Astricus - Bernd Skorczyk - E-Book

Astricus E-Book

Bernd Skorczyk

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Beschreibung

Astricus ist eine Welt wie keine andere. Magie durchdringt sie, bringt alles Leben in ihr hervor und lässt es wieder versiegen, wenn die Zeit gekommen ist. Unterschiedlichste Völker sind so entstanden. Beherrscht werden sie von den mächtigsten Zauberern, die es gibt. Den Blutadeligen. Sie sehen sich als die Schöpfer von Astricus. Nichts und niemand kann sich ihnen widersetzen. Bis auf einmal eine Macht aus grauer Vorzeit zum Leben erwacht und die althergebrachte Ordnung ins Wanken bringt. Die letzte Hoffnung liegt bei vier Auserwählten, die laut einer Prophezeiung als Einzige dazu in der Lage sind, dem Gegner die Stirn zu bieten. Aber wer ist wirklich der Feind? Und wer der Freund? Je länger die Auserwählten kämpfen, umso mehr bemerken sie, dass die Antworten darauf nicht so einfach sind, wie sie gedacht haben. Und dass ihre Rolle in dem beginnenden Krieg eine ganz andere ist.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Impressum

Kapitel 1

Ein Glossar für den Reisenden

Herzlich willkommen an euch Neugierige. Und vielen Dank dafür, dass Ihr eine Reise in die magische Welt Astricus machen wollt. Damit Ihr den Aufenthalt besser genießen könnt, bekommt Ihr eine kleine Erklärung über einige der Begriffe, die dort üblich sind.

Lasst uns beginnen ...

 

Annalis: Jahr(e)

Centimetron: Zentimeter

Comea: Gräfin

Comes: Graf

Dies: Tag(e)

Dieslicht: Tageslicht

Hebdomada(s): Woche(n)

Hora(s): Stunde(n)

Magieschola: Magieschule

Mens(es): Monat(e)

Metron: Meter

Monasterium: Kloster

Nox: Nacht

Noxeinbruch: Nachteinbruch

Noxgewand: Nachtgewand

Noxnest: Nachtnest

Schola: Schule

Scholajunge: Schuljunge

Tempuszenit: Zeitgrenze

Vordies: Vortag

Werformer: Gestaltwandler

 

Auf Astricus gibt es unzählige Völker. Sie unterscheiden sich nicht nur in Aussehen und Verhalten, sondern auch in ihren Lebensräumen. Hier bekommt Ihr ein paar von ihnen vorgestellt.

 

Die Blutadeligen: Das herrschende Volk auf Astricus. Es hat die gesamte Welt in so genannte Grafschaften untereinander aufgeteilt und herrscht über diese mit eiserner Hand. Blutadelige besitzen große magische Macht. Zudem ist der Großteil von ihnen überzeugt, Astricus und alle in ihr lebenden Kreaturen vor Urzeiten erschaffen zu haben. Sie ernähren sich ausschließlich vom Blut ihrer Diener, dem Volk der Kümmerlinge.

 

Die Puzzlemins: Sie gelten auf Astricus als dumm und hässlich. Sie besitzen einen Fischkopf und echsenartige Arme. Torso und Beine sind mit Fell bedeckt. Ein Großteil von ihnen ist sowohl geistig als auch körperlich beschränkt. Dieses Volk ist gezwungen, sich von dem Müll der anderen zu ernähren.

 

Die Kümmerlinge: Sie sind ein Volk der Diener. Von zwergenhaftem Wuchs. Sie leben ausschließlich, um die Blutadeligen zu ernähren und ihre Schlösser zu pflegen. Darüber hinaus verfügen sie über eine extrem große Lebensspanne und sind vielleicht sogar unsterblich.

 

Die Versipellaner: Sie sind Gestaltwandler und besitzen die Gabe, sich in ein bestimmtes Tier zu verwandeln. Egal ob es sich dabei um ein Raubtier oder einen harmlosen Pflanzenfresser handelt. Die Mehrheit der Bewohner von Astricus verachtet sie dafür.

 

Die Ursi: Bärenartige Geschöpfe mit massigen, von braunem Fell bedeckten Körpern, kurzen Schnauzen und Händen, die wie Tatzen aussehen. Sie sind magiebegabt genug, um sich als Dorfmagier zu verdingen und bestimmte Zauber zu bewirken. Aber an die Macht der Blutadeligen kommen sie nicht heran.

 

Die Drakonis: Echsenartige Wesen, die mit schuppiger Haut bedeckt sind. Sie besitzen eine kleine Schnauze.

 

Die Menschen: Um dieses Volk zu erkennen, schaut in den Spiegel.

 

Die Hippoliden: Flusspferdartige Geschöpfe. Sie besitzen ein Maul, das mit zwei Stoßzähnen ausgestattet ist. Ihre Hände und Füße sind rundlich geformt und hufartig.

 

Die Creaturaner: Dieses Volk lebt hauptsächlich in den Seen und Meeren von Astricus und kann sich an Land nur für gewisse Zeit aufhalten, da es ansonsten erstickt. Zudem vermag es sich da nur träge fortzubewegen. Unter Wasser dagegen ist es flink und wendig. Creaturaner besitzen grüne Haut und einen fast dreieckig geformten Kopf mit schwarzen Augen, kleinen Atmungslöchern sowie einen lippenlosen Mund.

 

Habt Ihr gut aufgepasst, Ihr Neugierigen?

Sehr gut. Dann seid Ihr bestens gerüstet für das Abenteuer.

Kapitel 2

Aus den geheimen Schriften von Comes Aegis:

„Astricus ist eine reiche Welt.

So sehen das zumindest meine Brüder und Schwestern. Schließlich haben wir Blutadeligen sie mit unserer Zauberkraft erschaffen.

Durch uns entstanden die mannigfaltigsten Wesen und Pflanzen.

Im Wasser und an Land.

Manche harmlos, manche gefährlich. Aber alle wunderbar.

Und so führen wir, der wir uns vom Blut unserer Diener, der Kümmerlinge, ernähren, ein selbstgefälliges und alles beherrschendes Leben. Wir fragen nicht einmal nach, wie alt die Welt ist, die unsere Ahnen erschaffen haben.

Warum müssen wir, der wir mit einer Handbewegung Felsen zu Wasser verwandeln können, das Blut unserer zwergenhaften Dienerschaft trinken, um zu leben?

Warum verbieten wir uns selbst und den Untertanen bei Todesstrafe die Fragen nach dem Wie und Warum dessen, was uns umgibt?

Warum fliehen wir stattdessen in die abwegige Behauptung, die Rasse der Blutadeligen und Astricus habe es schon immer gegeben?

Wir wandeln wie Kinder umher, nicht wissend, was unsere Welt antreibt. Und umarmen diesen Zustand leidenschaftlicher als das Leben selbst.

 

Ich, Comes Aegis von der Grafschaft Sanguis, der ich von den nobelsten Ursprünglichen abstamme, dessen Magie von dem gespeist wird, was uns alle existieren lässt, werde nicht länger in Unwissenheit verharren. Auch wenn ich durch meine Taten mein Leben verwirke.

Astricus ist nicht reich, sondern wird auf immer arm sein, solange nicht das ausgemerzt wird, was uns schwach bleiben lässt: Unwissenheit!

Die folgenden Schriften hinterlasse ich meinen Ahnen.

Sollen sie meine Erkenntnisse nutzen, um die Völker von Astricus zu erleuchten.

Und Stärke auf diese Welt bringen!“

 

Bolus konnte zuerst nicht glauben, was er da las. Allein die erste Pergamentseite sprach all das an, was ihn umtrieb, seit er, anders als seine Artgenossen, die wunderbare Kraft des Denkens für sich entdeckt hatte.

Bolus gehörte dem Volk der Puzzlemin an, welches gemeinhin als dumm galt und dementsprechend unbeliebt war.

Neben ihrem schwachen Geist besaßen die Puzzlemins dazu noch Körper, die aussahen wie ein Sammelsurium aus den unterschiedlichsten Gliedmaßen der verschiedensten Lebensformen. Ihre Köpfe ähnelten denen von Fischen. Haarlos mit schuppiger Haut, großen, wässrigen, blaugrau gefärbten Augen und einem breitlippigen Maul, in dem sich dünne, zerbrechliche Zähne verbargen. Bei den echsenartigen Armen und dem mit Fell bedeckten restlichen Körper wurde es nicht einheitlicher. Zudem besaßen die meisten Puzzlemins gerade genug Körperkraft, um ein paar hundert Metrons am Stück zu laufen.

Das Volk von Bolus galt als Parasit, Schnorrer. Vorwiegend ernährte es sich vom Müll der Dörfer und Siedlungen, die es auf Astricus zu Genüge gab.

Bolus als denkender Puzzlemin, der zudem noch weiter als ein paar Metrons laufen konnte, war deswegen sowohl innerhalb seines als auch bei den restlichen Völkern ein Außenseiter. Die einen verstanden ihn nicht, die anderen fanden seinen hoch entwickelten Geist beängstigend.

Dass ihn alle mieden, konnte ihm nur recht sein. Denn Bolus betätigte sich in Bereichen, die als Ketzerei galten. Er sammelte Wissen über das Wie und Warum auf Astricus.

Aus diesem Grund saß er jetzt auf einem alten Hocker aus Piriholz in der Bibliothek des Widergänger-Monasteriums. Er studierte die geheimen Schriftrollen, die der legendäre blutadelige Aegis zu seinen Lebzeiten verfasst und hier deponiert hatte.

Nach dem vielversprechenden Vorwort wurde Bolus geradezu gierig auf den Rest.

  Ein paar Horas später hatte sich seine Freude in blankes Entsetzen verwandelt. Denn auf seinen wissenschaftlichen Forschungsreisen hatte Comes Aegis etwas entdeckt, das nun alles verändern konnte. Und das nicht unbedingt zum Guten.

 

Auf die Schriften des Aegis war Bolus zwar allein gestoßen. Aber die Hinweise, die ihn schließlich zur Widergänger-Bibliothek geführt hatten, waren von jemand anderem gekommen. Eine Person, die in all den Annalis, die sie nun schon zusammenarbeiteten, zu einem wahren Förderer des Puzzlemins geworden war.

Dieses besondere Wesen hieß Aelon, gehörte dem Volk der Blutadeligen an und war nicht nur der Comes der Grafschaft Sanguis, in der das Widergänger-Monasterium beheimatet war. Anders als seine Artgenossen interessierte er sich auch noch für die verpönten Wissenschaften. Zudem war er ein Nachfahre des Aegis.

So schnell es ihm möglich war, musste Bolus nun zum Herrschaftsschloss seines Gönners reisen. Um davon zu erzählen, dass die Welt Astricus, auf der sie alle lebten, zu vergehen drohte.

Kapitel 3

Das Herrschaftsschloss der Grafschaft Sanguis stand auf einer leichten Anhöhe inmitten von Perikles-Tannen, die bei Dies im strahlenden Sonnenlicht einen milden, erfrischenden Duft abgaben. Anders verhielt es sich bei Nox. Selbst wenn die Vollmonde die Umgebung erleuchteten, blieben diese Bäume völlig geruchlos.

Das Warum hatte Aelon schon immer interessiert. Bis heute suchte er nach der Antwort. Als Kind hatte er den Fehler begangen, zu eindringlich seinen Vater Aebor, den damaligen Comes der Grafschaft Sanguis, über den Grund auszufragen.

Die Strafe dafür würde er nie vergessen. Hatte sie doch darin bestanden, ihn fast verhungern zu lassen. Sieben Dies, eine ganze Hebdomada durfte er damals nicht das Blut des Familienkümmerlings namens Zoren trinken. Hinterher hatte der gerade mal elf Annalis alte Aelon wie ein Greis ausgesehen.

Seine unbändige Neugierde war dadurch allerdings nicht abgetötet worden. Im Gegenteil. Aelon wurde süchtig nach Wissen. Bis heute konnte nichts etwas daran ändern.

Was ihm jetzt gerade sein puzzleminischer Freund erzählte, schien dabei fast wie eine späte Belohnung seines Wissensdranges zu sein.

Nachdem Bolus kurz umrissen hatte, wie die Schriftrollen von Aegis in ihrer textlichen Komplexität aufgebaut waren, ging er zum Hauptthema über. Die drohende Zerstörung von Astricus. Und wie man sie aufhielt.

„Aegis schien zu seinen Lebzeiten eine Reihe faszinierender Entdeckungen gemacht zu haben“, berichtete der Puzzlemin eifrig, „die er natürlich nicht jedem offen präsentieren konnte oder wollte. Jedenfalls wird in den Schriftrollen behauptet, dass es vor Urzeiten einen Krieg gegeben hat. Auf der einen Seite standen die Blutadeligen, auf der anderen eine Macht, die sich laut Aegis´ Beschreibung der größten Vergehen an Astricus und allen existierenden Lebewesen schuldig gemacht hatte. Die Blutadeligen gewannen. Ihre Gegner, die sich die Arma Fulmen Tonitrus nannten, wurden bestraft. Aber die Energiequelle, aus der sie ihre unmagische Kraft bezogen, existierte weiterhin. Bis heute wartet sie darauf, wieder angezapft zu werden.“

„Was meint Ihr mit „Energiequelle“?“, fragte Aelon nach. „Und „unmagisch“? Alles auf Astricus lebt und atmet doch wegen des Fluvius magicus, dem Zauberstrom. Ohne Magie kann nichts existieren.“

„Anscheinend doch.“ Bolus begann, in der großen Schlossbibliothek herumzulaufen, in die sich die beiden zurückgezogen hatten. „Und ich weiß, dass jeder andere Blutadelige außer euch mich für diese Behauptung sofort hingerichtet hätte. Selbst Aegis gab zu, seine eigenen Schlüsse in Zweifel zu ziehen. Aber bei Grabungen traf er auf eindeutige Beweise. Diese belegen, dass eine Macht jenseits der Magie die Arma Fulmen Tonitrus nährte, ihnen soviel Kraft gab, dass sie zu der größten Gefahr werden konnten, die Astricus je heimgesucht hatte.“

„Und wo hat er gegraben? Wo liegen die Beweise?“

„Dazu komme ich noch, Comes! Wichtiger ist das, was ich darüber hinaus herausgefunden habe. Nämlich den Zeitpunkt, an dem die Mächte der Arma Fulmen Tonitrus wieder aufbegehren. Aegis hat ihn recht genau extrapolieren können. Ihr hattet mir ja schon einmal von seiner außergewöhnlichen Gabe erzählt, Visionen von der Zukunft zu haben.“

Aelon besann sich auf sein Alter und die eigentlich damit einhergehende Gelassenheit, die sich bei ihm nicht einzustellen gedachte. Er brachte ein amüsiertes Lächeln zustande. „Ja, mein Vorfahr hatte so manch erstaunliches Talent. Einige der ältesten Blutadeligen behaupten immer noch, dass er sogar fliegen konnte. Aber die Fähigkeit, zumindest rudimentär zukünftige Ereignisse vorauszusehen, besaß er wohl tatsächlich.“

„Der Zeitpunkt, an dem der Gegner wieder erwachen und Astricus zerstören wird…“, Bolus machte eine dramatische Pause, „…ist noch in diesem Annalis, Comes Aelon, dem vierhundertsten eurer Herrschaft über Sanguis.“

Aelon musste schlucken. „Ihr scherzt, Freund Bolus.“

Der Puzzlemin schüttelte seinen Fischkopf. „Leider nein. Beim Studium der Schriftrollen habe ich entdeckt, dass euer Vorfahr besonders in Dingen, die seine eigenen Nachkommen betreffen, einen ziemlich genauen Blick in die Zukunft werfen konnte. So hatte er auch…“, Bolus zögerte, „… den Tod eurer Gefährtin Ester durch den Schlangenbiss vorausgesehen.“

Aelon fühlte, wie ein bleiernes Gewicht seinen Oberkörper gegen die Lehne des Caesarstuhles drückte, auf dem er saß. „An diesem Dies starb nicht nur Ester. Sondern auch ein Teil von mir. Und die Liebe meiner Tochter Darina zu ihrem Vater.“

Bolus war sich nicht sicher, ob er das Recht dazu hatte, trotzdem näherte er sich dem Comes und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Niemand ist allmächtig. Auch nicht ein so begabter blutadeliger Zauberer wie Ihr. Wie hättet Ihr wissen sollen, dass eine Mantis-Schlange sich inmitten eures Schlosses befand?“

„Durch eben diese vermaledeiten Schriften“, brach es laut aus Aelon hervor. „Was versteckte Aegis sie auch in irgendeiner entlegenen Bibliothek?! Wenn er doch so überzeugt von der Richtigkeit seiner Behauptungen war, hätte er den Mut haben sollen, sie seinen Nachfahren offen zu präsentieren!“

„Sofern mich mein Eindruck beim Lesen der Schriften nicht täuscht, glaubte Aegis, dass es manche Dinge gibt, die geschehen müssen. Die man nicht verändern darf. Die Macht des Schicksals.“

Als Comes hätte Aelon jetzt auf vielerlei grausame Arten reagieren können. Einen Puzzlemin mittels Magie in der Luft zu zerfetzen, war dabei die geringste Strafe. Stattdessen sagte er sanft: „Ja, so sieht es aus. Die Macht des Schicksals. Wenn man bedenkt, dass ich euch ausgerechnet in diesem Annalis zur Widergänger-Bibliothek schicke, um die Texte meines Vorfahren durchzulesen. Jetzt, wo angeblich unsere Welt dem Untergang geweiht sein soll.“ Er verbannte die Tränen, die sich bereits in seinen Augenwinkeln bildeten, und stand auf. Dann fixierte er den Puzzlemin. „Wäret Ihr mit eurer wunderbaren, so untypischen Neugier nicht bei mir aufgetaucht… Ihr habt mein Leben sehr bereichert, Freund Bolus.“

Bolus konnte schlecht mit Komplimenten umgehen. Wahrscheinlich weil sie für ihn so selten waren wie ein Tropfen Wasser in den Enud-Wüsten. Also wechselte er schnell das Thema.

„Wir sind dem Untergang durch die Arma Fulmen Tonitrus nicht wehrlos ausgeliefert“, sagte er mit bewusst sachlichem Unterton. „Damit komme ich auf eure Frage zurück, wo Aegis die Beweise gefunden hat.“ Er deutete mit einer Hand zu einem der wenigen Ovalfenster, durch die Dieslicht in die Bibliothek drang. „Dort draußen, im Schlosshof.“

„Auf meinem Grund und Boden?“ Aelons Augenbrauen hoben sich unter seinen wallenden weißen Haaren, die als lange Mähne das blasse Gesicht umrahmten. „All die Annalis der Vergangenheitsforschung und die Beweise lagen direkt unter unseren Füßen?!“

Bolus nickte. „Und nicht nur das. Aegis hat uns darüber hinaus noch etwas mehr hinterlassen. Einen Gegenstand, durch den wir das nötige Wissen erhalten, um die Bedrohung auszuschalten. So unglaublich es klingt, als ich die Schriftrollen las, war es mir so, als spräche Aegis zu mir persönlich. Mir, Bolus dem Puzzlemin. Als habe er die Texte nur meinetwegen aufgeschrieben. Verrückt, nicht wahr?“

„Nun.“ Aelon lächelte. „Vielleicht wusste er ja auch, wer seine Notizen findet. Und wenn ich eines über meinen Vorfahren gelernt habe, dann, dass er ein offener, wissbegieriger Blutadeliger war, der sich der Wahrheit verschrieben hatte.“

Bolus runzelte skeptisch die Stirn. „Einer Wahrheit, die jetzt allerdings rasches Handeln erfordert. Ich meine, die Vernichtung von Astricus, ein übermächtiger Feind. Das bedarf doch einer wohlüberlegten Gegenwehr. Wenn ich die Schriften nicht in diesem Annalis gelesen hätte, dann…“

„Sagtet Ihr nicht eben etwas von der Macht des Schicksals, mein Freund?“, unterbrach ihn Aelon. „Vielleicht war Aegis ja ein noch mächtigerer Magier, als wir es uns vorzustellen vermögen, und kannte unser aller Zukunft. Vermutlich sind wir beide jetzt gerade genau an dem Punkt, an dem wir sein sollen.“ Er machte eine auffordernde Geste. „Worauf warten wir dann noch, Freund? Lasst uns graben gehen!“

Kapitel 4

Mit Steinen durchsetzte Erde auf Astricus war manchmal mächtiger als jeder Zauber, den ein Blutadeliger auszuführen vermochte. So auch jetzt, als Comes Aelon zusammen mit dem Puzzlemin Bolus auf der Suche nach Spuren der Vergangenheit den eigenen Schlosshof durchwühlte. Felsbrocken wirbelten durch die Gegend, Erde spritzte wie Wasser aus dem gegrabenen Loch, während Aelon unablässig magische Energieblitze aus seinen Händen abfeuerte. Trotzdem kamen sie nicht so voran, wie sie es wollten. So als ob das, was auch immer unter der Oberfläche verborgen lag, nicht freigelegt werden durfte.

Schließlich gab Aelon auf und wischte sich den Schweiß von der bleichen Stirn. „Seid Ihr sicher, dass wir hier etwas finden?“

Entschuldigend hob der Puzzlemin seine echsenartigen Arme. „Aegis erwähnte diesen Schlosshof. Aber wo genau…?“ Er schaute sich um. Der Hof maß mehrere Quadratpassus, die noch vor kurzem größtenteils von Milesgras überwachsen waren und jetzt wie ein Schlachtfeld aus Erde und Gesteinsbrocken aussahen.

Die Schaufel, mit der der Puzzlemin die erste Zeit über versucht hatte, Aelon bei dessen Grabungsbemühungen zu unterstützen, lag längst unnütz neben ihm. Bolus besaß einfach nicht genug Kraft, um diese große Fläche aus widerborstigem Boden zu durchwühlen.

Der Blutadelige hatte seine ganze Zauberkraft aufgebracht, um fündig zu werden. Anscheinend umsonst.

Bolus räusperte sich. „Vielleicht habe ich die Texte von Aegis auch falsch verstanden, Comes.“

„Was sollte an dem Wort „Schlosshof“ falsch zu verstehen sein?“, wiegelte Aelon ab und fletschte seine nadelartigen Zähne. „Es ist nie einfach, die Wahrheit zu ergründen. Besonders, wenn einen die eigenen Artgenossen am liebsten töten würden, falls sie von dem Treiben hier erführen.“

„Ihr habt nichts zu befürchten. Wir Puzzlemin sind ja nicht gerade wegen unserer Redseligkeit bekannt.“ Bolus lachte kurz auf. „Oder unserem Denkvermögen.“

Das brachte Aelon zum Schmunzeln. „Eines Dies möchte ich gerne herauskriegen, warum Ihr, anders als der Rest eures Volkes, intelligent seid und sprechen könnt.“

„Und wie wir Puzzlemin überhaupt entstanden sind“, fügte Bolus hinzu. „Mit all den unterschiedlichen Körperteilen, die uns wie ein übles Gemisch aus den Lebensformen von Astricus wirken lassen. Wenn die Legende doch stimmt, dass die Blutadeligen uns alle erschaffen haben, hatte einer von euren Artgenossen aber einen ganz schlechten Dies.“

„Der Wissenschaftler in euch ist zu offensichtlich. Gebt Acht, dass Ihr nicht irgendwann dafür verbrannt werdet.“

Bolus schüttelte den Kopf. „Ja, die Gesellschaft geht recht barbarisch mit den Wesen um, die sich um die Wahrheit bemühen. Eine Veränderung der Weltsicht wird mit dem Untergang unserer Zivilisation gleichgestellt.“

„Besonders in den Köpfen von uns Blutadeligen.“ Aelon schaute zum Grabungsloch, dessen Ränder von den Energieblitzen noch rauchten. „Wir halten so an Traditionen, geistlosen Gesetzen und vorgefertigten Haltungen fest, dass es mich manchmal schmerzt, mit meinen Artgenossen überhaupt zu reden.“ Er machte eine kurze Gedankenpause, bei der sich seine Miene verfinsterte. „Ich wünschte nur, die eigene Tochter würde sich mehr der Wahrheit öffnen. Stattdessen hält Darina oftmals noch fanatischer an der unwissenden Arroganz unserer Vorfahren fest, als der konservativste Comes es könnte.“

„Vermutlich könnte sie uns als frisch ausgebildete Kampfmagierin in Anbetracht der Lage ja sogar helfen“, versuchte Bolus, die Enttäuschung Aelons über den eigenen Nachwuchs in andere Bahnen zu lenken. „Wo ist sie denn gerade?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht noch in der Magieschola.“ Der Blutadelige zuckte müde mit den Schultern. „Im Elysium fühlt sie sich ja mehr zuhause als hier. Kein Wunder, bei all den verbohrten Artgenossen, die dort unterrichten.“

„Darina ist jung und impulsiv. Sie ist…“

„Wie alle anderen meines Volkes“, unterbrach Aelon den Puzzlemin. „Arrogant, überheblich. Kaltblütig. So hätte ich auch werden können. Aber ich habe mich entwickelt. Was ja angeblich nicht möglich ist. Weil wir ja schon perfekt sind.“ Mit versteinerter Miene stellte sich der Blutadelige in Position, um einen weiteren Energieblitz abzufeuern. „Lasst uns weiterarbeiten.“

Kapitel 5

Die Dörfler hatten den Jungen schon eingekreist. Dass er sich jetzt noch verwandeln konnte, grenzte an ein Wunder. Leider war seine zweite Körperform die eines kleinen Feldhasen. Der schien zwar äußerst flink zu sein, kam aber gegen die brutale Kraft der menschlichen und drakonianischen Dorfbewohner nicht an, als sie ihn in einem Stall in die Enge trieben.

Galen hätte brechen können. Hier wurde ein versipellanisches Kind zur Schlachtbank geführt. Nur weil es dem Volk der Gestaltwandler angehörte und es gewagt hatte, aus seinem Versteck herauszukommen, um etwas zu essen zu holen.

Leider hatte es sich dabei ungeschickt angestellt. Es war vom Dorfmagier enttarnt worden, einem Ursi, der mit dem massigen, von braunem Fell bedeckten Körper und der kurzen Schnauze eher wie ein feister Wirt als wie das bärenartige, magische Geschöpf wirkte, das er war.

Der Ursi hatte das Versipellanerkind in der Menschenform vor allem daran erkannt, dass es sich auf einer Wiese vor dem Rathaus an den Farnen gütlich getan hatte. Kein Mensch aß so etwas.

Ein Versipellaner, dessen andere Körperform die eines Pflanzenfressers war, schon.

Galen wäre so etwas nicht passiert. Nicht nur, weil er älter und erfahrener war, wenn es darum ging, sich zu verstecken. Sondern weil er einen Fleischfresser als zweite Körperform hatte. Eine Wolfskreatur mit tiefschwarzem Fell, langen Klauen an Händen und Füßen und einer Schnauze, in der dolchartige, weiße Zähne darauf warteten, Fleischbrocken aus jedweder Beute zu reißen. Dieses „Monster“ konnte abwechselnd auf allen vieren oder nur ihren Beinen durch die Gegend jagen, was es in den Augen seiner Feinde noch unheimlicher machte.

In seiner Menschenform dagegen war Galen zwar nicht der Unauffälligste. Er maß an die 190 Centimetrons und war kräftig gebaut. Aber solange er nicht rohes Fleisch in der Öffentlichkeit hinunterschlang, konnte er relativ unbehelligt seiner Wege gehen. Ohne den magischen Wächtern in die Arme zu laufen, einer bunt gemischten Truppe aus Ursi, Menschen, den echsenartigen Drakonis oder sonstigen Wesen, die sich ein bisschen Gunst von ihren blutadeligen Herrschern erwerben wollten.

„Sicherheit“ wurde in den meisten Grafschaften von Astricus großgeschrieben. Auch wenn es nur die der Herrschenden vor unbequemen Untertanen war.

Das Versipellanerkind verwandelte sich gerade aus der Hasen- in die Menschenform zurück, was die Dörfler nicht von ihrem Blutrausch abbrachte. Mistgabeln und Speere richteten sich auf den nackten Körper des kleinen Jungen.

Auch fünfzehn Annalis nach dem Pogrom brannte immer noch genug Hass in den Bewohnern von Astricus gegen das Volk der Gestaltwandler. Und Galen verstand nicht warum. War es, weil die Versipellaner zwei statt einer Körperform besaßen oder sie zur Hälfte Tier waren?

Vielleicht war vor dem Pogrom das Wetter zu oft zu schlecht gewesen, als sich Gestaltwandler in der Nähe von Getreidefeldern aufgehalten hatten. Irgendeinen geistesverbrannten Grund gab es immer.

Auf jeden Fall galten Versipellaner als vogelfrei. Sollten sie sich bei einem Angriff wehren, war ihr Leben erst recht verwirkt. Auch die Kinder durften erschlagen werden.

So wie jetzt der Junge. Sofern Galen nicht einschritt.

Seit er mitangesehen hatte, wie seine Eltern am Dies des Pogroms bei dem Versuch, ihn zu retten, von magischen Wächtern umgebracht worden waren, konnte er nicht tatenlos zusehen. Wenn einer seiner Artgenossen dem Zorn von Astricus wehrlos ausgesetzt war, handelte er.

Bereits in seiner Menschenform teilte Galen kräftig genug aus, um so manchen Gegner in die Flucht zu schlagen. Was er während der letzten Dekade auch oft und gründlich getan hatte. Einige Gestaltwandler durften dank ihm einen Dies länger leben. Die Kämpfe hatten Galen genug geschult, sodass er mittlerweile sofort einschätzen konnte, wie er gegen welche Gegner anzutreten hatte.

Die größte Herausforderung allerdings war, nicht erkannt zu werden, solange er jemandem verprügelte. Denn wenn es etwas auf Astricus gab, dass noch miserabler war als Versipellaner zu sein, dann war es, zum „unerwünschten Wesen“ abgestempelt zu werden, das „den magischen Frieden zwischen den Völkern stört“. So konnte man es zumindest auf diversen Proditio-Plakaten lesen, die in den meisten Dörfern an einem Holzstamm im Zentrum hingen. Waren sie von einem kundigen Magier erstellt worden, verrieten sie unter Umständen sogar den Gesuchten selbsttätig durch ein Lichtfeuerwerk über dessen Kopf, wenn er in der Nähe war.         Deswegen hatte sich Galen bisher vor einem Kampf noch die Zeit genommen, ein Stofftuch vor Mund und Nase zu binden oder das Gesicht mit dunkler Erde zu schwärzen.

Heute entschied er sich für Ersteres. Vor ein paar Dies hatte er von einem fahrenden Händler ein „wertvolles Schnupftuch“ zum Dank dafür geschenkt bekommen, dass er einen Räuber in die Flucht geprügelt hatte. Das Ding war zweifelsohne groß genug, um auch als Gesichtsschutz herzuhalten.

  Die Menschen und die Drakonis überboten sich gerade in Vorschlägen, wie man das „Versipellanerbalg“ abschlachten sollte. Der Ursi-Magier hatte sich schon in seine Holzhütte am Rande des Dorfes zurückgezogen. Der Pöbel würde ihm die Arbeit abnehmen.

Galen verschwand hinter einem Materialschuppen und band sich das Schnupftuch vors Gesicht.

Die Lederhose, die er gerade trug, und das weite, dunkelblaue Schlupfhemd waren dehnbar und reißfest genug, um einen Kampf auszuhalten. Auch wenn er beides angesichts der vielen Gegner am liebsten ausgezogen hätte, um als Wolfswesen Randale zu machen.

Eine verführerische Idee. Mit einem entscheidenden Haken. Es fiel ihm in der tierischen Form oftmals zu leicht, Blut zu vergießen. Bei der Jagd, um sich Nahrung zu beschaffen, gehörte das Töten dazu. Was war da schon ein abgebissener Arm oder ein Bein mehr?

Jetzt trat er aber nicht gegen Tiere an. Er war nicht so wie der Rest der Astricus-Völker, die ihn und seinesgleichen massakrierten. Er produzierte bei seinen Gegner lediglich blaue Flecke und gebrochene Knochen. Keine Kadaver, die es hinterher von irgendjemandem zu betrauern gab.

Die Dörfler hatten sich in dem Stall, in dem sie das Versipellanerkind eingekreist hatten, so in ihre Blutgier gesteigert, dass sie nichts um sich herum wahrnahmen. Auch nicht, dass Galen durch eine der Futterluken für Bovisschafe kletterte und sich seitlich vom Dörflerpulk positionierte. Zwischen ihm und dem Versipellanerkind lagen nur noch wenige Metrons.

Am besten schnappte er sich den Kleinen einfach und lief weg. Die meisten Menschen waren zu wohlgenährt, um einen längeren Sprint zu schaffen. Und den Drakonis behagte das nasskalte Wetter nicht, das gerade herrschte. Also ging es jetzt nur darum, aus diesem Stall herauszukommen, ohne eine der unzähligen Mistgabeln abzubekommen, die die Anwesenden wie magische Lanzen bedrohlich herumschwenkten.

Durch die Futterluke hindurch würde die Flucht nicht gehen. Für zwei war sie zu schmal. Also blieb nur das halb angelehnte Stalltor.

Galen musste dafür lediglich an die zehn Drakonis und Menschen niederrempeln. Leben retten war auch schon mal einfacher gewesen.

Kapitel 6

Der Erste der Dörfler holte mit der Mistgabel aus, um den Jungen abzuschlachten. Da stürmte Galen hervor und schlug dem Menschen ins Gesicht, wodurch dieser seitlich gegen seinen drakonianischen Nachbarn prallte.

Das Kind spürte in Galen seinen Artgenossen und begann flehentlich zu jammern. Er schnappte sich den Kleinen und hob ihn auf den Rücken.

Der Junge klammerte sich instinktiv an den Hals des erwachsenen Versipellaners. So sehr, dass dieser kaum atmen konnte.

Die Probleme wurden nicht weniger, als einer der Dörfler seine Mistgabel auf Galen warf. Der konnte gerade noch ausweichen, sodass sich die Zinken in den strohgedeckten Holzboden bohrten. Galen nahm sich genau diesen jetzt unbewaffneten, menschlichen Schützen vor, packte ihn mit einer Hand an der Gurgel und mit der anderen am Seilgürtel von dessen Hose. Er stieß den fettleibigen Dörfler gegen seine noch bewaffneten Nachbarn. Einer Dimoni-Spielsteinkaskade gleich brachte der Fettsack diese aus dem Gleichgewicht, sodass die Umfallenden ein paar ihrer Hintermänner ebenfalls zu Boden beförderten.

Galen sprang über ihre Leiber, stieß das Stalltor auf und rannte hinaus. Das Dieslicht umfing ihn und das Versipellanerkind bereits, als er einen stechenden Schmerz in seinem rechten Unterschenkel spürte. Die Zinken einer Mistgabel hatten sich hineingebohrt. Waren diese Dorftölpel doch nicht so leicht zu überrumpeln gewesen.

Galen schüttelte die Mistgabel aus der Wunde. Er versuchte weiterzulaufen. Allerdings bekam der kleine Versipellaner auf seinem Rücken panische Angst und ließ sich fallen.

Eine weitere Schmerzwelle explodierte in Galen. Wahrscheinlich noch eine Mistgabel. Dieses Mal wurde sein Schulterbereich malträtiert. Er wusste, dass er hier sterben würde. Wenn er jetzt nicht handelte. Also verwandelte er sich, in die stärkere seiner beiden Erscheinungsformen, mit den besseren Instinkten, Sinnen und körpereigenen Waffen.

Seine Kleidung zerriss mit einem trockenen Ratsch-Laut, als sich schwarzes Fell über riesigen Muskeln vermehrte. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, während daraus die Schnauze mitsamt den weißen, spitzen Zähnen wuchs. Finger- und Fußnägel wurden zu Klauen und die Wunden durch die Mistgabeln schlossen sich.

Die Wolfskreatur übernahm und richtete sich zur vollen Größe auf. Verglichen mit ihr wirkten die Menschen und Drakonis schmächtig, die aus dem Stall gelaufen kamen und nun ungläubig starrend hinter dem Wolfswesen verharrten.

Auf dem Dorfplatz in Stallnähe hatten sich einige Anwohner versammelt. Begierig darauf, zuzuschauen, wie der Lynchmob mit der „Werformerbrut“ umging.

Jetzt erblickten sie ein wütendes Wolfsmonster und bereuten ihre Neugier.

Ein Drakonis holte mit seiner Mistgabel aus. Er wurde von einem Klauenhieb der Kreatur direkt an der Brust getroffen, sodass er über die Köpfe der anderen hinweg gegen den Dachfirst des Stalles geschleudert wurde, um wie eine vom Sturm zerbrochene Vogelscheuche herunterzustürzen.

Ehe der restliche Mob noch etwas tun konnte, katapultierte das Wolfswesen mit wischenden Bewegungen seiner Arme Mensch und Drakonis gleichermaßen durch die Gegend. Ein paar hatten so viel Glück, nur auf dem vergleichsweise weichen Boden des Dorfplatzes zu landen. Andere hingegen nahmen auf ihrem Flug noch hervorragende Dachbalken oder Hauswände mit metallenen Querverstrebungen mit. Spätestens da wechselte die Neugier der Schaulustigen zu Panik.

Galen genoss es.

Diese Dörfler hatten sich für etwas Besseres gehalten, ihre Unterhaltung wollten sie mit dem Blut eines unschuldigen Kindes erkaufen. Jetzt wussten sie, wie sich Todesangst anfühlte. Das reichte Galen, obwohl die Bestie in seinem Innern nach mehr schrie.

Das Versipellanerkind schien vor der Wolfskreatur keine Angst zu haben, es stand in seiner Nähe und schaute sich das Spektakel mit einer Mischung aus Erschöpfung und Neugier an. Galen winkte es mit seiner rechten, klauenbewaffneten Hand zu sich.

Der Junge setzte sich in Bewegung. Und explodierte in einer dunkelschwarzen Rauchwolke, als ein magischer Energiestrahl ihn verbrannte.

Nur verschwommen bekam Galen den Tod des Kindes mit. Denn auch er wurde von einer Salve des plötzlich hinter ihm auftauchenden Ursi-Dorfmagiers getroffen und ging zu Boden, während sein Geist in einem Feuer aus Schmerz und Agonie versank.

Er würde nicht sterben, das nahm er noch wahr. So einfach machte es ihm jetzt niemand. Nicht nach seinem Auftritt hier.  

Während sich die Asche des verbrannten Kindes vom leichten Mittagswind getragen über den Dorfplatz verteilte, kam der Ursi mit vor Magie glühenden Tatzen auf Galen zu.

„Ihr Drecksgesindel seid wie die Grünbaum-Pest!“, knurrte er dabei. „Ihr wollt einfach nicht aussterben. Also müssen wir anständigen Bürger nachhelfen.“

Er kniete sich neben dem betäubten Versipellaner nieder, der sich gerade in die menschliche Form verwandelte, und legte diesem eine glühende Tatze auf den Rücken. Es zischte und eine dünne, dunkle Rauchfahne stieg auf, als die magische Energie Galen ein kreuzförmiges Brandzeichen in die Haut fraß.

„Deine Brut hat es nun hinter sich. Schnell und schmerzlos“, redete der Ursi weiter. „Aber du, du wirst dafür leiden, diese ehrbaren Bürger hier angegriffen und verletzt zu haben.“

Das Geschwafel bekam Galen, ebenso wie seine Brandmarkung, kaum noch mit. Auch nicht, dass ihn ein paar der „ehrbaren Bürger“ an den Armen packten und in den Stall zerrten, aus dem er gerade erst entkommen war.

Kapitel 7

Die Sonne ging bereits unter, als Aelon und Bolus endlich für ihre Mühen belohnt wurden.

Obwohl sie zuerst nicht wussten, was sie da vor sich hatten, als sie eine silberne Kugel vom Erdreich befreiten, die fast so groß wie ein Kutschenrad war und eine glatte, alles widerspiegelnde Oberfläche besaß. Nahe der Außenmauern der Bibliothek waren sie in mehreren Metrons Tiefe darauf gestoßen.

Sofort sprang Bolus eifrig in das Loch und klopfte auf die Kugel. Ein hohles, fast summendes Geräusch erklang. Das Kugelmaterial schien zu vibrieren. Mit seinen Echsenhänden strich der Puzzlemin über die Oberfläche.

„Sie fühlt sich… warm an“, sagte er dabei. „Und so perfekt. Ich kann keine Naht finden. So als ob sie aus einem Guss ist. Vielleicht ist noch etwas in ihr drin.“

„Stellt euch neben mich.“ Aelon wartete, bis Bolus aus dem Weg war. Dann ließ er die Macht des Fluvius magicus, der Kraftquelle aller Lebewesen auf Astricus, durch seine Glieder fließen und formte zwei Energiekrallen, die sich um die Seiten der Kugel legten und daran mit unglaublichen Kräften zogen.

Es geschah nichts. Die Kugel blieb, wo und wie sie war. Schließlich löste Aelon die Krallen wieder auf. Noch war er mit seiner Macht ja nicht am Ende.

Unzählige Momente später schon.

Der Blutadelige hatte sein gesamtes magisches Wissen angewandt. Von elementarer Aurenaufsplitterung bis zur Materialauflösung.

Die Kugel bewegte sich kein Stück, ließ sich nicht öffnen, geschweige denn einen Kratzer auf ihrer Oberfläche zu.

„Das ist unglaublich“, zischte Aelon, mehr wütend als erstaunt. „Was soll dieses Spektakel bloß?“

Bolus versuchte, den Frust seines Förderers durch Sachlichkeit einzugrenzen: „Aegis ist in seinen Schriften auch nicht spezifischer geworden, was die Beschaffenheit oder der Sinn dieses Objektes ist. Nur dass es uns helfen wird, den Feind zu bekämpfen.“

„Ich spüre gewaltige magische Kräfte in dieser Kugel. Aegis hätte sie nicht aus solch einem unglaublichen Material angefertigt, wenn er darin nicht etwas beschützen oder verbergen wollte.“ Aelon gab ein letztes Mal einen halbherzig produzierten Energieblitz auf die Kugel ab, um dann seine Hände in den Taschen seines Umhangs zu vergraben. „Aber wie sollen wir gegen die Vernichtung unserer Welt vorgehen, wenn wir noch nicht einmal die dazu erforderlichen Hilfsmittel bedienen können? Fünfhundert Annalis bin ich nun schon alt. Und jetzt gerade fühle ich mich wie ein unreifer Blutsauger bei seinem ersten Kümmerling. Was immer wir hier haben, ich möchte wissen, was es ist. Und zwar schnell. Wenn Aegis für uns diese Kugel erschaffen und vergraben hat, warum hat er dann nicht einen Hinweis in den Texten hinterlassen, was wir damit anfangen sollen?“

Bolus überlegte laut: „Vielleicht hat er für die Antwort auf eure Frage einen anderen Weg gewählt als den schriftlichen.“

Aelon schaute ihn fragend an.

„Nun ja“, erwiderte der Puzzlemin. „Ich weiß zwar nicht wie, aber ein so hochbegabter Magier wie Aegis wird sich bestimmt eine Möglichkeit ausgedacht haben, uns die nötigen Informationen zukommen zu lassen.“

„Das klingt für mich nicht gerade befriedigend, wenn man bedenkt, dass er vom Ende unserer Welt geschrieben hat.“

„Das ist es auch nicht. Leider kann ich nicht mehr dazu sagen.“

Aelon deutete auf das Schloss. „Freund Bolus, vielleicht sollten wir uns erst einmal ein paar Horas lang ausruhen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin müder als in den vergangenen hundert Annalis zusammen.“

Bolus nickte zustimmend und die beiden verließen den Schlosshof, ohne zu bemerken, dass sich ein kleiner, silberner „Tropfen“ von der Kugel löste, Aelon hinterherflog und in seinen Hinterkopf eindrang, ohne dass der Blutadelige es bemerkte.

Kapitel 8

„Möchtet Ihr speisen, Herr?“ Mit devoter Miene kam der Kümmerling Zoren Aelon entgegen. Dieser betrat gerade den mit Kristallen und Silberornamenten verzierten Gesellschaftsraum im Zentrum des Schlosses.

„Eine Kleinigkeit vielleicht“, erwiderte der Blutadelige.

Daraufhin schob sich Zoren sofort den langen Ärmel an seinem rechten Arm hoch.

Aelon ging in die Knie und biss in das weiche Fleisch des Kleinwüchsigen. Sobald das Blut seine Zunge benetzte, spürte er, dass sein Hunger größer war als angenommen und er nahm einen kräftigen Schluck aus Zorens Adern. Der Kümmerling stöhnte leicht auf und Aelon hob entschuldigend eine Hand. Er hätte seinen Essensspender vorwarnen müssen.

„Ist schon in Ordnung, Herr“, wiegelte Zoren ab. „Ihr habt hart gearbeitet. Da brauchtet Ihr diese Stärkung.“

Die Beziehung zwischen Blutadeligen und Kümmerlingen reichte bis tief in die Vergangenheit von Astricus hinein. Erstere ernährten sich regelmäßig vom Lebenssaft der kleinwüchsigen Wesen. Diese genossen im Gegenzug den persönlichen Schutz der Herrscher. Allerdings wurden nicht alle Kümmerlinge so gut behandelt wie Zoren.

Als Aelon seinen Hunger gestillt hatte, legte er eine Hand auf die Bisswunde. Diese verschloss sich daraufhin sofort, während magische Energie sie durchdrang.

Zoren zog den Ärmel wieder herunter. „Darf ich sonst noch etwas für euch tun, Herr?“

„Nein, das ist alles.“ Aelon überlegte kurz. „Beantworte mir bitte eine Frage.“

„Natürlich, Herr!“ Der Kümmerling lächelte mit seinem breiten Mund.

„Würdest du gerne erfahren, was früher gewesen ist?“

Zoren runzelte die Stirn, wodurch seine strohartigen Kopfhaare für einen Moment wie Grashalme im Wind wogten. „Wie, früher?“

„Vor unserer Zeit, meine ich.“ Aelon hielt kurz inne, dann sprach er es aus: „Vor Astricus.“

„Vor Astricus, Herr? Davor gab es doch nichts.“ Zoren schien über diesen ketzerischen Gedanken so erschrocken zu sein, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

„Schon gut!“, bereute Aelon die eigene Offenheit. „Ich werde mich jetzt zurückziehen. Gute Nox!“

Kapitel 9

Aelons Schloss war natürlich das größte Bauwerk in der Grafschaft Sanguis, die der Blutadelige beherrschte.

Im Innern befand sich eine riesige Bibliothek mit mehreren Etagen voller Bücher und Schriften, die Aelon während seines langen Lebens mühsam aus allen Ecken zusammengetragen hatte. Achtzig Ruhegemächer, ein Ballsaal, eine Küche, in der sich der hofeigene Kümmerling seine Speisen zubereiten konnte, und der Gesellschaftsraum füllten den Rest des Gebäudes aus. Überall durch das Schloss verliefen lange, von Fenris-Staub erhellte Gänge, in denen sich Ortsunkundige schon mal verirrten.

Umso erstaunlicher hatte Bolus es am Anfang gefunden, dass inmitten all der Mauern keinerlei Dienerschaft oder Wachen herumliefen, um den Comes der Grafschaft Sanguis zu Diensten zu sein. Allein Zoren, der Hauskümmerling, hielt sich hier auf. Und schien dieses Privileg gegenüber jedem anderen eifersüchtig zu verteidigen. Die magischen Wächter, die auf Geheiß von Aelon das Herrschaftsgebiet durchstreiften und für Ordnung sorgten, ließen sich dagegen nie im Schloss blicken. So als ob dem Blutadeligen seine Herrscherrolle unangenehm war.

Mittlerweile wusste Bolus, dass sein Gönner vieles tat, was besser im Verborgenen geschah. Allem anderen voran die Altertumsforschung. Würden die übrigen Herrscher Einsicht in die Schriften aus Aelons Bibliothek erhalten, dann würde der alte Comes höchstwahrscheinlich verbannt werden. Oder hingerichtet. Ein leeres Schloss ohne Dienerschaft konnte ihm von der Außenwelt höchstens als exzentrisch ausgelegt werden. Das war wenigstens nicht gefährlich.

Es reichte ja schon, dass Aelons Tochter, Darina, durch ihre erstarrte Sichtweise der Dinge dem eigenen Vater das Leben schwer machte. Einmal hatte Bolus einen Streit mitbekommen, in dem sie dem Comes sogar gedroht hatte, die Bibliothek niederzubrennen, falls dort weiterhin ketzerische Schriften aufgehoben würden.

Natürlich hatte sich Aelon nicht einschüchtern lassen. Trotzdem hatte die Drohung des eigenen Nachwuchses ihm sichtlich zu schaffen gemacht.

Darina hatte sich schließlich beruhigt und von der Zerstörung Abstand genommen. Nur um im Anschluss so gut wie gar nicht mehr mit ihrem Vater zu sprechen. Das Verhältnis der beiden Blutadeligen zueinander erkaltete immer weiter.

Bolus fand das traurig, besaß doch Darina so viele der gleichen Eigenschaften wie Aelon. Sie war willensstark, mutig und schlau, was sie leider nicht vor ihrer beschränkten Sichtweise bewahrte. Vielleicht geschah ja irgendwann noch ein Wunder und Vater und Tochter einigten sich auf einen herzlicheren Status quo.

Über alle diese Dinge dachte der Puzzlemin gerade nach, während er durch die Gänge des Schlosses schlenderte, seinen schmerzenden Rücken zu lockern versuchte und den aufregenden Dies Revue passieren ließ.

Dabei kam er ganz zufällig an Aelons Ruhegemach vorbei. Die Eingangstür aus dickem Perikles-Tannenholz war wie immer verschlossen. Bolus verharrte nur kurz davor, fragte sich, ob sein Gönner nach all der Aufregung heute wohl einen ruhigen Schlaf hatte, als plötzlich das tote Holz der Tür zum Leben erwachte. Kleine Tannennadeln begannen auf der Oberfläche zu wachsen, bis die ganze Tür in pflanzlichem Grün schimmerte. Dann verfärbten sich die Nadeln braun, rieselten herab und gaben wieder den Blick auf das Holz der Tür frei, das jetzt allerdings vermodert und alt wirkte. Mit leisem Knacken löste sich die Tür aus den Angeln und fiel vor Bolus´ Füßen auf den Boden, um dort in tausend Stücke zu zersplittern.

Der Puzzlemin betrachtete die Vorgänge, ohne einen Finger zu rühren. Er verstand ja noch nicht einmal, was hier vor sich ging. Erst als er einen Blick in das Ruhegemach warf und dort Comes Aelon im Noxgewand stehen sah, setzte er sich in Bewegung und betrat das Zimmer.

Der Blutadelige stand, anscheinend starr vor Schrecken, mit weit aufgerissenen Augen in der Mitte des Raumes. Seine Arme hielt er nach vorne ausgestreckt, die Hände machten Greifbewegungen und glühten leicht magisch. Ohne Zweifel hatte Aelon die Tür zu seinem Ruhegemach verzaubert, warum auch immer.

„Comes?“, sprach Bolus ihn an, während er langsam näher kam. „Geht es euch gut?!“

Da öffnete Aelon seinen Mund, entblößte die nadelförmigen, spitzen Zähne und hauchte: „Lasst mich zaubern, Freund Bolus. Denn was ist schon Magie gegen das, was unser Leben einst bestimmt hat? Und es wieder tun wird.“

„Was meint Ihr?“

Aelon senkte langsam seine Arme. Das Glimmen seiner Hände versiegte.

„Ich will es euch erzählen“, sagte er.

Kapitel 10

Aelon flog über einen Urwald, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er „flog“. Seine Schwingen schienen aus Leder zu sein, sie spannten sich zwischen seinen Fingern und Flanken, mit den Armen vollführte er Ruderbewegungen, gewann an Höhe oder sank etwas tiefer, sodass er fast die Baumwipfel berührte.

Der Urwald bestand aus gigantischen Bäumen mit riesigen Blättern, wie sie auf Astricus nicht vorkamen.

Aelon wusste, dass er träumte.

Dennoch verschlug es ihm den Atem.

Um ihn herum flogen andere wie er. Sie machten Jagd auf kleinere Vögel, die nahe der Baumkronen aus dem Unterholz herausflogen.

Aelon wollte es seinen Artgenossen gleichtun, setzte zu einem Sturzflug an, als vor ihm plötzlich etwas Metallenes aufstieg.

Es lebte nicht und flog dennoch.

Es besaß einen konisch geformten Rumpf mit langen Flügeln. An deren Unterseite gaben seltsame Verdickungen Feuerstöße ab.

Aelon wusste nicht, was dieses stählerne Ungeheuer wollte. Seine Artgenossen dagegen brachen sofort ihre Jagd ab und flogen weg.

Sie kamen nicht weit.

Das fliegende Metallmonster setzte ihnen nach und fing sie mit einer Art Netz ein, das aus seiner „Nasenspitze“ herausschoss und sich um mehrere der Flugwesen legte.

Aelon wollte fliehen. Er schaffte es, einen Halbkreis zu fliegen und das Stahlmonster hinter sich zu lassen. Bis sich das Netz auch um ihn legte und den Träumenden zusammen mit den anderen durch eine mundartige Öffnung am Bug in den Bauch des metallenen Ungeheuers zog.

Aelon konnte gerade noch die Erzählung seines Traumes beenden, ehe er schlaff in sich zusammensackte.

Obwohl Bolus nicht besonders stark war, gelang es ihm, den Blutadeligen auf das Bett zu heben.

„Was machst du mit meinem Herrn, Puzzlemin?“, quäkte Zorens Stimme hinter ihm.

Bolus drehte sich zum Eingang um und sah den Kümmerling. Der beobachtete mit einem nahezu hysterischen Gesichtsausdruck das Geschehen im Zimmer.

Dann rannte der zwergenhafte Diener zu seinem Herrn ans Bett, schob dabei den Puzzlemin brüsk zur Seite, zog den Ärmel über dem eigenen linken Arm hoch und drückte das Handgelenk dem besinnungslosen Aelon gegen die Reißzähne. Der Blutadelige biss sofort zu und trank.

„Ich weiß besser, was mein Herr braucht!“, zischte der Kümmerling derweil Bolus an. „Und jetzt verschwinde!“

Der Puzzlemin war kurz davor, diesen Zwerg vom Bett zu stoßen.

Da erwachte Aelon. Er schob den Arm des Dieners von seinem Mund weg und sagte: „Lass uns allein, Zoren!“

„Aber Herr, Ihr…“

„Tu, was ich sage!“, knurrte der Blutadelige plötzlich.

Wie ein geschlagener Hund trat der Kümmerling den Rückzug an.

Erst als er nicht mehr zu sehen oder hören war, bedeutete Aelon dem abseits stehenden Bolus näher zu treten.

„Was ich geträumt habe, ist die Wahrheit“, sagte der alte Comes und leckte sich die mit Zorens Blut beschmierten Lippen sauber. „Über unseren Anfang. Und vielleicht noch mehr.“

Mit einem dumpfen Stöhnen erhob sich der Blutadelige von seinem Bett und bedeutete Bolus ihm zu folgen.

Kapitel 11

Bolus lief Aelon durch die Gänge des Schlosses nach, bis zum Hof, in dem die mysteriöse, silberne Kugel schon auf sie wartete. Mit jedem Schritt schien der Blutadelige kräftiger zu werden. Als sie endlich das Grabungsloch erreichten, war der Puzzlemin froh, dass er überhaupt noch mithalten konnte.

Aelon kletterte in das Loch.

Dann vollführte er ein paar Bewegungen über dem oberen Bereich der Kugel, bis ein lautes Zischen erklang und sich eine Öffnung bildete. Licht drang heraus, heller als die Sonne. Es tat Bolus jedoch nicht in den Augen weh.

„Woher wisst Ihr jetzt…?“, wollte er Aelon fragen.

„…wie die Kugel zu öffnen ist?“, beendete der Blutadelige den Satz. „Die Vision hat es mir gezeigt.“

Ohne Zögern griff Aelon in die Öffnung und begann, im Kugelinneren herumzutasten. „Mein Freund, Ihr hattet vollkommen recht. Es war kein Zufall, dass wir auf dieses Objekt gestoßen sind. Sondern Schicksal. So wie alles andere, was jetzt noch folgen wird.“

„Und was genau?“ Der Puzzlemin begann ungeduldig zu werden. „Comes Aelon, Ihr verhaltet euch zu sonderbar, als dass ich es verstehen könnte!“

In dem Moment zog der Blutadelige seine Hand wieder aus der Kugel heraus. Zwischen seinen Fingern hielt er einen purpurnen, länglichen Kristall.

„Was ist das?“, fragte Bolus.

„Das, mein Freund“, auf Aelons Lippen bildete sich ein Lächeln, „ist ein Prophetenkristall. Laut Meinung meiner Artgenossen gibt es ihn gar nicht. Trotzdem halte ich jetzt einen in den Händen.“

In Bolus´ Kopf gab es im Moment keine Fragen mehr, nur noch den Sturm der Verwirrung.

Aelon kletterte aus dem Grabungsloch und stellte sich neben ihn.

„Seit ich zu Bett gegangen bin, ist so viel passiert. Wissen ist in meinen Geist gelangt“, erklärte er mit fester Stimme. „Über altes Grauen und neue Möglichkeiten. Es war kein Traum, den ich eben hatte. Sondern eine Vision, geschickt von einer Präsenz, die in der Kugel wohnte, bereit, sich in dem Moment mit meinem Bewusstsein zu verbinden, sobald ich das Objekt ausgrabe.“

„Was für eine Präsenz?“, besiegte Bolus seine sprachlos machende Verwirrung. „Was hatte es mit eurem Traum… der Vision auf sich? Was war diese stählerne Bestie?“

Aelon machte eine beruhigende Geste. „Lasst mich weiter erzählen, wie es mir ergangen ist. Dann versteht Ihr vielleicht.“

Kapitel 12

Zusammen mit den anderen Kreaturen wurde Aelon in den Bauch des fliegenden Stahlungetüms gezogen. Um ihn herum begannen eingezwängte Lederschwingen panisch zu zucken und zu flattern. Bis sich das Netz, das sie alle umschlossen hielt, auf einmal auflöste.

Während sich die anderen Kreaturen angsterfüllt im Bauch des stählernen Monsters verteilten, an den Wänden schabten und durchdringende Pfeifgeräusche ausstießen, besaß Aelon genug geistige Disziplin, um die Lage durch genaue Beobachtungen zu bewerten. An den Innenwänden des Flug„gerätes“ floss eine rötlich glühende, schleimige Substanz herab. Sie erhellte nicht nur die Umgebung, sondern hinderte auch die Kreaturen daran, an die Decke zu klettern, was diese anscheinend mehr als alles andere wollten.

Aelon besah sich seine ledernen Schwingen, den abstrus geformten, tierischen Körper, in dem er gerade steckte. Allein das empfand er bereits als demütigend. Was hatte er mit diesen Wesen gemein, die um ihn herum zuckten und schrien?

Dem Volk der Blutadeligen ähnelten sie in keinster Weise. Sie waren primitiv. Panisches Vieh, das eingepfercht worden war und nun vielleicht zur Schlachtbank geführt wurde.

Dennoch war Aelon in diesem Moment einer von ihnen. Im Bauch des Stahlfliegers festsitzend und nicht verstehend, was mit ihm geschah.

Ein seltsames Surren erklang. Zuerst so leise, dass es fast in den Pfeifgeräuschen der Wesen unterging. Dann immer lauter, bis es zu einem ohrenbetäubenden Lärm angewachsen war, der alles und jeden schmerzverzerrt zu Boden sinken ließ.

Aelon versuchte, die Augen offen zu halten. Es gelang ihm nur schwerlich.

Dennoch sah er, wie an der Decke seines Gefängnisses eine Luke beiseite glitt und gleißend helles Licht hindurch schien. Es flackerte kurz auf, als ein mit Armen und Beinen ausgestattetes Wesen durch die Lukenöffnung in das Gefängnis herabschwebte und zwischen den sich krümmenden Flugkreaturen herumlief.

Eine Maske mit runden, schwarzen Glasscheiben an den Stellen, wo seine Augen waren, und eine trichterförmige Ausbuchtung über der Mundregion verbarg das Gesicht des Neuankömmlings. Die Art jedoch, wie er sich bewegte, wies ihn als Mensch aus. Dessen war sich Aelon absolut sicher. Trotz all der Schmerzen entstand das Gefühl des Staunens in ihm.

Das Volk der Menschen, eines der vielen auf Astricus, ja, das unauffälligste und magisch unbegabteste, existierte auch hier, in dieser Traumwelt. Mehr noch, es dominierte eine andere Spezies. Wäre Aelon kein Gefangener gewesen, er hätte sogar wissenschaftliche Neugier darüber entwickeln können, was hier geschah.

Der maskierte Mensch kam direkt auf den Träumenden zu. Und richtete ein blinkendes, rechteckiges und handgroßes Gerät auf Aelon.

Dann tippte er mit behandschuhten Fingern darauf herum und nickte leicht.

Aelon wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Erst, als der Mensch einen stockartigen Gegenstand von seinem mit seltsamen Instrumenten behangenen Gürtel nahm und ihn auf den Träumenden richtete, verstand dieser. Von allen Flugkreaturen hier war er das vielversprechendste Exemplar. Wofür, das würde er bald erfahren.

Zuerst einmal traf ihn eine Energieentladung mitten in den Kopf. Er sah noch den Blitz aus der vorderen Spitze des Stockes hervorschießen, dann umfing ihn Dunkelheit.

 

Aelon unterbrach seine Erzählung, als ihm kalter Schweiß auf der Stirn ausbrach. Die Erlebnisse aus dem Traum Revue passieren zu lassen, fraß mehr Energie, als er geglaubt hatte.

Seine Beine begannen zu zittern, er schwankte.

Bolus konnte den Blutadeligen gerade noch auffangen. Dabei fiel Aelon der Prophetenkristall aus der Hand, den er die ganze Zeit über umklammert gehalten hatte.

Als der Puzzlemin danach greifen wollte, zischte der Comes: „Nein! Lasst ihn liegen.“

Sofort ließ Bolus davon ab und stützte weiter mit beiden Armen seinen Gönner.

Dieser keuchte: „Entschuldigt meinen rauen Ton.“

„Ist schon vergeben, Comes.“ Bolus lächelte leicht. „Aber warum darf ich den Kristall nicht berühren?“

„Weil ihn vor seiner Aktivierung nur blutadelige Magier gefahrlos anfassen können.“ Aelon bedeutete seinem Helfer, von nun an wieder allein stehen und gehen zu können. „Ich werde über das Wie und Warum berichten, nachdem ich meinen Traum zu Ende erzählt habe. Denn er zeigt uns den Feind in seiner ganzen Grausamkeit und erleuchtet den Ursprung unserer Welt.“

Kapitel 13

Aelon steckte immer noch im Körper dieser Lederschwingen tragenden Gestalt, als er in der Horizontalen erwachte, nachdem ihn der maskierte Mensch betäubt hatte. Er lag auf einem Tisch, gefesselt mit Lederriemen. In seinen Gliedmaßen steckten Nadeln, an denen Schläuche und spiralgeformte, dünne Seile festgemacht waren. Beide führten zu kastenartigen Gebilden. An ihnen blinkten Lichter. Glühende Wellenlinien auf dunklen Flächen bewegten sich gleichmäßig. Darüber hinaus begrüßte ein immer wiederkehrender, regelmäßiger Piepton den Träumenden. Er zerrte an den Fesseln. Vergeblich. Seine Kraft reichte nicht aus, um sie zu zerreißen.

Um ihn herum standen drei Menschen, ebenso vermummt wie das Exemplar, das Aelon betäubt hatte, und hielten spitze Klingen und seltsam anmutende Werkzeuge in Händen. Damit begannen sie, den Körper des Träumenden zu verletzen. Sie schnitten ihm in die Brust, saugten Flüssigkeiten ab und entfernten Teile aus seinem Inneren.

Seltsamerweise verspürte Aelon dabei keinerlei Schmerz.

Obwohl diese Menschen ihm Dinge antaten, die sogar einem magischen Wächter das Grauen gelehrt hätten, fühlte er außer einer schwelenden Hitze nichts.

Die Menschen schienen auch nicht zu bemerken oder sich dafür zu interessieren, dass er bei Bewusstsein war. Sie arbeiteten unbeirrt weiter und zerlegten immer mehr den ganzen Körper des Träumenden.

Aelon verspürte Panik und bebenden Zorn. Einen Blutadeligen seiner Freiheit zu berauben, seinen Leib zu zerstückeln, zu schänden, war das Schlimmste, was man diesem Volk antun konnte.

Das beständige Piepen wurde unregelmäßig, was dem Träumenden in seiner dunklen Raserei kaum auffiel. Erst als ein fortwährender Piepton erklang und vor seinen Augen die Umgebung verschwamm, konnte er wieder einen halbwegs klaren Gedanken fassen: Ich sterbe!

Er tauchte in ein weißes Licht ein, das ihn erst entließ, als er trockenen, steinigen Boden unter sich spürte. Er öffnete die Augen und fand sich auf einem breiten Weg liegend wieder, inmitten grauer Gebäude aus Metall und ihm unbekannten, durchsichtigen Materialien.

Daneben ragten eigentümliche Röhren empor. Aus ihnen quoll dicker, weißer Rauch. Der Himmel war bevölkert von Flugmaschinen, die wie Speere oder runde Platten aussahen.

Die Luft schmeckte nach Asche.

Die Erde vibrierte, als eine Explosion eines der Gebäude in unzählige Trümmer verwandelte.

Aelon wollte aufspringen und weglaufen.

Erst da fiel ihm auf, dass er nicht mehr im Körper des Schwingen tragenden Flugwesens steckte, sondern in seinem eigenen, blutadeligen. Mitsamt der wallenden, weißen Mähne und der bleichen Haut. Er trug seinen dunkelroten Comes-Herrscherumhang.

Auch war er nicht mehr allein. Er befand sich in einer Schar Wesen mit fast verkümmerten Lederschwingen, großen, spitzen Ohren und nadelspitzen Zähnen, die den seinen täuschend ähnlich sahen. Die Gestalten trugen Lendenschurze und Lederstiefel. Ihre Gesichter wirkten wie eine Mischung aus Blutadeligen und der Rasse der Lederschwingentiere.

Alle umgab ein schwaches, goldenes Leuchten. Der Träumende spürte, dass es der Fluvius magicus war, der den Völkern von Astricus die Energie gab und die Blutadeligen zu magischen Höchstleistungen befähigte. Diese Mischwesen um ihn herum labten sich ebenfalls daran.

Ehe Aelon noch die Zusammenhänge begreifen wollte, raste eine der Flugmaschinen im Sturzflug auf ihn und die Wesen zu.

Das Glühen des Fluvius magicus um sie herum wurde heller. Bis die Mischwesen alle gleichzeitig aus ihren Fingern Energieblitze auf das Fluggerät abschossen. Magische Blitze.

Die Maschine wurde gleich mehrfach getroffen. Ihre Außenhaut begann zu glühen und sich zu pulverisieren. Mit einem metallenen Kreischen torkelte die Flugmaschine zu Boden und verging in einer Explosion.

Die Wesen jubelten mit hohen Schreien über ihren Sieg und wanderten auf die Gebäude zu.

Aelon wurde von ihnen mit gedrängt. Eine ihm bislang unbekannte Kampfeslust, ja ein Blutdurst bemächtigte sich seiner. Er wollte seine Feinde bekämpfen. In ihm floss der Fluvius magicus wie ein reißender Fluss, erfüllte jeden Bereich seines Körpers…

…und zeigte, wie die Sklaverei, der das Volk der Vampire ausgesetzt war, endgültig beendet werden konnte.

Trotz all der Gefühle fragte sich Aelon, was denn ein „Vampir“ war. Er hatte dieses Wort, diese Bezeichnung noch nie zuvor gehört.

Er ahnte, dass sie etwas mit ihm zu tun hatte, nicht nur hier in der Vision, sondern auch außerhalb, in seinem normalen Leben. So, als ob man einen Namen hörte, den man früher getragen, aber im Laufe der Zeit vergessen hatte. Er konnte es nicht anders beschreiben.

Aus den Gebäuden, auf die sie zumarschierten, kamen jetzt die Truppen des Gegners. Sie bestanden aus Menschen.

Sie alle trugen längliche, stockartige Gegenstände, die sie auf Aelon und seine Kampfgenossen richteten. Es knallte, Rauchwolken bildeten sich an den auf die Angreifer gerichteten Enden der Stöcke. Um den Träumenden herum gingen mehrere Vampire zu Boden. Blut spritzte aus aufplatzenden Wunden. Die Überlebenden deckten die Armee der Menschen mit magischen Blitzen ein, sodass deren Waffen explodierten.

Aelon bemerkte zuerst gar nicht, dass sich das Geschehen in seiner Umgebung verlangsamte. Bis die ganze Szenerie zu einem Schlachtengemälde erstarrte.

Nur der Blutadelige konnte sich noch bewegen und schritt zwischen den Kämpfenden wie durch einen Garten voller Statuen hindurch.

Sogar die magischen Blitze, die aus den Fingern der Vampire kamen, ragten wie Eiszapfen hervor.

„Du wirst mir jetzt zuhören, Nachfahre der Ursprünglichen“, rief eine Stimme hinter Aelon.

Der Träumende drehte sich um und erblickte einen Blutadeligen in altehrwürdiger, purpurner Robe. Er erkannte seinen Artgenossen sofort. Hingen doch mehrere Gemälde von ihm im Schloss.

Es war Aegis.

   

„Aegis hat euch diesen Traum beschert?“, unterbrach Bolus verwirrt die Erzählung des Comes. „Ein Blutadeliger, der schon seit Hunderten von Annalis tot ist?“

Aelon nickte. „Aegis ist die Präsenz in der silbernen Kugel. Sie unterstützt uns nun, damit wir die drohende Vernichtung von Astricus durch die Arma Fulmen verhindern. Er hat mir gezeigt, wie ich die Kugel öffnen kann. Und dass wir Blutadeligen von dieser Rasse der… „Vampire“ abstammen, die sich während der Herrschaft der Arma Fulmen immer weiter entwickelt hat und schließlich mithilfe des Fluvius magicus ihre Peiniger unterwarf. Um eine neue Welt, um Astricus zu erschaffen.“

„Und die „Peiniger“ der Vampire waren Menschen?“ Bolus runzelte die Stirn. „Die Sorte Mensch, die auch heute auf Astricus als eines der vielen Völker lebt?“

„Es scheint so.“

„Aber sind die Menschen jetzt unsere Gegner?“

„Nein!“ Aelon schüttelte energisch den Kopf. „So einfach ist es nicht. Die wahren Gegner verbergen sich woanders. Mein nobler Vorfahr Aegis zeigte mir in der Vision ja nicht nur, woher wir kommen, und wie ich die Silberkugel öffnen kann. Er verkündete mir noch etwas, dass unsere Mission erheblich erschweren wird. Jeder aus den Völkern von Astricus kann zu den Arma Fulmen überlaufen. Egal ob Drakonis, Versipellaner oder Menschen, kann von dieser Macht korrumpiert werden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aegis berichtete mir, dass es ein Machtzentrum der Arma Fulmen gibt. Von dort aus wird der Krieg gegen die Magie ausgehen. Wo und was dieses Zentrum ist, das konnte mir mein Vorfahr in der Vision nicht sagen.“

„Aber wie kann Aegis noch nach seinem Tod mit euch sprechen, Comes?“

„Er war eben ein genialer Magier.“ Für Aelon schien diese Tatsache leicht zu glauben zu sein. „Durch seine prophetische Gabe war es ihm möglich, die Dinge vorauszusehen, die uns bedrohen könnten. In seinen Texten schrieb er sie nieder, auf dass wir jetzt handeln können. Aber Aegis erkannte auch, dass seine Schriften allein nicht ausreichen. Deswegen schaffte er das Unmögliche. Er übertrug einen Teil seiner Seele auf die silberne Kugel, auf dass sie mit mir reden und mich vom Ernst der Lage überzeugen kann.“

Bolus hatte Mühe, all die Informationen zu verarbeiten. „Aber was macht dieser Prophetenkristall?“

Aelon lächelte, wobei er seine nadelspitzen Zähne entblößte. „Ich glaube, es ist an der Zeit für eine Demonstration, mein Freund.“

Kapitel 14

Der Schlag traf Galen nicht unvorbereitet. Trotzdem konnte er sich einen schmerzerfüllten Schrei nicht verkneifen.

Ein weiterer Hieb ins Gesicht folgte. Und der magische Wächter, ein klobig wirkender Hippolide, der vom Dorfmagier extra für die Hinrichtung gerufen worden war, gab ein befriedigtes Brummen von sich.

Wie alle magischen Wächter besaß auch er kein Talent zum Denken. Er plapperte mit seinem mit zwei Stoßzähnen ausgestatteten Maul nur nach, was ihm sein blutsaugender Comes und die Bewohner dieser Grafschaft an Vorurteilen eingetrichtert hatten.

„Du bist also ein gefährliches Tier, das den magischen Frieden stört!“ Der Hippolide schlug Galen in den Bauch. „Ein Werformer, der unsere Kinder aus ihren Betten stiehlt und sie auffrisst.“

Galens Magen wurde noch einmal traktiert.

Trotzdem konnte der Versipellaner keuchen: „Wenn dein Nachwuchs deine Intelligenz geerbt hat, tun wir der Welt nur einen Gefallen.“

Das brachte ihm einen weiteren Hieb ein, zur Abwechslung wieder in das mittlerweile heftig blutende Gesicht.

Galen war fast schon dankbar, dass die meisten Bereiche seines Körpers allmählich taub wurden. Hippoliden besaßen runde, hufartige Hände und Füße, mit denen sie ganz vorzüglich zuschlagen und -treten konnten. Und das Exemplar hier hatte seine hornigen Fingerkuppen extra spitz zugefeilt, um den Schaden beim Prügeln noch zu vergrößern.

Dennoch lachte Galen abfällig: „Du haust ja wie ein Mädchen.“

„Missgeburt!“ Der magische Wächter schlug wieder zu. „Mal sehen, wie klug du noch redest, wenn dir morgen in aller Öffentlichkeit die Haut abgezogen wird. Oder wird es dir erst vergehen, wenn der Dorfmagier dein Körperinneres mit Blitzen zum Kochen bringt?“

Eigentlich wollte Galen am liebsten besinnungslos werden. So viel Glück hatte er gerade nicht, deswegen fragte er: „Womit habe ich denn eine solch liebevolle Behandlung verdient, du Meisterredner?“

„Ihr Werformer seid eine Abart der Magie. Ihr gehört nicht in unsere Welt“, blaffte der Hippolide. „Außerdem hast du mehrere ehrenhafte Dorfbewohner grundlos verletzt.“

„Ein Kind zu töten, gilt also als ehrenhaft?“ Abfällig spuckte der Versipellaner eine Ladung Blut aus seinem Mund dem magischen Wächter vor die Füße. „Ihr seid doch alle verrückt!“

„Wir beschützen die Reinheit von Astricus.“ Als Satzzeichen rammte der Hippolide seine rechte Hufhand wieder in Galens Bauch.

Der Versipellaner musste sich übergeben. Was seinen Peiniger dazu brachte, einige Schritte auf Abstand zu gehen.

Jetzt war der beste Zeitpunkt, um eine Ohnmacht vorzutäuschen. Dann konnte sich Galen wenigstens ein bisschen erholen.

Leider ließ ihn seine Wut auf Astricus nicht schweigen. „Du weißt doch noch nicht mal, was „Magische Reinheit“ bedeutet. Glaubst du, Ihr Hippoliden mit euren Schweinehufen seid magisch rein? Schau mal in den Spiegel! Wir Versipellaner sind genauso Geschöpfe des Fluvius magicus wie Ihr auch. Egal, ob Ihr uns ausrotten wollt oder nicht.“ Galen spürte das dünne Lederband um seinen Hals, an dem ein Hemm-Amulett hing. Der Dorfmagier hatte es ihm umgehängt, damit er sich nicht in seine animalische Form verwandeln konnte.

Und die Eisenketten an Armen und Beinen, mit denen er völlig nackt an einen der Stützbalken im Stall gekettet war, schnitten ihm in die Gliedmaßen.

Hoffentlich richteten sie ihn bald hin. Denn allmählich hatte er keine Lust mehr.

Kapitel 15

Aelon hatte darauf bestanden, mit Bolus in die Bibliothek zu gehen, und legte nun den Prophetenkristall auf den runden, marmornen Tisch im Zentrum des Raumes. Dann zog er die weiten Ärmel seines Gewandes hoch und formte mit den Händen eine Kuppel über dem Kristall.

Durch Aelons Finger floss die Kraft des Fluvius magicus und erweckte den Zauberstein zu purpurn glühendem Leben. Die Bibliothek wurde von seinem Licht geradezu überflutet. Vier Symbole erschienen nebeneinander als strahlende Ornamente an den Bibliothekswänden. Eine Wellenlinie, eine Zickzacklinie, ein Kreis und etwas, das wie eine stilisierte Wolke aussah. Sie wanderten an der Wand entlang, um schließlich in den freien Raum zu schweben und vor dem Puzzlemin und dem Blutadeligen zu verharren.

So unvermittelt die Formen gekommen waren, so schnell veränderten sie sich. Zu den Umrissen von vier Lebensformen. Zuerst nur als Schemen, dann immer detaillierter, so als ob ein Maler vor den Augen von Aelon und Bolus seine Arbeit tat.