinem fünfzigsten Geburtstag, im Jahr 1994. Zwei Weltmeisterschaften hatte er da schon an Land gezogen. Eine als Libero und Kapitän, 1974 in Deutschland. Die andere als Teamchef, 1990 in Italien. Das wunderbare Sommermärchen, das im Jahr 2006 sein Leben krönt, existiert zu dieser Zeit noch nicht einmal in der Fantasie. Noch undenkbarer ist die Vorstellung, dass er darüber stürzen könnte. An seinem Jubiläumstag, als ein neuer Lebensabschnitt beginnt, wird Beckenbauer gefragt, wen er in seinem Leben noch kennenlernen möchte. »Mich selbst«, sagt er. »Ich möchte wissen, wer ich wirklich bin.« Gelegenheiten, dies herauszufinden, werden kommen.

Im Juli 2002 stirbt Robert Schwan, sein engster Berater seit fast vierzig Jahren, wohl auch sein bester Freund. Wenn Beckenbauer tatsächlich wissen wollte, wer er wirklich ist, hätte Schwan ihm einige Antworten liefern können. Es gab vermutlich niemand, der Beckenbauer besser kannte, beruflich und privat, seine verschiedenen Seiten, auch die dunklen.

In den Wochen und Monaten vor Schwans Tod geht es in Beckenbauers Leben turbulent zu. Auf seinem privaten Konto finden enorme Bewegungen statt, hohe Überweisungen. Darunter auch sechs Millionen Schweizer Franken, die über Umwege an Mohamed bin Hammam gehen, ein zwielichtiges Mitglied des Exekutivkomitees des Internationalen Fußballverbandes FIFA. Der Katarer hatte zwei Jahre zuvor bei der Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 für Deutschland gestimmt, in jenem Sommer 2000, als jede Stimme zählte. Hauchdünn setzte sich Deutschland damals im letzten Wahlgang gegen Favorit Südafrika durch, 12:11.

Die Zahlung von Beckenbauers Konto, die am Ende bei einer Gesellschaft von Mohamed bin Hammam landet, wird rund einen Monat nach Schwans Tod auf zehn Millionen Schweizer Franken aufgestockt. Ermittler finden das viele Jahre später heraus. Doch wofür diese Zahlung an die in Fußballfragen rechte Hand des Emirs von Katar letztlich bestimmt ist und welche Rechnung damit beglichen wird, bleibt bis heute im Dunklen.

Klar ist nur: Die Überweisung, von der Beckenbauer sagt, sie sei ein notwendiger Beitrag an die FIFA-Finanzkommission zur Bewilligung eines Zuschusses über 250 Millionen Schweizer Franken des Weltverbandes an den DFB zur Organisation der WM 2006 gewesen, wird zum Kern einer Geschichte, die Beckenbauers Leben teilt. In eine Zeit davor und eine danach. Das zerstörte Sommermärchen. Die Titelstory des Spiegel aus dem Herbst 2015, in der es heißt, die Weltmeisterschaft sei gekauft gewesen, lässt sich bis heute nicht beweisen, aber sie wirkt zerstörerisch. Nicht für das Sommermärchen, das bleibt, wohl aber für das Bild von Beckenbauer.

An jenem 13. Juli 2002, als sein Freund und Berater im Alter von achtzig Jahren stirbt, spielt Beckenbauer ein Golfturnier in Bad Griesbach. Er sammelt Geld ein für seine Stiftung. Am Abend erreicht ihn die Nachricht von Schwans Tod. Ein paar Tage zuvor hatte er einen leichten Herzinfarkt erlitten. Die Ärzte machen sich keine großen Sorgen. Schwan scheint auf dem Weg der Besserung, auch dieses Problem scheint er in den Griff zu bekommen.

Schwans Tod ist für Beckenbauer ein Schock. Er setzt sich in seinen Wagen und rast zurück nach Österreich, in Richtung Kitzbühel. Sein Freund wohnte um die Ecke. Zeitweilig lebten sie sogar unter einem Dach, fast wie Vater und Sohn. Als Beckenbauer ankommt, bricht er zusammen.

In einer Sendung des Bayerischen Rundfunks redet er wenige Wochen später über seinen Schmerz. »Solche Momente kann man nur mit Medikamenten überstehen, die einen beruhigen. Anders ist das nicht zu machen. Da muss man auf die Kunst der Medizin zurückgreifen«, sagt Beckenbauer. Zu dieser Zeit hat er sich als Vorsitzender des Organisationskomitees der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 schon wieder tief in die Arbeit reingekniet. Beckenbauer funktioniert. So, wie er immer funktioniert hat. Zumindest sieht es so aus. In Wahrheit jedoch, so gesteht Beckenbauer einige Jahre später, habe ihn in dieser Zeit »fast Panik« gepackt. Nach außen wirkt Beckenbauer weiter wie das deutsche Glückskind. Doch hinter den Kulissen, wo Schwan die Dinge immer für ihn geregelt hat, läuft nichts mehr so, wie es vorher gelaufen ist.

Außer den direkt Beteiligten, die bis heute schweigen, weiß niemand, was im Sommer 2002 für undurchsichtige Dinge rund um das Sommermärchen laufen. Wie hinter den Kulissen gedealt wird. Warum und auf welche Weise Millionensummen hin und her überwiesen werden. Welche Versprechungen gemacht oder beglichen werden. Welche Geheimnisse sich hinter der Weltmeisterschaft 2006 verbergen. Und welche hinter Beckenbauer.

Das Jahr 2002: Gerhard Schröder, der vier Jahre zuvor Helmut Kohl aus dem Kanzleramt verdrängt hat, befindet sich auf dem Gipfel seiner Macht. Wenn der Bundeskanzler bei Beckenbauer anruft, dann ist für Franz der Gerd dran. Und wenn Kanzlerkandidat Edmund Stoiber bei ihm durchklingelt, ist es der Edi. Im Herbst 2002 wird Schröder für eine zweite Amtszeit gewählt. Er siegt bei der Bundestagswahl knapp gegen den bayerischen CSU-Ministerpräsidenten. Der hat sich zuvor in einem unionsinternen Kampf gegen die CDU-Vorsitzende Angela Merkel durchgesetzt. Die ist zu dieser Zeit weder für Stoiber noch für Schröder eine ernst zu nehmende Gegnerin. Da sind sich beide einig, und auch darin, dass die Zeit längst nicht reif sei für eine Frau an der Spitze des Landes. In der Männerrepublik Deutschland nehmen einander nur die Männer ernst. Selbst als Angela Merkel drei Jahre später die Bundestagswahl gewinnt, kann Schröder nicht akzeptieren, dass er seine Kanzlerschaft verloren hat, nicht gegen eine Frau.

Im Jahr 2000, als die Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 ansteht, verbinden sich Schröder und Beckenbauer für das gemeinsame Ziel, das Turnier nach Deutschland zu holen. Der Bundeskanzler tritt am FIFA-Wahltag als einziger Regierungschef aller WM-Bewerber in der Zentrale des Internationalen Fußballverbandes auf. Das Risiko, bei einer Abstimmungsniederlage gegen Favorit Südafrika oder England damit auch selbst als politischer Verlierer dazustehen, nimmt der Bundeskanzler in Kauf. Nelson Mandela und Tony Blair bleiben zu Hause.

Die Deutschen präsentieren sich glänzend in Zürich, nicht zuletzt Schröders Anwesenheit macht Eindruck unter den FIFA-Delegierten, der sichtbare Schulterschluss zwischen Politik und Fußball in Deutschland. Eine Frau ist auch in der deutschen WM-Delegation dabei: Claudia Schiffer. Oder, wie Beckenbauer sagt: »Das Schönste, was wir haben.«

Im Jahr 2002, zwei Monate vor dem Tod Schwans und vier Monate vor der Bundestagswahl, nimmt der Bundeskanzler Beckenbauer mit auf eine politische Auslandsreise. Das Ziel: Afghanistan. Beckenbauer schenkt dem Erziehungsminister im Namen des DFB einen Fußballplatz, für den Nachwuchs, für eine bessere Zukunft Afghanistans. Dass der WM-Organisationschef und DFB-Vizepräsident überhaupt neben hochrangigen Wirtschaftsvertretern zum Tross des Bundeskanzlers gehören soll, sorgt in Berlin im Vorfeld zunächst für einigen Spott. Doch die Schröder-Regierung ist sich sicher, dass man die psychologische Wirkung eines so populären Mannes wie Beckenbauer nicht unterschätzen solle – und auch nicht die Symbolik. Unter den Taliban war Fußball in Afghanistan jahrelang verboten, und in den Stadien des Landes fanden unter ihrer Herrschaft keine Fußballspiele statt, sondern Hinrichtungen.

Im Garten der deutschen Botschaft in Kabul spielen sich Beckenbauer und Schröder im Mai 2002 nun die Bälle zu. Ein paar junge afghanische Kicker sind auch dabei in bunten Fußballtrikots. Schröder trägt unter seinem blütenweißen Hemd eine schusssichere Weste, Beckenbauer verzichtet darauf.

Auf dem Rückflug löst in der Transall das Raketenabwehrsystem aus. Aus der Maschine jagen plötzlich kleine heiße Phosphorkugeln durch die Luft. Sie sind dazu da, feindliche Raketen abzulenken, die heiße Triebwerke ins Visier nehmen. Ein Fehlalarm. An diesem Tag sind keine feindlichen Raketen unterwegs, aber am Hindukusch wird damals die deutsche Freiheit verteidigt.

Der Bundeskanzler bietet Beckenbauer nach dem WM-Zuschlag das »Du« an. In einem Interview bekennt Beckenbauer, dass er »sehr stolz« darauf ist, dass er jetzt Gerd sagen darf. Er spürt, dass er auf einer Stufe angekommen ist, die kein deutscher Sportler bisher erreicht hat. Als WM-Chef kommt Beckenbauer mit Königen, Präsidenten, Emiren, Staatschefs und Ministerpräsidenten ungezählter Länder zusammen. Mit den wichtigsten politischen Größen im eigenen Land ist er auf Du und Du. Bedeutende Wirtschaftsführer hängen an seinen Lippen. In den Medien ist er allgegenwärtig. Führende Fußballfunktionäre sehen in ihm den künftigen FIFA-Präsidenten.

Mehr noch: Beckenbauer repräsentiert das Land zu dieser Zeit, wie es selbst gern wäre und wie es von anderen Ländern gern gesehen würde. Wie es aber nicht ist, nach einem dunklen Jahrhundert, das nicht vergeht. Weltoffen, einladend, gelassen – so ist Beckenbauer, aber nicht Deutschland.

Es ist zu dieser Zeit ein Privileg, in der Nähe des Kaisers zu sein. Und wer dieses Privileg besitzt, bekommt etwas ab von seinem lässigen Glanz, von der Aura der deutschen Fußballikone. Das spüren viele, die ihn umgeben, und die, die sich mit ihm umgeben wollen. Sie stehen dann auf Deutschlands besserer Seite.

Bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea, die später auch deutsche Ermittler beschäftigen wird, ist Beckenbauer in verschiedenen Rollen unterwegs: als WM-Organisationschef, als Vizepräsident des DFB, als Kommentator des Fernsehsenders Premiere – aber vor allem als Franz Beckenbauer. An einem Tag besucht er zusammen mit Innenminister Otto Schily die deutsche Schule in Yokohama. Ein Mädchen fragt ihn, was er eigentlich so mache, was sein Beruf sei. »Eine gute Frage«, entgegnet Beckenbauer. »Das weiß ich eigentlich selber nicht so genau. Was mache ich eigentlich?«

Zwei Wochen nach der Weltmeisterschaft 2002, bei der Beckenbauer nicht weiß, was er eigentlich macht, stirbt Schwan. Beckenbauer sagt später, erst nach dem Tod seines Managers sei er erwachsen geworden. Da ist Beckenbauer 57 Jahre alt.

Ein Jahr nach dieser Zäsur geht Beckenbauer in eine Fernsehsendung und redet mit Moderator Reinhold Beckmann über Schwans Tod, über die Folgen. Er zeigt sich dabei so verletzlich, wie ihn viele Menschen bis dahin nicht kennen. »Es war eine Tragödie für mich, nicht nur ein Schock. Es war eine Tragödie, nicht nur, weil man einen guten Menschen, einen Freund verliert. Er hat meine ganzen Geschäfte gemacht. Er hat auch private Dinge erledigt. Es ist ein Verlust, den ich bis heute nicht verkraften konnte. Es ist relativ viel schiefgegangen bei mir. Ich habe noch nie so viele Probleme gehabt wie jetzt in diesem Jahr. Er fehlt mir an allen Ecken und Enden.«

Was Beckenbauer an diesem Tag preisgibt, findet öffentlich allerdings wenig Widerhall. Wie auch? Denn das Türchen zu seinem Inneren öffnet er auch an diesem Tag nur einen kleinen Spalt. Um welche Probleme es bei ihm tatsächlich geht im Jahr 2003, was schiefläuft und schiefgelaufen ist im Leben bei einem, dem immer alles zu gelingen scheint – all das sagt Beckenbauer nicht. Er bleibt im Ungefähren. Ist es die Millionen-Zahlung an einen korrupten FIFA-Funktionär? Droht womöglich irgendetwas ans Licht zu kommen, was mit der Weltmeisterschaft 2006 zusammenhängt, dem größten Projekt seines Lebens? Doch da er die Probleme nur andeutet und auch an diesem Abend einen Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit hält, wirkt es, als gäbe es sie für Beckenbauer eigentlich gar nicht. Die Widrigkeiten prallen wie ein Gummiball sofort wieder ab von der öffentlichen Figur des Kaisers, von der Aura des Erfolgs. Ein Panzer, undurchlässig für alles, was sich nicht einfügen will in das Bild des ewigen Siegers: Verwundbarkeit, Traurigkeit, Einsamkeit.

Auch an diesem Abend geht es in der Fernsehsendung bald wieder um Beckenbauers großes Thema: die Weltmeisterschaft 2006, das größte Ereignis des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg, größer noch als die Olympischen Spielen in München 1972. Beckenbauer ist sich der überragenden Bedeutung dieser WM für Deutschland früh bewusst, und ebenso der Tatsache, dass er selbst mit dieser Weltmeisterschaft immer verknüpft bleiben wird, bis ans Lebensende. Und darüber hinaus.