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Es gab einmal eine längst vergessene Zeit, in der die Welt voll war mit dem Unbekannten, Unheimlichen und dem Unerklärlichen. Eine Epoche der Schwerter und Magie. Sie brachte sowohl Helden als auch Tyrannen hervor. Und diejenigen, deren Weg dazwischen verlief. Die Söldnerin Yala gehörte zu Letzteren. So manche Schlacht hatte sie geschlagen. Leben genommen und gerettet. Oder sich abgewandt von denen, die sie um Hilfe baten. Ein Beutel voll mit Gold und Abenteuer, die ihr Blut zum Kochen brachten, das waren ihre Wünsche, während sie durch die Ländereien reiste. Stets auf der Suche nach den Verzweifelten und den Machthungrigen, die eine fremde Klinge brauchten, um ihren Peiniger oder Konkurrenten zu beseitigen. Aber noch stärker und wilder als die schwarzhäutige Söldnerin kann das Schicksal sein, wenn es beschließt, einen Menschen auf eine Reise zu schicken, die ihn für immer verändert.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Es gab einmal eine längst vergessene Zeit, in der die Welt voll war mit dem Unbekannten, Unheimlichen und dem Unerklärlichen. Eine Epoche der Schwerter und Magie. Sie brachte sowohl Helden als auch Tyrannen hervor. Und diejenigen, deren Weg dazwischen verlief.
Die Söldnerin Yala gehörte zu Letzteren. So manche Schlacht hatte sie geschlagen. Leben genommen und gerettet. Oder sich abgewandt von denen, die sie um Hilfe baten. Ein Beutel voll mit Gold und Abenteuer, die ihr Blut zum Kochen brachten, das waren ihr Wünsche, während sie durch die Ländereien reiste. Stets auf der Suche nach den Verzweifelten und den Machthungrigen, die eine fremde Klinge brauchten, um ihren Peiniger oder Konkurrenten zu beseitigen.
Aber noch stärker und wilder als die schwarzhäutige Söldnerin kann das Schicksal sein, wenn es beschließt, einen Menschen auf eine Reise zu schicken, die ihn für immer verändert.
Lest hier, wie es Yala dabei erging ...
Die Taverne wurde allein durch die dicken Kerzen erhellt, die auf jedem der massiven Holztische standen. Daran saßen hauptsächlich Met saufende Männer, die ihre Finger nicht von der Wirtin lassen konnten, die mit derben Flüchen und so mancher Ohrfeige die Gäste davon abhielt, ihr die Bekleidung vom Körper zu reißen.
Yala anzurühren, geschweige denn sie anzusprechen, das traute sich jedoch keiner. Nicht nur, weil sie aufgrund ihrer dunklen Haut, der kräftigen Statur und den schwarzen langen Haaren für die Einwohner dieses Landes wie eine Teufelin aus den Höllengruben wirkte. Nein, auch die teerfarbene Lederrüstung und ihr Einhandschwert, das momentan rechts am Gürtel in einer Scheide aus Bullenhaut steckte, schüchterte die Anwesenden ein. Der finstere Gesichtsausdruck, den die Söldnerin zur Schau trug, tat sein Übriges.
Normalerweise mied Yala Tavernen. Sie hasste es, zu trinken. Das vernebelte nur den Geist, sodass die nächste feindliche Klinge schneller zwischen die eigenen Rippen glitt, als man glaubte. Sie hielt sich allein deswegen an diesem Ort auf, weil sie auf einen Auftraggeber wartete. Am Vortag war sie von einem alten Bettler um ein paar Goldstücke gebeten worden. Da Yala gerade einen tyrannischen Fürsten um das eigene Leben und einen Sack Münzen erleichtert hatte, fühlte sie sich in Geberlaune.
„Habt Dank für die großzügige Gabe!“, murmelte der Greis anschließend. „Wenn Ihr noch etwas Zeit in unserem Land verbringt, ich kenne da jemanden aus meiner Siedlung, der könnte eure Hilfe gebrauchen.“
Zuerst vermutete die Söldnerin, der Bettler mache sich über sie lustig. „Wer immer glaubt, meine Hilfe zu brauchen ...“, sie betrachtete die heruntergekommene Gestalt, die vor ihr auf dem Boden hockte, „er kann sich mich bestimmt nicht leisten.“
„Nein, bitte!“, beharrte der Mann. „Geh morgen in die Taverne im nächsten Dorf, wenn die Sonne am höchsten steht. Es wird jemand Wichtiges kommen, der dich beauftragen und reich belohnen wird. Ich schwöre es dir bei meinem Leben!“
Yala gab dem Bettler tatsächlich ihr Wort, dass sie warten würde. Er schien aufrichtig zu sein. Und äußerst verzweifelt. Fürs Erste besaß sie ja genügend Gold. Genauso wie ausreichend Zeit.
Nun wartete sie am vereinbarten Treffpunkt, weit hinten, damit sie alle Gäste genau im Auge behalten konnte, sollte einer von ihnen auf dumme Gedanken kommen.
Tavernen. In diesem Land schien es sie in jedem Dorf, ja sogar in den meisten Siedlungen zu geben. Ausschließlich Männer verkehrten darin. Ab und zu gab es noch ein paar Dirnen, die hofften, dass das Met ihre Freier besonders spendabel machte. Und in seltenen Fällen, wie hier, eine Wirtin, der nichts anderes übrig blieb, als in so einer Umgebung zu arbeiten, um Kindermäuler und das von einem faulen Ehemann zu stopfen. Ansonsten schienen einheimische Frauen Tavernen zu meiden.
Yala konnte es ihnen nicht verübeln. In Momenten wie diesen dachte sie an das Volk, von dem sie abstammt, den N´saja. Und an das Land, das sie früher `Heimat` genannt hatte, Seoreh. Dort hatte jeder, egal welchen Geschlechts, jedwedes Handwerk erlernen dürfen. Es gab Kriegerinnen und Bäcker. Soldaten und Näherinnen.
Heute existierten die N´saja nur noch in Sagen. Eine große Katastrophe hatte die meisten von ihnen dahingerafft. Innerhalb eines einzigen Tages verschwanden ihre Kultur und ihre Sprache im schwarzen Loch des Vergessens.
Die wenigen Überlebenden hatten sich über die Ländereien verstreut. Sie waren zu Nomaden geworden. Rastlos und umtriebig. So wie Yala. Wer hatte mit ansehen müssen, wie das eigene Volk unterging, der verlor den Halt. Ein Leben als Söldnerin war da noch besser als das eines Säufers oder Bettlers.
Die Tür zur Taverne wurde von außen geöffnet, Tageslicht drang hinein, verstärkte den Schein der Kerzen und ermöglichte den Blick auf eine alte Frau, die mit einer grauen Kutte bekleidet den Raum betrat. Sie strahlte eine eigenartige Ruhe und Würde aus. Keiner der Besoffenen wagte, sie mit einem unflätigen Spruch zu begrüßen.
Die wachen Augen der Alten musterten die Anwesenden. Und blieben bei Yala stehen. Eine absolute Stille breitete sich in der Taverne aus, während die Frau auf die Söldnerin zuging.
Die bemühte sich die ganze Zeit über, keine Gefühlsregung zu zeigen, obwohl die Wirkung des Neuankömmlings auch sie in ihren Bann zog.
Yala verstand, dass sich gerade ihr Auftraggeber näherte, von dem der Bettler gesprochen hatte. Um nicht wie der Rest der Tavernenbesucher als lebende Statue zu enden, verschränkte die Söldnerin die Arme vor der Brust und fragte: „Habt Ihr euch verlaufen, Alte?“
„Nein“, erwiderte die Frau und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Und ich bin auch nicht durstig. Zumindest nicht nach dem verdünnten Gesöff, das hier serviert wird.“
Yala wusste nicht, ob ihre Sitznachbarin scherzte. „Was wollt Ihr?“
„Euch anheuern, natürlich. Deswegen habe ich Bragus euch diesen Treffpunkt nennen lassen.“ Die Alte legte sich eine Hand auf die Brust. „Mein Name ist übrigens Shola. Ich bin die Schamanin der Erdpfleger.“
„Erdpfleger?“
Shola lächelte mild. „Mein Volk lebt sehr zurückgezogen. So gut wie niemand kennt es, geschweige denn seinen Namen.“
„Und was tut Ihr, dass Ihr euch so nennt?“
„Das, wonach es sich anhört. Wir pflegen die Erde, lassen Pflanzen wachsen, ernten Früchte. Unser Daseinszweck ist die Förderung des Lebens.“
Yala lachte belustigt auf. „Meiner ist eher der, es zu beenden.“
Diese Äußerung brachte ihr einen nachdenklichen Blick der Schamanin ein.
„Wie ist euer Name?“, fragte die Alte nach einem Moment unangenehmen Schweigens.
„Yala“, antwortete die Söldnerin.
„Das klingt schön“, meinte Shola. „Und passt nicht zu jemandem, der allein für Gold kämpft.“
Mit einem Funken Zorn ballte Yala die Hände zu Fäusten. „Wollt Ihr meine Berufswahl kritisieren oder mich anheuern?“
Die Schamanin lächelte. „Zuerst einmal Letzteres.“
„Sehr gut. Dann lasst uns keine Zeit vergeuden. Der Bettler ...“
„Bragus“, korrigierte sie Shola ruhig, „meine Augen außerhalb der Siedlung. Und mein Gefährte.“
„Oh.“ Yala brauchte einen Moment, ehe sie weiterredete: „Na schön, Bragus meinte, Ihr könntet meine Hilfe gebrauchen. Und dass mich eine reichhaltige Belohnung erwartet.“
„Da hat er recht.“
Da die Schamanin nicht mehr sagte, fragte die Söldnerin: „Was soll ich als `Lebensbeenderin` denn tun? Und was ist die Belohnung?“
„Wir sind friedliebende Menschen“, erklärte Shola. „Wir wollen keinen Streit. Unglücklicherweise bedeutet das in diesen düsteren Zeiten nicht, dass wir sicher sind.“ Sie machte eine Pause. Der Ausdruck pursten Leids huschte über ihr Gesicht. Dann sprach sie weiter: „Vorigen Winter erregten wir, trotz zurückgezogener Lebensweise, das Interesse eines Kriegsherrn und seiner Armee. Er nennt sich `Thelor, der Grausame`. Und genauso handelt er. Er wollte die jungen Männer unseres Volkes als Krieger rekrutierten. Alle weigerten sich. Also ließ er sie töten.“
Yala verkniff sich den Kommentar `Natürlich hat er das getan!`. Denn bei den meisten Kriegsherren galt die Devise `Wer nicht für mich ist, ist gegen mich`. Und insbesondere junge Männer entwickelten oftmals Rachegelüste für das erlittene Leid. Dadurch wurden sie für jemandem wie Thelor zu einem Risiko.
„Was geschah danach?“, fragte sie stattdessen.
„Zuerst hielt der Grausame uns nur für arme Menschen. Bis er die Myxia entdeckte.“
Auf Yalas fragenden Blick hin erklärte die Schamanin: „Die Myxia ist das Wertvollste, was unsere Gemeinschaft besitzt. Sie ist eine Truhe. In ihr ruht ein Schatz, kostbarer als alles Gold auf dieser Welt. Sie ist magisch verschlossen. Aber das interessierte Thelor nicht. Allein das Äußere der Myxia lockte ihn schon in seiner Gier. Also nahm er sie mit. `Als Schutzgebühr`, sagte er.“
„Und was ist das für ein Äußeres?“, fragte Yala neugierig.
„Die Truhe ist klein wie ein Neugeborenes, rundlich geformt wie ein Flusskiesel. Bei Tag glänzt sie wie Gold, bei Nacht wie tausend Diamanten.“
„Kein Wunder, dass ein Kriegsherr sie mitnimmt. Wie habt Ihr sie bekommen?“
Die alte Frau antwortete mit einem zweifelnden Blick.
Was Yala dazu drängte, genauer zu werden. „Euer Gefährte bettelt, Schamanin. Ihr lauft in schlichter Kleidung herum. Und dann besitzt eure Gemeinschaft eine dermaßen kostbar wirkende Truhe?“
„Das Aussehen der Myxia“, antwortete Shola, „ist abhängig vom Inhalt. In ihr ruhen nämlich die Seelen unserer Vorväter.“
„Ein tragbares Jenseits für das Volk der Erdpfleger also“, spuckte die Söldnerin verächtlich aus. „Wie praktisch. Habt Ihr diese magische Truhe selbst erschaffen, Schamanin? Oder hat euer Bettlerspion dafür einen geeigneten Zauberer ausgespäht und ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte?“ Yalas Wut hatte gute Gründe. Der Untergang ihres eigenen Volkes war durch das Wirken von Magie erst ermöglicht worden. Seitdem hielt sie sich von allem fern, was auch nur ansatzweise mit Hexerei zu tun hatte.
„Die Truhe ist mein Werk“, erklärte Shola sanft. „Ich verfüge über begrenzte magische Fähigkeiten, bin aber keine Hexe, falls Ihr das befürchtet.“
„Ich fürchte nichts!“, gab Yala von sich, bevor ihr bewusst wurde, wie lächerlich sich das anhörte.
Die Schamanin quittierte die Worte mit einem Blick, der die Söldnerin geradewegs zu durchbohren schien, so intensiv war er. „Ich spüre deutlich, dass Ihr irgendwann in der Vergangenheit viel Schmerz durch Magie erlitten habt. Das betrübt mich. Aber der, der sie ausübt, ist dafür zur Verantwortung zu ziehen. Nicht die Macht der Zauberei an sich.“
Ein Wirbelsturm von Gefühlen brach in Yala los, den sie sofort niederkämpfte. Hier ging es um einen Auftrag, nicht darum, das eigene Leid vor einer Fremden offenzulegen.
„Was soll ich für euch tun?“; fragte sie mit kalter Stimme.
Shola seufzte. „Es fällt mir schwer, das Folgende auszusprechen. Aber da ich nicht nur die Schamanin, sondern auch die Anführerin unserer Gemeinschaft bin, muss ich gegen meine innere Überzeugung handeln, wenn ich die Erdpfleger beschützen will.“ Sie atmete tief durch. „Thelor soll sterben. Und die Myxia zurückgebracht werden.“
„Warum setzt Ihr nicht eure magischen Fähigkeiten ein und holt sie euch selbst zurück?“, wollte die Söldnerin wissen. „Die meisten Kriegsherren sind abergläubisches Pack, das nur begreift, was es mit den eigenen Muskeln bewegen kann. Macht ein bisschen Lichterzauber, das reicht wahrscheinlich schon, damit alle weglaufen.“
„Nein, das tut es nicht!“ Die erboste Reaktion der Schamanin war unmissverständlich. „Ob Ihr es glaubt oder nicht, das habe ich bereits versucht. Aber Thelor ist nicht dumm. Und seine Männer hören allein auf sein Wort. Was immer sie an Angst vor meinen bescheidenen Fähigkeiten entwickelt haben, es verblasst angesichts der Autorität dieses Kriegsherrn!“
„Also braucht Ihr eine Schwertschwingerin wie mich. Und eine drastische Lösung eures Problems.“
„So ist es. Thelor saugt uns Erdpfleger aus. Momentan sind es nur Lebensmittel, um die er uns erleichtert. Aber ich weiß, dass er bald seine gierigen Finger nach unseren jungen Frauen ausstrecken wird. Zur Befriedigung eigener Gelüste und der seiner Krieger.“ Die Schamanin begann am gesamten Körper zu zittern. „Wenn das geschieht, dann ist mein Volk dem Untergang geweiht.“
Yala verstand. „Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er euch wahrscheinlich sowieso alle töten wird, bevor er weiterzieht. So sind die meisten Kriegsherren. Hinter sich lassen sie nur verbrannte Erde, um es ihrem Nachfolger schwerzumachen.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fragte: „Wenn ich für euren Auftrag annehme und Thelor um sein Leben und die Myxia erleichtere, was bekomme ich dafür?“
„Das Wertvollste, was ein Lebewesen besitzen kann“, antwortete Shola. „Das, wonach Krieger und Könige in dieser materiellen Welt am meisten lechzen.“
„Ihr solltet um einiges deutlicher werden“, murrte die Söldnerin, „ansonsten ist unser Gespräch beendet. Ich arbeite nicht für wirr daher schwafelnde Leute.“
Die Schamanin lächelte. „Na gut. Ich sehe schon, dass ich eine Kämpferin, die von den N´saja abstammt, nicht mit oberflächlichen Antworten abspeisen kann.“
Yala schaute sie ungläubig an.
Daraufhin erwiderte Shola: „Auch wenn es euch schwerfällt, das zu akzeptieren, ich habe von eurem Volk gehört. Und von seiner Kultur. Es ist eine wahre Tragödie, dass es so grausam zugrunde ging. Die N´saja waren den meisten Gesellschaften dieser Welt um einiges voraus.“
Die Söldnerin spürte einen Kloß im eigenen Hals entstehen. „Meine Vergangenheit geht euch nichts an. Nur die Bezahlung. Was bekomme ich?“
Die Schamanin ließ ihre rechte Hand unter dem Tisch verschwinden, um sie gleich darauf wieder hervorzuziehen. Sie machte damit eine kleine Schleuderbewegung und eine goldfarbene Münze mit einem Adlerkopf rollte über die Tischplatte, genau bis zu dem Platz, an dem Yala saß.
Die Söldnerin ergriff sie. Und konnte ihren Augen nicht trauen. „Das ist ein Atlantengoldstück. Sehr selten und unglaublich wertvoll!“
„Wenn Ihr für mich arbeitet, bekommt Ihr noch mehr. Genug, um nie wieder für Gold kämpfen zu müssen.“
Yala schaute sich misstrauisch um. Die übrigen Anwesenden schien nichts von der Kostbarkeit mitbekommen zu haben, die gerade offen für jedermanns Blicke auf dem Tisch lag. Damit das auch so blieb, nahm die Söldnerin die Münze und steckte sie in eine ihrer Gürteltaschen.
„Ihr seid also doch reich“, meinte sie flüsternd. „Selbst ohne eure Magietruhe. Ich frage mich, warum Thelor, der Grausame euch nicht um die Atlantengoldstücke erleichtert hat.“
„Es würde von großer Dummheit zeugen, in diesen Zeiten die eigenen Schätze so offen für jedermann zu präsentieren.“ Die Schamanin zupfte demonstrativ an den Ärmeln der grauen Kutte.
„Aber dennoch habt Ihr euch die Myxia wegnehmen lassen.“ Yala bedauerte ein bisschen, wie barsch die Worte aus ihrem Mund gekommen waren. Trotzdem dachte sie nicht daran, sich zu entschuldigen. Es war eine harte Welt. Vor Leid und Tragik war da keiner gefeit.
„Die Myxia war versteckt“, erwiderte Shola. „Thelor jedoch war beim Verwüsten unserer Behausungen sehr gründlich. Eine Truhe kann man schließlich nicht so einfach verbergen wie Münzen. Egal wie wertvoll sie sein mögen.“
Yala glaubte der alten Frau. „Nehmen wir an, ich erkläre mich bereit, für euch zu arbeiten. Wo finde ich Thelor?“
Ein Ausdruck der Erleichterung machte sich auf dem Gesicht der Schamanin breit. „Gleich hinter dieser Taverne fließt der Mandufluss. Folgt ihm flussaufwärts, dann kommt Ihr nach ungefähr einem Halbtagesritt zum Lager des Grausamen. Es liegt auf einem kleinen Berg.“
„Wie viele Krieger hat er in seinem Dienst?“
„Als er in unsere Siedlung einfiel, begleiteten ihn an die zwanzig Männer. Alle mit Schwertern und Pfeil und Bogen bewaffnet.“ Die Schamanin schloss für einen Moment die Augen. „Thelor werdet Ihr sofort erkennen. Er ist ein wahrer Riese. Mit Muskeln, die vor Kraft beinahe platzen. Sein Haar und Bart sind feuerrot. Zudem verfügt er über einen wachen Geist. Ihr könnt ihn gar nicht verfehlen.“ Mahnend hob Shola einen Zeigefinger. „Ihn allein sollt Ihr töten. Niemand anderen.“
Irritiert legte Yala den Kopf schief. „Euch ist bewusst, dass seine Krieger nicht einfach zusehen werden, wenn ich ihren Befehlshaber meuchle. Wie soll ich mich denn gegen die verteidigen?“
„So, dass die Männer am Ende kampfunfähig sind.“ Die Schamanin senkte den erhobenen Zeigefinger und klopfte mit ihm auf die Tischplatte. „Ich traue euch zu, dass Ihr zu nichttödlichen Verteidigungspraktiken in der Lage seid, Yala.“
Die Söldnerin wollte protestieren. Sie musste es. Denn alleine einen Kriegsherrn und Gefolge anzugreifen, ohne, bis auf die eine Ausnahme, töten zu dürfen, grenzte an Wahnsinn.
Leider schien die Schamanin von dieser Haltung nicht abzubringen zu sein.
„Und was ist, wenn ich doch einen von Thelors Lakaien absteche?“, murmelte Yala. „Ihr würdet es nicht mitbekommen, es sei denn, Ihr folgt mir zum Lager.“
„Ihr habt recht“, bestätigte Shola, „ich würde es nicht erfahren.“ Sie streckte ihre rechte Hand in Richtung der Söldnerin aus. „Aber ich werde euch jetzt bitten, mir euer Wort zu geben, dass Ihr bis auf Thelor die Männer verschont. Wenn Ihr das tut, weiß ich, dass Ihr euch daran halten werdet.“
„Warum? Ihr kennt mich nicht. Ich kämpfe für Gold. Für und gegen jeden. Was wäre mein Wort wert?“
„Mehr als Ihr jetzt wisst“, war die seltsame Antwort der Schamanin, die der Söldnerin gar nicht passte.
„Hört auf damit!“, schnauzte sie.
„Womit?“
„Mit diesem Worte-Hokuspokus.“ Yala schnaufte wie ein wilder Bulle. „Was wisst Ihr denn, Schamanin? Haben euch irgendwelche Götter vorausgesagt, dass ein Kriegsherr über eure Siedlung herfällt und alle jungen Männer tötet? Eher nicht! Also erspart mir derlei Ansprachen.“
Für ein paar Momente schwieg Shola. Trotzdem ließ sie ihre rechte Hand ausgestreckt. Aus gutem Grund, wie sich zeigte.
„Gebt mir euer Wort, dass Ihr, außer Thelor, keinen der Krieger tötet“, forderte sie nämlich erneut.
Yala dachte an die Atlantengoldmünze in ihrer Gürteltasche. Ebenso an die Aussicht, mehr davon zu bekommen. Was sie jedoch noch stärker als alles andere dazu drängte, den Auftrag anzunehmen, war Shola. Diese alte Frau, mit Lumpen bekleidet, strahlte soviel Würde aus wie hundert Fürsten auf einmal.
Die Söldnerin ergriff die Hand der Schamanin. „Na gut. Ich verspreche, niemandem außer Thelor den Lebensfaden zu durchtrennen. Außerdem berge ich eure Zaubertruhe. Zufrieden?“
Shola nickte lächelnd und zog ihren Arm zurück. „Ich wusste, dass wir ins Geschäft kommen.“
„Schön für euch. Wo soll ich die Myxia denn abliefern?“
„Die Siedlung der Erdpfleger liegt direkt am Mandufluss. Im Gegensatz zum Lager von Thelor allerdings flussaufwärts.“ Shola stand auf. „Ihr könnt sie gar nicht verfehlen. Viel Glück, Yala!“ Mit diesen Worten verließ die Schamanin die Taverne.
Die Söldnerin dagegen blieb nachdenklich sitzen.
„Worauf hast du dich da bloß eingelassen“, murmelte sie. Erst einige Momente später brachte sie genug Willenskraft auf, um sich von ihrem Platz zu erheben, die nach Met und Schweiß stinkende Räumlichkeit zu verlassen und für die anstehende Mission Vorbereitungen zu treffen.
Yalas Rappenstute `Sol` wartete wie immer geduldig auf ihre Herrin. Die hatte sie an einen Baumstamm nahe der Taverne festgebunden.
„Na“, meinte die Söldnerin scherzhaft zu ihrem Pferd, während sie es losband, „hast du wieder allen Artgenossen der Umgebung schöne Augen gemacht?“
Darauf reagierte Sol mit einem kurzen Wiehern. Yala streichelte sie zwischen den Ohren. „Na komm, ich kenne dich schon etwas, altes Mädchen.“ Dann blickte sie sich suchend um. „In diesem Dorf gibt es doch bestimmt auch einen Gewürzhändler.“ Sie entdeckte den gewünschten Laden. Er lag gerade mal einen Steinwurf von der Taverne entfernt. Yala führte Sol dorthin und fand im Sortiment des Händlers das, was sie brauchte. Am Sattel des Pferdes gab es genügend Taschen, um das Gekaufte zu verstauen.
Yalas Mutter Sherisa war eine Heilerin gewesen. Sie hatte sich mit allerlei Kräutern und Tinkturen ausgekannt und dieses Wissen an ihre Tochter von frühester Kindheit an weitergegeben. Ob ein Pflanzensud einen Menschen heilte oder vergiftete, hing oftmals nur von der Menge ab. Genauso wie es den schmalen Grat gab, der zwischen Ohnmacht und Tod bestand.
Da die Söldnerin die Männer von Thelor nicht töten durfte, wollte sie ihnen wenigstens lange Momente voller Albträume bescheren, die sie davon abhielten ihre Schwerter zu ziehen. So konnte sich Yala komplett dem grausamen Kriegsherrn widmen.
Zusätzlich erwarb sie einen Lederbeutel mit zwei Riemen, der groß genug war, um die Myxiatruhe darin zu verstauen. Sie stieg auf den Rücken ihres Rappen, verließ das Dorf und ritt am Mandufluss entlang in Richtung des Lagers von Thelor.
Kurz bevor die Sonne unterging, machte Yala Rast auf einer Lichtung und entzündete ein Feuer. Aus den Satteltaschen holte sie sowohl die erworbenen Kräuter als auch einen Mörser, eine kleine Metallschale und Lederhandschuhe hervor, die sie sich anzog. Dann begann sie mit der Herstellung von Tausendschlaf-Gift. Bei den N´saja hatte es zumeist Verwendung bei Schlafstörungen und zur Behandlung starker Schmerzen gefunden. In ausreichender Menge wirkte es dagegen so, wie der Name verriet. Es versetzte einen Menschen in tiefen Schlaf, der ein paar Momente lang sein konnte. Oder einen ganzen Tag. Yala strebte Letzteres an.
Während ihre Stute Sol ungeduldig mit den Hufen scharrte, rührte die Söldnerin das Gift an. Sobald es fertig war, holte sie aus einer der Satteltaschen ihr Blasrohr und zwanzig fingerspitzengroße Pfeile hervor.
Das Volk der N´saja hatte beim Fernkampf auf Bögen weitestgehend verzichtet. Zumeist nutzten sie aus Metall gefertigte Rohre, mit denen sie vergiftete Geschosse auf ihre Gegner niederregnen ließen. Yala führte die Tradition fort. Nicht aus Sentimentalität, sondern weil für sie ein Blasrohr unauffälliger und einfacher zu verstauen war als ein sperriger Bogen. Zudem hatte sie die Waffe im Laufe der Winter weiterentwickelt, sodass diese nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Exemplaren hatte, die sie als Kind gesehen hatte. Immerhin war ihr Vater Nestu berufener Schaffer gewesen. So viele Dinge hatte er erfunden, die die Leben seiner Volksgenossen erleichterten. Zweifellos hatte Yala sein Talent geerbt. Das, was sie damit anstellte, würde ihm jedoch bestimmt nicht gefallen. Ihr Blasrohr besaß kurz vor dem Mundstück eine zylinderförmige Trommel mit zehn Kammern, die man von Hand drehte. In die kamen die Giftpfeile, wodurch die Söldnerin im Kampf mehrere Gegner in schneller Folge beschießen konnte, bevor sie Nachschub brauchte.
Die kleinen Pfeile schnitzte sie aus unterschiedlichsten Hölzern. Fest mussten sie sein, widerstandsfähig, und doch formbar. Mit den Jahren war sie zu einer wahren Meisterin darin geworden. Genauso wie beim Giftanrühren.
Manchmal fragte sich Yala, was ihre Eltern denken würden, bekämen sie mit, womit die eigene Tochter Gold verdiente. Wären sie enttäuscht oder traurig? Mit Sicherheit.
Verstünden sie, warum der Untergang der N´saja in ihrem kleinen Mädchen den unbändigen Wunsch zu kämpfen entfacht hatte, den nichts und niemand je stillen konnte? Vermutlich würden sie es nicht. In Nestu und Sherisa hatte pure Friedfertigkeit existiert. Weder Hass noch Aggression.
Die Söldnerin dippte die Pfeilspitzen in den Giftsud, legte sie auf den Boden, um sie trocknen zu lassen. Dann füllte sie die Hälfte der Geschosse in die Drehtrommel des Blasrohrs, welches sie in eine extra dafür gefertigte Schlaufe ihres Gürtels hängte. Die restlichen zehn steckte sie in eine ihrer Gürteltaschen. Sie säuberte und verstaute den Mörser und die Schale, löschte das Feuer und bestieg Sol.
Yala war bereit für Thelor, den Grausamen.
Der `kleine` Berg, den die Schamanin Shola erwähnt hatte, erwies sich als recht hoch. Und steil. Es gab einen Weg zum Gipfel, der, den Spuren nach zu urteilen, oft von Pferden benutzt wurde. Er verlief in Schlangenlinien. Dicht nebeneinanderstehende, hohe Bäumen säumten ihn, während sie den Rest der Berghänge vollkommen bedeckten.
Irgendwo am oberen Ende des Weges lag das Lager von Thelor. Wie es aufgebaut war, wo die Wachen postiert waren, das alles ließ sich nicht so einfach erkennen.
Yala musste näher ran. Und da der grausame Kriegsherr laut Schamanin nicht auf den Kopf gefallen war, hatte er höchstwahrscheinlich seine Krieger so platziert, dass sie jeden bemerkten, der sich dem Lager direkt vom Weg aus oder abseits davon näherte.
Shola hatte erwähnt, dass sie alle mit Schwertern sowie Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Was bedeutete, dass Yala mit Beschuss rechnen durfte, wenn sie unachtsam war. Sie blickte in den Himmel. Die Abenddämmerung setzte ein. In ein paar Momenten ging die Sonne vollständig unter.
Thelor mochte schlau sein, die eigenen Männer wachsam und gut aufgestellt. Aber sie rechneten wahrscheinlich nicht mit einer Gefahr von oben. Und die Schwärze der Nacht verschaffte Yala noch einen zusätzlichen Vorteil.
Bereits als Kind hatte sie es geliebt, auf allen möglichen Dingen herumzuklettern. Egal worauf, sie hatte es genossen, sich so fortzubewegen, wie ein Eichhörnchen. Die Kronen der Bäume an diesem Berg hier waren breit, mit dicken Ästen, die sich ineinander verzweigten. Durch sie konnte sich die Söldnerin dem Lager von Thelor nähern, ohne entdeckt zu werden. Wenn sie leise genug war. Sie befahl Sol, sich nicht vom Fleck zu rühren, was die Stute sogar tun würde, obwohl sie ansonsten eher von der sturen Sorte war, ganz wie ihre Besitzerin. Dann kletterte Yala auf den nächststehenden Baum.
Die Strecke bis zum Gipfel war unendlich lang. Zumindest kam es der Söldnerin so vor. Trotz ihrer Liebe zum Klettern verwünschte sie bereits nach kurzer Zeit die elenden Äste. Die trugen zwar ihr Gewicht, zwangen sie aber oftmals, den eigenen Körper so zu verbiegen, dass sie sich wie eine Schlangenfrau vorkam. Die Schwertscheide und das Blasrohr, die beide an ihrem Gürtel hingen, drohten sich mehrmals im Geäst zu verfangen. Dazu kam noch die Steigung. Auch die Dunkelheit, die sie eigentlich vor neugierigen Blicken tarnen sollte, behinderte sie nun. Yala musste sich ihren Weg hoch über dem Boden ertasten, wenn sie keinen Lärm machen oder gar abstürzen wollte. Einzig der Beutel mit den zwei Riemen, den sie im Dorf für die Myxiatruhe erworben und sich auf den Rücken geschnallt hatte, störte sie nicht.
Thelor hatte seine Wachen umsichtig positioniert. Einen Steinwurf vom Lager auf dem Gipfel entfernt kauerten sie zwischen den Baumstämmen. Sie alle hielten Pfeil und Bogen bereit und lauschten sichtlich angestrengt, ob sich ihnen irgendjemand näherte. Die Söldnerin über sich hörten sie dagegen nicht.
Obwohl Yala erschöpft war, kletterte sie durch die Kronen einmal um die Bergkuppe herum. Der Kriegsherr hatte seine Wachen tatsächlich in Kreisformation aufgestellt. Ihm in den Rücken zu fallen, war nicht möglich.
Dass die Söldnerin die lauernden Krieger überhaupt sehen konnte, lag an dem großen Feuer, das auf dem Gipfel im Zentrum des Lagers brannte. Es beleuchtete nicht nur die dort aufgebauten fünf Zelte, auch die Umrisse der Wachen wurden ganz schwach sichtbar.
Yala zählte insgesamt zehn von ihnen. Laut der Schamanin folgten an die zwanzig Männer dem Kriegsherren. Was bedeutete, dass Thelor die Hälfte seiner Leute zur Verteidigung des Lagers abgestellt hatte. Der Rest hielt sich vermutlich in den mit lederartigen Planen errichteten Behausungen auf. Genauso wie ihr Anführer. Zumindest war der muskelbepackte rothaarige Riese nirgendwo zu sehen, den Shola beschrieben hatte. Dass er eine der Wachpositionen um die Bergspitze herum eingenommen hatte, glaubte Yala nicht. Kriegsherrn teilten keine lästigen Pflichten mit ihren Lakaien. Sie arbeiteten nur, wenn es um die Beschaffung von Reichtümern oder Schändung von Frauen und Kindern ging. Ansonsten hielten sie sich feige im Hintergrund.
Vier der fünf Zelte sahen absolut gleich aus. Bei ihnen handelte es sich um einfache, pyramidenförmige Koten. Das fünfte dagegen war ein sogenanntes Königszelt. Es bot einer Person genügend Platz, um sich wie in einem edlen Schloss behaglich zu fühlen. Gleichzeitig war es äußerst robust gearbeitet, sodass nicht mal ein Sturm es umwehen konnte. Dort hielt sich vermutlich Thelor auf. Zusammen mit der Myxiatruhe.
So leise es ihr möglich war, kletterte Yala zu dem Baum, der der Behausung des Kriegsherrn am nächsten war, dann stieg sie hinab. Nur ein paar Schritte trennten sie von ihrem Ziel.
Da ertönte das Knacken eines zertretenen Zweiges hinter ihr. Die Söldnerin hörte das leise Knarren, das die Sehne eines Bogens machte, wenn sie gespannt wurde. Schnell griff sie zu ihrem Blasrohr, zog es aus der Schlaufe am Gürtel, setzte das Mundstück auf ihre Lippen, drehte sich um und verschoss den ersten giftgetränkten Pfeil aus der Trommel in Richtung des Geräuschs. Ein Stöhnen erklang und ein Mann stolperte auf Yala zu, das Giftgeschoss hatte ihn am Hals getroffen. Aus seinen erschlaffenden Händen fiel der eigene Bogen mitsamt Munition, er sank auf die Knie und blieb besinnungslos liegen. Das Tausendschlaf-Gift, das die Söldnerin angerührt hatte, war richtig dosiert. Dem leisen Schnaufen nach zu urteilen, atmete der Krieger noch, was gut war. Denn bei genauerer Betrachtung erkannte Yala, dass sie keinen ausgewachsenen Halsabschneider betäubt hatte, sondern einen Jüngling, höchstens fünfzehn Winter alt. Bekleidet war er mit einer Art Lederrüstung, die ihm allerdings zu groß war. Wer immer sie vor ihm getragen hatte, war um einiges kräftiger gebaut gewesen.
Yala hatte schon viele Kämpfer in noch mehr Ländern gesehen. In den unterschiedlichsten Altersklassen. Kinder, gestandene Männer, Greise. Es schien, als ob für die rekrutierenden Fürsten oder Kriegsherren bei einem Menschen allein die Fähigkeit zählte, ein Schwert in Händen halten zu können. Nicht die Anzahl ihrer erlebten Winter. Trotzdem wurde die Söldnerin misstrauisch, was den ohnmächtigen Jüngling betraf. Die Schamanin hatte ihr ja das Versprechen abgenötigt, nur Thelor zu töten. War das Alter seiner Krieger der Grund dafür? Besaß Shola trotz all der erlittenen Verluste Mitgefühl für die Untergebenen des Kriegsherrn?
Was immer es war, solange Yala nicht um ihr Leben bangen musste, würde sie sich an ihr Versprechen halten.
Für einen Moment horchte sie in die Umgebung. Außer dem Jüngling hatte sie niemand von den Wachen bemerkt. Sonst wäre sie längst mit Pfeilen gespickt gewesen. Aus einer ihrer Gürteltaschen holte sie ein neues Giftgeschoss hervor, lud es in die freigewordene Kammer der Blasrohrtrommel und umrundete mit vorsichtigen Schritten das Königszelt. Der Eingang war mit Schnüren von innen zugebunden. Yala steckte das Blasrohr wieder in die Gürtelschlaufe und zog das Schwert. Damit zerschnitt sie die Bänder. Langsam schob sie den Stoff des entstehenden Spalts beiseite und betrat das Zelt.
Die Söldnerin gelangte in die Behausung eines Mannes, der Reichtümer wie Trophäen sammelte, als gäbe es kein Morgen mehr. Der Kopf eines Feenhirsches hier, die goldene Rüstung eines menianischen Soldaten da. Dazu noch silberne Münzen aus dem Antopenreich.
Und die Truhe der Erdpfleger. Yala fand sie unter einer Decke neben dem Nachtlager, das sich Thelor aus Stroh gefertigt hatte.
Die Schamanin hatte sie passend beschrieben. Von oben herab hing an einer Metallkette eine angezündete Öllampe. Ihr warmes Licht ließ die Myxia sogar wie Gold und Diamanten zusammen schimmern.
Allein von Thelor fehlte jede Spur, was die Söldnerin angesichts des von innen verschlossenen Eingangs beunruhigte. War sie in eine Falle getappt? Hatten die Wachen sie doch in den Baumkronen herumklettern gesehen?
Yala würde nicht abwarten, bis etwas passierte. Sie legte den im Dorf gekauften Beutel auf den Boden und steckte die Myxia hinein. Anschließend schlüpfte sie mit den Armen wieder durch die beiden Riemen, sodass sie die Truhe bequem auf dem Rücken tragen konnte und die Hände zum Kampf frei hatte. Mit dem Schwert in der Rechten näherte sie sich dem Ausgang.
Bis hinter ihr eine tiefe Männerstimme erklang: „Ich hätte nicht gedacht, dass die alte Hexe jemanden findet, der für sie die Myxia zurückholt.“
Yala blieb stehen und drehte sich langsam um. Dabei traf ihr Blick auf einen Riesen. Mit Armen, die so mächtig wirkten wie die Beine von barsischen Elefanten. Sein langes rotes Haar und der Vollbart waren ungepflegt und standen wie Stacheln von seinem klobigen Kopf ab. Bekleidet war der Mann mit einer Lederrüstung, ähnlich der des betäubten Jünglings. In beiden Händen hielt er je ein sichelförmiges Schwert.
„Du bist also Thelor“, meinte Yala nach außen hin unbeeindruckt, obwohl sie sich fragte, wie der Kriegsherr einfach so hinter ihr erscheinen konnte. Nirgendwo im Zelt gab es die Möglichkeit, sich zu verstecken.
Der rothaarige Mann nickte. „Und du bist eine, zugegebenermaßen, reizvoll aussehende Söldnerin, die bestimmt wissen will, wo ich jetzt hergekommen bin.“ Er kreuzte die Sichelklingen vor der Brust. Und verschwand.
„Die magischen Schwerter von Wells“, hörte sie ihn trotzdem noch sprechen. „Wer sie besitzt, kann sich jedermanns Blicken entziehen.“ Thelor erschien wieder. „Oder auch nicht.“ Er richtete die Sichelschwerter auf die Söldnerin. „Du scheinst sehr gut in dem zu sein, was du tust, Unbekannte. Aber das bin ich ebenso.“
Yala schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihr Schwert schützend hochzuhalten, da griff der rothaarige Riese bereits mit mächtigen Hieben an. Seine Klingen krachten auf die ihre, Funken sprühten. Die Waffe der Söldnerin zerbrach.
Bevor die Sichelschwerter des Kriegsherrn ihr die Arme abhacken konnten, drehte sich Yala reflexartig um, sodass die Myxiatruhe im Beutel auf ihrem Rücken getroffen wurde. Etwas Erstaunliches geschah. Ein heller Blitz flammte auf und Thelor wurde durch die Luft geschleudert. Die Söldnerin dagegen blieb unversehrt. Sie schaute zum rothaarigen Riesen, der vor Schmerz keuchend auf der anderen Seite des Zeltes auf dem Boden lag. Seine Hände waren leer. Er hatte die Sichelschwerter verloren. Yala entdeckte sie direkt neben ihren Füßen. Das Glück war ihr holder, als sie es verdiente.
Sie warf den Griff ihres nutzlos gewordenen Schwertes weg, hob die Waffen des Gegners auf und ging damit auf ihn zu. Schließlich sollte sie ja nicht nur die Truhe wiederbeschaffen.
Der Kriegsherr versuchte aufzustehen. Yala brachte ihn mit einem kraftvollen Tritt gegen den Kopf zu Fall. Sie richtete eines der Sichelschwerter auf seine Brust, während sie mit dem anderen zu einem Schlag ausholte, der Thelor die Kehle durchtrennen sollte.
„Ich war auch mal so wie du“, murmelte dieser auf einmal mit einer Sanftheit in der Stimme, die so gar nicht zu einem Kriegsherrn passte. „Kämpfen für Gold. Töten, um selber zu leben. Oh ja. Die Dunkelheit der eigenen Seele ist zu stark, als dass man sich ihr entziehen kann. Es braucht schon sehr viel Mut, um einen anderen Pfad zu beschreiten. Ich habe ihn nie aufbringen können. Bis vor kurzem.“
Yala wusste, dass sie es beenden musste. Je schneller, desto besser. Der Gegner wollte sie verwirren, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Leider hatte er damit Erfolg, denn sie hielt inne.
„Schweig!“, zischte sie ihn an.
„Das werde ich nicht“, erwiderte Thelor. „Glaubst du, ich bin hier der Böse?“ Er lachte schallend auf. „Die Hexe hat dich wirklich um ihren Finger gewickelt. Ja, das kann sie gut. Hat sie dir gesagt, sie sei eine einfache Schamanin vom Volk der Erdpfleger?“
Yala wusste, dass sie diesen Bastard schnell töten musste. Außerhalb des Königszeltes befanden sich noch genug andere Krieger, die ihr Schwierigkeiten bereiten konnten. Trotzdem fragte sie: „Wenn es so wäre, was geht es dich an?“
„Oh, es geht mich viel an, werte Schwarzhaut.