ATLAN Rudyn 3: Acht Tage Ewigkeit - Michael H. Buchholz - E-Book

ATLAN Rudyn 3: Acht Tage Ewigkeit E-Book

Michael H. Buchholz

0,0

Beschreibung

August 3102 alte Terranische Zeitrechnung: Die Milchstraße ist ein gefährlicher Ort. Verschiedene Organisationen kämpfen gegen das Solare Imperium der Menschheit, Sternenreiche entstehen neu, und überall ringen kleine Machtgruppen um mehr Einfluss. In dieser Zeit geht die United Stars Organisation - kurz USO genannt - gegen das organisierte Verbrechen vor. An ihrer Spitze steht kein Geringerer als Atlan: Perry Rhodans bester Freund. Der ca. 9000 Jahre v. Chr. geborene Arkonide ist dank eines Zellaktivators relativ unsterblich. Als junger Kristallprinz erkämpft er sich die rechtmäßige Nachfolge und besteigt als Imperator Arkons Thron, bis er im Jahre 2115 abdankt und die Leitung der neu gegründeten USO übernimmt. Signale eines Zellaktivators, der dem Träger die Unsterblichkeit garantiert, werden empfangen. Auf der Jagd nach diesem Gerät verfolgt Atlan Agenten der Zentralalaktischen Union. Sein Weg führt ihn ins Ephelegon-System, an Bord des Sphärenrads ZUIM, auf dem sich Ponter Nastase aufhält. Die ehrzeizigen Pläne des machtbesessenen Wissenschaftskalfaktors drohen zu scheitern, als Neife Varidis auf den Plan tritt. Die Geheimdienstkalfaktorin entgeht nur knapp einem Mordanschlag und flieht mit Atlan nach Rudyn, dem Zentralgalaktischen Planeten der ZGU. Von dort aus leiten sie den Widerstand gegen Nastase, der alle Macht in der ZGU an sich reißen will...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dritter Band der Rudyn-Trilogie

Acht Tage Ewigkeit

von Michael H. Buchholz

Danksagung

Inniglichen Dank – ganz ernsthaft – meiner Katze Maya, die mich auf dem langen Weg von Anfang bis Ende aufmerksam begleitet hat; stets lag sie neben mir, sobald ich den Computer einschaltete, lauschte dem mehr oder weniger erfolgreichen Tippen, und ihre klugen Augen wussten stets, wann ich besonderer Aufmerksamkeit bedurfte oder dringend eine Schaffenspause benötigte.

Sabine Kropp für ihren Langmut.

Meinem guten Freund Rüdiger Schäfer, der mir in unzähligen Telefonaten sein Ohr lieh und auch dann zur Stelle war, wenn ich selbst spät nachts noch meine verzweifelten Hilferufe aus Rudyns Bergwelt absetzte.

Seiner Schwester Gabi Schäfer, die mir einmal mehr wissenschaftlichen Beistand leistete, speziell was die Auswirkungen von bestimmten Größenverhältnissen bei gewissen Fluggeräten und -manövern betraf.

Sabine und Christopher für ihre Engelsgeduld. Hey, ich bin wieder da.

Kleines Who is Who

Atlan – der Lordadmiral der USO auf der Jagd nach der Unsterblichkeit

Trilith Okt – die Psi-Kämpferin ist Atlans Gefährtin auf Zeit

Neife Varidis – die Geheimdienstchefin gerät von der Säure in die Lawine

Oderich Musek – der persönliche Berater der Kalfaktorin

Ponter Nastase – der Kalfaktor für Wissenschaften besitzt eine Handvoll Leben

Marco Fau – Kalfaktor für Kriegswesen und Verbündeter von Ponter Nastase

Ermid Güc – Kalfaktor für Flottenaufbau und Verbündeter von Ponter Nastase

Thereme Eisenstein – Kalfaktorin für Siedlungsexpansion

Akadie Holeste – Kalfaktorin für Wirtschaft und Entwicklung

Dhium Lavaré – Kalfaktorin für soziale Belange

Aquium Namastir – Kalfaktor für Bauwesen und amtierender Generalkalfaktor

Kikomo Akubari – Adjutant des Generalkalfaktors

Patty Ochomsova – die Müllpilotin bekommt Gesellschaft

Artur Lokwenadse – Pattys Empfehlung für besonders liebe Gäste

Ti Sun – dessen hübsche Tochter

Kan Yu – ein Heiler

Kala Bhairava – der Nallathu, das Oberhaupt der Santuasi

Kettat Pahal – der schwarzbärtige Dorfvorsteher, auch Kaibunthu genannt

Nayati Mahekara – dieser Santuas ist mit Vorsicht zu genießen

Derius Manitzke – ein Rudyner mit Ambitionen

Gregor Manitzke – Derius’ Vater träumt still von Heldentaten im All

Dr. Vitali Vagansk – Arzt, Erotomane und Derius’ Freund

Fjodir Ganow – Derius’ Vorgesetzter ist ein Gauner

Shaef’al ben Rudir – ein USO-Spezialist auf Rudyn

Tingguely – ein verfrorener Matten-Willy als Ersatzdiplomat

Archotique – ein Roboter für alles

Gero Gurebeler – Regierungstreuer Reporter für GenSky

Vagabund – ein hilfreicher User

Lalia Bir – Triliths Gefährtin ist auf Gedeih und Verderb GAHENTEPE ausgeliefert

Pöör –

Prolog

Thereme Eisenstein hatte noch genau zweiundvierzig Sekunden zu leben. Die erste davon verbrachte sie damit, die nachmittägliche Gluthitze über Genzez zu verfluchen.

Im Freien und ohne Schirmreduktion herrschten 40 Grad im Schatten. Ephelegon hing wie das flammende Auge eines unbarmherzigen Sonnengottes über der 16-Millionen-Stadt. Allein der schwüle Wind, der vom Meer in die Bucht herwehte, machte das Atmen gerade noch erträglich. Die Kalfaktorin für Siedlungsexpansion und Verwaltung im Zentralgebiet der Union bereute bereits ihren Entschluss, die ausladende Terrasse, die zu ihren Arbeitsräumen im OPRAL gehörte, betreten zu haben.

So viel zum Thema frische Luft schnappen, dachte sie. Die Sitzung am Vormittag war erschöpfend gewesen – erschöpfend lang und erschöpfend ineffektiv. Ressourcen, die sie dringend für ihr Siedlungsprogramm benötigte, wurden insgeheim umgeleitet und landeten im Verfügungsbereich des Kalfaktats für Wissenschaften. Dort hockten lauter Unschuldslämmer, die behaupteten, sie seien Wabyren und wüssten von nichts. Scheinheilige Bande!

Sie forderte den Servoteil der Zimmerpositronik auf, einen Reduktorschirm über die Terrasse zu legen. Das polarisierende Feld stabilisierte sich binnen zweier Wimpernschläge.

Thereme war eine große, attraktive Frau in den Fünfzigern, die viel Wert auf ihre äußere Erscheinung legte und diesen Vorteil auch gezielt einzusetzen wusste. Sie gab sich offiziell gerne sanft, blieb hinter den Kulissen aber hart wie Stein. Wie ein eiserner Stein, witzelten die Angestellten ihres Kalfaktats hinter vorgehaltener Hand. Ihre Härte war mit ein Grund, weshalb sie die jüngste Kalfaktorin der derzeitigen Legislaturperiode war. Ein anderer war ihre völlige Skrupellosigkeit, wenn es darum ging, gewisse Details über gewisse Leute zu sammeln und ihr Wissen – ihr Schweigen – in die politische Waagschale zu werfen.

Das Reduktorfeld überspannte die Terrasse; die Hitze blieb, aber das Stechen Ephelegons auf ihrer makellosen Haut ließ unter dem modifizierten Prallschirm sofort nach. Alle Blendeffekte wurden weggefiltert, ebenso alle schädlichen Strahlungsfrequenzen. Sie öffnete den Kragen ihres Kleides und desaktivierte die Magnetstreifen darunter. In dem tiefen Ausschnitt zeigten sich wie Chegerra-Birnen geformte Brüste. Sie überlegte blitzartig, wer es an diesem Abend wohl wert sein würde, sie zu sehen. Ruord, dieser ausdauernde Hengst? Oder Mattroc, dem mehr verrückte Ideen einfielen und der sie umzusetzen verstand, als ihrem guten Ruf gut tat? Sie entschied, dass es viel zu heiß sei, um über Sex nachzudenken. Obwohl …

»Servo! Luftaustausch! Aber schnell!«, verlangte sie matt und leckte sich die salzigen Lippen. »Bitte 24 Grad, verminderte Feuchtigkeit, mit Meeresaromen und einer Prise Amaryllis.«

Zu diesem Zeitpunkt waren schon dreizehn der zweiundvierzig Sekunden verstrichen. Luftumwälzer sprangen an.

Die Arbeitsräume und die begrünte Terrasse lagen am oberen Rand der Muschelschale des Ambar Popoludi, eines der sechs gleichartigen Trichtergebäude, die die schmale, zentrale Kegelpyramide umgaben und die mit ihr zusammen das OPRAL, den Sitz der Zentralgalaktischen Regierung bildeten.

Ihr offizieller Kalfaktorischer Stuhl stand ebenfalls in der Pyramide, oberhalb der Zal und inmitten des überladenen Prunks der repräsentativen Kalfaktorresidenzen, die sich in den rudynischen Himmel reckten. Welcher mickrige Mann hatte sich dieses kilometerhohe Phallussymbol nur ausgedacht? Sie hielt sich nur dort auf, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Oder wenn Mattroc …

Thereme blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie blickte von ihrer erhöhten Position aus versonnen an der Kegelwandung vorbei bis weit über die Dwadunaj hinweg, die an dieser Stelle ihres Deltas fast fünf Kilometer breit war; hinter schmalen Inselchen, zwischen denen weiße Boote verkehrten, konnte sie fern im Dunst gerade noch die baumartige Struktur des Urdhana-Großklinikums erkennen. Ein gewaltiger Stamm, mit nach allen Seiten spreizenden Ästen und Zweigen aus Plastbeton und Glassit, jedes der vielen tausend Blätter daran eine Zimmerflucht. Der Park, der den Stamm des Klinikums umgab, wirkte aus dieser Entfernung wie ein blaugrüner Schatten.

Noch ein Stamm, dachte sie belustigt, der sich in den Himmel reckt.

Thereme Eisenstein drehte sich von der sandfarbenen Balustrade der Terrasse weg. Geschmeidig drückte sie ihr Kreuz durch und wölbte ihren halbentblößten Busen einen Moment der kühlen Brise der Luftumwälzung entgegen. Mit einer beiläufigen Geste ordnete sie ihr naturblondes Haar.

Laus K beobachtete scharf jede Bewegung der schlanken, durchtrainierten Gestalt. »K« stand dabei für Koordination; »Laus« war die Kurzbezeichnung des Attentäterrobots, abgeleitet von seiner Mikrobauweise – er maß von den Optiken des Sensorkopfes bis zum Heck-Jetpak 1,5 Millimeter. Laus K hielt sich im Büro der Kalfaktorin auf. Er hockte, unscheinbar wie ein grauer Fussel, auf der Lehne des Schreibtischsessels, von wo aus er durch die geöffneten Flügeltüren Thereme Eisenstein gut erfassen konnte.

Er war nicht allein gekommen.

Seit dem Empfang des Rafferimpulses aus dem Orbit vor sieben Sekunden brachte er sein Team – die Light Assassin Unit Section – in Stellung.

Laus S – »S« stand für Sabotage – war nahe der Bildergalerie hinter dem protzigen Schreibtisch in Schussposition gegangen. Laus N – die Nanopositronik des Eingreifteams, – benötigte zwei weitere Sekunden, um den ursprünglichen Einsatzplan zu modifizieren; es war nicht vorgesehen gewesen, die Kalfaktorin außerhalb ihres Büros zu liquidieren. Sie verharrte bewegungslos im Hintergrund, an einer Schlinge des hochflorigen Teppichs. Als das Ergebnis vorlag, informierte sie den Koordinationsrobot über die beste Vorgehensweise, wie die schlanke Frau wieder hereinzulocken sei.

Laus T hielt sich in Sprungbereitschaft; der klobigste Robot des vierköpfigen Teams kauerte im Schatten einer der kniehohen, blumenbestückten Vasen. Er verfügte über keinerlei Geruchsensoren, sonst hätte er den schweren Duft der zart grünblühenden Rudynliliengewächse über sich registriert.

Thereme Eisenstein ließ sich in einen Schwebesessel an einen Tisch auf der Terrasse fallen. Lasziv strich sie sich den Schweiß aus einer Braue. Sie orderte beim Servo ein großes Glas eisgekühlten Margellis-Saft mit einem Schuss Ephelegon’s Tears. Die Zimmerpositronik bestätigte das gewünschte Mischungsverhältnis von 3 zu 1. Sie öffnete einen weiteren Magstreifen und entblößte ihre Haut bis über den Bauchnabel hinaus. Kühl strich der Luftstrom über den Schwebesessel hinweg. Sie räkelte sich angenehm in dem weichen Bezug, genoss die Vorfreude auf den Drink – und die kommende Nacht.

Nichts und niemand sollte sie in diesen wenigen, kostbaren Minuten der Ruhe stören. Der Nachmittag war noch lang und mit Terminen bis in den Abend vollgepfropft. Ihre Gedanken wanderten an der Kegelfläche der Pyramide hinauf und damit unweigerlich zu Mattroc zurück. Der verrückte Kerl hatte es wirklich gewagt, es mit ihr in dem winzigen Aussichtsraum unmittelbar unterhalb der Kegelspitze zu treiben. Es hatte sie die halbe Nacht gekostet, alle Aufzeichnungen in allen Sicherheitsprotokollen zu finden und kraft ihrer Hochrangbevollmächtigung zu löschen. Andererseits, es war das Risiko wert gewesen.

Hoch über dem Platz der Großen Einheit hatten sie sich in großartigster Weise vereinigt – das Erlebnis hatte ihr den Orgasmus ihres Lebens beschert. Sie schauderte wohlig. Sie spürte, wie sich die Aureolen ihrer Brustwarzen zusammenzogen.

In diesem Moment summte der Interkom. Eine rote Leuchte an der Kommunikationsleiste ihres Schreibtischs blinkte. Ein Gespräch aus dem Internnetz des OPRAL.

Laus K verwarf die Alternativausarbeitung und kehrte zum ursprünglichen Setting zurück.

Thereme Eisenstein erhob sich seufzend. »So viel zum Thema Mittagspause«, murmelte sie. Als sie die Strukturlücke des Reduktorschirms passierte, vernahm sie das typische leise Säuseln der ionisierten Luftpartikel.

Bis zum Schreibtisch brauchte sie sieben Schritte und ebenso viele Sekunden. Noch vier Atemzüge.

Laus K sprang an die Decke.

Saughaarhaftfüße und extrastarke Sprunggelenke versetzten seinen Körper in die Lage, sich ohne Triebwerke im Nahbereich fortzubewegen. Kaum sichtbare Insektenflügel bildeten ein redundantes System.

Laus S bestätigte die Zielerfassung.

Die kreuzpeilende Nanopositronik von Laus N genehmigte die korrelierten Vorhaltewinkel und die beiden anvisierten Parabelkurse.

Der Bildschirm wurde hell, als die Kalfaktorin »annehmen« sagte.

Sie klickte die Magstreifen ihres Kleides zu. Einatmen, ausatmen. Ein vehementes Kopfschütteln; es vertrieb alle Gedanken an Mattrocs hervorragendstes Attribut.

Laus K aktivierte das Jetpak, dessen gekapselte Bauweise die Geräuschemission unter die menschliche Hörschwelle drückte. Er verließ die Decke und schwebte einen Meter über der gestylten Frisur ihres Targets. Hätten es seine Programmroutinen erlaubt, wäre ihm vielleicht bewusst geworden, dass er die moderne Version eines Damoklesschwertes darstellte.

»Thereme?«, fragte die Gesprächspartnerin am anderen Ende der Verbindung. »Haben Sie das mit Ponter eben mitgekriegt? Auf der ZUIM gehen ziemlich merkwürdige Dinge vor.«

Ihre Stimme klang drängend und erklärte so den Verzicht auf Gruß und Höflichkeit. Die Anruferin war Nanny Dollingar, die graublonde Kalfaktorin für Technologie. Ihr Gesicht drückte höchstes Befremden aus.

Thereme setzte zu einer Antwort an.

Laus K gab den Terminalbefehl.

Laus S löste die Nanorakgeschosse aus. In einer steilen Parabel flogen die beiden 0,3 Millimeter großen Todesboten ihrem Ziel entgegen. Ihr Zischen war leiser als das Summen einer Sumpffliege.

Mit dem Ablauf der letzten der einunddreißig Sekunden erreichten sie die Hinterhauptregion. Winzige Desintegratorbündel am Kopf der Lenkwaffen bahnten den Raketen binnen Bruchteilen einen Weg bis ins Hirninnere. Nahe des Hypothalamus explodierten sie.

Nanny Dollingar sah fassungslos mit an, wie der Kopf ihrer Amtskollegin vor ihren Augen in eine Wolke von Milliarden organischer Fetzen zerbarst. Die Akustikeinheit ihrer Kom-Einheit übersteuerte.

Laus K erteilte den Abrückbefehl.

Laus T spaltete sich in zwei je einen halben Millimeter lange Funktionsteile auf. Zwischen ihnen bildete sich ein Transmitterbogen. Nacheinander flogen die Mitglieder der Light Assassin Unit Section in das schwarze Wallen hinein. Das Transportfeld erstarb. Ein Lichtpünktchen, nicht mehr als ein Reflex im hereinströmenden Sonnenlicht … In einer Mikroexplosion verging Laus T.

Minimale Verluste bei maximaler Wirkung.

Das Team hatte seine Arbeit wieder einmal erledigt.

Der enthauptete Oberkörper der schönen Frau fiel auf den Schreibtisch. Ein nicht enden wollender Schwall Blut schoss aus dem Halsstumpf hervor und ertränkte die Optik des Interkoms.

Die Zimmerpositronik gab Alarm.

Neuigkeiten?

Pattevkaja Ochomsova; Gegenwart

Mit einem deutlich hörbaren Knall beendete der Müllfrachter RGC-06 das Andockmanöver in Schubsektor 3-A an Sphäre 4, dem äußeren Ring des Sphärenrads ZUIM.

»O klopf-et an, so wird euch auf-ge-tan«, sang eine schnarrende Stimme tief aus dem Inneren des Unterlichttransporters.

Die beständig zwischen der ZUIM und der Wiederaufbereitungsanlage auf Rudyn pendelnden Frachter wurden im Raumfahrerjargon Müllschuten genannt, offizielle Bezeichnung: RGC – Recycling Garbage Carrier. Die Registriernummer 06 trug den Eigennamen FIFFY.

Pattevkaja Ochomsova, eine stark übergewichtige Frau jenseits der siebzig, mit strähnigem graugelbem Haar, wälzte sich in ihrem Kontursessel herum, wischte sich die öligen Finger an ihrem blauen Overall ab und verdrehte ob der Sangeseinlage die Augen.

»Zum letzten Mal für lange Zeit«, murmelte sie. »Diese Fuhre noch, dann geht es ab in den Urlaub.«

Mit der Sicherheit von tausendmal vollzogenen Handgriffen koppelte sie die Müllschute an den Segment-Container des Schubsektors. Traktorklammern längs der Ladeflansche griffen.

Die Energiekupplungen meldeten Bereitschaft. Alle Stabilisierungs- und Lebenserhaltungskontrollfunktionen wurden dem Frachterpiloten übergeben. Beide Systeme verbanden sich damit zeitweilig zu einem größeren Ganzen. Bisher tote Bildschirme erwachten und zeigten ein Meer aus vorwiegend in Grünwerten spielenden Balkendiagrammen. Der stupsnasige Frachter war nun mit dem Huckepack genommenen Scheibensegment viermal so groß wie zuvor.

Die Pilotin fuhr sich durch das ungekämmte Haar und grinste.

Der Rumms war ihr persönliches Markenzeichen.

Selbstverständlich hätte sie den Anflug auf das Sphärenrad und die Andockroutine der Frachterpositronik überlassen können – genaugenommen musste sie das sogar, es war Vorschrift – aber sie kümmerte sich einen verkackten Gulmendreck darum. Sie steuerte ihren FIFFY per Hand. Sollten sich die Militär-Klugscheißer und wichtigtuerischen Beamten darüber aufregen, wenn sie wollten. Mehr als strafversetzen konnte man sie nicht, und was immer man ihr androhte, besser als Müllkutscherin zu sein war es allemal.

Der Rumms war ihre Form des Protestes gegen – ach, verdammt, gegen diesen ganzen verquirlten Kalfaktorenfilz. Vielleicht musste man in einer Gesellschaft erst ziemlich weit unten stehen, um zu erkennen, dass jeder Fisch vom Kopf her stank. Die Zentralgalaktische Union hatte gleich 21 Köpfe, und der Gestank war entsprechend. Die Pilotin sah sich nicht in der Lage, an den gegenwärtigen Umständen etwas zu verändern. Bis auf das, was sie sich selbst gegenüber das auf den Gong schlagen nannte. Nur eine Nuance zuwenig Bremskraft, nur eine Idee zuviel Impuls, und es reichte, um den Schubsektor und die angrenzenden Sektoren wie eine Glocke dröhnen zu lassen. Entsprechende Beulen im Heckbereich unterhalb der energetischen Klampenphalanx zeugten von einer lang zurückreichenden und akribisch ausgeübten Tradition dieser Form des Andockens.

Die Feldkrallen – starke Traktorblöcke beiderseits der Dockingbucht – verankerten den Müllfrachter in Längsrichtung; im rechten Winkel dazu verlaufende Magnetschienen arretierten ihn in Querrichtung. Die Pilotin fuhr die Maschinen auf Parkposition herunter. Das Summen des Meilers tief in den Eingeweiden der FIFFY sackte unter die Hörschwelle.

»So, Mami ist wieder da«, grummelte Pattevkaja, die alle Welt nur Patty nannte. »Und wieder hat das Baby volle Windeln, wetten?«

Sie redete oft mit sich selbst. Lieber jedenfalls als mit dem Schrotthaufen Archotique, einem Haushaltsroboter, den sie im öffentlichen Datennetz Rudyns bei einer Versteigerung entdeckt und in einer sentimentalen Anwandlung für 50 Solar gekauft hatte. Die 50 Solar waren das Mindestgebot, und niemand außer Patty hatte den Roboter bis zum Ablauf der Versteigerung überhaupt zur Kenntnis genommen. Die Verkäuferin, eine ältere Frau aus Genzez, hatte glaubhaft versichert, er sei versiert in allen anfallenden Hausarbeiten und könne dazu über einhundert Gesellschaftsspiele zur Unterhaltung beisteuern. Patty hatte sich nur kurz im Innern des Müllfrachters umgesehen und spontan entschieden, dass ein Haushaltsroboter eine wahrlich dringende Anschaffung war. Die winzige Pilotenkanzel, die Aufenthaltsräume, die Nasszelle, selbst die Gänge des Müllfrachters waren in einem Zustand, der die Marken unaufgeräumt und verwahrlost längst überschritten hatte und dabei war, sich bedenklich in Richtung seuchengefährdend zu entwickeln. Dazu trug Pattys Abneigung, benutztes Geschirr zu entsorgen, ebenso bei wie ihre Neigung, den jeweils dritten oder vierten Teller ihrer Mahlzeit, den sie nicht mehr ganz leerte, einfach dort abzustellen, wo ihr Appetit sie im Stich ließ. Als die Fliegen und die Gulmen an Bord überhand nahmen, sah sich Patty – nörgelnd, aber notgedrungen – nach einer Abhilfe um. So fand sie Archotique im Angebot des rudynischen Datennetzes und schlug zu. Bei der nächsten Landung in Edbarsk, einem kleinen Frachtraumhafen in Genzez, machten die ältere Frau und Patty das Geschäft perfekt, und Archotique zog als neues, wenn auch inoffizielles Besatzungsmitglied in den Müllfrachter FIFFY ein.

Fortan wurde es an Bord bedeutend wohnlicher, und als willkommener Luxus fand Patty seitdem sogar frische Wäsche und gesäuberte Overalls vor, wenn sie welche benötigte. Der Bestand an Fliegen ging kaum, der an Gulmen spürbar zurück, ein Umstand, den Patty fast bedauerte, denn im Gulmenfangen hatte sie im Laufe der Jahre eine gewisse Meisterschaft entwickelt.

In Punkto Archotiques Haushaltsfunktionen hatte die Verkäuferin nicht übertrieben. Was die hundert Spiele anging, reduzierten sich Pattys Hoffnungen schnell auf ziemlich genau ein Prozent: Nur ein Spiel beherrschte er wirklich einwandfrei. Ausgerechnet Senet, ein Spiel, das Patty seit ihrer Jugend hasste. Es wurde mit Random-Würfeln auf einem Plastboard gespielt, und per Hand mussten Spielsteine bewegt werden. Keine Holotraks, keine Animation, nichts. Nur Archotiques meckerndes Gelächter, wenn er wieder einmal gewann. Er hatte häufig Grund zum Meckern. Eigentlich immer. Bisher hatte Patty jedes Spiel verloren. Scheißkerl, mechanischer.

Es waren vor allem die endlosen Wartezeiten, die ihr auf die Nerven gingen, mehr noch als Archotiques verschrobener positronischer Verstand. Oft musste sie stundenlang in einer der Schubsektor-Buchten ausharren, ehe das letzte bisschen Rechnerschrott, der letzte Klecks STOG-Säure oder anderes wiederverwertbares Zeug endlich im Schubsektor angelangt waren. Patty maß die Wartezeiten inzwischen nicht mehr nach Stunden, sondern nach Senet-Partien. Den Rekord hatte sie vor drei Wochen eingestellt: siebenundvierzig Partien hintereinander. Siebenundvierzig Mal blechernes Gemecker.

Seit kurzem hatte sie den Roboter im Verdacht, dass er sie nach Glas und Faser linkte. Aber sie würde ihm auf die Schliche kommen, weil …

Das Funkgerät sprach an. Anstelle der üblichen Bestätigung der Ladeleitstelle hörte Patty nur ein genervtes Seufzen.

»Willkommen auf der ZUIM, Ms. Ochomsova.«

Patty erkannte den Funker an der honigsüßen Stimme, sie warf nicht einmal einen Blick auf den Schirm. Es war Mitty Kawolski, der Schichtleiter.

»Na, seid ihr wieder wach da oben, ja?«, krähte die Pilotin fröhlich.

»Nun, Ms. Ochomsova, Ihre Ankunft war schwer zu überhören. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass dies Ihre zweihundertvierundachtzigste Kollision mit der ZUIM war. Ein Vermerk geht, wie Ihnen bekannt ist, Ihrer Personalakte zu. Ich bin angehalten …«

»Ich auch, Mitty, ich auch, und zwar im Schubsektor 3-A. Und wenn es nach mir geht, bin ich auch gleich wieder weg. Also sparen wir uns den Sermon. Wie sieht’s denn aus? Wann kann ich los? Ist der Segment-Container voll?« Sie wuchtete ihre Pfunde vor den Monitor und zwinkerte dem Schichtleiter der Ladeleitstelle zu. Die beiden kannten sich seit Jahren und waren so etwas wie gute Freunde, obwohl sie sich noch nie persönlich getroffen hatten. Den Müllfrachtleuten war es grundsätzlich verboten, an Bord der ZUIM zu kommen.

Jetzt war es an Kawolski zu grinsen. »Leider noch nicht ganz. Bedauerlicherweise kam es hier zu … gewissen Funktionsstörungen.«

Für einen Moment war Patty sprachlos. »Funktionsstörungen? Hier auf der ZUIM? Im Stolz der glorreichen Zentralgalaktischen Unionsflotte? Willst du mich veralbern?«

Das Gesicht des Schichtleiters wirkte seltsam grau. Er beugte sich vor und sprach leiser. »Kriegst du denn gar nichts mit auf deiner Müllschleuder? Wir haben Teilalarm. Außerdem sehe ich hier gerade … Moment. Ja, was ist denn?«

Kawolski drehte den Kopf zur Seite, und Patty hörte ihn mit jemandem sprechen, verstand aber kein Wort. Als er sich wieder der Pilotin zuwandte, sah sie die steile Stirnfalte über der Nasenwurzel.

»Verdammt noch mal, Patty, diesmal hast du den Bogen überspannt. Dein kleiner Schubs hat gleich mehrere der SubController geschlachtet. Vier von fünf Vitalscannern in 3-A sind ausgefallen. Ich müsste das eigentlich melden …«

»Bekommt ihr das unbürokratisch wieder hin?«

»Das kostet dich wenigstens drei Familienpackungen mit Schokocreme gefüllter Teighörnchen«, antwortete Mitty Kawolski. »Fresko Balibari nimmt sich der Sache an, aber du schuldest ihm was, Patty.«

»In Ordnung. Bestell Fresko beste Grüße. Was kosten die Teigröllchen in dieser Woche?«

»Du kennst Fresko. Große Nachfrage. Sagen wir – ein halbes K?«

Damit waren 500 Solar gemeint. Kein Pappenstiel für ihren chronisch schmal bestückten Kreditchip, andererseits genug, um sicherzustellen, dass Mitty jede Meldung über die Beschädigung unterdrücken würde. Wahrscheinlich ging die Hälfte des Betrages an den Schichtleiter; wieviel letztlich Fresko erhielt und wieviel für weitere hilfreiche Hände bestimmt war, wollte sie gar nicht so genau wissen.

»Seit wann haben Teigröllchen Blattgoldauflagen?«, widersprach sie dennoch. Ein bisschen was war doch meistens drin. »Mann, Mitty, du kennst meinen Job. Sehe ich aus, als würde ich im Frachtraum Howalgonium stapeln?«

»Und du kennst die Vorschriften, Patty.« Wieder ruckte sein Kopf herum.

»Was? Wieso Schüsse? Moment!«, hörte sie ihn zur Seite rufen. Dann war er wieder bei ihr.

»’tschuldigung, Patty. Hier quillt gerade richtig verpekter Gulmendreck über. Überleg dir’s. Null komma vier. Mein letztes Wort. Haben wir einen Deal?«

Patty hob bestätigend die Hand. »Deal«, sagte sie und schaltete auf den Board-to-board-Data-Stream um. Sie rief ein Überweisungsmenu auf und transferierte die 400 Solar auf das Konto eines gewissen M. Kawolski, ZUIM, Ladeleitstelle, privat. Unter der Rubrik Verwendungszweck trug sie Teigröllchen für Familienfeier und Herzlichen Glückwunsch ein. Dann schaltete sie auf die Sichtsprechverbindung zur Ladeleitstelle zurück.

»Alles klar?«, fragte Patty, als sie auf den leeren Schirm starrte. Die Leitung stand noch, nur Mitty Kawolski saß nicht mehr auf seinem Sessel …

»Sorry, da bin ich wieder«, rief er etwas atemlos. »Ich kann dir nicht sagen, wann du hier loskommst. Sieh dir den Mitschnitt an, dann weißt du warum.« Er überspielte ihr eine Datei; dann beugte er sich bis dicht vor die optische Erfassung und sagte leise: »Pass genau auf. Wenn es dir zu heiß wird, hau sofort ab. Stichwort Paradel-syntho-74-enimo-31-gamma-epsilon-09-maintrance. Hast du’s? Und, wenn du unten auf Rudyn bist, schau dich bitte um, ob das stimmt, was er da sagt. Ich kann’s einfach nicht glauben. Schick mir ’ne Taube, und du hast was gut bei mir.«

Der Schichtleiter schaltete ab.

Patty Ochomsova runzelte die Stirn. Eine Taube war eine inoffizielle Nachricht, die – als Mikroimpuls – an eine offizielle heimlich angehängt wurde. Dabei wurden Navigationsimpulse, Schleusenbefehle, Transponderkennungen, Funkbarkenbestätigungen und dergleichen genutzt, nie tatsächliche Telekomsendungen von oder zum Sphärenrad. Das Betriebs- und Wartungspersonal der ZUIM hielt sich so einen eigenen, von der Schiffsführung unkontrollierten Informationskanal offen, und die Piloten der Müllfrachterflotte waren Teil dieses zwar komplizierten, aber verlässlichen und glücklicherweise bisher nicht aufgeflogenen Nachrichtensystems.

Sie lehnte sich zurück und startete die überspielte Datei.

Nächstes Mal lande ich mit etwas weniger Bumms, nahm sie sich fest vor, während der Schirm hell wurde. Und sie wusste, sie würde sich doch nicht daran halten.

Dann blickte sie in das selbstherrlich lächelnde Gesicht eines Mannes, das sie von unzähligen TriVid-Sendungen her gut kannte.

»Bürger der Union! Hier spricht Kalfaktor Ponter Nastase«, dröhnte die tiefe Stimme des Politikers durch die enge Pilotenkanzel. »Die ZUIM ist mit sofortiger Wirkung in volle Gefechtsbereitschaft zu versetzen. Alle Offiziere begeben sich ohne Verzögerung auf ihre Posten. Sämtliche Freischichten sind bis auf Widerruf ausgesetzt. Es gibt unwiderlegbare Beweise dafür, dass Neife Varidis, die Erste Kalfaktorin des Geheimen Kalkulationskommandos, einen Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung der Zentralgalaktischen Union geplant und vorbereitet hat. Auf Rudyn haben die fanatisierten Handlanger der Kalfaktorin bereits damit begonnen, die Saat des Bösen zu legen. Aus verschiedenen Stadtteilen in Genzez werden Explosionen gemeldet. Selbst vor einem Sturm auf das OPRAL schrecken die Umstürzler nicht zurück. Bürger der Union! Als Vertreter der Regierung versichere ich Ihnen, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um diese schändliche Tat zu sühnen und die Verräterin an den hohen Idealen der Union ihrer gerechten Strafe zuzuführen.«

Fassungslos starrte Patty auf den von einem flirrenden Metallkokon fast vollständig umgebenen Schädel. Violettrötliche Flecken verunzierten die Wangen.

Während der Wissenschafts-Kalfaktor weitersprach und sich in ein schier unerträgliches Pathos hineinsteigerte, verstand Patty plötzlich die kryptischen Andeutungen Kawolskis.

»… wir sehen einer schwierigen Zeit entgegen, und die kommenden Tage werden uns ein Höchstmaß an Vertrauen in die Werte unserer traditionsreichen Nation abverlangen.«

O du heilige Scheiße, dachte Patty. Bloß weg hier! Und zwar hurtigen Schenkels.

Sie gab den Kode ein, den ihr Mitty verraten hatte.

Paradel-syntho-74-enimo-31-gamma-epsilon-09-maintrance.

Damit öffneten sich die Feldkrallen der Schubsektorbucht.

Zumindest hätten sie sich öffnen sollen. Die Traktorblöcke außerhalb der Schute glühten stattdessen weiterhin in fahlem Blau.

Der Docking-Monitor zeigte Access denied.

Ponter Nastases Ansprache war zu Ende.

Ihre FIFFY rührte sich um keinen Millimeter.

Sie aktivierte mit fliegenden Fingern erneut die Verbindung zur Ladeleitstelle. »Mitty!«, rief sie erschrocken. »Mitty, was …?«

Sie vergaß ihre Frage, als sich das Bild aufgebaut hatte. Sie sah einen leichenblassen Mitty Kawolski wie tot im Sessel liegen. Blut tropfte von seiner Stirn. Ein Strahlschuss hatte ihm einen Teil seiner Haare versengt. Ein langer Riss verlief quer über seine grauuniformierte Brust.

»Verschwinde«, keuchte er. »Überbrückung – jetzt!« Mit letzter Kraft ließ er seine Hand auf eine Sensorfläche fallen. Dann rutschte er aus dem Sessel und aus dem Erfassungsbereich der Verbindungskamera. Das Access-denied-Signal erlosch. Die Traktorblöcke in der Dockingbucht jenseits der Glassitkanzelfenster wurden stumpf.

Ob Mitty sein Leben verloren hatte, wusste Patty nicht.

Sie hatte ihres noch. Und sie wollte es verflucht nochmal behalten.

Scheißleben, biologisches.

Sie wischte eine Strähne ihres filzigen Haares aus der Stirn und aktivierte die Notstartsequenz. Der Meiler im unteren Teil des Müllfrachters erwachte brüllend zum Leben. Patty übernahm die Schute in Handsteuerung.

Mit einem Ruck zog RGC-06 das Scheiben-Segment des Containers aus der Dockingbucht. Metall kreischte, Spuren von gefrorener Atmosphäre und abgeriebenen Außenhautsplittern wirbelten im Licht der grellen Ladescheinwerfer der Schubsektorbucht davon.

Etwas fiel um und polterte dumpf im Inneren des Containers – Patty konnte die Vibrationen bis vorn in der Pilotenkanzel spüren.

Einer der Grünbalken wurde kürzer und wechselte seine stete Farbe zu nachhaltig blinkendem gelb.

»So eine dreimal verfluchte Scheiße!«, quetschte Patty Ochomsova aus dem Mundwinkel hervor.

Hinter dem Frachter blieb die ZUIM zurück.

Majestätisch langsam drehten sich die vier Ringe des Sphärenrades ineinander, ein verwirrender und zugleich ungemein schöner Anblick, dem Patty normalerweise eine halbe Stunde Aufmerksamkeit geschenkt hätte, obwohl sie ihn in der Woche dreimal sah. Jetzt warf sie nicht einen einzigen Blick auf den Heckbildschirm.

Die ZUIM – und das, was derzeit auf dem neuen Flaggschiff der Union vor sich ging – war nicht länger ihr Problem.

Sie kämpfte gegen entnervend gelbblinkende Balken.

Kontamination!, stand daneben. Schadenseskalation wahrscheinlich. Persönliche Inaugenscheinnahme dringend erforderlich.

»Warnung!«, erklang die Stimme der Schiffspositronik. Mit einem Fluch schaltete die Pilotin die Internakustikfelder auf Mute.

»Archotique!«, brüllte sie nach hinten. »Bring mir meinen Raumanzug. Und zwar schnell.«

Sie programmierte einen Anflugkurs auf Rudyn, aktivierte den Autopilot und wuchtete sich schweratmend aus dem Pneumokontursessel.

Die Borduhr zeigte den 15. September 3102, 16:49:13 Standardzeit.

Nimm, was du hast und mach was draus

Atlan; Gegenwart

Die Minuten streckten sich zur Ewigkeit.

Wir warteten. Das Geräusch unseres Atems machte die Stille im Inneren des Segment-Containers nur noch intensiver. Und bedrückender. Wir warteten. Und keinem von uns fiel es leicht. Noch zitterten mir und gewiss auch den anderen die Muskeln von der gerade hinter uns liegenden Anstrengung. Noch schmerzten die Lungen von der Gluthitze des überstandenen Gefechts. Noch – seltsam genug – lebten wir. Und warteten.

Oderich Museks Atem kam stoßweise. Der durch den herabgefallenen Stahlträger verletzte Mann hielt sich die Rippen und lag ausgestreckt auf einem einigermaßen weichen Haufen aus Verpackungsmaterial. Über ihm glomm eine Art Notbeleuchtung an der Wand.

Wir anderen hockten neben Musek auf einer offenen, mehrere Meter durchmessenden Wanne, die mit losem Wartungsschrott bis an den Rand gefüllt war.

Graue Schatten waren wir, gestrandet auf einer Insel aus Kabelresten, ausgetauschten Ersatzteilen, defekten Synthetikfetzen, Metallspänen, eingerissenen Plastverkleidungen, Dämmfolien und anderem, größtenteils nicht identifizierbarem Techno-Gerümpel. Zu meinem Erstaunen erblickte ich zwischen fortgeworfenen Lesespulen in einer Ecke ein schmutziges Handtuch. Es war einmal hellblau gewesen und trug die merkwürdige eingestickte Inschrift Verzage nie.

Überall stapelten sich Fässer und Plastiktonnen undefinierbaren Inhalts, Metallkisten und sonstige Behältnisse aller Art. Daneben lagen defekte Roboterteile, fehlgeschweißte Metallplatten und verkrustete Farbsprühflaschen, vorwiegend in grau und dunkelrot. Es sprach für die Union, dass sie das Zeug nicht einfach in den Weltraum kippten, sondern auf Rudyn einer Verwertung zuführten.

Trilith Okt atmete gleichmäßig und tief Sie hatte eine Sitzhaltung eingenommen, um keshan’ma zu absolvieren, eine Dagor-Atemübung zur raschen Regeneration.

Neife Varidis sog die Luft tief ein. Das lange, weite graue Kleid der Geheimdienstchefin verschmolz mit den Schatten ringsum zu einem konturlosen Fleck.

Sie streifte mich immer wieder mit ihrem Blick. Meine Gegenwart – die Anwesenheit des Lordadmirals der United Stars Organisation – in der Höhle des Löwen, im Zentrum der Zentralgalaktischen Union und damit im Hoheitsgebiet einer fremden, mehr oder weniger feindlich gesinnten Macht, hatte sie vor kurzem als immens hohes Risiko bezeichnet.

Sie nannte es ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, präzisierte der Extrasinn. Ihr seid euch ähnlich; sie neigt wie du zu Untertreibungen.

Ich verzichtete auf eine Antwort. Es wäre sinnlos gewesen, die Wahrheit abzustreiten.

Falls man mich entdeckte und bloßstellte … Die Nachricht hierüber würde durch die ganze Milchstraße eilen und in einigen Teilen für Schadenfreude und Heiterkeit, in anderen für Verärgerung, in den restlichen für Provokation sorgen. Perry Rhodan jedenfalls wäre nicht erfreut; das politische Erdbeben, das meine eigenmächtige Vorgehensweise zweifellos auslöste, würde etliche Friedensbestrebungen des Solaren Imperiums und nicht unerhebliche diplomatische Erfolge der terranischen Politik der letzten Monate zunichte machen.

Immerhin … Neife Varidis hatte meine ohnehin dürftige Tarnung mit Leichtigkeit durchschaut – und mich nicht verraten. Es war ein Anfang einer Annäherung, wenn auch ein aus der brenzligen Situation heraus geborener und darum zerbrechlich dünner Beginn. Offiziell waren die USO und das Geheime Kalkulationskommando Gegner in einem kalten Krieg. Meine Spezialisten und ihre Mitarbeiter im Außendienst tanzten auf der galaktischen Bühne seit Jahren einen verwirrenden, teilweise absurden Reigen, dessen Schritte Belauerung, Übervorteilung, Zurückweisung und Irreführung hießen.

Auch wenn die USO seit ihrer Gründung eine überparteiliche Organisation darstellte und als eine Art überstaatliche Polizei jedem redlichen, potenziell Hilfesuchenden zur Seite sprang, so galt sie in den Augen von Männern wie Nos Vigeland, Runeme Shilter und Terser Frascati doch seit dem Zusammenbruch der Galaktischen Allianz als reiner Appendix des Solaren Imperiums; zumal die USO mit der Hälfte des Gewinns der irdischen General Cosmic Company finanziert wurde. Das alte Bild des loyalen Hundes: »Wes’ Brot ich fress’, des’ Hand ich leck’.« Der normonische Diktator Shalmon Kirte Dabrifa bezeichnete mich deshalb in den Medien gern als den Bluthund und Speichellecker Rhodans, und in dasselbe Horn stieß seit einigen Jahren auch ein gewisser Ponter Nastase.

Man könnte zu dem Schluss kommen, wisperte der Extrasinn, alle nichtterranischen Zellaktivatorträger verlören mit der Zeit den Verstand. Die einen früher, die anderen später. Ponter Nastase bestätigt diese Annahme ein weiteres Mal.

Ich schüttelte den Kopf. Du vergisst, dass auch ich ein Nichtterraner bin.

Ich vergesse nie etwas, kam es mental zurück. Hältst du deinen gegenwärtigen Aufenthaltsort etwa für das Ergebnis geistig klar getroffener Entschlüsse?

Damit hatte mich der Logiksektor in der Zwickmühle. Wenn ich ja sage, habe ich den Verstand verloren, richtig? Wenn ich nein sage, erklärst du mich für unzurechnungsfähig?

Ein einfaches Narr genügt vollauf, lautete die Antwort.

Schön, der Narr bekennt sich schuldig im Sinne der Anklage; und was also rätst du mir?

Für einen Moment schwieg mein zweites Ich.

Besinne dich wieder mehr auf dich selbst, führte die wispernde Stimme den mentalen Dialog fort. Bisher bestimmte Trilith Oktweitestgehend dein Handeln. Wie wenig du ihr dabei vertrauen kannst, sollten dir die letzten zwei Stunden deutlich vor Augen geführt haben. Sie ist unberechenbar. Und bar jeder Moral. Wie viele Tote willst du noch mitverantworten?

Ich wollte diese Morde nicht, gab ich aufgebracht zurück. Und du weißt das genau.

Mitgehangen, mitgefangen, Arkonide. Davon abgesehen: Bring zunächst Neife Varidis heil aus dieser misslichen Lage heraus. Sie kann der kommende Garant einer gemäßigten, vielleicht sogar terrafreundlichen Politik einer zukünftigen ZGU-Regierung sein, eventuell sogar die neue Regierungschefin. Der Zellaktivator läuft dir nicht weg. Ponter Nastase kann es sich zu diesem Zeitpunkt nicht leisten, das Ephelegon-System zu verlassen. Seht zu, auf Rudyn ein geeignetes Versteck für die Frau zu finden, und dann mache dich daran, Nastase zu stellen. Und hüte dich vor Triliths Unberechenbarkeit.

Die Frist hingegen läuft.

Du hast Zeit genug, widersprach der Extrasinn. Erst mit dem Ablauf des 22. September hat sich Nastases Körper auf die Zellaktivierungsschwingungen eingestellt, und erst dann verurteilst du ihn zum Tode, wenn du ihm den Aktivator abnimmst. Du hast mithin noch sieben Tage Zeit.

Also ganz einfach. Ich würde nur einen Weg zurück zur ZUIM finden müssen. Vielleicht führte das Kalfaktat für Kriegswesen ja Besichtigungstouren ihres Flaggschiffs durch.

Mein beißender Spott ließ den Extrasinn kalt. Neife Varidis wird dir helfen, wenn du ihr jetzt hilfst. Sie kennt sicher Mittel und Wege …

Die mentale Impulsfolge brach ab.

Ein durchdringendes Rumoren pflügte heran und verdrängte die Stille. So klangen nur Schiffsmeiler, die unter Extrembedingungen auf Volllast hochgefahren wurden. Aufkommende Vibrationen machten jede Verständigung unmöglich. Es schepperte und klapperte in den Kisten, Kästen und Kanistern, dass es in den Ohren wehtat.

Trilith sprang auf und griff unwillkürlich zu dem Vibromesser an ihrem Gürtel.

Auch ich erhob mich und behielt die runde Containeröffnung im Auge, durch die wir uns in das Innere gerettet hatten.

Neife Varidis beugte sich besorgt zu Oderich Musek hinunter. Ich sah, wie sie dem Mann eine Haarsträhne aus dem schmerzverzerrten Gesicht strich.

Ein metallisches Kreischen übertönte jäh alle anderen Geräusche. Etwas dröhnte dumpf; ich fühlte es mehr unter den Füßen als ich es hörte; dann fuhr ein Ruck durch den Müllfrachter, der mich und Trilith ins Schwanken brachte.

Die Andruckabsorber des Segment-Containers oder die des Müllfrachters gehören selbst verschrottet, schoss es mir durch den Sinn.

Die Chefin des GeKalKo richtete sich halb auf; dann erbleichten ihre Züge. Sie starrte schräg nach oben. Ich folgte ihrem Blick und wollte eine Warnung rufen; doch in dem infernalischen Lärm, wenn Metall über Metall schrammte, wäre sie untergegangen.

Auf einem der Stapel war durch die Vibrationen ein Fass ins Rutschen gekommen. Es tanzte auf seinem eigenen unteren Rand. In der Mitte dazwischen prangte das orangefarbene Symbol für ätzende Chemikalien.

Das etwa einen Meter hohe Metallfass neigte sich und fiel.

Ich befand mich zu weit fort, um noch rechtzeitig reagieren zu können. Trilith stand näher, doch sie rührte sich um keinen Zentimeter. Neife Varidis warf sich dem Fass schräg von unten entgegen. Aber weder der Winkel, in dem sie hochfuhr, noch die Kraft, die sie aus dieser Position heraus entfalten konnte, reichten aus, um die Gefahr vollständig zu bannen. Ihre Schulter traf etwa an der Stelle auf das Fass, an der das warnende Symbol auf der Reflexfolie schimmerte. Die Frau zog instinktiv den Kopf ein. Die Metalltonne änderte die Fallrichtung, rollte über ihren Rücken und krachte auf den Rand der Wanne.

Torkelnd polterte es auf den Boden und rollte bis zur Wand.

Es hatte keinen Deckel mehr. Und es war nicht leer.

Ein erster Schwall einer widerlich dunkelgelben Flüssigkeit schwappte aus dem Inneren, als Neifes Schulter die Tonne berührte; ein zweiter, mächtigerer folgte, als das Fass den Wannenrand traf. Die ätzende Substanz ergoss sich über den Wartungsschrott. Weißliche Schwaden zeigten die beginnende chemische Reaktion. Beißende Schärfe lag plötzlich in der Luft. Oderich Musek lag da wie versteinert – ihm war dank der schnellen Reaktion der Geheimdienstchefin nichts geschehen.

Neifes Gesicht war schmerzverzerrt.

Hören konnte ich noch immer nichts. Der Meiler wummerte weiterhin; das Kreischen brach endlich ab.

Sie hielt ihr Gesicht mit beiden Händen. Zwischen den Fingern dampfte es heraus. Handtellergroße Stellen an ihrem Kleid und der Unterwäsche hatten sich in Windeseile aufgelöst; offenbar reagierte der Fassinhalt extrem schnell mit den synthetischen Bestandteilen ihrer Kleidung. Ich sah rote Flecken auf der Haut ihrer teilweise entblößten Brust entstehen.

Sie sackte auf die Knie. Und schrie.

Ich langte nach dem schmuddeligen Handtuch und prüfte in aller Eile, ob es von der Säure benetzt worden war. Es war glücklicherweise trocken. Ich streifte meine Jacke herunter und wickelte mir die Ärmel als Handschutz um die Finger. Dann kniete ich mich neben die zitternde Frau und tupfte ihr soviel von der Chemikalie weg, wie es eben nur ging. Was sie am Oberkörper an Kleidungsresten noch trug, riss ich herunter und warf es fort. Als das Handtuch mir unter den umwickelten Händen zu zerfallen drohte, warf ich es hinterher.

Trilith stand hinter mir und beobachtete teilnahmslos, was ich tat.

»Du kannst dich nützlich machen«, fuhr ich sie an, immer noch wütend über den regelrechten Blutrausch, dem sie in der ZUIM verfallen war. »Hol Wasser, Trilith! Hier muss es irgendwelche Tanks oder eine Hygienezelle geben. Mach dich auf die Suche!«

Die Kämpferin wendete sich wortlos ab und verschwand hinter einem umgestürzten Stapel aussortierter Toilettenschüsseln.

»Damit werden Sie kein Glück haben … Koramal«, hörte ich Oderich Musek gepresst sagen. »Diese Container haben zwar ein Minimallebenserhaltungssystem, aber keinerlei Komfort. Es gibt hier keine sanitären Anlagen, nicht mal einen Wasseranschluss. Nur künstliche Schwerkraft und Atemluft. Um an Wasser zu gelangen – und an ein Medopack – müssen Sie versuchen, mit dem Piloten des Frachters Kontakt aufzunehmen. Der Flug zurück nach Rudyn dauert Stunden. Solange hält es Neife ohne Hilfe nicht aus.«

Du aber auch nicht, dachte ich und kniff die Augen zusammen, als ich sein schweißnasses Gesicht sah. Sein fliegender Puls und die Blässe ließen mich mehr als nur Prellungen und Rippenbrüche befürchten. Das sah mir sehr nach inneren Blutungen aus. Musek brauchte einen Mediker mindestens so schnell wie Neife Varidis.

Es knackte und zischte in der Wanne, die den größten Teil der ätzenden Flüssigkeit aufgefangen hatte. Die kontaminierte Luft reizte die Atemwege. Ich unterdrückte ein Husten.

Trilith kam wieder zu uns und warf mir einen undefinierbaren Blick zu. Ihre Lippen hatten eine dunkelgrüne Färbung angenommen. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Ich streckte die Hand aus. »Gib mir dein Messer.«

Mit einer einzigen Bewegung zog sie die Vibroklinge aus dem Gürtelfutteral. Ich schnitt die säuregetränkten Ärmel von meiner Jacke und warf sie zu den anderen Stoffresten; dann bedeckte ich mit dem ärmellosen Kleidungsstück Neifes zitternden Oberkörper. Ich reichte Trilith das Messer zurück. Neben einem defekten Roboterleib entdeckte ich eine leere Kabeltrommel. »Das runde Ding da – roll es mir bitte herüber.« Trilith tat wie geheißen; gemeinsam legten wir Neifes Füße darauf hoch. Ein zusammengeballter Folienhaufen bildete ein improvisiertes Kissen.

Neife stand fraglos unter Schock. Ich streifte meinen Zellaktivator ab und legte ihn ihr vorsichtig auf die Brust. Obwohl das Geschenk der Superintelligenz ES ausschließlich auf meine Zellschwingungen geeicht war und es keinem anderen Träger die Unsterblichkeit verleihen konnte, erlaubte es mir die fremde Technik doch, dass ich es anderen zu Heilzwecken in zeitlich begrenzten Maßen aushändigen durfte. Ganz so, als wüsste das taubeneigroße Gerät, dass ich jemandem damit helfen wollte. Wie schon hunderte Male zuvor sandte der Zellaktivator auch jetzt verstärkt belebende Impulse aus, kaum dass er auf dem verletzten Körper ruhte. Ich spürte das pochende Pulsieren, als ich nach Neifes Pulsschlag tastete. Sie hörte auf zu schluchzen und biss sich stattdessen auf die Lippen. War das ein Zeichen der Besserung? Eher nicht. Ich richtete mich auf.

»Wir müssen hier raus«, sagte ich entschieden. »Hat jemand eine Idee, wie wir dem Piloten ein Zeichen geben können?«

»Versuchen Sie es mit einem SOS«, sagte Musek. Seine Stimme wurde mit jedem Wort matter. »Unsere Raumpiloten lernen es immer noch.«

»Was ist ein Esso … es?«, fragte die Psi-Kämpferin.

»Ein altterranisches Klopfzeichen«, kürzte ich alle Erklärungen ab. »Ein Rhythmus: Kurz-kurz-kurz, Lang-lang-lang, Kurz-kurz-kurz.«

Trilith Okt griff sich ein zentimeterdickes Stahlrohr von anderthalb Metern Länge und ging wortlos hinüber zu der Mannschleuse, die der runden Öffnung, durch die wir gekommen waren, gegenüberlag.

Mit wuchtigen Schlägen hämmerte sie das wahrscheinlich lauteste Morsesignal des 32. Jahrhunderts in die sich rasch mit Beulen übersäende Schleusennische.

Erfolg durch Miteinander

Ponter Nastase; Gegenwart

Es war noch leichter gegangen als angenommen. Und, soweit es steuerbar war, nach Plan. Natürlich gab es Unsicherheitsfaktoren. Nur das Universum in seiner Gesamtheit erfüllte diesen letzten Grad an erhabener Perfektion; alle Einzelteile wiesen per definitionem Grenzwerte oder blinde Flecken auf, die immer nur eine Annäherung an das Ideal zuließen. Das Ganze war eben immer mehr als die Summe seiner Teile. Dennoch: Jeder Erfolg war letzten Endes die Folge sorgsamer Vorbereitung und Planung. Gute Szenaristen bezogen auch Unvorhersehbares in ihre Pläne mit ein. Dabei war es zweitrangig, zu wissen, was da unerwartet eintreten würde. Wichtig war allein, zu wissen, dass es eintreten konnte – und höchstwahrscheinlich auch würde. Wer dies erst einmal verinnerlicht hatte und danach handelte, dem gelangen selbst wirklich große Aufgaben mit fast spielerischer Leichtigkeit. Ponter Nastase saß hinter seinem Schreibtisch auf dem kolossalen Sessel, den seine Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nur Thron nannten, und verzog verächtlich die Lippen.

Niemand, dachte er, plant zu versagen, aber die meisten versagen beim Planen. Deshalb gab es seiner Ansicht nach auch nur exakt zwei Klassen von Intelligenzwesen in diesem Universum: Jene, die die Dinge vorantrieben und jene, die sich treiben ließen. Meist von Angehörigen der ersten Gruppe. Nun, er hatte nicht versagt und beabsichtigte es auch weiterhin nicht. Und erst recht nicht, sich von wem auch immer irgendwohin treiben zu lassen. Das betraf auch ein Wieder-Vertreiben von der Alleinherrschaft über die Zentralgalaktische Union. Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermochte ihm niemand mehr diese Führungsrolle streitig zu machen. Alles war eben eine Folge umsichtiger und ergebnisorientierter Planung. Und des Mutes, diese Pläne zu verwirklichen.

Ponter Nastase hatte beides in die Waagschale geworfen.

Die Erfolgsmeldungen des Krisenfalls Sturmwind trafen ununterbrochen und chaotisch ein. Dank der Zuspielungen des Omniports kontrollierte der siebenundachtzigjährige Kalfaktor für Wissenschaften nahezu in Echtzeit, wie Deck um Deck, wie Sphäre um Sphäre der ZUIM in die Hände des Wissenschaftlichen Überwachungskorps fielen. An allen neuralgischen Punkten übernahmen vertrauenswürdige Offiziere des Wissenschaftlichen Korps den Befehl. Ganz selten zeigte sich Widerstand, und wenn, dann nur halbherzig, ein Aufbegehren, das von den Soldaten schnell niedergeschlagen wurde und meist sogar, ohne dass von den Waffen Gebrauch gemacht werden musste.

Allein die Bereiche, in denen Agenten des GeKalKo, des Geheimen Kalkulationskommandos, ihren Dienst verrichteten, waren etwas kritischer. Dies betraf in erster Linie die Beiboote, allen voran die Sphärendreher, die auf Neife Varidis’ Anordnungen hin einen permanenten Beobachter des GeKalKo an Bord hatten nehmen müssen; des weiteren die betroffenen Hangars, die Hochkantschleusen und die umliegenden Quartiere der Beibootbesatzungen in der vierten, der äußeren Sphäre. Da bis auf die TRADIUM alle Sphärendreher eingeschleust waren, bereitete der Zugriff auf die sogenannten Mitarbeiter im Außendienst keine nennenswerten Schwierigkeiten.

Einzig die acht Agenten, die für den persönlichen Schutz von Neife Varidis abkommandiert waren, hatten – wie erwartet – das Leben der Chefin des GeKalKo ebenso mutig wie sinnlos mit ihrem eigenen zu verteidigen gesucht – und waren selbstverständlich gescheitert. Selbst die Beschädigungen innerhalb der ZUIM hatten im Laufe der Kampfhandlungen ein zu vertretendes Maß nie überschritten. Nur in Sphäre 4, wo man nahe der Schubsektoren die Geheimdienstchefin und ihre Regeleskorte gestellt hatte, herrschte vorübergehendes Chaos. Das Hauptdeck benötigte über vier Sektoren hin eine Generalüberholung. Aber auch das war eine Sache von Stunden, schlimmstenfalls von Tagen, die eine Hundertschaft Werftrobots erledigen würde.

Somit war auch hier alles glatt verlaufen. Alles bis auf den einen entscheidenden Fakt. Es gab keine Leichen. Zumindest nicht die eine, auf die es ankam. Genau der Körper fehlte, auf den er mit zornesbebendem Finger deuten konnte: »Seht her, hier liegt die Schuldige! Sie hat ihre gerechte Strafe erhalten.« Der fast zwei Meter große Mann in der Amtsrobe der Kaltaktoren stieß einen Fluch aus. Er wollte es immer noch nicht restlos glauben.

Wütend schaltete er den Kanal zu seinem Adjutanten frei.

»Was ist denn nun?«, bellte er. »Haben Sie irgendeine Spur der Varidis gefunden?«

In einem der Holofelder des Omniports erschien das Gesicht Kikomo Akubaris.

Der Asiat im Rang eines wissenschaftlichen Beraters verneigte sich. Er trug einen Raumanzug, dessen Helm im Nackenwulst zusammengefaltet war. Offensichtlich hatte er sich persönlich in die zerstörten Bereiche begeben, in denen immer noch eine mörderische Hitze vorherrschte. Akubari glättete sich mit der behandschuhten Hand die schwarzen Haare. »Ich bedauere außerordentlich, Sir. Leider nein. Ich habe die fraglichen Bereiche der ZUIM hermetisch verriegeln und anschließend jeden Korridor und jeden Raum mehrfach durchsuchen lassen. Weder von Neife Varidis noch von ihrem persönlichen Berater fand sich auch nur eine Spur. Jedenfalls keine, die größer ist als die von einzelnen Körperzellen. Mehrfach bestätigte DNA-Scans weisen zweifelsfrei aus, dass sich beide Personen im Bereich der Schubsektoren 5 bis 2 aufgehalten haben. Alle Bildaufzeichnungen des Handgemenges sind infolge der Kampfhandlungen ausgefallen, leider gleich zu Beginn – ein Schuss zerstörte eine Pufferdatenbank. Dennoch arbeiteten die Vitalscanner einwandfrei und lieferten bis Zeiteinheit 16:19 die Individualechos der kämpfenden Parteien. Im nächsten Moment verschwanden vier der Echos von den Schirmen. Zu dieser Zeit wurden in Schubsektor 3-A Thermowaffen eingesetzt. Wir arbeiten noch an der Rekonstruktion, Sir, kommen aber nach der momentanen Sachlage zu dem Schluss, dass die Zielobjekte Varidis und Musek mit hoher Wahrscheinlichkeit mehreren direkten Thermostrahltreffern ausgesetzt waren.«

Damit, dachte Ponter Nastase, hat sich das Problem Neife Varidis buchstäblich in heiße Luft aufgelöst. Nicht unbedingt zufrieden, aber auch nicht unerfreut über das Ergebnis nickte er kurz. »Machen Sie den Idioten ausfindig, der die Freigabe für den Einsatz von Thermostrahlern an Bord erteilt hat«, verlangte er. »Lassen Sie ihn die nächstliegende Schleuse putzen – bei geschlossenem Innen- und offenem Außenschott.«

Kikomo Akubari verneigte sich abermals und verharrte in dieser Position, bis der Anrufer das Gespräch von sich aus beendete.

Nicht exakt der Tod, den ich ihr zugedacht habe, dachte der hagere Mann und tastete unbewusst nach der Erhebung auf seiner Brust. Andererseits – dem Tod war es völlig egal, in welcher Form er seine Ernte hielt. Bei Abstrahlleistungen von bis zu 250.000 Megawatt entstanden im Auftreffbereich thermische Werte, die um etwa das achtfache höher lagen als die Oberflächentemperatur einer Sonne des G-Typs. Mehrere direkte Treffer verdampften jede organische Materie zu einer Wolke aus glühendheißem Nichts. Kein Wunder, dass nur geringe DNA-Reste von der einstigen Geheimdienstchefin und ihrem ebenso aalglatten wie angegrauten Galan zurückgeblieben waren.

Ponter Nastase schaltete andere Kanäle seines Omniports frei und konzentrierte sich auf die rudynischen Einzelteile seines Machtergreifungspuzzles.

Die gelenkten Unruhen hatten in zwei Bombenanschlägen auf seinen eigenen Dienstsitz einen vorläufigen Höhepunkt gefunden. Ein Sprecher des Senders GenSky entrüstete sich über die Machenschaften einer Neife Varidis, die auch vor brutalem Terror nicht zurückschreckte. Bilder eines brennenden Gleiters und eines völlig verwüsteten Parkabschnitts untermalten den Bericht. Glücklicherweise, fuhr der Kommentator fort, sei das Ziel beider Anschläge, der Ehrenwerte Kalfaktor für Wissenschaften, Ponter Nastase, zum Zeitpunkt des feigen Attentats nicht im Ambar Temnyj, seinem Dienstsitz im OPRAL anwesend gewesen. Er habe vielmehr rasch gehandelt und die wichtigste Waffe der Union, das Sphärenrad ZUIM, vor dem Zugriff der machtbesessenen und inzwischen ihres Amtes enthobenen Geheimdienstchefin bewahren können.

»Unser aller Dank gilt wieder einmal Ponter Nastase, der sich auch in dieser Krise als der Mann der Stunde zeigte, und der sich vorbehaltlos und wie immer vorbildlich in den Dienst unserer Unionsgemeinschaft gestellt hat. – Bleiben Sie aufmerksam. Gero Gurebeler für GenSky.«

Dem hageren Mann in der im Orbit schwebenden ZUIM war der Name des Journalisten bisher unbekannt. Er nickte beifällig und machte sich eine Notiz.

Marco Fau, der Kalfaktor für Kriegswesen, meldete sich direkt aus dem OPRAL, dem Regierungssitz der Zentralgalaktischen Union. »Alle Dispositionen sind gesichert«, lautete sein Bericht. »Wie erwartet, widersetzten sich sechs der zwölf Kalfaktoren, die sich derzeit von mir abgesehen noch im OPRAL aufhalten. Mit ihrer Gegenwehr gestanden sie ihre Schuld und ihre Beteiligung an der geplanten Varidis-Verschwörung ein. Der Widerstand konnte erfolgreich niedergeschlagen werden.« Auf mehreren vor Nastases Augen schwebenden Holoflächen liefen die während der Zerschlagung eingefangenen Bildsequenzen ab. Er nickte; die meisten Aufnahmen waren propagandatauglich.

»Die sechs abtrünnigen Kalfaktoren starben bedauerlicherweise in den jeweiligen Feuergefechten, die sie selbst entfacht hatten. Damit sind namentlich tot: Thereme Eisenstein, Aola Birr, Ante Cihajic, Nuno Gaosch, Emente Zaro und Caryn Lassberg. Lediglich der Generalkalfaktor Aquium Namastir ergab sich den Sicherheitskräften.«

»Lasst ihn einige Stunden schmoren; dann bringt ihn zu mir.«

Fau bestätigte und kniff ein Auge zusammen. »Die fünf übrigen Kollegen stehen ebenfalls unter starkem Verdacht, an der Verschwörung mit beteiligt gewesen zu sein. Sie sind als potenzielle Hochverräter eingestuft worden. Oriens Malsaque, Reorg Raaderbrecht und Nanny Dollingar konnten leider entfliehen.« So, wie er das Wort leider betonte, machte er deutlich, dass die Flucht der drei Kalfaktoren gewollt und absichtlich inszeniert war – eben exakt nach Plan.