Aubrine - Mia Faber - E-Book

Aubrine E-Book

Mia Faber

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Beschreibung

Die Erde ist ein sauberer Ort. Umweltverschmutzung, Gewalt, ja sogar unerwünschte Gefühlsregungen – all das gehört einer kaum mehr dokumentierten Vergangenheit an. Diese aufgeräumte Welt hat unerwünschte Bewohner längst auf dem Mond untergebracht und vergessen. Doch eine dieser ausgelagerten Strafkolonien erwacht, und mit ihr Aubrine, eine Frau, die ihrer Stimme beraubt wurde, jedoch nicht ihren Vorstellungen einer Rückkehr auf die Erde.

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AUBRINE

ERHEBE DEINE STIMME

MIA FABER

© 2018 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat und Korrektorat: Andre Piotrowski | Lektorat Pirandot

Umschlaggestaltung: Kim Leopold | ungecovert.de

TB 978-3-95869-330-2

E-Book 978-3-95869-329-6

Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

INHALT

PROLOG: Wind

1: Guten Morgen

2: Gute Nacht

3: Fremder

4: Tretmühle

5: Alex

6: Heimat

7: Bib

8: Spielchen

9: Dunkelheit

10: Licht

11: Wärme

12: Watte

13: Kopfüber

14: Bilder

15: Schattenspiele

16: Trügerisch

17: Lügner

18: Kaminzimmer

19: Strom

20: Klein

21: Suche

22: Allein

23: Kisten

24: Lethe

25: Warten

26: Fallen

27: Traumland

28: Untergrund

29: Erde

30: Metamorphose

31: Pequeña

32: Landung

33: Meuterei

34: Tränen

35: Weg

36: Rückkehr

37: Erwachen

38: Back to business

39: Ein Jahr später

40: Versteckspiel

41: Verhandlungen

42: Treffen

43: Flucht

44: Epilog Ein Tag im Wind

PROLOG: WIND

»Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.«

– Chinesisches Sprichwort

Die sandige Ebene strahlte im Licht der Halogenscheinwerfer. Niedrige Gebäude in dem Tal kauerten im Sand wie Bauklötze, die ein Kind in zufälliger Reihenfolge auf den Boden geworfen hatte. Blinde Fenster blickten auf die trostlose Oberfläche der kargen Landschaft. Inmitten der Gebäude erhob sich ein Turm, der sich wie ein mahnender Finger gegen den schwarzen Himmel abzeichnete. An dessen Spitze blinkten die rot leuchtenden Anzeigen einer digitalen Uhr. Auf drei Seiten änderte sich diese Zeit simultan von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde. Die Anzeige der vierten Uhr blickte wie ein trüb gewordenes Auge auf die Station, die Zahlen auf 23:56 fixiert, was durch den gesprungenen Kunststoff der Abdeckung kaum noch zu erkennen war. Die erblindete Uhr blickte in Richtung eines flachen Gebäudes, an dessen Seite sich, der Uhr zugewandt, ein klaffendes Loch befand. Die Ränder dieses Lochs waren ausgefranst und ein Versuch, den Schaden mit einigen Metallplatten zu flicken, war anscheinend kläglich gescheitert. Wie ein wildes Tier mit scharfen, metallischen Fangzähnen hockte dieses Gebäude in einer Senke, als warte es auf Beute.

Kein Geräusch war in dem Tal zu hören, kein Licht an einem der schmutzigen Fenster zu sehen. Offiziell war »Station 23 C«, wie es in großen Lettern an einer der Wände geschrieben stand, verlassen und menschenleer. Die Welt hatte sich gewandelt, die Menschen sich verändert. Dieser Veränderung waren vor einigen Jahren auch die gelegentlichen Flüge zum Mond zum Opfer gefallen, und damit war auch gleichzeitig das Interesse an »Station 23 C« erloschen wie einige der Leuchtanzeigen an der kaputten Seite der Uhr.

Die funktionierenden Seiten der Uhr zeigten eine Zeit von 21:14 und hinter den zerkratzten Scheiben des halb zerstörten Gebäudes war für den Bruchteil einer Sekunde ein Lichtkegel wie der einer Taschenlampe zu sehen, der lange Schatten auf die helle Oberfläche des Mondes zauberte. Und während sich auf der Erde die meisten Menschen auf die Nachtruhe vorbereiteten, erwachte die Station in Form zahlreicher summender Benzinaggregate im Inneren der Gebäude und dem Flackern von Neonröhren zum Leben.

1: GUTEN MORGEN

»Guten Morgen! Die Arbeitsgruppen 07 und 08 begeben sich zu den westlichen Schleusen. Aktuelle Erdenzeit: 21:15. Protect and Preserve wünscht allen einen produktiven Tag.«

Die junge Frau hörte, wie die Ansage der weiblichen Computerstimme im Knacken und Knistern der Lautsprecher erstarb. In dem Glauben zu träumen, versuchte sie, ihre Gliedmaßen zu strecken, um aufzuwachen. Der plötzlich in ihr Bewusstsein dringende Schmerz in Armen und Beinen und die Unfähigkeit, sich bewegen zu können, weckten sie effektiver, als eine starke Tasse Kaffee es vermocht hätte. Erschrocken öffnete Aubrine die Augen, die sie sofort wieder schloss, als grelles Neonlicht sie blendete.

Wo bin ich?, schoss es Aubrine durch den Kopf. Eine Mischung aus Benommenheit und stechenden Kopfschmerzen machte es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Im nächsten Moment bemerkte sie, dass sie nicht sprechen konnte. Die Schmerzen in ihrer unteren Gesichtshälfte ließen sie bei dem Versuch, den Mund zu öffnen, beinahe das Bewusstsein verlieren. Etwas drückte auf ihren Mund, ihre Zähne und ihren ganzen Kiefer.

Langsam öffnete die Frau noch einmal die Augen. Das Licht der Neonröhren war dieses Mal keine Überraschung mehr, und nachdem sie ihren Augen einige Sekunden gegeben hatte, um sich daran zu gewöhnen, sah sich Aubrine verwirrt um. Der Grund für ihre Bewegungslosigkeit waren metallisch glänzende Hand- und Fußfesseln, die ihr die Bewegungsfreiheit nahmen. Die Fesseln waren an den Enden eines Tisches befestigt, auf dem die Frau ausgestreckt auf dem Rücken lag. Der hell erleuchtete Raum war gefliest und starrte vor Schmutz. Die hellen Kacheln waren mit Flüssigkeiten unbestimmter Herkunft befleckt und an manchen Stellen von der Decke bis zum Boden gesprungen.

Aubrine stellte fest, dass sie einen Overall aus rauem, blassrotem Stoff trug, der sie kaum vor der beißenden Kälte in dem kleinen Raum schützte. In den Ecken an ihrer Kopfseite waren zwei runde Lautsprecher angebracht, aus denen es wie aus einem kaputten Radio knisterte. Am Fußende des Tisches konnte Aubrine eine Metalltür ohne Knauf oder sonstigen Öffnungsmechanismus sehen.

Das Drehen ihres Kopfes jagte weitere Schmerzen durch Aubrines untere Gesichtshälfte und erschwerte jeden klaren Gedanken. Mit Schrecken stellte die Gefesselte fest, dass sie nur durch die Nase Luft holen konnte. Wie ein Knebel fühlte sich, was auch immer man über ihren Mund gelegt hatte, allerdings nicht an. Ein wimmerndes Geräusch entrang sich Aubrines Kehle, als sie feststellte, dass sie ihre Zunge nicht bewegen konnte. Als sie bemerkte, dass sich an der Stelle, wo diese gewesen war, gar keine Zunge mehr befand, verlor Aubrine das Bewusstsein.

»Erdenzeit 1:59«, verkündete die Computerstimme, als die Frau zum zweiten Mal in dieser Nacht erwachte. Aubrine atmete schwer und rollte sich auf ihre linke Seite, als sie sich daran erinnerte, warum sie bewusstlos geworden war. Im nächsten Moment erkannte sie, dass ihre Arme und Beine nicht länger in Fesseln lagen. Bei jeder Bewegung prickelten ihre Gliedmaßen unangenehm. Aubrine betrachtete einen ihrer Arme näher. Außer dem blutigen Ring, den die Handfessel hinterlassen hatte, konnte sie keine Verletzungen entdecken.

Vorsichtig hob sie den Kopf an und warf einen Blick auf ihren Körper. Sie war schlanker, als sie es in Erinnerung hatte. Sie dachte über diesen Gedanken nach. Schlanker als wann? Schlanker als wo? Ein undurchdringlicher Nebel der Benommenheit verschleierte den Blick auf ihre Erinnerungen. Sie wusste zwar, wer sie war und dass sie eine Zunge gehabt hatte, doch nicht, wo sie eigentlich herkam und was geschehen war, bevor sie in diesem unwirtlichen Raum erwacht war.

Aubrine legte ihren Kopf wieder auf dem harten Tisch ab. Ihre Nackenmuskeln schmerzten und sie bemerkte, wie schwer es ihr fiel, auch nur ihren Arm zu heben. Trotzdem versuchte sie es und führte ihre linke Hand unter großer Anstrengung an ihr Gesicht. Sie wollte wissen, was mit ihrer unteren Gesichtshälfte nicht in Ordnung war. Ihre zarten Finger tasteten an die Stelle, wo sie ihre Lippen hätte fühlen müssen. Doch anstelle von weicher Haut spürte Aubrine die kalte Oberfläche von Metall. Langsam versuchte sie, die Ausmaße des Gegenstands zu erfühlen, der auf ihrem Gesicht lag. Als ihre Finger am Rand des maskenartigen Konstrukts angekommen waren, weiteten sich Aubrines Augen vor Ekel und Schrecken.

Es war keine Maske und auch keine Fessel. Das »Ding« lag nicht auf ihrem Gesicht. Aubrine konnte keinen Übergang zwischen Metall und Haut finden. Was auch immer sich dort befand, es schien ein Teil ihres Gesichts zu sein. Und selbst wenn sie sich an kaum etwas erinnerte, wusste sie doch sicher, dass sie in der Vergangenheit ein ganz normales Gesicht gehabt hatte.

Aubrine ließ ihre Hand wieder sinken. Gegen die aufsteigende Übelkeit und die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit ankämpfend, stellte sie fest, dass die zuvor verschlossene Tür nun einen Spalt weit offen stand.

Die Frau schwang ihre Beine über den Tisch, auf dem sie immer noch lag. Schon bei diesem Vorgang bemerkte sie, dass ihre Beine ungewöhnlich schwach waren. Ein Gedanke schoss Aubrine durch den Kopf, ein Bild, das sie vor sich sah, als sie ihre nackten Füße betrachtete, die nun über dem Fliesenboden baumelten. Sie konnte sehen, dass sie Sportschuhe trug. Sie konnte spüren, wie sie lief, und erinnerte sich an harten Boden und eine Person, die mit ihr sprach, während ihr kühler Wind ins Gesicht blies.

Das Bild war so schnell wieder fort, wie es gekommen war. Zumindest hatte es Aubrine mittlerweile geschafft, sich in eine sitzende Position aufzurichten. Langsam ließ sie ihren Körper über die Kante des Tisches rutschen. Sie spürte den kalten Boden unter ihren Füßen und bemerkte im nächsten Moment, wie ihre Beine unter ihrem Gewicht nachgaben. Tränen stiegen Aubrine bei ihrem harten Aufprall auf dem Boden in die Augen und verschleierten ihre Sicht.

Sie musste lange dort gelegen sein, wenn ihre Beine nicht mehr fähig waren, ihr eigenes Gewicht zu tragen. Aubrine fühlte sich schwach. Doch ihre Neugierde, wer oder was sich hinter der offenen Tür verbergen mochte, war stärker als die Schmerzen.

»Subjekt 457 ist wach. Raum wurde unautorisiert geöffnet. Sektorsicherheit zu Raum 24 B. Sicherheitsstufe nicht mehr gewährleistet. Station sofort abriegeln!«

Die dröhnende Computerstimme erstarb abermals in lautem Rauschen, bevor die Ansage noch zweimal wiederholt wurde.

Aubrine schleppte ihren geschwächten Körper zu der angelehnten Metalltür. Als die Stimme aus den Lautsprechern verstummte, war die junge Frau an der Türschwelle angekommen. Mit letzter Kraft zog Aubrine die Tür ein bisschen weiter auf, bevor sie zum zweiten Mal in dieser Nacht von Dunkelheit umfangen wurde.

2: GUTE NACHT

Robert küsste die weiche Stirn seiner kleinen Tochter und zog die Decke über ihren schlafenden Körper. Auf Zehenspitzen schlich er auf die Tür zu und schlüpfte in den Flur seiner Wohneinheit. Er schloss die Tür zum Kinderzimmer nicht vollständig, obwohl es auch im Flur kein Licht gab, das durch den Spalt hätte scheinen können. Immer noch darauf bedacht, so leise wie nur möglich zu sein, machte sich Robert auf den Weg in sein eigenes Schlafzimmer.

Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen und wagte einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon weit nach Mitternacht, als er schließlich aus seinem Anzug schlüpfte und sich auf den Weg in das kleine Badezimmer machte.

Er hatte sich in den letzten Jahren an die Dunkelheit gewöhnt. Mit dem Geschick eines Menschen, der sein Augenlicht schon lange verloren hatte, tastete Robert nach der kleinen Ultraschallzahnbürste, die am Rand des Waschbeckens lag. Während er seinen dunklen Umriss im Spiegel anblickte, dachte er darüber nach, wie lange es Stromstopp ab 20 Uhr nun schon gab. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals in seinem Leben anders gewesen war. Als Kind und auch als junger Erwachsener war ihm das, was ihm nun als Unannehmlichkeit zu schaffen machte, nie wirklich aufgefallen. Er hatte es immer geschafft, seine Arbeiten und alles, was zu erledigen war, vor 20 Uhr zu erledigen.

Robert tastete mit einer Hand über sein stoppeliges Kinn. Der Dreitagebart würde bis morgen warten müssen. Für eine Rasur im Dunkeln war er nicht geschickt genug.

Nachdem er seine kurzen Haare gekämmt hatte, wandte sich Robert wieder um und zog die Badezimmertür hinter sich zu. Das weiche Bett, in dem er seit Tagen nicht mehr geschlafen hatte, erwartete seine müden Knochen.

Bevor er sich zur Ruhe legte, warf Robert einen Blick durch die hohen Fenster. Dunkel lag der Isar-Komplex vor ihm. Direkt gegenüber von seiner Wohnung erhob sich ein großes Schild in den Himmel. Er brauchte kein Licht, um zu wissen, was darauf geschrieben stand:

Protect and Preserve empfiehlt: Senator Robert Gärtner? Ihre Stimme macht es möglich!

Seufzend zog Robert einen Vorhang vor das Fenster. Es gab kein Licht dort draußen, das er aussperren hätte können. Und er würde schon vor dem ersten Sonnenstrahl wieder die Wohnung verlassen, um seine Wahlkampagne voranzutreiben. Ob seine Tochter ihn wohl noch wiedererkennen würde, sollte sie eines Tages bei seiner Rückkehr noch wach sein?

Diese trüben Gedanken hielten Robert noch eine ganze Weile wach, bevor er sich schließlich in unruhigem Schlaf hin und her wälzte.

»Es ist 4:00 Uhr, guten Morgen Herr Gärtner, es ist 4:00 Uhr, guten Morgen Herr Gärt...«

Ein nur wenig sanfter Schlag gegen den Sensor am Kopfende seines Betts beendete das monotone Gebrabbel der Computerstimme, die Robert nach viel zu wenig Schlaf wieder in einen Wachzustand beförderte.

Es hatte Wochen gedauert, bis er die Genehmigung bekommen hatte, so früh am Morgen Strom für seinen Wecker zu bekommen. Und schon nach einigen Tagen verfluchte sich der Mann dafür, sich das Ding jemals gewünscht zu haben.

Vor Müdigkeit taumelnd bewegte er sich auf die Fensterfront zu und stellte nach dem Beiseiteziehen der Vorhänge fest, dass es immer noch relativ dunkel und sehr ruhig war. Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung des Isar-Komplexes startete der Tag in genau zwei Stunden und 58 Minuten, sobald in jedem Haushalt der Strom wieder eingeschaltet wurde und Millionen von Weckern den Arbeitstag für die Bevölkerung einläuteten.

Schon etwas wacher als noch vor einigen Minuten, schlüpfte Robert in einen der Anzüge in seinem Kleiderschrank, nachdem er seiner Ultraschalldusche einen kurzen Besuch abgestattet hatte. Auf leisen Sohlen bewegte er sich in das Wohnzimmer seiner Wohnung und öffnete einen Schrank, in dessen kleinen Fächern Kunststoffröhrchen in verschiedenen Farben lagen. Immer noch nicht an diese Art der Nahrungsaufnahme gewöhnt, zog Robert eine Tabelle zurate, die vom Senat zur idealen Ernährung aller Erdenbürger ausgegeben worden war. Robert spülte die geschmacklose Handvoll bunter Pillen mit einem Schluck Wasser aus einer Kunststoffflasche hinunter. Er durfte nicht zu viel trinken, schalt er sich in Gedanken. Die kleine Flasche stellte eine volle Tagesration für ihn und seine Tochter dar. Er würde sich wohl nie an den Gedanken gewöhnen, dass er einen Großteil seiner Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mit dem Einnehmen der bunten Pillen deckte. Andrea, seine Tochter, hingegen war erst fünf Jahre alt und hatte nie eine andere Art der Grundversorgung erlebt.

Robert schloss den Schrank, nachdem er alle Behältnisse wieder an ihrem angestammten Platz verstaut hatte, und schlüpfte in seine Jacke. Im gesamten Isar-Komplex herrschte eine konstante Temperatur von 22 Grad Celsius, zumindest in den überdachten Gebieten, die einen Großteil des Areals ausmachten. Robert griff nach seiner Umhängetasche und trat schließlich vor die Tür, als sich die ersten Vorboten des Sonnenaufgangs am Horizont zeigten und die hohen Gebäude in violettes Licht tauchten.

Auf seinem Weg zu den Transportbändern begegnete ihm keine Menschenseele. Er wusste zwar, dass es keinen Sinn hatte, so früh am Morgen den Weg zu den solarenergiebetriebenen Transportbändern zu machen, doch trotzdem war es für ihn nach Jahren der Routine sein üblicher Arbeitsweg, von dem er nicht abwich. Tatsächlich standen die Bänder still, als er sie schließlich erreichte. In dem Wissen, noch etwas Zeit bis zu seinem offiziellen Arbeitsbeginn zu haben, schlenderte der schlaksige junge Mann mit dem braunen Haar an der Seite eines der Bänder über den halbtransparenten Kunststoffboden durch den Komplex. Rings um ihn erhoben sich Gebäude, in denen noch kein Licht brannte. Der Komplex, in dem Robert vor beinahe dreißig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte, erstreckte sich viele Kilometer weit in jede Himmelsrichtung. Bisher hatte er den Isar-Komplex auch noch nie verlassen und bezweifelte, dass dies jemals eine Notwendigkeit darstellen würde. Er war hier geboren, die Grundschule hatte er dreißig Stockwerke unter der elterlichen Wohnung im selben Gebäude besucht, die weiterbildende Schule war fünf Minuten mit dem Transportband entfernt gewesen und die Universität nur einen Steinwurf entfernt. Und auch jetzt, wo er selbst Vater einer kleinen Tochter war, hatte ihn sein Weg nur an ein Ziel geführt, der circa fünf Kilometer von seinem einstigen Elternhaus entfernt lag. Er war noch nie zuvor in seinem Leben über etwas gestolpert, was er gebraucht oder gewollt hätte und das es nicht in seiner direkten Reichweite gab.

Auf der Hälfte seines Arbeitswegs schlenderte der Wahlkandidat zum Senator an einer Skulptur vorüber, zu der er kurz aufblickte. Das Bildnis stellte eine Frau dar, die ihr Gesicht der Sonne zugewandt hatte. Nur die wenigsten Menschen erinnerten sich an den Anlass, zu dem das Kunstwerk aufgestellt worden war.

Robert hielt inne und versuchte, sich zu erinnern. Es musste im Jahr 2498 gewesen sein, als Robert gerade acht Jahre alt gewesen war. Als einziges Kind einer recht betuchten Familie kam er selten in den Genuss zu erfahren, wie es um die ärmeren Teile der Weltbevölkerung stand. Doch damals hatte es einen Aufstand gegeben, irgendwo, weit entfernt auf der anderen Seite der Welt. Aus Gründen, die Robert bis heute nicht verstand, hatten sich manche Menschen der neuen Regierung widersetzt.

Bei dem Gedanken musste er den Kopf schütteln.

Die neue Regierung hatte damals Gesetze erlassen, die in erster Linie die Schonung der Planetenressourcen im Sinne hatten. Dazu gehörte die Nutzung wiederverwertbarer Energieformen in allen Zweigen von Wirtschaft und Industrie. Der Aufstand damals hatte stattgefunden, weil sich irgendwelche Bauern dagegen widersetzt hatten, die Maßnahmen des weltweiten Senats von Protect and Preserve umzusetzen. Warum, wusste Robert nicht. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass der Aufruhr große Wellen geschlagen hatte und dass das Jahr, in dem man die Skulptur aufgestellt hatte, das letzte gewesen war, in dem er »normale« Nahrung auf seinem Teller vorgefunden hatte. Danach war die Versorgung mit Nährstoffpillen eingeführt worden, was das Leben für viele Menschen wesentlich erleichtert hatte. Er konnte sich kaum noch erinnern, wie das Essen geschmeckt hatte, dass ihm seine Eltern damals vorgesetzt hatten. Er wusste nur, dass sein Vater ab diesem Zeitpunkt viel länger gearbeitet hatte und er ihn bis zu seinem Tod vor einem Jahrzehnt kaum noch gesehen hatte.

Robert wandte seinen Blick von der Statue ab und setzte seinen Weg fort. Er konnte Geräusche hinter einigen Kunststofffenstern hören, die zu kleinen Geschäften gehörten, die die Bewohner des Isar-Komplexes mit der Morgenzeitung in digitaler Form versorgten und andere kleine Dienstleistungen anboten. Das Stadtgebiet begann zu erwachen, und ehe sich Robert versah, hatten ihn seine Beine bereits zu seinem Arbeitsplatz getragen. Das größte Gebäude des Komplexes erhob sich majestätisch in den noch halbdunklen Himmel. Die digitale Anzeige, die im nächsten Moment zu laufen begann, war kilometerweit zu lesen:

Protect and Preserve –

Ally to all living beings, ally to nature.

3: FREMDER

»Erdenzeit 8:15«, schnarrte die Computerstimme.

Aubrine öffnete die Augen. Sie konnte die Decke eines Raums sehen, der sich deutlich von dem unterschied, in dem sie das Bewusstsein verloren hatte. Sie saß in einem weichen Polstersessel, nicht gefesselt und mit einer Decke zugedeckt, die aus zerrissenen Wollfetzen bestand. Aubrine runzelte die Stirn und stellte fest, dass ihr jemand eine Art kalten Sack auf den Kopf gelegt hatte. Das Gefühl war durchaus angenehm und vertrieb die stechenden Kopfschmerzen, die sie zuvor noch gespürt hatte. Sie nahm sich vor, es sich nicht zur Gewohnheit zu machen, ständig das Bewusstsein zu verlieren.

Desorientiert blickte Aubrine sich in dem seltsamen Zimmer um, das wie ein Büroraum aus einem Museum wirkte, als sie hinter sich das Schnarren einer weiteren Computerstimme hörte.

»Guten Morgen, ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagte die verzerrte Stimme mit starkem russischen Akzent.

Erschrocken zuckte Aubrine in ihrem Sessel zusammen und sah in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Sie blickte in die dunklen Augen eines sehr jungen Mannes, der auf einem Schemel hinter ihr saß. Was ihr allerdings das Blut in den Adern gefrieren ließ, waren weder die zerschlissene Kleidung des Mannes noch sein seltsam bunter Irokesenhaarschnitt, sondern der Anblick seines Gesichts. Über der unteren Hälfte lag eine Metallvorrichtung, die aussah, als wäre sie mit der umliegenden Haut verwachsen. Dort, wo eigentlich der Mund sein sollte, blinkten rote und gelbe Lichter, wenn der Mann sprach.

»Keine Angst, ich tue Ihnen nichts«, sprach der Mann und hob entwaffnend seine Hände. Während Aubrine den Mann mit der seltsamen Frisur unverhohlen anstarrte, erhob sich dieser und machte einen vorsichtigen Schritt auf Aubrine zu, die instinktiv immer tiefer in der Polsterung ihrer Sitzgelegenheit zu verschwinden versuchte.

»Mein Name ist Alex«, sagte der junge Mann und streckte ihr seine rechte Hand entgegen. An seinen Augen konnte Aubrine sehen, dass er lächelte.

Sie fasste sich ein Herz, packte seine Hand und nickte ihm zu. Sie konnte nicht sprechen und musste immerzu daran denken, ob ihr Gesicht wohl genauso schlimm aussah wie das ihres Gegenübers. Alex schüttelte ihre Hand mit festem Händedruck.

»Bewegen Sie sich nicht zu viel, Sie müssen große Schmerzen haben. Ich arbeite schon daran, dass auch Sie bald wieder sprechen können. Leider ist das aufgrund mangelnder Werkzeuge nicht so einfach.«

Alex setzte sich wieder auf seinen Schemel und nahm einen kleinen Schraubenzieher in die Hand. Er begann, sich an einem kleinen metallischen Konstrukt zu schaffen zu machen, an dem zwei Lichter abwechselnd blinkten. Aubrine, die versuchte, ihre hektisch kreisenden Gedanken zu ordnen, erkannte zumindest, dass es sich bei dem Ding, an dem Alex arbeitete, vielleicht um eine ähnliche Konstruktion handelte, wie sie sich auch in seinem Gesicht befand.

Alex blickte kurz von seiner Arbeit auf und sah Aubrine forschend an, die mit vor Schreck geweiteten Augen noch immer vor ihm saß.

»Ich weiß, es ist verwirrend, kurz nach dem Aufwachen. Aber die Erinnerungen kommen wieder. An manchen Tagen gute, an anderen schlechte, aber sie kommen wieder.«

Trotz ihrer Angst fiel Aubrine auf, dass die Hände des jungen Mannes zitterten, als er sich wieder seiner Arbeit widmete. Alex vermied es, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, und Aubrine fragte sich, was ihm wohl widerfahren war. Zum ersten Mal, seit sich in den letzten wachen Momenten Schrecken und Angst abgewechselt hatten, erlaubte sie sich, die Augen freiwillig zu schließen und tief durchzuatmen. Doch der Versuch eines tiefen Atemzugs erinnerte sie auf grausame Art und Weise an das, was mit ihrem Gesicht nicht in Ordnung war. Das Einatmen fiel ihr schwer. Fast schien es ihr, als wäre es so gewollt. Ganz so, als hätte man bei der Erfindung dieses Dings penibel darauf geachtet, dass sein Besitzer zwar Luft bekam, aber gerade so viel, dass es zum Überleben reichte.

Aubrine öffnete die Augen wieder. Alex arbeitete noch immer konzentriert an den kleinen mechanischen Teilen, die vor ihm lagen. Allerdings hatten seine Hände aufgehört zu zittern.

Außer den beiden Sitzgelegenheiten gab es in dem Raum noch Regale an den Wänden, die leer waren, und etwas, das einmal ein Schreibtisch gewesen sein mochte. Mit einem weiteren Blick konnte Aubrine den Grund für den erbarmungswürdigen Zustand des Möbelstücks feststellen. In der Ecke des Raumes loderte ein kleines Feuer auf dem Boden, das schwarze Rauchringe zur Decke schickte. Der Anblick des Feuers weckte eine Erinnerung in Aubrine, die sie kurz zusammenzucken ließ. Sie konnte dieses Gedankenbild nicht klar fassen, dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie die lodernden Flammen mit etwas Negativem verband.

»Wenigstens ist es hier warm, Sicherheit hin oder her«, merkte Alex an, als er ihren Blick in Richtung des kleinen Lagerfeuers bemerkt hatte. Aubrine runzelte die Stirn.

»Ach stimmt, Sie erinnern sich ja nicht. Wissen Sie denn, wo Sie sind?«

Aubrine schüttelte den Kopf, mehr und mehr davon genervt, dass er sie siezte, ohne den genauen Grund für ihre Aufregung darüber fassen zu können.

»Wir sind auf dem Mond, Station 23 C. Herzlich willkommen!«

Die theatralische Geste, die Alex bei dieser Aussage vollführte, gepaart mit seinem schweren Akzent, hätten Aubrine in einer weniger seltsamen Situation wahrscheinlich zum Lachen gebracht. Nun aber begannen Erinnerungsfetzen auf ihren müden Geist einzustürmen wie wahre Sturzbäche.

Sie konnte eine Straße sehen, eine breite schmutzige Straße und eine große Menge schmutziger Menschen, die sie aus neugierigen Augen anstarrten wie ein Insekt, das sich in die Küche eines Nobelrestaurants verirrt hatte. Sie kamen auf sie zu und Aubrine hielt ihre Arme schützend vor ihr Gesicht. Sie konnte eine Stimme hören, die ihren Namen rief, eine vertraute Stimme. Doch sie konnte nur ihre Arme ansehen, die in so viel sauberer Kleidung steckten, als jene es war, die die Menschen um sie herum trugen.

»Hey, alles in Ordnung?«

Das Bild verblasste und machte dem jungen Mann mit dem Irokesenhaarschnitt Platz, der vor ihrem Gesicht mit den Fingern schnippte.

»Sie erinnern sich, nicht wahr?«

Aubrine brachte ein Nicken zustande und setzte sich aufrecht in den Sessel. Alex hielt ihr das blinkende Konstrukt vor die Nase, an dem er gearbeitet hatte.

»Ich weiß nicht, ob es sofort funktioniert. Mir fehlen einige Ersatzteile. Aber einen Versuch ist es wert. Keine Angst, es tut nicht weh.«

Aubrine beobachtete, wie sich Alex an ihrem Gesicht zu schaffen machte. Die Schmerzen in ihrem Kiefer ließen nach, sobald es ihr gelang, ihre Muskeln zu entspannen. Mit einem kleinen Werkzeug hantierte Alex an dem Gegenstand, der ihre untere Gesichtspartie bedeckte. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihr Gegenüber und die Maske in seinem Gesicht näher unter die Lupe zu nehmen. Er konnte kaum älter als zwanzig Jahre sein und seine Augen leuchteten in hellem Blau. Aubrine konnte allerdings nicht genau sagen, wie alt er wohl sein mochte. In diesem Moment bemerkte sie zum ersten Mal, was für ein wichtiger Teil der Mund eines Menschen war, um einen Gesamteindruck von seinem Gesicht zu bekommen. Instinktiv versuchte Aubrine zu seufzen und die Anspannung ihrer Gesichtsmuskeln jagte einen unangenehmen Stich durch ihren Unterkiefer.

»Nicht bewegen. Ich glaube, Sie haben die Maske noch nicht lange. Es dauert eine ganze Weile, bis die Narben heilen. Dann spüren Sie sie kaum noch.«

Wut flackerte in Aubrines Augen, als sie versuchte, den Worten ihres Gegenübers keinen Glauben zu schenken. Sie wollte diese Maske nicht akzeptieren, dieses Konstrukt nicht behalten. Sie verstand auch nicht, was für einen Sinn dieses Ding in ihrem Gesicht haben sollte.

»Das kleine Gerät, das ich anbringe, zeichnet minimale Bewegungen von Gesicht und Lippen auf und übersetzt diese Bewegungen in gesprochene Sprache. Eigentlich wurde es ursprünglich mit Zungenbewegungen gesteuert, aber na ja ...«

Alex verstummte und Tränen stiegen in Aubrines Augen. Selbst wenn sie die Maske loswerden könnte, wäre sie nicht mehr fähig, normal zu sprechen. Sie hatte längst bemerkt, dass man ihr die Zunge geraubt hatte. Und wenn ihre eigene Maske so befestigt war wie die von Alex, würde ihr Gesicht wahrscheinlich entstellt bleiben, wenn diese fort war.

»So, jetzt versuchen Sie einmal, vorsichtig zu sprechen.«

Alex legte seine Werkzeuge zur Seite und sah Aubrine mit erwartungsvollem Blick an.

»Hallo?«

Aubrine erschrak, als sie die zwar weibliche, allerdings verzerrte Computerstimme hörte, mit der sie nun sprechen musste. Alex hingegen verfiel in helle Begeisterung.

»Es funktioniert!« Er klopfte ihr auf die Schulter und strahlte sie mit den unschuldigen Augen eines Kindes an, das gerade ein Geschenk bekommen hat. »Es funktioniert!«

Trotz ihres vorherigen Zorns musste Aubrine bei diesem Anblick lächeln oder versuchte es zumindest. Alex freute sich wirklich und angesichts der seltsamen Umstände, in denen sich die beiden befanden, gab es auf dieser Station allem Anschein nach nur äußerst selten Grund zur Freude.

»Warum sind wir hier?«, brachte Aubrine mit ihrer neuen Sprechstimme heraus.

Sie konnte sehen, wie die Freude in Alex’ Augen erstarb wie ein Feuer im Regen. Er setzte sich wieder auf seinen Schemel und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

»Das ist eine lange Geschichte, und zwar keine sehr angenehme. Zumindest, falls Sie aus ähnlichen Gründen hergekommen sind wie alle anderen hier.«

»Andere? Wir sind hier nicht allein?«

Alex holte tief Luft und warf einen Blick zur Decke. Aubrine konnte sehen, dass sich seine Augen mit Tränen füllten.

»Ich dachte, ich wäre allein, bis ich Sie gefunden habe. Aber ich habe mich getäuscht ...«

4: TRETMÜHLE

Robert trommelte mit den Fingerspitzen auf die glatte Oberfläche seines Schreibtischs. Obwohl erst vor wenigen Tagen verkündet worden war, dass seine voraussichtlichen Wahlergebnisse in einem positiven Rekordbereich liegen würden, schien sich zumindest am heutigen Tag kein Mensch dafür zu interessieren. Selbst seine Sekretärin hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt, als er den Raum betreten hatte.

Er vermisste seine Tochter in diesem Moment mehr denn je. Manchmal gewann er den Eindruck, dass sie die Einzige war, die sich über seine Anwesenheit so freute, dass man es auch bemerkte.

Gelangweilt und frustriert schlug Robert seinen Terminkalender auf, eine große Kunststoffmappe, die man mit einem unhandlich dicken Stift immer wieder beschreiben konnte. Tatsächlich hatte er heute bis auf seine normale Öffentlichkeitsarbeit keine weiteren Termine zu absolvieren. Normale Öffentlichkeitsarbeit hieß in seinem Fall, dass er in einem seit Jahren weniger als spärlich besuchten Bürgerforum sitzen und darauf warten würde, sich um nicht vorhandene Sorgen und nichtige Probleme zu kümmern.

Dennoch liebte Robert seinen Job. Wenn nicht, wie heute, Termin auf Termin folgte, war die Arbeit eine willkommene Ablenkung von den trüben Gedanken, die ihn manchmal heimsuchten. Außerdem trat er für eine gute Sache ein. Die Erde galt nun seit mehreren Jahren offiziell als »sauber«. Die Verschwendung von Ressourcen war so weit wie nur möglich eingedämmt und die Welt setzte auf erneuerbare Energie. An so etwas wie eine Kriminalitätsrate konnte sich Robert nur noch dunkel aus seiner Kindheit erinnern. Die Welt war ruhig, für den angehenden Senator manchmal zu ruhig, denn seine Gedanken waren umso lauter. Die Gedanken an seine Frau, die sich vor drei Jahren ganz plötzlich das Leben genommen hatte, und an seine Tochter, die viel zu viel Zeit mit dem Kindermädchen verbringen musste.

Robert stand auf und blickte aus dem Fenster. Seine Frau war die Liebe seines Lebens gewesen, doch seit sie ihrem Leben mit einem Sprung aus dem achtundvierzigsten Stock ein jähes Ende bereitet hatte, war sie nicht nur für Robert gestorben. Selbstmord wurde vom Protect and Preserve-Senat nicht gutgeheißen, ja am liebsten im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Selbstmord warf in einer Welt, in der niemand wirkliche Probleme hatte, unangenehme Fragen auf. Deswegen war es so, als hätte es eine der wichtigsten Personen für Robert niemals gegeben.

Ihm war mehrmals klargemacht worden, dass er Glück hatte, einen so gnädigen Arbeitgeber zu haben, der ihn trotz des Fehlers seiner Frau weiterbeschäftigte.

Der junge Mann beobachtete, wie viele Stockwerke unter seinem Büro der Isar-Komplex in stetiger Betriebsamkeit pulsierte. Überall liefen Menschen, auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlicher, aber trotzdem erstaunlich ähnlich aussehender Kleidung. Manche ließen sich auf einem der zahlreichen Transportbänder von einem Ort zum anderen transportieren und andere gingen zu Fuß. Doch alle erweckten den ständig präsenten Eindruck von milder Hektik und Betriebsamkeit.

Robert wandte sich von diesem Bild vor seinem Fenster ab, als es an der Tür klopfte.

»Herr Gärtner, Frau Tenner möchte Sie sprechen. Sie sollen in ihr Büro kommen.«

»Danke«, murmelte Robert seiner nervös wirkenden Sekretärin zu. Die junge Frau hatte Angst vor seiner Vorgesetzten, Frau Tenner, was er nicht verstehen konnte. Die Frau in der Chefetage der politischen Abteilung war zwar streng, jedoch auch ruhig und besonnen, und man konnte immer mit ihr sprechen.

Robert setzte sich gemächlich in Bewegung und griff nach seiner Mappe. Er vermutete, dass Frau Tenner neue Termine für ihn hatte. Vielleicht ein Geschäftsessen, ein Fototermin oder ein Interview, aber auf jeden Fall etwas, was in wieder einmal davon abhielt, seine Tochter vor dem Zubettgehen zu sehen. Dessen war sich Robert sicher, als er die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Von der hektischen Betriebsamkeit, die im Komplex herrschte, war im Inneren des Protect and Preserve-Gebäudes nichts zu bemerken. Hell erleuchtete Gänge, die nur von wenigen Mitarbeitern gleichzeitig frequentiert wurden und wie ein Ei dem anderen glichen, umgaben Robert auf dem Weg zu seiner Vorgesetzten.

Er klopfte an die Tür und es dauerte keine Sekunde, bis er eine Stimme vernahm, die ihn ins Innere des Raums bat.

Frau Tenner saß hinter einem schlicht gehaltenen Schreibtisch, der das einzige größere Möbelstück in dem Raum war. Hinter ihr drang helles Licht durch die transparenten Fensterfronten, die auf Hochglanz poliert waren.

»Guten Tag, Herr Gärtner.«

Seine Vorgesetzte blickte kaum merklich von ihrer Mappe auf, in die sie gerade etwas eintrug. Robert beschränkte sich auf ein Nicken und nahm der älteren Frau mit dem streng zurückgebundenen Haar gegenüber Platz. Er wusste, dass es oft dauerte, bis Frau Tenner mit dem herausrückte, was ihr auf dem Herzen lag. Es dauerte aber nur noch ein paar Sekunden, bis sie den Stift neben sich auf dem Tisch ablegte und Robert mit einem Gesichtsausdruck ansah, der ihm nicht verriet, welcher Art das kommende Gespräch sein würde.

»Es gibt Probleme.«

Ihr Gesichtsausdruck hatte sich auch angesichts dieser für ihre Person recht dramatischen Aussage nicht verändert. Robert blickte sie fragend und verwirrt an.

»Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Robert.«

Die kleine Frau erhob sich aus ihrem eiförmigen Bürostuhl und begann, an der Fensterfront entlangzulaufen.

»Ein generelles Problem, das die ganze Firma betrifft.«

Warum erzählte sie ihm so etwas? Robert war keineswegs der Chefetage zuzuordnen und selbst nach seiner eventuellen Wahl zum Senator würde er nicht viel mehr darstellen als das öffentliche Gesicht einer Regierung und Firma, die es vorzog, hinter den eigenen Mauern die Entscheidungen zu treffen, die er nur zu verkünden hatte.

Seine Vorgesetzte blieb mit dem Rücken zu ihm an der Fensterfront stehen. Er konnte sehen, wie sich ihre Schultern bei jedem Atemzug auf und ab bewegten.

»Inwieweit sind Sie mit dem historischen Wissen um die früher existierenden Weltraumprogramme vertraut?«

Frau Tenner wandte sich um und sah Robert erwartungsvoll an. Der junge Mann dachte kurz an den Geschichtsunterricht. Natürlich wusste er, dass die Menschheit vor vielen Hunderten von Jahren Anstrengungen unternommen hatte, den Mond, den Mars und andere Himmelskörper zu bereisen. Er wusste auch, dass es bei Mond und Mars gelungen war und dass es eine große Raumstation im Orbit der Erde gegeben hatte, die mittlerweile als Weltraummüll um den Planeten trieb und mit einem guten Fernglas in klaren Nächten auch als kleiner Punkt am Himmel zu sehen war.

Doch wie bei so vielen Dingen hatte man sich von diesen Anstrengungen abgewandt, als die Probleme auf der Erde selbst die Aufmerksamkeit ihrer Bewohner zu hundert Prozent gefesselt hatten. Die explodierende Weltbevölkerung, die Suche nach neuen Materialien und Ressourcen und die Eindämmung von Umweltverschmutzung und Kriminalität hatten den Fokus der Menschen wieder auf die Erde direkt konzentriert. Die Bestrebungen, diese Probleme zu lösen, waren schließlich erfolgreich gewesen. Soweit er wusste, hatte es keine Versuche mehr gegeben, ins Weltall vorzustoßen.

Einen kurzen Abriss seiner Schulbildung in dieser Richtung teilte er seiner Vorgesetzten mit, die zustimmend nickte.

»Was ich Ihnen gleich zeige, unterliegt der strengsten Geheimhaltungsstufe, die wir in diesem Gebäude und damit überall auf der Welt kennen.«

Frau Tenner setzte sich wieder und betätigte einen für Robert nicht sichtbaren Schalter an ihrem Schreibtisch. Vor dem jungen Mann fuhr das Display eines Bildtelefons aus der spiegelnden Fläche. Wenig später baute sich ein Bild auf. Der Kopf eines Mannes war zu sehen. Irgendetwas schien mit seinem Telefon nicht zu stimmen, da das Bild manchmal stockte und von unzureichender Qualität war. Der Mann auf dem Display sah insgesamt merkwürdig aus, der Kragen seines Hemds war zerrissen und schmutzig, und seine Haare waren bunt gefärbt und seltsam frisiert.

Robert runzelte die Stirn. Der Mann in der Aufzeichnung hatte eine seltsame Maske auf, die seinen Mund bedeckte. Man konnte sehen, dass er sich immer wieder angsterfüllt umsah und zu sprechen schien. Jedenfalls bewegten sich seine Arme und Hände ganz so, als würde er sprechen, aber man konnte keinen Ton hören. Die Aufzeichnung endete abrupt, als der Mann seinen Arm hob und das Telefon anscheinend ausschaltete.

»Kennen Sie diesen Kerl?«

Robert war überrascht von dieser Frage und schüttelte verwirrt den Kopf. Frau Tenner ließ die Vorrichtung wieder in ihrem Tisch versinken und blickte ihn forschend an.

»Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich habe noch nie jemanden wie ihn gesehen.«

Robert bemerkte, dass er nervöser klang, als er beabsichtigt hatte. Er fragte sich ernsthaft, was diese seltsame Darbietung mit ihm oder seiner Wahl zum Senator zu tun haben sollte.

»Warum stammt diese Nachricht dann von Ihrer Mailbox, aus Ihrem Haus?«

Frau Tenner hatte sich wieder an die Fensterfront begeben und ihm den Rücken zugedreht. Robert schnappte empört nach Luft.

»Sie~... Sie kontrollieren mich?«

Diese offensichtliche Tatsache schockierte ihn viel mehr als die seltsame Aufzeichnung, die er gerade gesehen hatte.

»Was erwarten Sie?«, beantwortete Frau Tenner seine Frage und drehte sich um. »Protect and Preserve kümmert sich um seine Mitarbeiter.«

Zwar war sich Robert dessen bewusst, dass die Firma seine Schritte beobachtete, wenn er im Dienst war, schließlich war er als wählbarer Kandidat eine Person der Öffentlichkeit. Doch einen Eingriff in sein Privatleben hatte er bisher weder bemerkt noch für möglich gehalten.

Robert wusste nicht, was er sagen sollte. Er rutschte auf seinem eigentlich bequemen Stuhl hin und her. Zuletzt hatte er sich so fehl am Platz gefühlt, als ihm ein Mann der örtlichen Sicherheitskräfte mitgeteilt hatte, dass seine Frau nicht mehr lebte.

»Sie dürfen gehen, Herr Gärtner.«

Sie schickte ihn weg? Einfach so? Robert erhob sich und stakste mit steifen Schritten auf die Tür des Büros zu.

Er hatte die Tür beinahe hinter sich zugezogen, als er noch einmal die Stimme seiner Vorgesetzten vernahm.

»Herr Gärtner, passen Sie auf sich auf!«

Robert atmete tief durch, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eilig machte er sich auf den Weg zurück in sein Büro. Er schickte seine Sekretärin auf einen sinnlosen, aber langwierigen Auftrag, um eine Weile allein sein zu können.

Danach betätigte er einen Schalter an seinem Schreibtisch und wählte die Nummer seines eigenen Hausanschlusses. Es dauerte eine Weile, bis sein Haus- und Kindermädchen den Anruf annahm.

»Hallo, Catrina!«

»Guten Tag, Herr Gärtner.«

Das Bild der jungen Frau war klar, ihre Stimme deutlich zu hören und im Hintergrund sang seine Tochter.

»Catrina, gab es in letzter Zeit Anrufe, die Sie nicht notiert haben?«

Er konnte sehen, wie sich die Stirn der Frau in Falten legte. Sie war beleidigt. Catrina erledigte alle ihre Aufgaben zuverlässig, das wusste er.

»Nein, Herr Gärtner, und außer dem Anruf aus dem Kindergarten gab es keine weiteren. Das Formular, das Sie für den Ausflug ins Museum unterschreiben müssen, liegt seit gestern auf Ihrem Schreibtisch.«

»Danke, Catrina, war auch wirklich nichts auf der Mailbox?«

Er wusste spätestens, als er den wütenden Ausdruck in ihren Augen sah, dass er ihr auf dem Heimweg ein Entschuldigungsgeschenk kaufen würde.

»Vergessen Sie das, Sie leisten hervorragende Arbeit.«

Ein gezwungenes Lächeln erschien auf Catrinas Gesicht.

»Wollen Sie Ihre Tochter sprechen?«

Robert verneinte und erklärte Catrina, dass er heute etwas früher Feierabend machen würde. Sie verabschiedeten sich und Robert notierte sich in seinem Kalender, dass er auf dem Heimweg im Einkaufszentrum vorbeischauen würde. Danach widmete er sich einigen Vorschlägen für Interviews, bevor er sich auf den Weg zu seiner Arbeit im Bürgerzentrum machte.

5: ALEX

Aubrine beobachtete, wie Alex geschäftig hin und her lief. Er hatte sich in der letzten Stunde damit begnügt, in einer Sprache mit sich selbst zu sprechen, die Aubrine nicht verstehen konnte. Sie vermutete, dass es sich dabei um Russisch handeln musste, was aber nichts daran änderte, dass sie kein Wort verstand.

Alex hatte einen Teil des Schreibtischs in das Feuerchen geworfen und schwarzer Rauch hatte sich in dem kleinen Raum ausgebreitet, bis die Lackschicht verbrannt war.

Sie wusste nicht, was er da tat, aber ein seltsam aromatischer Duft breitete sich im Zimmer aus. Schließlich reichte Alex Aubrine einen kleinen blauen Becher mit brauner Flüssigkeit und einen dünnen Strohhalm.

Aubrine blickte abwechselnd den Inhalt des Bechers und ihr Gegenüber mit dem bunten Haar an.

»Vorsicht, heiß!«

Aubrine schnüffelte neugierig an der Flüssigkeit und konnte sich nicht entscheiden, ob sie den Geruch angenehm oder widerlich finden sollte.

»Es ist Kaffee, keine Angst«, sagte Alex und sie konnte wieder an seinen leuchtenden Augen sehen, dass er lächelte.

»Danke.«

Vorsichtig steckte Aubrine den Strohhalm durch die enge Öffnung in ihrer Maske und schloss ihrer schmerzenden Lippen um den Halm. Sie saugte langsam an dem Strohhalm und eine kleine Fontäne warmer, bitterer Flüssigkeit machte sich breit in ihrem Mund und dem kleinen Rest, der ihr von ihrer Zunge geblieben war. Aubrine verzog das Gesicht, was weitere Schmerzen in ihrem Mundbereich zur Folge hatte.

»Schmeckt Ihnen nicht? Schade, ich habe ihn für den Fall aufgehoben, dass ich irgendwann Besuch bekomme.«

»Danke, Alex, und bitte hör auf, mich zu siezen. Das macht die Situation noch seltsamer, als sie ohnehin schon ist«, sagte Aubrine, während sie ihren Becher auf den Resten des Schreibtischs abstellte.

»Ich bin übrigens Aubrine.«

Alex packte ihre ausgestreckte rechte Hand und schüttelte sie. Doch trotz des freundlichen Ausdrucks in seinen Augen bemerkte die aufmerksame junge Frau, wie er seinen Kopf schief legte und sie skeptisch ansah.

»Also, was soll das alles hier?«

Alex seufzte und der unbeschwerte Ausdruck auf seinem Gesicht wich einem Blick voller Trauer und Schmerz.

* * *

Er kannte das alles nicht anders und begann zu erzählen. Alex, was die Kurzform für Alexej war, war schon immer hier gewesen. Er war auf dieser Station auf dem Mond geboren. Man hatte ihm erzählt, dass seine Mutter schon monatelang hier gewesen war, bevor er zur Welt gekommen war. Doch seine Mutter hatte er nie kennengelernt. Ob sie bei seiner Geburt oder etwas später gestorben war, hatte ihm nie jemand gesagt. Er war bei dem Mann, den er Vater genannt hatte, aufgewachsen. Dieser hatte ihm viele der seltsamen Eigenheiten der Station erklären können, jedoch bei Weitem nicht alle.

Alex nahm einen Schluck von seinem Kaffee und erzählte weiter.

Die Station war über hundert Jahre alt und war als Forschungsprojekt einer kleinen Organisation, deren Namen er nicht kannte, entstanden. Doch schon bevor Alex geboren worden war, hatte es Probleme auf der Erde gegeben. Der Platz war zu knapp geworden, genau wie die Nahrung und das Geld vieler Menschen.

Irgendwann hatte man es sich nicht mehr leisten können, jeden durchzufüttern, und diejenigen, die genug von allem hatten, hatten entschieden, sich nach Lösungen umzusehen, damit sie auch in Zukunft noch genug hätten. Ein Großteil des Problems hatte sich für die Menschen, die alles hatten, erledigt, indem sie den ärmeren einfach nicht mehr geholfen hatten. Ohne viel Aufsehen waren diese gestorben: an Hunger, an Krankheiten und an anderen Dingen. Es war leerer geworden auf der Erde, es war ruhiger geworden.

Doch Störenfriede hatte es noch immer gegeben. Störenfriede, die Nahrung und Platz verbrauchten und das idyllische Bild störten, das die neue Version der Erde zu einem so schönen Ort machte.

Aufgrund dieser Feststellung hatten die meisten Länder damit begonnen, die Todesstrafe für schwere Verbrechen wieder einzuführen. Irgendwann hatte auch das nicht mehr gereicht und man hatte den Verbrechenskatalog ausgedehnt. Viel weniger als Mord hatte ab diesem Zeitpunkt gereicht, um sein Leben zu verlieren. Alex’ Ziehvater hatte ihm erklärt, dass die Angst groß gewesen war, selbst in der unbescholtenen Bevölkerung. Schließlich wusste man nicht, ob es nicht einen Zeitpunkt geben würde, ab dem man selbst für geringe Verfehlungen mit dem Tode bestraft wurde.

Unmut hatte sich in der Bevölkerung geregt und viele Regierungen waren gestürzt worden. Die meisten unzufriedenen Erdenbürger hatten sich plötzlich einer Organisation angeschlossen, die damit warb, den Planeten schützen zu wollen, und damit natürlich auch die Menschen, die dort lebten. Die Organisation namens Protect and Preserve war größer und mächtiger geworden. Schließlich, als beinahe jede Regierung von Protect and Preserve-Mitarbeitern gestellt wurde, entschied man sich dafür, den Planeten, den man schützen wollte, in einer großen Globalregierung zu verwalten.

Es hatte einige Jahre gedauert, bis diese neue Regierung den Planeten so umstrukturiert hatte, dass man behaupten konnte, größtenteils umweltfreundliche Technologien zu verwenden.

Und um sich erkenntlich für die Wahl zur globalen Regierung zu zeigen, schaffte man die Todesstrafe ab. Wer nun Verfehlungen beging, kam in einer der zahlreichen Strafanstalten unter, die den modernsten Standards entsprachen und hermetisch von der »normalen Bevölkerung« abgeschottet waren.

»Doch Menschen sind seltsame Wesen«, merkte Alex an.

Die Verfehlung konnte noch so groß sein, das Verbrechen noch so schwer, aber wenn es ein Mensch begangen hatte, den man liebte, versuchte man sein Möglichstes, immer noch Teil seines Lebens zu sein. Doch offene Hafteinrichtungen waren der Regierung zu unsicher, nachdem es die ersten geglückten Fluchtversuche gegeben hatte.

»So sind meine Eltern hier gelandet.«

Alex saugte den letzten Rest Kaffee durch seinen Halm und lehnte sich zurück.

Aubrine konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Und sie konnte auch kaum glauben, dass sie sich an nichts, rein gar nichts von diesen Dingen erinnerte. Zwar war sie sich dessen bewusst, dass es eine Erde und einen Mond gab, und hatte eine vage Vorstellung davon, wie weit diese beiden Dinge voneinander entfernt lagen. Ob sie nun aber, wie Alex, auf dem Mond geboren oder erst später hierhergelangt war, wusste sie nicht.

»Was habe ich getan? Warum bin ich hier?«

Die Fragen hatten ihren Mund verlassen, bevor sich Aubrine dafür entschieden hatte, sie bewusst zu stellen.

Alex sah sie durchdringend an.

»Dass du hier bist, heißt nicht unbedingt, dass du ein schweres Verbrechen begangen hast. Meine Eltern zum Beispiel waren hier, weil sie zu viele unangenehme Fragen über die neue Regierung gestellt hatten.«

Alex seufzte, was ein Knistern in dem Gerät zur Folge hatte, das seine Computerstimme produzierte.

»Wenn ich genau darüber nachdenke, waren die meisten Menschen, die ich hier getroffen habe, keine Schwerverbrecher.«

»Wo sind diese Menschen hin?«

Alex schwieg und Aubrine konnte sehen, wie Schmerz sich erneut in seinem Gesicht breitmachte.

»Schlaf ein bisschen, das waren schon sehr viele Informationen für deine ersten wachen Stunden hier. Morgen erzähle ich dir gerne mehr.«

Aubrine bezweifelte, dass er irgendetwas davon gerne erzählen würde, als sie Alex dabei beobachtete, wie er sich erhob und den Raum verließ. Seine Bewegungen wirkten fahrig und nervös, und das erst, seit Aubrine ihre letzte Frage gestellt hatte.

Doch sie spürte auch, dass Alex recht hatte. Bleierne Müdigkeit machte sich in ihrem Bewusstsein breit und presste sie tiefer in ihre gepolsterte Sitzgelegenheit. Sie würde eine Weile schlafen. Denn obwohl sie Alex erst seit sehr kurzer Zeit kannte, fühlte sie sich in seiner Gegenwart erstaunlich sicher.

* * *

Alex machte sich zu seinem alltäglichen Rundgang in der Station auf. Das Licht der wenigen Neonröhren an der Decke beleuchtete seinen Weg, den er wahrscheinlich auch im Schlaf gefunden hätte. Er machte diese Kontrollgänge schon seit Jahren. Am Anfang hatten ihn die Wärter dazu eingeteilt, doch auch nach dem Verschwinden der Aufseher hatte er diese willkommene Abwechslung von der Stationsroutine weitergeführt.

Was für eine seltsame Frau er gefunden hatte. Er wunderte sich darüber, dass sie so ruhig blieb, wenn er ihr Dinge erzählte, die jeden anderen Menschen an den Rand des Wahnsinns bringen würden. Wahrscheinlich lag es daran, sagte sich Alex, dass sie sich an bedeutend weniger erinnerte als alle anderen, die hier gelandet waren. Er hatte Frauen und Männer nächtelang verzweifelt nach ihren Kindern schreien gehört, so lange, bis man auch ihnen die Fähigkeit zu schreien mit einem beherzten Schnitt mit dem Skalpell geraubt hatte. Alex schüttelte angewidert den Kopf. Selbst wenn man in dieser Umgebung aufgewachsen war, war man sich dessen bewusst, dass einige Dinge einfach nur falsch waren.

Der junge Mann kam in der ehemaligen Kantine der Station an und ließ seinen Blick über leere Tische und umgestürzt auf den Gängen liegende Stühle schweifen. Alles war so, wie er es zurückgelassen hatte. Gut.

Er schnappte sich einen Eimer mit brackigem, braunem Wasser und eine Bürste, holte tief Luft und bewegte sich auf die Küche zu. Bevor er die Tür öffnete, zog er sich den Kragen seines Overalls über die Nase.

Mit einem beherzten Stoß öffnete er die Küchentür. Trotz seiner Schutzmaßnahmen drang ein vertrauter metallischer Geruch an seine Nase. Überall an den gefliesten Wänden waren rote Flecke zu sehen, die ihre Farbe langsam nach Rostbraun veränderten.

Die Flecke waren groß und teilweise konnte man die Umrisse von Menschen ausmachen. Es sah aus, als wären sie vor der Wand stehend einfach explodiert. Alex erinnerte sich an die Schreie, an das Flehen in verschiedenen Sprachen und an die Angst, die er in seinem Zimmer gehabt hatte, als er gegen die Tür gelehnt gehofft hatte, dass es bald aufhören würde. Es hatte auch aufgehört, abrupt und mit Geräuschen, die an Weintrauben erinnerten, die man zwischen den Fingern zerquetschte. Stunden später hatte sich Alex dazu aufraffen können, nach dem Rechten zu sehen. Keine Leichen, keine Körperteile, nur die blutigen Umrisse an der Wand. Er begann, sie zu entfernen, mit Wasser und Bürste. Als er gerade den dritten Umriss bearbeitet hatte, war die automatische Sicherheitsdurchsage angesprungen. Einige Minuten danach hatte er Aubrine gefunden und seiner schmutzigen Arbeit den Rücken gekehrt. Nun, da sie schlief, fühlte sich der junge Mann verpflichtet, die Spuren dessen, was geschehen war, zu entfernen.

Er hatte keine Erklärung für das Geschehene und war sich auch nicht sicher, ob er eine wollte. Das Einzige, was er wusste, war, dass er seither keinerlei Kontakt mehr zu den anderen Stationsgebäuden herstellen konnte und ihm auch in diesem Gebäude niemand von den ehemals hundert Insassen und Wärtern mehr begegnet war.

Alex gab sich der monotonen Aufgabe des Schrubbens hin und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie die Flecke vor seinem Gesicht entstanden waren. Ein Rinnsal aus braunem Wasser bahnte sich seinen Weg zum Abfluss in der Mitte des Raumes, der gurgelnde Geräusche von sich gab. Er musste fertig werden, bevor Aubrine die Station zu erkunden begann. Er wollte nicht, dass die einzige menschliche Gesellschaft, die er noch hatte, in helle Panik ausbrach.

»Das wird ohnehin noch früh genug geschehen, wenn es wieder Alarm gibt ...«, murmelte Alex vor sich hin und tauchte die Bürste in das Gemisch aus Wasser und Blut.

6: HEIMAT

Es war niemand gekommen, es kam nie jemand. Das Bürgerzentrum war den ganzen Nachmittag lang wie ausgestorben gewesen. Nur ein paar gelangweilte Politiker und Beamte hatten verzweifelt versucht, sich gegenseitig die Zeit zu vertreiben. Robert hatte schließlich eine halbe Stunde vor dem offiziellen Ende seine Sachen gepackt und das Gebäude verlassen.

Seine Gedanken kreisten noch immer um das seltsame Treffen mit Frau Tenner. Sie war wütend gewesen; um das sagen zu können, kannte er sie gut genug. Und er hatte etwas in ihren Augen gesehen, das gar nicht zum Auftreten seiner Vorgesetzten passte – Angst.

Er wurde kontrolliert, auch zu Hause, das war ihm nun klar. Er machte sich Sorgen um seine kleine Tochter. Ihm war sehr daran gelegen, dass sie sich sicher fühlte, nachdem sie schon so früh ihre Mutter verloren hatte. Konnte er das gewährleisten nach allem, was er nun wusste? Und was wusste er überhaupt? Wenn er ehrlich war, so gut wie nichts.

In diesem Moment hätte er nur zu gerne mit seiner Frau gesprochen. Sie hatte immer Nerven wie Drahtseile bewiesen, wenn es Ärger an seinem Arbeitsplatz gab, der vor langer Zeit auch ihrer gewesen war.

Robert betrat eines der Transportbänder, das sich in flinkem Tempo in Richtung seiner Wohnung bewegte. Die Abendsonne tauchte die spiegelnden Oberflächen der hohen Gebäude in orangefarbenes Licht. Überall bewegten sich Menschen, die mit ihren kleinen Organizern, Mappen und Arbeitsunterlagen beschäftigt waren, während sie ihren Heimweg fortsetzten.

Schließlich kam auch Robert bei seiner Wohnung an. Noch bevor er die Schlüsselkarte in den Schlitz an seiner Tür ganz durchgezogen hatte, öffnete sich die Eingangstür und seine Tochter Andrea flog Robert quietschend in die Arme. Er ließ seine Tasche fallen und wirbelte sie herum. Im Türrahmen stand Catrina, die ihm kurz zunickte. Er konnte sehen, dass sie immer noch wegen ihres Telefongesprächs beleidigt war. Ihm fiel siedend heiß ein, dass er vergessen hatte, ihr ein Entschuldigungsgeschenk zu besorgen, obwohl er sich diese Aufgabe in seinem Kalender notiert hatte.

»Schätzchen, nicht so stürmisch, lass uns erst mal reingehen.«

Er klemmte sich seine Tasche unter den Arm und warf sich das immer noch quietschende kleine Mädchen über die Schulter und betrat die Wohnung. Catrina hatte anscheinend gerade mit Andrea gespielt, denn auf dem Boden lagen transparente Bauklötze mit unterschiedlichen Füllungen verteilt. Als er sie absetzte, raste Andrea auf einen der Klotzhaufen zu und schüttelte eines ihrer Spielzeuge, in dem blaue Glitzerflocken durcheinanderwirbelten.

Robert musste lächeln. Seine Tochter war nie böse auf ihn, selbst wenn sie sich lange nicht gesehen hatten. Sie freute sich, dass er da war.

Catrina saß in einem der beiden Wohnzimmerstühle. Stirnrunzelnd stellte Robert fest, dass sie müde aussah, abgespannt und in Gedanken mit etwas beschäftigt. Er ließ sich in den zweiten der beiden Stühle fallen und blickte sie fragend an.

»Bienchen, gehst du kurz in dein Zimmer weiterspielen, ich muss mit deinem Papa sprechen«, wandte sich das Kindermädchen an Andrea.

Die Kleine verzog ihr Gesicht zu einer Schnute, trabte dann aber auf ihren kurzen Beinen in Richtung Kinderzimmer. Als die Tür ins Schloss fiel, begann Robert zu sprechen.

»Catrina, es tut mir leid ...«

»Nein, Robert, das ist es nicht«, unterbrach Catrina seinen unbeholfenen Versuch einer Entschuldigung für sein Verhalten am Telefon. »Es gab einen Anruf, aber ich wusste nicht, wie ich es Ihnen erklären sollte.«

Robert war überrascht und verwirrt zugleich, als er sah, wie Catrina anfing zu schluchzen. Er rückte seinen Stuhl etwas näher an ihren und legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter.

»Was ist los?«

»Es ... es ... ich war es nicht, die telefoniert hat. Ich war doch nur kurz im Kinderzimmer, um aufzuräumen.«

Robert begann immer weniger zu verstehen, was ihm seine langjährige Haushaltshilfe sagen wollte. Die immer häufiger werdenden Schluchzer schüttelten Catrinas ganzen Körper.

»Dann war der Anruf doch auf der Mailbox«, mutmaßte Robert und streichelte der schluchzenden Frau über den Rücken. Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn aus tränennassen Augen an.

»Andrea«, presste sie zwischen zwei Schluchzern hervor. »Andrea hat telefoniert.«

Schockiert über diese neue Information, ließ Robert seine Hände in den Schoß sinken. Er wusste zwar, dass seine kleine Tochter mit der Funktionsweise des Haustelefons vertraut war, aber er hatte ihr auch eingeschärft, dass sie fragen musste, wenn sie zum Beispiel einen ihrer Spielkameraden aus dem Kindergarten anrief.

»Mit wem hat sie telefoniert?«

Roberts Frage hing eine ganze Weile im Raum, bevor Catrina sich wieder ein Herz fassen konnte, ihm zu antworten.

»Ich weiß es nicht, es klang wie eine Computerstimme, wie die Stimme der Zeitansage zum Beispiel. Ich dachte zuerst, sie hätte mit dem Telefon gespielt und versehentlich irgendjemandes Mailbox angerufen. Doch dann habe ich bemerkt, dass sie tatsächlich mit jemandem sprach. Als ich beim Telefon ankam und sie mich bemerkte, hat sie aufgelegt. Ich wollte die Nummer zurückrufen, doch abgehoben hat niemand mehr. Andrea will mir nicht sagen, mit wem sie gesprochen hat. Es tut mir so leid ...«

Robert war nicht wütend. Er konnte Heimlichtuerei zwar nicht leiden, doch in erster Linie machte er sich Sorgen. Mit wem konnte eine Fünfjährige telefonieren? Warum machte sie ein Geheimnis daraus?

»Hast du die Nummer noch, Catrina?«

Die Frau nickte und reichte ihm eine kleine Karte mit einer Zahlenfolge.

»Geh nach Hause und ruh dich aus. Es ist ja niemandem etwas passiert und heute Abend muss ich nicht mehr arbeiten. Komm morgen zur gewohnten Zeit wieder und ich finde inzwischen heraus, was das für eine Nummer ist.«

Robert würde das Telefon wahrscheinlich sperren lassen oder zumindest mit einem Code versehen, den eine Fünfjährige unmöglich umgehen oder knacken konnte. Wer auch immer mit seiner Tochter telefonierte, tat dies nicht ohne Absichten und Robert war im Gegensatz zu seinen jüngeren Mitmenschen schon lange genug auf der Welt, um sich noch daran erinnern zu können, wie solche Absichten aussehen konnten.

Catrina nahm ihren Mantel und verließ die Wohnung. Er würde ihr trotzdem ein Geschenk kaufen. Sie hatte zwar den Fehler gemacht, ihn nicht sofort über das Telefonat zu unterrichten, aber dass sie sich solche Sorgen um Andrea machte, sprach definitiv für sie.

»Schätzchen, du kannst wieder rauskommen.«

Als hätte sie darauf gewartet, kam der kleine Wirbelwind auf ihn zugeschossen und klammerte sich an seinem Bein fest. Ihre Haare standen in wilden, rotblonden Locken von ihrem Kopf ab und auf ihrer Nase tummelten sich Grüppchen von Sommersprossen.

Sie sah aus wie eine Miniversion ihrer Mutter, stellte Robert fest und musste lächeln.

Robert hob seine Tochter hoch und setzte sie in einen der Wohnzimmerstühle.

»Schätzchen, Tante Catrina meint, dass du manchmal telefonierst, obwohl du nicht fragst, ob du darfst.«

Das kleine Mädchen blickte schuldbewusst zu Boden und zupfte am Saum ihres blauen Kleidchens.

»Keine Angst, du bekommst keinen Ärger, ich möchte nur wissen, wen du denn anrufst. Du weißt, dass du deine Freunde anrufen darfst, wenn du Catrina oder mich fragst.«

Andrea blickte auf und er konnte einen Ausdruck der Empörung in ihren graublauen Augen sehen.

»Ich rufe nicht an, er ruft an«, platzte sie in aufmüpfigem Ton heraus.

Robert musste schmunzeln. Dass sie Anrufe annehmen durfte, hatte ihr tatsächlich niemand verboten und für ein so kleines Mädchen war sie auch immer freundlich, wenn jemand von Roberts Arbeitsstelle zu Hause anrief.

»Also gut, wer hat dich angerufen? Oder war es ein Anruf für mich?«

»Nein, Alex hat mich angerufen. Er hat Bib gefunden.«

Roberts Augen weiteten sich vor Schreck, als er den begeisterten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Tochter sah.

7: BIB

Aubrine hatte gut geschlafen. Der Sessel, in dem sie eingeschlafen war, war erstaunlich bequem. Alex war nicht im Raum, als sie erwachte. Auf den Resten des Schreibtischs lag allerdings ein Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Es war ein Stofftier, eine kleine Robbe aus braunem, rauem Stoff, der ein Auge fehlte. Generell sah das Tier sehr alt und mitgenommen aus.

Sie drehte und wendete das Spielzeug und stellte fest, dass es eine kleine Tasche am Bauch hatte, in dem eine durchsichtige Plastikkarte steckte, die ihr ebenfalls bekannt vorkam. Sie war sich sicher, dass das kleine Tier ihr gehörte. An die genaue Herkunft des Dings konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Auf der Plastikkarte waren in krakeliger Handschrift einige Zahlen notiert, die auch nach längerer Betrachtung keinen Sinn für Aubrine ergaben.

»Das habe ich in dem Raum gefunden, in dem du aufgewacht bist.«

Sie erschrak, als sie plötzlich Alex’ Stimme hinter sich hörte, und wirbelte herum.

»Hallo«, sagte Aubrine und stellte fest, dass er noch müder aussah als einige Stunden zuvor. Hatte er denn nicht geschlafen?

Ein stechender Schmerz machte sich plötzlich in Aubrines Magengegend breit und das Bild bunter Pillen erschien vor ihrem geistigen Auge.

»Ich muss meine Nährstoffpillen nehmen«, stellte Aubrine fest, was Alex mit einem verwirrten Blick quittierte.

»Nährstoffpillen gibt es hier nicht, aber mehr als genug Vorräte für uns beide. Ich gehe etwas holen.«

Alex hoffte, dass sie ihm nicht folgen würde. Er hatte es noch nicht geschafft, alle Flecke von den Wänden der Küche zu entfernen, und um in die Vorratskammer zu gelangen, musste man durch diesen Raum gehen.

Aubrine schien verwirrt zu sein und ohne eine weitere Erklärung verließ Alex den Raum.

Vorräte? Wie hatte er das gemeint? Aubrine fiel in diesem Moment auf, dass sie immer wieder Geräusche aus dem Gang hörte, in dem Alex vor einigen Sekunden verschwunden war. Es klang, als würde jemand an die Außenhülle der Station klopfen, manchmal lauter, dann wieder leiser und in sehr unregelmäßigen Abständen. Aubrine stellte sich auf den Gang, der ähnlich heruntergekommen aussah wie die Räume, die sie bereits gesehen hatte. An einem Ende hing eine flackernde Neonröhre halb von der Decke, überall bröckelte der Anstrich von geflickten Metallwänden und auf dem Boden lag feiner heller Staub, in dem sich zahlreiche Fußabdrücke abzeichneten.

Klonk! Da war es wieder. Stille. Klonklonklonk, als würde jemand kleine Steine gegen die Wand werfen. Aubrine horchte auf die Geräusche, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Nach einigen Minuten, in denen sie die Quelle nicht ausmachen konnte, zog sie sich wieder in das Zimmer zurück, in dem die Geräusche nur leise zu hören waren. Sie würde Alex fragen, sobald er wiederkam.

Es dauerte gar nicht lange und der Mann mit dem bunten Haarschopf betrat den Raum. Er reichte ihr ein seltsam geformtes, weiches Behältnis, aus dem ein Strohhalm ragte.

»Ich hoffe, du magst Apfelmus«, sagte Alex und blickte sein Behältnis skeptisch an. »Sonst kannst du auch Banane haben, wenn du tauschen möchtest.«

Aubrine starrte das wabbelige Trinkgefäß, das silbern glänzte, mit gerunzelter Stirn an. Apfel? Banane? Das sagte ihr etwas. Aber eine innere Stimme sagte ihr auch, dass es falsch war, Nahrung auf diese Art und Weise zu sich zu nehmen.

Alex schien die Skepsis seines Gegenübers zu bemerken und lächelte aufmunternd, während er einen Schluck von seinem Mus nahm.

»Mmmh, was ganz Neues«, spielte er den Begeisterten und musste im nächsten Moment lachen. Er hasste die fünfzehn Sorten Mus aus der Vorratskammer mittlerweile so sehr, dass er mit dem Gedanken liebäugelte, testweise ein Stück Schreibtisch zu pürieren, nur um ein neues Geschmackserlebnis zu haben.

Aubrine sah ihn immer noch verwirrt und schockiert an, rang sich aber schließlich dazu durch, selbst einen Schluck zu nehmen.