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Der Schwarze Tod hat seine Armee um sich gesammelt, und die nähert sich unaufhaltsam der Hauptstadt von Atlantis. Doch der Schwarze Tod will die Stadt nicht erobern und die Menschen dort unterjochen, wie es sein Herr Arkonada und die Großen Alten von ihm verlangen! Er will zerstören, vernichten und morden! Auch der Magierdämon Myxin und der Höllenfürst Asmodis mischen mit - aber sie verfolgen ihre eigenen finsteren Pläne. Und mittendrin in diesem Chaos aus magischer Gewalt und teuflischen Intrigen kämpfen die junge Kara und ihr Geliebter ums nackte Überleben!
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titel
Schlacht um Atlantis
Impressum
Atlantis
LEGENDEN
Schlacht um Atlantis
von Ian Rolf Hill
Das Gesicht der Erinye verzog sich in namenlosem Schrecken, als sie mich mit hoch erhobenem Schwert auf sich zustürmen sah.
Ich kannte dieses Gesicht aus einem Traum. In dem hatte sich die Erinye als meine Mutter ausgegeben – und sich als blutsaufendes Ungeheuer entpuppt!
Doch sie konnte mich nicht mehr täuschen. Ich wusste, dass sie eine Dämonin aus der Wüste der Gesichtslosen war. Myxin der Magier hatte es mir bestätigt, und eben hatte ich sie noch zusammen mit Asmodis beobachtet!
Asmodis, der Dämonenfürst! Er machte sich meine Sehnsüchte und Hoffnungen zunutze. Wahrscheinlich wollte er auf diese Weise an das Schwert mit der goldenen Klinge gelangen!
Schon einmal hatte Asmodis versucht, mich zu beeinflussen. Vor wenigen Tagen in Patros’ Dorf, am Fuße der Berge. Vater und Haro hatten das verhindern können. Deshalb griff er jetzt offenbar zu einer weiteren List.
Doch Myxin hatte mich gewarnt, und ich hatte das Goldene Schwert bei mir!
Es würde dem Dämon die Maske vom Gesicht reißen!
All dies schoss mir innerhalb eines Herzschlags durch den Kopf, während ich auf die Erinye eindrang und noch im Laufen mit dem Schwert zuschlug.
Der Hieb ging ins Leere, denn die Dämonin wich gedankenschnell zurück.
Dann wollte die feige Bestie die Flucht ergreifen, übersah aber eine aus dem Boden ragende Wurzel, stolperte und fiel.
Wehrlos lag sie vor mir und riss den Arm vors Gesicht. Ich holte erneut mit dem Schwert aus.
»Stirb!«, schrie ich und ließ die goldene Klinge auf die Erinye herabsausen.
Das war zumindest meine Absicht, doch dazu sollte es nicht kommen.
Innerhalb eines Wimpernschlags schien das Schwert ein Vielfaches seines ursprünglichen Gewichts zu wiegen.
Ich konnte die Klinge nicht mehr anheben und wankte zurück. Das Goldene Schwert, schwer wie ein Felsblock, glitt mir aus den Händen und bohrte sich mit der Spitze in den Boden.
Fassungslos starrte ich es an. Dann huschte mein Blick zwischen ihm und der Erinye hin und her.
Die Dämonin hatte sich aufgesetzt und sah mich verwirrt an. Verwirrt und ängstlich, aber nicht im Geringsten feindselig.
Nur eine Täuschung? Eine List, um mich in Sicherheit zu wiegen?
Doch das Schwert mit der goldenen Klinge ließ sich nicht täuschen. Es hätte die Erinye vernichten müssen, stattdessen hatte es mir den Dienst verweigert, und das konnte nur eines bedeuten: Die Frau vor mir war keine Dämonin, sondern ein Mensch!
Handelte es sich wirklich um meine Mutter?
Nur wer rein im Herzen und gerecht im Handeln ist, darf das Schwert mit der goldenen Klinge führen. So hatte Vater es mir erklärt. Dämonen und Götzendiener waren dazu nicht imstande. Selbst Menschen mit finsteren Absichten nicht.
Patros, der Vorsteher des Bergdorfes, war sogar von der Klinge verbrannt worden, als er versucht hatte, meinen Vater mit dem Schwert zu enthaupten.
Doch das war offenbar nicht alles. Die Klinge widersetzte sich nicht nur Dämonen und bösen Menschen, das Schwert weigerte sich auch, Unschuldige zu verletzen, denn in Patros’ Dorf und später auch auf der Insel der Weisen im See der Sirenen hatte ich es problemlos benutzen können.
Es konnte also wohl kaum daran liegen, dass ich nicht würdig war, das Schwert zu führen.
Ich war völlig durcheinander. Und noch während ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, erhob sich die Frau, die sich in meinem Traum als meine Mutter ausgegeben hatte.
Keinen Moment lang ließ sie mich aus den Augen, und als ich nach dem Schwert mit der goldenen Klinge griff, hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen nannte.
»Kara …«
Es war kein Rufen, es war mehr ein Hauchen.
Ich erkannte die junge Frau, die hinter meiner Mutter aus dem Dickicht trat, auch wenn sich ihr Äußeres drastisch verändert hatte. Das einst so rosige Gesicht war eingefallen und verhärmt, Schweiß glänzte auf der blassen Haut, unter den Augen lagen dunkle Ringe, die Adern an den Schläfen und am Hals traten schwarz hervor.
»Imelda!«, ächzte ich.
Meine beste Freundin war ebenfalls von der dämonischen Seuche befallen, die nach dem Schwarzen Tod benannt worden war! Denn er hatte sie nach Atlantis gebracht und auch in die Hauptstadt des Reichs!
Die Frau – meine angebliche Mutter – nutzte den Moment der Ablenkung, um auf mich zuzugehen. Aber nicht ich war ihr Ziel, sondern das Goldene Schwert, dessen Klinge sie ohne Mühe aus der Erde zog.
Ich traute meinen Augen kaum, als ich dies sah.
»Bei allen Göttern …!«, entfuhr es mir.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass es sich bei der Frau vor mir um keine Erinye handelte, dann hatte ich ihn soeben erhalten.
Meine Augen brannten, in meiner Kehle saß plötzlich ein dicker Kloß.
Die Frau – meine Mutter! – wich mit dem Schwert in der Hand zurück.
Imelda wollte an ihr vorbei auf mich zulaufen, prallte jedoch gegen den ausgestreckten Arm meiner Mutter.
»Nicht!«, zischte diese. »Wir wissen nicht, wer oder was sie wirklich ist. Das Schwert hat sich gegen sie gewandt. Vielleicht ist sie bereits eine von ihnen.«
Imelda schaute abwechselnd von meiner Mutter zu mir. »Kara ist keine Untote. Und sie ist auch nicht krank.«
»Kara …« Auch die Frau flüsterte meinen Namen nur, dann aber festigte sich ihre Stimme. »Möglicherweise ist das gar nicht Kara, sondern eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen!«
Da konnte ich gar nicht anders, als zu lachen. Es war mehr ein Glucksen und Husten.
»Was gibt es da zu lachen, Erinye?«, fragte meine Mutter streng und richtete die Spitze des Goldenen Schwertes auf mich.
»Ich … ich bin keine Erinye«, stammelte ich.
Dann streckte ich den Arm aus und umfasste die Klinge. Zog meine Mutter sie jetzt zurück, würde sie mir die Hand aufschlitzen.
Doch das tat sie nicht. Im Gegenteil, sie ließ das Schwert sogar sinken, nachdem ich die Schneide losgelassen hatte.
Auch in ihren Augen schimmerten mit einem Mal Tränen. »Kara? Bist du es wirklich?«
Ich schluckte und nickte, zu mehr war ich nicht fähig.
Meine Mutter aber ließ das Schwert fallen, trat vor und nahm mich in die Arme. »Meine Tochter!«
»Mama«, schluchzte ich, und ließ den Tränen endlich freien Lauf.
Das Gesicht von Myxin dem Magier verzog sich vor Abscheu, als er beobachtete, wie Kara und Jola sich umarmten.
Sein Plan war nicht aufgegangen.
Sechzehn Jahre lang hatte er das Weib des Propheten Delios in seiner Gewalt gehabt, und ihm war klar, weshalb Asmodis, der alte Ränkeschmied, sie befreit und zurück zu Delios und seiner Tochter gebracht hatte. Sobald die erfuhren, wer Jola all die Zeit lang gefangen gehalten hatte, würden sie sich niemals mit ihm gegen den Schwarzen Tod verbünden.
Weshalb Asmodis das Geschöpf der Großen Alten, die auch zu seinen Todfeinden zählten, unterstützte, war zweitrangig. Wichtig war nur, dass er es tat.
Auf der Suche nach der entflohenen Jola war Myxin auf ihre Tochter Kara gestoßen, unweit des Höllensumpfes, der dort entstanden war, wo der Schwarze Tod mit einem Bruchstück vom Planeten der Magier auf die Erde nach Atlantis gekommen war. Er hatte sie vor seinen Dienern, den Schwarzen Vampiren, gerettet und sie in einen magischen Schlaf versetzt, um ihr vorzugaukeln, ihre Mutter sei eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen.
Dabei ging es Myxin um das Goldene Schwert. Er selbst konnte es nicht führen, denn rein im Herzen und gerecht im Handeln war er als dämonisches Wesen absolut nicht. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als jene zu manipulieren, die dazu imstande waren.
Doch Delios war viel zu mächtig und weise. Kara hingegen war jung, fast noch ein Kind, und wie alle jungen Menschen leicht zu beeinflussen.
Sobald sie Jola zu Gesicht bekam, sollte ihre Furcht, die er während ihres magischen Schlafes in ihrem Geist verankert hatte, hervorbrechen. Dass sie auch noch Zeugin geworden war, wie sich Asmodis von Jola verabschiedet hatte, war ein glücklicher Zufall gewesen.
Allerdings hatte Myxin nicht damit gerechnet, dass das Goldene Schwert Kara den Dienst verweigern würde. Anscheinend kam es nicht nur darauf an, wer die Klinge führte, sondern auch, gegen wen sie eingesetzt wurde.
Sehr interessant, fand Myxin, aber auch ärgerlich. Schließlich geriet dadurch sein Bündnis mit Delios in Gefahr.
Kurz spielte der Magier mit dem Gedanken Jola, eigenhändig beziehungsweise Kraft seiner Magie zu töten, doch das konnte er unmöglich vor den Augen ihrer Tochter Kara tun. Er hätte sie dann erneut in einen magischen Schlaf versetzen und ihr die Erinnerung an den Mord rauben müssen, doch solange das Schwert in ihrer Nähe war, würde das nicht so einfach sein.
Am besten zog er sich zurück.
Ein Gedankensprung würde ihn vor die Tore der Stadt bringen, wo Beela, die Anführerin der Schwarzen Vampire, mit ihrer Brut auf ihn wartete.
Aber dann zögerte er.
Er erinnerte sich an das, was er vom Dach des Nachbaranwesens aus beobachtet hatte.
In den Straßen wimmelte es vor Wiedergängern.
Untote, die der dämonischen Seuche des Schwarzen Tods zum Opfer gefallen waren. Zu Dutzenden drängten sie sich vor dem Tor von Imeldas Anwesen, in dem Jola Zuflucht gesucht hatte.
Ein grimmiges Lächeln huschte über die schmalen Lippen des Magierdämons.
Die lebenden Leichen waren unruhig. Sie witterten die Menschen hinter den Mauern.
Myxin überlegte nicht lange. Vielleicht ließe sich das Problem Jola ja doch noch beseitigen, ohne dass er persönlich und unmittelbar eingreifen musste.
Ein kurzer Gedanke genügte, um den Riegel vor dem Tor zu sprengen.
Wie eine Woge schwärenden Fleisches schwappten die Untoten auf das Gelände.
Myxin aber verschwand mit einem leisen Knall und kehrte zu seinem blutsaugenden Gefolge zurück.
Izzi, ein Wurm von gigantischen Ausmaßen, dessen grünlich schimmernder Leib von stinkendem Schleim umgeben war, schob sich aus dem Geröll der Zitadelle von Aither.
Dass er den Zusammenbruch der turmhohen Felsnadel überlebt hatte, zeigte, wie mächtig diese Kreatur war. Sie diente den Großen Alten, jenen finsteren Dämonengöttern, die auf dem Planeten der Magier hausten und mit den Stummen Göttern um die Vorherrschaft über Atlantis stritten, dem Zentrum der Macht und der Magie.
Der Zwilling des Eisernen Engels sah den Höllenwurm, doch für eine Flucht war es zu spät. Die Erdgeister, menschenähnliche Geschöpfe, jedoch aus Erde und Schlamm geformt, waren unter ihm aus den Trümmern gekrochen und hielten seine Beine fest.
Der Engel ließ sein Schwert stecken. Er hätte es niemals rechtzeitig geschafft, sämtliche Erdgeister zu vernichten, bevor ihn Izzi erreichte, zumal sich immer mehr dieser Kreaturen aus dem Geröll erhoben und ihre schlammigen Hände nach dem Sohn der Stummen Götter ausstreckten.
Wahrscheinlich wurden sie von dem magischen Pendel angezogen, das er seinem abtrünnigen Zwillingsbruder, dem ursprünglichen Eisernen Engel, abgenommen hatte. Der wiederum hatte es den Weisen von Atlantis geraubt und damit Izzi und die Erdgeister beschworen. Damit trug er die Verantwortung für die Zerstörung des Hains der Vogelmenschen und der Zitadelle von Aither.
Wollte Izzi vielleicht bloß das Pendel?
Riesengroß wuchs das Ungeheuer vor dem Zwilling des Eisernen Engels empor, bäumte sich auf. Der im Vergleich zum Körper des Wurms winzige Schädel zuckte auf den Engel zu, die Beißzangen schnappten nach dem zweiten Sohn der Stummen Götter, der nur noch einen Ausweg sah.
Er schleuderte das Pendel von sich.
Der blutrote Stein an der ledernen Schnur flog in den aufgewirbelten Staub. Für einen Augenblick sah der Engel noch den leuchtenden Streifen, den das Pendel hinter sich herzog, dann verschwand auch er, als wäre die Magie des Pendels erloschen.
Der wulstige Leib des Riesenwurms walzte auf den Engel zu, aber kurz bevor Izzi ihn erreichte, stoppte er und schob sich dann hinein in die Staubwolke, dorthin, wo er das Pendel vermutete.
Die Erdgeister stimmten ein lautes Geheul an, ließen von dem Engel ab und glitten hinter ihrem Götzen her. Dessen zyklopischer Körper zeichnete sich nur noch schemenhaft in den dichter werdenden Schwaden ab, denn auf der Suche nach dem Pendel wirbelte Izzi weiteren Staub auf.
Schon bald war von dem Götzen nichts mehr zu sehen. Nur das Knirschen des Gerölls, das unter seinem tonnenschweren Gewicht zerrieben wurde, war zu hören und übertönte sogar noch das Kreischen der Erdgeister.
Schließlich aber kehrte Stille ein.
Izzi und die Schlammkreaturen waren fort. Und mit ihnen das magische Pendel.
Der Engel bedauerte diesen Verlust nur kurz. Er besann sich wieder seines ursprünglichen Anliegens. Mithilfe der Pyramide des Wissens und des Würfels der Vorsehung war er hierher zurückgekehrt, um etwas zu holen. Und zwar Splitter des Kristallpalasts, der Zitadelle von Aither, die angeblich der Sitz der Götter gewesen war.
Aus diesen Splittern wollten die Weisen einen Spiegel fertigen, um mit ihm die Magie des Lebensatems der Sirenen über die gesamte Stadt zu streuen und somit die Menschen vom Schwarzen Tod zu heilen.
Das Pendel hatte dem Sohn der Stummen Götter den Weg weisen sollen, aber vielleicht war es das falsche Instrument dafür gewesen. Zum Glück hatte der Engel noch ein weiteres Werkzeug, das mit der Zitadelle in einem direkten Zusammenhang stand. Immerhin war beides von den Stummen Göttern erschaffen worden, so wie auch er und sein Bruder.
Bei dem Gedanken an seinen Zwilling wurde dem Engel schwer ums Herz.
Wie sollte er den Seitenwechsel des Eisernen Sedonia erklären? Er verstand es ja selbst nicht so recht.
Die Stummen Götter hatten die Brüder als Hüter des Orakels und Beschützer der Völker von Atlantis erschaffen. In dieser Funktion war der ursprüngliche Eiserne Engel mit einem Trupp Vogelmenschen ausgezogen, um die Aufschlagstelle der Feuerträne, mit der der Schwarze Tod auf die Erde gekommen war, zu untersuchen.
Es war zum Kampf gekommen, den der Eiserne Engel verloren hatte.
Dabei musste der Schwarze Tod das Feuer des Bösen in ihm entfacht haben. Ein Feuer, das die Angst des Engels vor dem Untergang von Atlantis und seinem Versagen derart vergrößert hatte, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als seine Schöpfer zu verraten und sich den Großen Alten anzuschließen.
Hatte sein Zwilling anfangs noch gehofft, dieses Feuer mithilfe der Pyramide und des Würfels löschen zu können, so war diese Hoffnung auf der Insel der Weisen schlagartig zunichte gemacht worden.
Bei der Flucht vor den Großen Alten hatte sich die Pyramide samt Würfel und Engeln aufgelöst und war bei den Flammenden Steinen wieder materialisiert, dem magischen Zentrum von Atlantis, wo sich die Magie der Stummen Götter konzentrierte.
Doch sie waren in einem flammenden Inferno erschienen, das der Schwarze Tod mit einem riesigen Drachen entfesselt hatte.
Der abtrünnige Engel hatte versucht, seinen Bruder zu töten, doch dem war es gelungen, seinem Zwilling den Arm, in dessen Hand er das Pendel gehalten hatte, abzuschlagen.
Das Letzte, was sein Bruder von ihm gesehen hatte, war eine vor Hass verzerrte Fratze gewesen, dann hatten die Weisen die Flammenden Steine aktiviert, deren Magie sich mit der des Würfels verbunden hatte, und sie und der Eiserne Engel waren verschwunden.
Jetzt lastete die Verantwortung allein auf den Schultern des zweiten Eisernen Engels. Dabei hatte er sich stets im Hintergrund gehalten und seinen Bruder lediglich beraten, doch nun zwangen ihn die Umstände zum Handeln.
Er holte den Würfel hervor und konzentrierte sich auf den rötlich schimmernden Quader, in dessen Innerem sich blutrot schimmernde Schlieren bewegten, als wären es Lebewesen. In diesen Schlieren waren das Wissen und die Weisheit der Stummen Götter gespeichert, das wusste der Engel, ebenso wie er wusste, dass es zu diesem Kubus noch ein Gegenstück gab, den Würfel des Unheils, erschaffen von den Großen Alten.
So viel der zweite Eiserne Engel wusste, befand sich dieser Würfel im Besitz von Arkonada, dem Herrn des Planeten der Magier, einem weiteren Diener der Großen Alten.
»Sei nicht mutlos!«
Der Engel blieb stehen. Die Stimme war nicht neben oder hinter ihm erklungen, aber auch nicht in seinem Kopf. Sie war direkt aus dem Würfel in seinen Händen gedrungen!
Die Schlieren bewegten sich. Sie zuckten und flirrten wie Aale, die gegen eine starke Strömung ankämpften. Plötzlich verströmten sie einen rötlichen Nebel, der den Quader gänzlich ausfüllte.
Der Vorgang dauerte nicht lange, dann zog sich der Nebel zusammen und formte ein Gesicht, gütig, weise und trotz des grauen Haars auf sonderbare Weise alterslos.
Ein Gefühl von Wärme und Zuversicht durchströmte den Engel.
Natürlich dachte er sofort an seine Schöpfer, die Stummen Götter, doch dieses Gesicht gehörte zu keinem von ihnen. Zumindest ähnelte es keiner der Statuen, die um die Zitadelle von Aither gestanden hatten.
»Wer bist du?«, fragte der Engel.
»Auch ich bin ein Sohn der Stummen Götter. Allerdings wurde ich nicht erschaffen, so wie du und dein Bruder, sondern gezeugt und geboren wie die Völker der Erde, des Feuers, der Luft und des Wassers. Mein Name ist Zeus!«
»Zeus«, wiederholte der Engel. »Der Name kam mir bisher nie zu Ohren.«
»Das kann ich mir denken. Aber das ist auch nicht tragisch. Wichtig ist nur, dass du weißt, dass du nicht allein bist. Unsere Väter mögen gefallen sein, doch der Kampf geht weiter. Lass mich dir helfen und dich zu den Trümmern der Zitadelle bringen.«
Der Engel nickte. Bevor er etwas erwidern oder fragen konnte, löste sich das Gesicht auf, die Schlieren traten wieder deutlicher hervor, und der Würfel in den Händen des Engels vibrierte, als wolle er sich aus dem Griff des Eisernen befreien, doch der hielt verbissen fest.
Der Sohn der Stummen Götter taumelte und wäre fast noch gestürzt. Im letzten Moment breitete er die Schwingen aus und ließ sich von dem Würfel über das Trümmerfeld ziehen.
Über dem Krater, den der Riesenwurm Izzi hinterlassen hatte, endete der Flug.
»Beeil dich!«, hörte er ein letztes Mal die Stimme seines Helfers. »Deine Feinde nahen!«
Der Engel senkte den Blick und sah das Funkeln an den Rändern der Mulde. Es waren die Überreste der Zitadelle von Aither. Der Engel konnte es nicht fassen. Er wollte diesem seltsamen Zeus danken, doch der Würfel reagierte nicht mehr. Die Schlieren waren erstarrt.
Dafür wuchs das Gefühl der Bedrohung.
Der Sohn der Stummen Götter sank in den Krater hinab. Hastig sammelte er so viele Bruchstücke ein, wie er tragen konnte.
Er spürte, wie sich das Böse manifestierte. Die Luft über dem Krater begann zu flimmern. Ein uraltes, von Hass zerfurchtes Gesicht erschien.
Während sich im Antlitz von Zeus Güte und Weisheit gespiegelt hatten, las der Engel in dieser Fratze nur Niedertracht und Bosheit.
»Arkonada!«, knurrte der Engel.
»Auch du wirst uns nicht aufhalten!«, grollte der Dämon. »Schließe dich uns an …«
»Niemals!«
»… oder wir werden dich zerbrechen!«
Der Engel ging nicht erst auf die Drohung ein. Mithilfe des Würfels beschwor er die Pyramide des Wissens, die ihn zurück zu den Weisen bringen sollte.
Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
»Verbrennt sie! Die Dämonendiener müssen sterben!«
Die Stimme des Hohepriesters von Chiimal, hinter dessen Maske sich das Gesicht von Kandors Bruder verbarg, dem Hauptmann der Stadtwache, überschlug sich.
Auch seine Anhänger trugen hölzerne Masken, die das Antlitz des Götzen zeigten. Sie alle waren verblendete Fanatiker und zerrten Yanara, Delios und Haro johlend auf die Agora, den Versammlungsplatz der Hauptstadt Atlantis, um sie öffentlich zu verbrennen.
Obwohl es sich bei den Götzendienern augenscheinlich um Menschen handelte, schien keiner von ihnen die Untoten zu fürchten, die die Straßen und Gassen der Stadt unsicher machten. Hielt Chiimal vielleicht tatsächlich seine schützende Pranke über seine Getreuen?
Jedenfalls folgte ihnen kein Wiedergänger oder versperrte ihnen den Weg. Unangefochten erreichten die Götzendiener und ihre Gefangenen den weiten Platz, um den herum sich prachtvolle Tempel und Gebäude erhoben, darunter auch das Bouleuterion, in dem der Rat tagte, sowie das Hauptquartier der Stadtwache von Atlantis, deren Mitglied Haro war.
Überreste zerstörter Marktstände und verfaulte Früchte lagen auf der Agora. Sogar der Kadaver einer Ziege, an dem Ratten nagten.
In den Schatten zwischen den Häusern machte Haro Bewegungen aus. In den Gassen versteckten sich Menschen und beobachteten die Ankunft der Fanatiker.
»Helft uns!«, rief Yanara, erntete aber nur höhnisches Gelächter von Kandors Bruder.
»Spar dir deine Luft, Mädchen«, sagte er. »Du wirst sie noch zum Schreien brauchen, wenn dir das Feuer das Fleisch von den Knochen frisst. Diese da werden keinen Finger für euch krümmen. Es sind Aussätzige, deren Schicksal bereits besiegelt ist. Wahrscheinlich hätten sie euch längst erschlagen, wärt ihr uns nicht in die Arme gelaufen.«
»Ihr seid verachtenswert«, sagte Delios. »Es wundert mich keineswegs, dass ihr diese Masken tragt. Mit euresgleichen hatten die Dämonen seit jeher leichtes Spiel!«
Kandors Bruder ignorierte ihn und trat vor das Hauptquartier der Stadtwache.
Vor dem Portal standen keine Posten, genauso wenig wie am Stadttor. Das mulmige Gefühl in Haros Bauch verschlimmerte sich.
»Kandor!«, brüllte sein Bruder. »Kandor, komm heraus und sieh, wen ich hier habe! Dein geliebtes Mündel und den Propheten. Willst du mich nicht um ihr Leben anflehen?«
Nichts geschah. Niemand ließ sich blicken.
Chiimals Hohepriester drehte sich zu seinen Gefangenen um. »Da seht ihr es selbst. Keiner schert sich um euch. Die Stadt ist dem Untergang geweiht, die Menschen sind dem Bösen verfallen.«
Haro hätte es dem Götzendiener gegenüber niemals zugegeben, doch er war zutiefst enttäuscht. Niemals hätte er gedacht, dass sich seine Kameraden und sein Hauptmann feige hinter den Mauern verkrochen und die Stadt den Dämonen und ihren Günstlingen überließen.
»Los!«, schrie der Hohepriester an seine Anhängerschar gewandt. »Sammelt Holz und alles, was brennt. Schichtet es auf, damit wir sie den Flammen übergeben und Chiimal opfern können.«
Die Männer grölten und schwärmten aus, um das Holz der zertrümmerten Marktstände einzusammeln.
Haro stellte fest, dass ihn nur noch zwei Diener festhielten. Ihre Aufmerksamkeit hatte nachgelassen. Sein Augenmerk aber galt für Sekunden dem Griff seines Schwerts, das sich einer der Männer in den Gürtel geschoben hatte.
Als sein Blick jedoch dem des Propheten begegnete, schüttelte Delios den Kopf.
Haro verstand den älteren Mann nicht. Hatte er sich bereits in sein Schicksal ergeben? Er für seinen Teil wollte nicht warten, bis das Feuer brannte.
Unvermittelt riss er sich los und stieß den Ellenbogen in den Bauch eines der beiden Männer, die ihn festgehalten hatten. Dem anderen rammte er die Stirn gegen die Nase. Zugleich schloss sich seine Hand um den Schwertgriff.
Ihm war klar, dass er gegen die Übermacht der Götzendiener kaum eine Chance hatte, deshalb hatte er es auf deren Anführer abgesehen, Kandors Bruder. Ehe dieser sich versah oder die restlichen Götzenanbeter handeln konnten, stand Haro hinter Chiimals Hohepriester und legte ihm die Klinge an den Hals. »Keiner rührt sich, oder ich schneide diesem Kerl die Gurgel durch!«
Ich lag in den Armen meiner Mutter und weinte.
Zärtlich streichelte sie mir über das Haar, küsste mir die Stirn und flüsterte meinen Namen.
Es war wie in meinem Traum. Nein, korrigierte ich mich sogleich. Nicht wie in meinem Traum, sondern besser, denn dies hier war die Wirklichkeit. In all diesem Grauen lag doch etwas Gutes.
»Kara?«
Diese Stimme!
Ich riss die Augen auf, hob den Kopf und schaute über die Schulter meiner Mutter hinweg auf Iosh und Ira, die an Imelda vorbei auf mich zuliefen und sich zwischen mich und meine Mutter zwängten. Ich stolperte nach hinten, plumpste auf den Allerwertesten, und die Kinder warfen sich auf mich.
Ich konnte es kaum fassen. Ich war den Geschwistern sieben Tagesritte von hier entfernt, in Logars Hort, zum ersten Mal begegnet, und ausgerechnet hier traf ich sie wieder.
Tausend Fragen lagen mir auf der Zunge. Ich schaute von Mutter zu Imelda, und beim Anblick meiner Freundin meldete sich das schlechte Gewissen. Sie war krank und dem Tode nahe, während ich mich über das Wiedersehen mit meiner Mutter freute.
Ich machte mich von den Kindern frei und erhob mich. Dann holte ich den Lebensatem der Sirenen aus der Tasche meines Mantels und drückte ihn meiner Freundin in die Hand.
»Hier, das …«
Die weiteren Worte blieben mir im Halse stecken.
Aus Richtung des Tores drang ein Knirschen und Brechen. Das Tor flog auf – und die Untoten stürmten herein!
Dutzende lebende Leichen, die auf uns zuwankten.
Die Panik drohte mich zu lähmen, doch dann besann ich mich meiner Verantwortung. »Ins Haus!«, rief ich. »Schnell!«
Meine Mutter hatte die Gefahr längst erkannt und handelte. Sie nahm Ira auf den Arm und Iosh bei der Hand und rannte mit den Kindern auf eines der Fenster zu.
Ich überließ Imelda den Lebensatem der Sirenen, wirbelte herum und hob das Goldene Schwert auf.
Doch auf dem Hof, zwischen Haus und Garten, wimmelte es nur so vor lebenden Leichen. Selbst mit dem Schwert hatte ich gegen diese Übermacht nicht die geringste Chance. Also blieb nur die Flucht ins Haus.
Ich dachte an Myxin, doch der Magier war verschwunden, als wäre er nie dagewesen.
Eine der Kreaturen – ich erkannte in ihr eine Nachbarin, die am Ende der Straße gewohnt hatte – hatte Imelda fast erreicht, die noch immer wie erstarrt auf dem Fleck stand.