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Wolf-Henry Sturt - Auf Biegen und Verbrechen 15 Krimi-Kurzgeschichten 15 Krimi-Kurzgeschichten, die einem nicht nur das Blut in den Adern gefrieren lassen, sondern auch zum Nachdenken anregen.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2023
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„Es gibt sie alle“, sagte der Fuchs zum Hühnchen, „das schreckliche Verbrechen, das rachsüchtige Verbrechen, das habgierige Verbrechen und sogar das verzeihliche Verbrechen.“ „Erzähle mir mehr davon. Das klingt spannend“, gackerte das Hühnchen. Aber dazu war der Fuchs zu hungrig.
Autor: Wolf-Henry Sturt
Wolf-Henry Sturt wurde 1952 auf dem Gut seines Onkels südlich von Kassel geboren. Er wuchs in Darmstadt und Hannover zusammen mit drei Brüdern auf. Nach Abitur und Bundeswehr studierte er an der Universität Hannover Anglistik, Geographie und Pädagogik für das Lehramt an Gymnasien. Von 1982 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2016 unterrichtete er die Fächer Englisch und Erdkunde in Daun in der Eifel. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter und drei Enkelkinder.
Eine junge Frau aus gutem Hause
Freundinnen
Der schnöde Mammon
Tut man so etwas?
Der Auftrag
Einfach verschwunden
Der Ersatzmann
Die Rache
Rumpelstilzchen
Kräutertee
Ein bedauerliches Missverständnis
Die Versuchung
Ein Idiot
Die Kreuzfahrt
Der Schüleraustausch
Für meine Töchter Christiane und Ulrike
Kinder können über deinen Schoß herauswachsen, aber nicht aus deinem Herzen!
Es ist sicher eine schöne Sache, aus gutem Hause zu sein, aber der Verdienst gebührt den Vorfahren.
Plutarch, griechischer Philosoph und Historiker (um 50-125 n.Chr.)
Tabea Siebert kam aus gutem Hause. Sie hatte eine glückliche Kindheit und Jugend, machte ein mittelmäßiges Abitur und begann ein Soziologiestudium an der Freien Universität in Berlin. Das Studium erwies sich jedoch als anstrengender und trockener, als sie es sich vorgestellt hatte. Da sie in ihrer umsorgten Zeit im Elternhaus nie gelernt hatte, mit Frustrationen umzugehen und sich im Zweifelsfall durchzubeißen, gab sie nach nicht bestandener Zwischenprüfung das Studium auf. Ihr Vater, ein höherer Beamter in einem Niedersächsischen Ministerium war nicht begeistert, doch er meinte, ein anderes Studium würde ihr vielleicht besser liegen. Also wechselte sie nach ihrer nicht bestandenen Zwischenprüfung in das Studienfach Politik. Allerdings hatten ihre Eltern ihr klar gemacht, dass sie ein drittes Studium nicht finanzieren wollten. Gegebenenfalls müsse sie eben eine Lehre machen, die sie nicht überfordern würde.
Tabea war kein Kind von Traurigkeit. Sie ging häufig ins Kino oder besuchte mit einer Freundin oder alleine an den Wochenenden Tanzlokale. Dabei lief ihr gelegentlich ein junger Mann über den Weg, den sie bei gegenseitigem Gefallen zu sich in ihr Studentenappartement mitnahm. Nach einer festen Partnerschaft stand ihr allerdings noch nicht der Sinn. Sie wollte in erster Linie Spaß haben.
Doch dann lernte sie auf einer Demonstration gegen die Unterdrückung von Frauen im Iran Andreas Diewald kennen. Der war drei Jahre älter als sie und studierte ebenfalls Politik. Er half ihr bei Referaten, nahm sie mit zum allwöchentlichen Studentensport und entsprach auch sonst ganz ihren Vorstellungen. Sie hatten eine gute Zeit miteinander, bis Andreas nach dem 10. Semester mit seinen Examensvorbereitungen begann. Da er ein relativ zielstrebiger Student war, hatte er immer weniger Zeit für Tabea, die sich von ihm nun vernachlässigt fühlte. Es kam immer häufiger zu Auseinandersetzungen, in denen die junge Frau auch die zickige Seite ihres Charakters hervorkehrte. Andreas begann darüber nachzudenken, ob diese Beziehung für ihn der Weisheit letzter Schluss darstellte. Schließlich gab es auch noch andere, weniger komplizierte Mädchen, die ihm schöne Augen machten.
Eines Tages saß er mit einer jungen Dozentin seiner Fakultät in der Cafeteria. Sie gab ihm Tipps für sein bevorstehendes Examen. Sie saßen nach einer Stunde immer noch da, obwohl ihre Kaffeetassen schon lange ausgetrunken waren. Dabei schaute sie ihn keineswegs uninteressiert, sondern zuerst vergnügt, dann zunehmend lasziv an. Andreas bekam rote Ohren. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Als er keinerlei Anstalten machte, das Fachgespräch, trotz mehrerer dezenter Anläufe ihrerseits, in ein mehr persönliches Gespräch einmünden zu lassen, lehnte sie sich irgendwann auf ihrem Stuhl zurück, schaute ihn herausfordernd an und fragte: „Hast du eigentlich noch andere Interessen als Politik?“
„Sport und Kinofilme“, nuschelte er, „und gute Kriminalromane.“
„Prima“, sagte sie, „dann gehen wir am Wochenende mal zusammen joggen.“
„Ich weiß nicht, ob meine Freundin das gut fände.“
„Hör mal, ich habe euch in letzter Zeit des Öfteren auf den Fluren unseres Fachbereichs gesehen. Sehr harmonisch saht ihr dabei nicht aus. Einmal hat sie dich sogar ziemlich biestig angezickt. Lass uns doch einfach mal miteinander etwas Sport treiben. Gemeinsames Lauftraining ist ja nun kein Kapitalverbrechen.“
Das leuchtete Andreas ein. „Um 10.00 Uhr am Samstag?“
„Wenn du mir sagst wo?“
„Am Chalet Suisse im Grunewald.“
„Schön, du Bedenkenträger. Ich bin da!“
Sie gingen noch dreimal zusammen joggen, dann schlenderten sie Hand in Hand durch den Grunewald und landeten schließlich im Bett der Dozentin.
Am folgenden Wochenende offenbarte sich Andreas seiner Freundin. Tabea fiel aus allen Wolken. Gut, sie war in letzter Zeit nicht immer nett zu Andreas gewesen, aber sie liebte ihn und hatte schon über eine gemeinsame Wohnung nach seinem Examen nachgedacht. Doch es gab kein Zurück mehr. Andreas war dem Charme und der Zärtlichkeit der um zwei Jahre älteren Dozentin verfallen. Tabea erklärte er, dass er sein Leben noch richtig auskosten wolle, bevor er den Ehehafen ansteuere. Wie man an seinem Bruder, der mit 20 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei, sehe, könne es dafür jederzeit zu spät sein. Für Tabea brach ihre erhoffte Zukunft wie ein Kartenhaus zusammen.
Nach zwei Monaten zog sie in eine Wohngemeinschaft mit drei anderen Studentinnen, weil sie hoffte, dort wieder emotionalen Halt zu finden. Doch das war ein Trugschluss, denn eine der Frauen zog sehr bald aus und die zwei anderen entpuppten sich als studentische Müßiggänger, die nur auf ihren Traumprinzen warteten. Eine von ihnen hieß Beate Auerbach. Sie hatte die Hoffnung auf den Mann ihrer Träume schon fast aufgegeben und bekämpfte ihre Frustration mit Drogen.
Da auch Tabea desillusioniert war, geriet sie bald unter den Einfluss ihrer Mitbewohnerin. Anfangs taten ihr die gelegentlichen Joints gut, auch wenn die damit einhergehende Laisser-faire-Haltung ihrem Studium nicht bekam. Als ihr das nicht mehr reichte, ging sie dazu über, fast jeden Abend mit der neuen Freundin Marihuana zu konsumieren. Nach einem halben Jahr waren sie bei Heroin angekommen. Eine Zeit lang legten sie Heroin auf ein Stück Alufolie und erhitzten diese von unten. Den erzeugten Dampf inhalierten sie. Später injizierten sie sich das Rauschgift intravenös, um eine schnellere Wirkung zu erzielen.
Als die dritte Studentin einen Diplomingenieur kennengelernt hatte und zu ihm zog, stellten sie fest, dass sie zwar jetzt mehr Platz hatten, aber die Miete und natürlich auch die Kosten für das zu beschaffende Heroin ihre Einkommensverhältnisse deutlich überstiegen. Sie überlegten, was zu tun sei. Zuerst annoncierten sie die zwei jetzt leer stehenden Zimmer ihrer Wohngemeinschaft. Sie fanden auch recht schnell zwei Interessenten, einen Mann und eine Frau. Die suchten jedoch sehr bald wieder das Weite, nachdem sie die durch die regelmäßigen Rauschzustände verursachten Ausraster ihrer Mitbewohner und die eklatante Unordnung in der Wohnung leid waren. Die Frau vermutete sogar, dass aus ihrem Zimmer ein goldener Ring und eine modische Halskette entwendet worden wären. Also musste eine andere Lösung gefunden werden, denn trotz der zusätzlichen Zimmermieten hatte das Tabea Siebert und Beate Auerbach zur Verfügung stehende Geld immer noch nicht ausgereicht.
Dann hatte Beate eine Idee: „Wie wäre es, wenn wir uns als Begleitung einsamer, gerade in Berlin weilender Geschäftsleute einen Namen machen?“
„Das kannst du dir abschminken! Da ist der Weg zur Nutte nicht mehr weit. Lieber ziehe ich wieder zuhause in mein Kinderzimmer ein oder schlafe in der Fußgängerpassage am Bahnhof Zoo. Ich komme nämlich aus einer anständigen Familie.“
„Du verstehst mich völlig falsch. Wir ziehen unser bestes Kleidchen an, gehen mit den Männern gut essen und ins Theater und das wars. Wir arbeiten sozusagen als Sozialarbeiterinnen für gestresste Manager. Schließlich sind wir ja ganz hübsche Vertreterinnen unseres Geschlechts. Da bietet sich eine solche karikative Tätigkeit ja geradezu an.“
„Dass ich nicht lache! Die wollen doch sicher eine Rundumbetreuung, auch nachts?!“
„Papperlapapp, die Grenzen ziehen wir. Viele von denen sind glücklich verheiratet und suchen nur etwas Ablenkung und Entspannung nach anstrengenden Konferenzen. Ich kenne da eine Sekretärin, die hat ihren Job aufgegeben, weil sie als Escort-Dame viel mehr Geld verdienen kann.“
„Ohne mit denen in die Kiste zu hopsen?“
„Natürlich! Die ist in der Beziehung eine ganz Solide. Sowas würde die nie machen. Außerdem hat sie zur Selbstverteidigung immer eine Sprühdose Survival Pfefferspray und für ganz hartnäckige Fälle ein Fläschchen K.o.-Tropfen dabei.“
„Hm, so richtig glauben kann ich das alles nicht. Eigentlich erwarten doch unsere Eltern immer noch, dass wir unser Studium zu Ende bringen.“
„Das kannst du ja meinetwegen versuchen, obwohl ich nicht glaube, dass ich und ehrlich gesagt auch du das noch hinbekommen werden. Aber wie dem auch sei, was wir brauchen ist eine Lösung unserer Geldprobleme, hier und jetzt.“
Die Diskussion über diesen Akutplan wurde noch eine Weile weiterverfolgt, bis auch Tabea zögernd zu der Ansicht gelangt war, notleidenden Managern und sonstigen Sitzungs- bzw. Kongressteilnehmern müsse geholfen werden. Folgerichtig annoncierten die beiden Samariterinnen in einschlägigen Publikationen ihre Dienste. Sie mussten jedoch feststellen, dass viele der an Land gezogenen Herren bei weitem nicht so großzügig waren, wie sie erhofft hatten. Einige meinten sogar, ein Theaterstück mit anschließendem Restaurantbesuch wäre genug der Bezahlung.
Eines Nachts kam Beate zurück in ihre gemeinsame Wohnung und knallte 400 € auf den Küchentisch. „Das reicht für den nächsten Einkauf“, sagte sie.
„Oh, da hast du wohl einen Millionär an der Angel gehabt?“, mutmaßte Tabea.
„Keine Ahnung! Auf jeden Fall war das einer von den übergriffigen Aufschneidern, die hier in der Hauptstadt ein Unternehmerforum besuchen. Der hat mich in sein Hotelzimmer gelotst und wollte dort Sexspielchen mit mir haben. Da war er aber an die Falsche geraten. In den im Hotelzimmer aus der Minibar geholten Piccolo-Sekt habe ich ein paar K.o.-Tröpfchen gemischt. Danach ist er ganz schnell eingeschlummert. Zufällig habe ich in seiner Jacke dann dieses Geld entdeckt.“
„Du bist wohl nicht ganz bei Trost, Beate. So kommst du hinter Schwedische Gardinen. Bist du dir darüber im Klaren? Wenn er Anzeige erstattet, findet dich die Polizei aufgrund der Annoncen mit unserer Telefonnummer im Handumdrehen.“
„Hältst du mich für total verblödet? Das war keiner, der uns angerufen hat. Dem habe ich in einem Café direkt am Humboldt Carré Konferenzzentrum schöne Augen gemacht und schon hat er mich zu einem Glas Sekt eingeladen.“
“Das beruhigt mich nur zum Teil, denn das ist Diebstahl. Damit will ich nichts zu tun haben.“
„Unsinn! Ich war sehr nett zu ihm an diesem Abend. Habe sogar seine Hand gehalten, als er mir ausgiebig über seine unglückliche Ehe erzählt hat. Meine verständnisvolle Zuneigung gibt es nun mal nicht umsonst. Und selbst wenn er mich ganz zufälligerweise irgendwo im afrikanischen Dschungel oder in der Eiswüste auf Grönland wiederträfe, würde er schon aus Angst vor seiner rabiaten Ehefrau todsicher keine Anzeige erstatten. Sein Unternehmen gehört nämlich in Wirklichkeit seiner Frau, hat er mir erzählt. Die Gattin würde sich dann nämlich bestimmt von ihm scheiden lassen und ihn auf einem unbeleuchteten Motorway aussetzen. Solche Sachen muss man natürlich vor dem Zugriff in einem vertraulichen Gespräch abchecken.“
Die 400 € reichten nicht nur für den nächsten und übernächsten Einkauf bei Lidl, sondern auch noch für zwei feuchtfröhliche Abende in einem Tanzlokal. Nach längerem Nachdenken und Zaudern besorgte sich Tabea ebenfalls K.o.-Tropfen. In der Folgezeit sorgte auch sie zunehmend talentierter dafür, dass immer genügend Barmittel für ihre Lebenshaltung und den Drogenkonsum zur Verfügung standen.
Ihre Partnerin erklärte ihr, dass sie nunmehr zwei unternehmerische Standbeine hätten: erstens den gewöhnlichen Escort-Service und zweitens den zugegebenermaßen etwas außergewöhnlichen K.o.-Service. Für das letztere Standbein legten sie und Beate sich ständig wechselnde Fantasienamen zu.
Die keineswegs ganz ungefährlichen Beutezüge klappten nicht immer reibungslos, da einige der Männer extrem vorsichtig waren, aber insgesamt ging es ihnen jetzt finanziell deutlich besser. Manchmal - und das bedauerten beide junge Frauen sehr - kamen sie nicht umhin, zusätzlich zu den anvisierten auch noch weitere, eher sexuell einzustufende Dienstleistungen zu erbringen, um an ihr Ziel zu gelangen Doch letztendlich überwogen für sie die Vorteile ihrer Tätigkeit gegenüber den Nachteilen.
Eines Tages geriet Tabea im „Lustgarten“, einem kleinen Park nahe der „Staatsoper Unter den Linden“, an einen Mann, der ihr zunächst recht undurchsichtig vorkam. Er sagte, er hieße Jens Kerner. Tabea hatte sich für diesen Abend den Aliasnamen Silke Curtius zugelegt. Als sie mit ihm in einer Bar an einer mahagoniverkleideten Theke saß, schätzte sie ihn auf etwa 40 Jahre. Er sah nicht wie ein Manager, Politiker oder höherer Beamter aus, eher wie eine Mischung aus einem freundlichen Barkeeper und einem Versicherungsagenten. Er war gut gekleidet, durchaus sympathisch und höflich.
Statt in die Oper gingen sie nach einer fast einstündigen Anwärmphase in ein Kino und sahen sich einen satirische Komödie mit Happy End an. Anschließend lud ihr Begleiter Tabea in ein Weinlokal ein. Jens Kerner behauptete er sei Pharmareferent und untermauerte dies mit einigen Ärztewitzen. Der gute Wein sowie seine freundliche Ausstrahlung lockerten ihre Zunge. Sie erzählte viel von sich selber, ihrer Familie, der gescheiterten Beziehung mit Andreas und ihren Wünschen für die Zukunft. Dies war bei solchen Gelegenheiten vorher eher unüblich gewesen. Bereitwillig begleitete sie ihn am Schluss auf sein Zimmer. Er logierte in einem der besten Hotels der Metropole. Statt die K.o.-Tropfen in ihrer Handtasche zum Einsatz zu bringen, schlief sie mit ihm. Sie hatte schon lange nicht mehr so guten Sex gehabt.
Am nächsten Morgen fragte er sie unvermittelt bei ihrem opulenten Frühstück: „Warum hast du mit mir nicht dasselbe gemacht wie mit den anderen Männern?“
Sie starrte ich entgeistert an. „Ich verstehe nicht, was du meinst, Jens.“
„Na komm, entspann dich mal. Als du im Bad warst, habe ich einen Blick in deine Handtasche geworfen. Gehören die Wundertropfen etwa zu deiner Standardausrüstung? Außerdem waren die Nadeleinstiche an deinen Unterarmen ja nicht zu übersehen. Ich habe dann nur kombiniert.“
Als sie schon aufstehen und den Frühstückssaal des Hotels fluchtartig verlassen wollte, hielt er sie zurück. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe nur in deine Handtasche geschaut, weil ich mich selber in Acht nehmen muss. Du hättest ja ein Lockvogel der Polizei oder etwas Ähnliches sein können.“
„Das bin ich bestimmt nicht.“
„Habe ich also mit meiner Vermutung bezüglich deiner Tätigkeit recht?“ Als sie darauf nichts erwiderte, sondern nur verlegen das Tischtuch gerade strich, sagte er grinsend: „Danke, das reicht mir als Antwort.“
Nach einer Schweigeminute fragte sie ihn: „Warum musst du dich vor der Polizei in Acht nehmen?“
„Darüber werde ich dich erst aufklären, wenn du meine erste Frage, warum du mich verschonen wolltest, beantwortet hast.“
Sie schaute erst zur Seite, aber dann gab sie sich einen Ruck. „Weil ich keinen Mann ausnehme, in den ich mich verknallen könnte.“
Er lachte. „Das ist aber ein schönes Kompliment für einen Menschen, der immer mit einem Bein im Gefängnis steht.“
„Dann klär mich mal auf! Sitzen wir sozusagen im gleichen Boot?“
„Könnte man so sehen, Silke, oder wie immer du heißt. Nur dass ich niemanden betäube, um an seine Wertsachen zu gelangen.. Wo ist eigentlich deine Halskette geblieben?“
Erschrocken griff sie an ihren Hals. Die goldene Kette war verschwunden. Sie hatte sie morgens aber angelegt. Da war sie sich sicher. Grinsend zog ihr Gegenüber den Schmuck aus seiner Jackentasche und überreichte ihn ihr.
„Du Gauner. Wie hast du das angestellt?“, rief sie halb amüsiert, halb pikiert.
„Berufsgeheimnis!“
„Aha, ist das ein Beruf?“
„Wie man es nimmt. Ich bin ein ziemlich fingerfertiger Taschendieb. Das ist deutlich einträglicher als meine früheren Auftritte in den Varietee-Shows, wo ich einem geneigten Publikum meine Tricks vorführen durfte. Das klassische Varietee ist ja in unserer Zeit ohnehin eine aussterbende Rarität.“
Er erzählte ihr, dass er zwar eine kleine Wohnung in Frankfurt habe, aber die meiste Zeit von Stadt zu Stadt reisen würde. In guten, größeren Hotels oder anderen belebten Lokalitäten erleichterte er dort betuchte Mitmenschen um ihre teuren Uhren, ihre Portemonnaies, ihren Schmuck und so weiter. Er müsste nicht einmal in Zimmer eindringen. Das käme gelegentlich zwar auch vor, aber in der Regel reiche ihm ein zwangloses Gespräch in einer Hotellobby oder auf einem Golfplatz, um an sein Ziel zu gelangen.
„Wie lange bleibst du denn in den Hotels? Bis du alle Gäste vergrault hast?“, wollte sie wissen.
„Um Gottes willen! Du darfst in meinem Metier doch nicht denselben Personen zweimal begegnen. Ich checke nach vollendeter Tat sehr schnell wieder aus.“
Nach diesem in einem längeren Spaziergang durch die laue Sommernacht noch vertieften Gespräch hatten beide so viel Vertrauen zueinander gefasst, dass sie ihre richtigen Namen preisgaben. Silke Curtius hieß nun wieder Tabea Siebert und Jens Kerner hieß jetzt Michael Rahn.
Michael blieb noch drei Wochen in Berlin, wo er mehrfach die Unterkunft wechselte. Während dieser Zeit trafen sich beide fast täglich. Sie erfuhr, dass er in seiner Kindheit mit seiner alleinerziehenden Mutter, die nachts auf der Reeperbahn als Stripperin tätig gewesen sei, in Hamburg in einer Zweizimmerwohnung gewohnt habe. Während ihrer nächtlichen Abwesenheit hätte eine ältere Nachbarin auf ihn aufgepasst. An die Zeit mit seiner Mutter habe er weitgehend glückliche Erinnerungen. Nur wenn sie mal wieder getrunken hatte, konnte es ungemütlich werden.
Doch dann sei sie bei einer Schießerei zwischen Zuhältern in dem Striplokal von einem Querschläger getroffen worden und gestorben. Mit fünf Jahren wäre er dann zu seinem Onkel gekommen, der in St. Pauly eine Kneipe betrieb und seine Gäste hin und wieder mit Zaubertricks unterhielt. Von ihm habe er auch seine diebische Fingerfertigkeit gelernt. Die Frau des Kneipiers sei jedoch ein furchtbares Weib gewesen, die ihn fortwährend schikanierte. „Einmal, ich glaube ich war 14 Jahre alt, hat sie mich sogar unsittlich belästigt. Ich habe sie damals einfach weggestoßen. Danach wurde sie noch gemeiner. Nach meinem Schulabschluss bin ich mit 16 Jahren abgehauen und schlage mich seitdem als selbständiger Gewerbetreibender durchs Leben. Ich muss allerdings zugeben, dass mein Gewerbe nicht jedem gefällt, obwohl es wie gesagt durchaus profitabel ist“, berichtete er Tabea.
Sichtlich stolz zeigte er ihr seine während der drei Wochen in mehreren Berliner Luxusabsteigen erbeuteten Wertgegenstände. Am Ende der zwei Wochen verkündete der Meisterdieb, er wolle jetzt nach Düsseldorf fahren. Dort sei seine Anwesenheit während der gerade stattfindenden Beauty-Messe besonders gefragt. Nach einer Woche wolle er aber in seinem Domizil in Frankfurt eine zweiwöchige Ruhepause einlegen. Sie könne ihn ja mal dort besuchen. Auf Tabea übte der Lebensstil des Mannes eine fast morbide Faszination aus. Auf eine unbestimmte Weise imponierte er ihr sogar. Also nahm sie sein Angebot an. Der Altersunterschied von 13 Jahren störte sie nicht. Im Gegenteil, ein älterer Mann hatte mehr Lebenserfahrung und könnte ihr in ihrer eigenen Haltlosigkeit vielleicht eher zur Seite stehen. Michael hatte auch schon gesagt, dass er sie unbedingt von ihrem Drogenkonsum abbringen wolle. Andreas war zwar ein netter Kerl gewesen, verglichen mit Michael war er jedoch ein Grünschnabel.
Nach siebentägiger Zweisamkeit in Frankfurt schlug Michael überraschend für die zweite Woche einen Kurzurlaub in Kroatien vor. Er kenne ein schönes Hotel direkt am Strand. Da er genug Geld habe, würde er für alles bezahlen. So verbrachten sie sieben weitere Tage in Tucepi an der Adria. Tabea war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Die Sonne, der azurblaue Himmel und ihre Liebesnächte ersetzten ihr die sonst üblichen Heroin-Injektionen.
Gegen Ende der Reise fragte sie ihr Freund, ob sie sich eine längerfristige Partnerschaft vorstellen könne. Ihre Betätigungsfelder würden sich in geradezu idealer Weise ergänzen. Der ständige Wechsel von einem Standort zum nächsten sei für ihn zwar nicht uninteressant, doch oft auch mit Einsamkeit verbunden. Zu zweit würde es mehr Spaß machen.
Tabea erbat sich eine Bedenkzeit. Aber eigentlich wusste sie sofort, dass sie wohl zustimmen würde. Ihr Leben in Berlin hatte seinen Reiz weitgehend verloren. Zur Uni war sie in der letzten Zeit ohnehin nicht mehr gegangen. Ihr Studium würde sie sowieso nie zu Ende bringen. Beate zog sie tiefer und tiefer in ihren Drogensumpf hinein und ihren kriminellen Aktivitäten immer nur in Berlin nachzugehen, war auf Dauer gefährlich. Irgendwann könnte die Polizei vor ihrer Tür stehen. Wenn ihre Eltern davon erführen, wäre das für alle Beteiligten eine Katastrophe.
Wieder in Frankfurt suchte sie kurzentschlossen das Gespräch: „Michael, bist du ganz sicher, dass ich die richtige Gaunerbraut für dich bin oder lässt du mich vielleicht nach kurzer Zeit fallen wie eine heiße Kartoffel?“
„Ganz bestimmt nicht. Du bist genau das, was ich seit langer Zeit gesucht habe. Kurzfristige Affären in unterschiedlichen Städten sind ermüdend und öde. Wir beide passen zusammen.“
Die Aussage konnte Tabea verstehen, dennoch war sie für sie nicht befriedigend. Sie hatte eine Liebeserklärung erhofft. „Ich bin also sozusagen eine etwas längerfristige Notlösung für den Herrn?“
„Nein, das bist du nicht. Aber ich trage nun mal mein Herz nicht auf der Zunge. Große Gefühle zu offenbaren, liegt mir nicht.“ Er wandte ihr den Rücken zu und schaute auf die regennasse Straße unter seinem Fenster.
„Dreh dich um! Ich will dein Gesicht sehen.“
Er tat wie ihm geheißen. Sie schaute in zwei ernste Augen, die ihrem forschenden Blick standhielten. Dann fragte sie: „Kannst du dir vorstellen, mich zu lieben?“
„Ich glaube, das tue ich bereits.“ Er ging zwei Schritte auf sie zu und gab ihr einen Kuss.
Ihren Eltern schrieb Tabea, sie hätte ihr Studium aufgegeben. Sie würde jetzt für verschiedene Zeitungen als freie Mitarbeiterin arbeiten. Als neue Adresse gab sie die von Michael an. Daraufhin zeigte sich der Vater enttäuscht und stellte umgehend seine Überweisungen an sie ein. Die Mutter zeigte mehr Verständnis. „Ich wünsche dir viel Glück bei deiner journalistischen Tätigkeit. Hoffentlich kommst du uns bald mal wieder besuchen“, schrieb sie zurück.
Als sie Beate ihren Entschluss, Berlin zu verlassen, mitteilte, war diese zunächst, wie sie erwartet hatte, sehr deprimiert. Doch schon am nächsten Tag meinte ihre Freundin, dass es sowieso für sie an der Zeit sei, eine Entziehungskur zu machen, um von ihrem Rauschgift weg zu kommen. Danach wolle sie versuchen, ganz offiziell und legal eine Agentur für einen Escort-Service zu gründen. Tabea könne jederzeit als gleichberechtigte Partnerin in das Unternehmen einsteigen, wenn sich ihr neu eingeschlagener Lebensweg als Sackgasse erweisen sollte. Bei ihrem Auszug umarmten sie sich. Tabea bemerkte, dass die Freundin am ganzen Körper zitterte. Ihre nach außen gezeigte Nonchalance schien nur vorgetäuscht zu sein.
Die nächsten zwei Jahre reisten Michael und Tabea von Stadt zu Stadt. Sie waren ein glückliches Paar, auch wenn Tabea sich manchmal etwas mehr Bodenständigkeit gewünscht hätte. Michael machte sogar sein Vorhaben wahr. Er schaffte es tatsächlich, seine Geliebte von Marihuana und Heroin abzubringen. Ihre Geschäfte prosperierten ebenfalls, wobei allerdings nicht immer alles klappte wie geplant.
Einmal inspizierte Michael in Hannover auf der Pferderennbahn gerade die locker um die Schulter gehängte Krokodilledertasche einer in der obersten Reihe neben ihm sitzenden, vornehm aussehenden Dame, als deren Ehemann von der Wettannahmestelle zurückkehrte. Der stutzte und fing an, die Tribünentreppe hochzurennen. „Christiane, Christiane“, brüllte er, „da klaut dir gerade einer dein Portemonnaie aus deiner Tasche!“ Die Blicke aller Zuschauer richteten sich zuerst auf den wild gestikulierenden Mann. Sekunden später wanderten sie in Richtung der Frau, auf die er zulief. Einige andere Männer standen sofort auf und liefen ebenfalls die Treppe hoch. In dem Moment schrie Tabea aus fünf Metern Entfernung mit schriller Stimme: “Haltet den Dieb. Da ist er! Er will weglaufen“, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen pausbäckigen Herrn mit Hut auf der anderen Seite der Handtaschenbesitzerin, der allerdings gar nicht daran dachte, sich vom Fleck zu bewegen. Die Köpfe der Pferdeliebhaber wirbelten abermals herum. Konfusion breitete sich aus. Der Hutträger wehrte die nach ihm greifenden Arme ab. Er schnauzte nach allen Seiten, er sei Landrat Hummel und noch nie an einem Verbrechen beteiligt gewesen. Dass er früher mal in einen Korruptionsskandal verwickelt war, bei dem er nur aufgrund des kurzen und lückenhaften Gedächtnisses aller Beteiligten straflos blieb, war längst vergessen.
Den Moment der Verwirrung nutzte Michael, sich mit der rechten Hand seine Country Tweed Kappe vom Kopf zu ziehen, mit der linken Hand den angeklebten Schnauzbart abzureißen und zwischen den verdutzt dreinschauenden Zuschauern unterzutauchen. Auch Tabea entfernte sich unauffällig von der Szene des missglückten Deliktes. Als sie kurz danach zügig die Sportstätte verließen, sagte Michael: „Verdammt noch mal, das war eng! Vielen Dank für deine schnelle Intervention!“
Ein anderes Mal war es Tabea, die nur knapp einer Verhaftung entging. Sie war einem bulligen Politiker, der an einer Tagung seiner Partei in Nürnberg teilnahm, auf sein Hotelzimmer gefolgt. Der hatte ein Doppelzimmer gebucht, da er hoffte, ein ihm sehr zugetanes weibliches Parteimitglied ebenfalls auf der Tagung anzutreffen. Die war jedoch aufgrund einer Erkältung nicht zu der Veranstaltung gekommen.
Während der Mann unter der Dusche verschwunden war, holte Tabea aus der Minibar das in guten Hotels immer bereitgestellte Fläschchen Wein heraus und goss sich selbst und dem Politiker ein Glas ein. In sein Getränk träufelte sie dann die K.o.-Tropfen. Als dieser wieder erschien, erklärte sie ihm, dass ihnen vor der zu erwartenden weiteren Annäherung zur allgemeinen Entspannung ein Gläschen Sekt sicher gut täte. Er nahm die Flasche in die Hand und studierte das französische Etikett. „Kein schlechter Tropfen!“, bemerkte er. In dem Moment klopfte es an die Tür. Verdutzt schauten sie sich an. Es klopfte ein zweites Mal. Dann hörten sie eine Frauenstimme: „Ich bin es, dein Irmchen. Ich wollte dich überraschen, mein Guter.“
Der Gute machte in der Tat einen völlig überraschten Eindruck. Er legte den Zeigefinger der rechten Hand auf seine Lippen. Schweigend warteten sie eine halbe Minute. Nachdem es ein drittes Mal geklopft hatte, entfernten sich Schritte zum Fahrstuhl hin. Die Frau fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und fragte den Rezeptionisten, einen Mittfünfziger mit graumeliertem, sorgfältig gescheiteltem Haar, ob ihr Mann jetzt nach seiner Tagung auch wirklich im Hotel sei oder ob er vielleicht noch einmal das Haus verlassen habe.
Der Rezeptionist hatte sehr wohl gesehen, wie Dr. Gaißinger mit einer hübschen, mindestens 25 Jahre jüngeren Frau recht schnell durch die Eingangshalle gegangen war und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Doch er war ein Meister der Diskretion und antwortete folglich mit sonorer Stimme: „Da bin ich mir nicht sicher, gnädige Frau, aber es könnte durchaus sein, dass ihr Gatte noch einmal an die frische Luft gegangen ist. Der laue Sommerabend lädt ja geradewegs dazu ein.“
Doch das hinter ihm in dem Rezeptionsbüro sitzende Mädchen, das vor kurzem eine Lehre zur Hotelfachfrau begonnen hatte, und in deren Unterricht auf der Fachschule noch nicht der Begriff „Diskretion“ analysiert worden war, krähte von hinten: „Der Herr müsste im Hotel sein. Er hat vor einer viertel Stunde telefonisch für morgen früh ein Sektfrühstück für zwei Personen auf sein Zimmer Nr. 166 bestellt.“
Der Empfangschef schaute desorientiert: „Äh, ja! Na so was! Die Telefonate im Haus nimmt immer meine junge Kollegin an.“
Frau Gaißinger reagierte prompt. Ihr Blick schien den Mann zu durchbohren. „Ich nehme an, sie kommen mit einer Ersatz-Key Card von außen in alle Räumlichkeiten rein. Bitte schnappen sie sich diese Key Card und folgen sie mir.“
„Ich weiß nicht, Gnädige Frau, ob wir einfach so …?“
„Ich weiß es dafür umso besser. Nun machen Sie schon. Oder soll ich erst den Hotelmanager kommen lassen?“
Vor Zimmer Nr. 166 nahm sie dem immer noch verdatterten Hotelangestellten die Schlüsselkarte aus der Hand, ohne dass dieser die Zeit für eine Abwehrreaktion hatte, und aktivierte den Schließmechanismus. Mit energischen Schritten betrat sie das Hotelzimmer. Vor der wütenden Frau stand ihr Gemahl im Bademantel.
„Was machst du denn hier Irmchen? Was für eine Überraschung! Ich war unter der Dusche.“
„Wo ist die Frau?“, herrschte sie ihn ohne Umschweife an. Sie blickte ins Badezimmer hinein, öffnete die Kleiderschränke und bückte sich, um unter das Doppelbett zu schauen.
„Von was sprichst du, Liebchen? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich…?“
„Genau das glaube ich! Sektfrühstück für zwei Personen! Ha, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Und was bedeutet das Weinglas dort auf dem Tisch und die Glasscherben auf dem Boden?“
Er hatte noch schnell das Zimmer gelüftet, um den Parfümduft seiner weiblichen Begleitung zu vertreiben. Dann wollte er die beiden Weingläser verschwinden lassen. In der Aufregung war ihm dabei eins aus der Hand gefallen. Er war gerade damit beschäftigt, die Scherben des zerbrochenen Glases aufzuheben, als seine Frau in das Zimmer gestürzt kam.
„Ein kleiner Schlaftrunk vor dem Zubettgehen“, stammelte er wenig überzeugend.
„Aha, Schlaftrunk vor dem Zubettgehen. Wo ist denn das Betthäschen? Und mach gefälligst deinen Bademantel richtig zu! Soviel hast du nun wirklich nicht zu bieten.“
Sie machte drei Schritte nach vorne, ergriff das noch auf dem Tisch stehende Glas und trank es in einem Zug leer. „Genau das brauche ich jetzt. Sonst wird mir speiübel“, zischte sie ihn an.
Danach wurde ihr speiübel und als Zugabe auch noch schwindlig. Gerade noch rechtzeitig setzte sie sich auf das Doppelbett, kippte nach hinten, richtete sich noch einmal mit erstaunten Augen auf, kippte abermals nach hinten und schien dann entschlummert zu sein. Der fassungslose Empfangschef rief sofort den ärztlichen Notdienst an.
Tabea hingegen erreichte sieben Minuten nach ihrem eiligen Rückzug über die am Ende des Flurs gelegene Fluchttreppe die nächste S-Bahn-Haltestelle.
Im dritten Jahr ihres gemeinsamen Lebens bekam Michael Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seine Gefährtin besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus. Zuerst versuchte er, die Krankheit einfach wegzulachen. Doch er wurde trotz intensiver Behandlung immer kränker und immer schwächer. Sein Humor, den sie an ihm so geliebt hatte, verwandelte sich langsam in Sarkasmus. Wenn er jetzt noch Späße machte, diente das nur dazu, sie aufzumuntern. Tabea saß oft stundenlang an seinem Bett. Dort hielt sie tapfer ihre Tränen zurück. Doch wenn sie, nachdem er erschöpft eingeschlafen war, die Tür des Krankenzimmers hinter sich zumachte, fing sie an zu weinen.
Eines Tages sagte er: „Ich glaube, es hat alles keinen Sinn mehr, Tabby. Der Mensch kann sich nicht nur von Morphium ernähren. Die Sanduhr des Lebens zerrinnt oft viel zu schnell. Aber du hast dein Leben noch vor dir. Lebe es, so gut du kannst!“
Tabea blickte in seine ausdrucksleeren Augen und erschrak. Sie hatten sich nie etwas vorgemacht, waren immer ehrlich zueinander gewesen. Sie sagte mit bebender Stimme: „Die Medizin macht riesige Fortschritte, Michi. Bestimmt können dir die Ärzte noch helfen.“
„Dafür ist es jetzt zu spät, Tabby. Wenn ich Glück habe, komme ich nicht gleich in die Hölle, sondern ins Fegefeuer. Es wäre besser gewesen, wenn ich ein ehrliches Leben geführt hätte. Stattdessen war ich ein Verbrecher. Aber eine zweite Chance hat doch jeder verdient. Du kannst ja für mich beten.“
Michael war in gewisser Weise Tabeas Sicherheitsanker geworden. Seine Gelassenheit und Selbstsicherheit hatten sie immer beeindruckt, seine Liebe war Balsam für ihre Seele gewesen. Aber sie kannte auch die andere Seite von ihm, wenn die Schatten seiner Kindheit und Jugend ihn einholten. Dann benötigte er ihre Zärtlichkeit. Doch wie sollte sie ihm jetzt noch Trost spenden? Sie rückte ihren Stuhl ganz nah an sein Bett, streichelte sein Gesicht und flüsterte: „Wenn du ein anderer Mensch gewesen wärst, dann hätten wir nie zueinander gefunden. Ich war so glücklich mit dir.“
Er lächelte müde. „Ja, es war eine schöne Zeit!“
In der folgenden Nacht fand Tabea keinen Schlaf. Sie wusste, was er vorhatte, denn sie kannte ihn. Was er sich vorgenommen hatte, führte er immer aus. In den frühen Morgenstunden fiel sie endlich in einen Halbschlaf. Nach einer halben Stunde schreckte sie jedoch plötzlich von einem markerschütternden Schrei auf. Sie saß sofort senkrecht in ihrem Bett, doch um sie herum war alles totenstill. In rasender Eile zog sie sich an und rannte durch die noch dunklen Straßen zum Krankenhaus. Dort war alles in heller Aufregung. Zwei Ärzte, mehrere Krankenschwestern der Frühschicht und sogar einige Patienten liefen wild gestikulierend durcheinander. Ein Mann hatte sich aus einem Fenster im fünften Stock nach unten gestürzt. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Eine Krankenschwester, die Tabea von ihren täglichen Besuchen her kannte, nahm sie in den Arm.
Auf dem Nachttisch des Patientenzimmers lag ein Schriftstück. Darauf stand in knappen Sätzen, dass Michael seine Geliebte als Alleinerbin seiner gesamten Habe einsetzte: 13.000 € in bar, das Auto, die Möbel seiner Frankfurter Wohnung und eine Kassette mit Schmuck, den Michael noch nicht an seine Hehler, einen Goldschmied und einen Antiquitätenhändler, veräußert hatte. Außerdem wollte er ohne größeren Aufwand in einem Friedwald vor den Toren Frankfurts beigesetzt werden. Bei der Beerdigung waren nur Tabea, der Onkel aus Hamburg, dem Tabea geschrieben hatte, ein Nachbar aus dem Frankfurter Mietshaus, der Krankenhauspfarrer sowie der Bestatter anwesend. Der Pfarrer hielt eine kurze Trauerrede. Während der Rede wurde Tabea schlecht. Als sie leicht zu schwanken begann, griff der alte Mann aus Hamburg nach ihrem Arm. Dankbar lehnte sie sich gegen ihn.
Nachdem Tabea alle mit dem Tod von Michael zusammenhängenden Formalitäten erledigt hatte, fuhr sie nach Berlin. Dort ging sie zu ihrer früheren Wohnung. Auf dem Klingelschild stand jedoch nicht mehr der Familienname von Beate. Sie schellte bei einer Nachbarin. Die erzählte ihr, dass Beate Auerbach immer tiefer in ihren Drogensumpf versunken wäre. Am Schluss hätte sie die Miete nicht mehr bezahlen können. Ihrer letzten Information nach lebe sie jetzt auf der Straße. Vielleicht solle Tabea mal im Görlitzer Park oder am U-Bahnhof Kottbusser Tor nach ihr fragen.
Umgehend suchte Tabea den als Drogen-Hotspot bekannten U-Bahnhof auf. Aus einer Gruppe von auf dem Boden sitzenden oder liegenden Junkies erhielt sie relativ schnell die traurige Information, Beate hätte sich selbst vor etwa drei Wochen einen tödlichen Schuss verabreicht, wahrscheinlich absichtlich. „Warum?“, wollte Tabea wissen. „Warum, warum?“, schrie einer der Süchtigen mit krächzender Stimme. „Warum denn nicht? Ist doch sowieso alles beschissen!“ Tabea öffnete ihr Portemonnaie und wollte dem Mann einen Geldschein geben. Sofort grapschten mehrere schmutzige Hände danach. Angewidert wandte sie sich ab und suchte die Bahnhofstoilette auf. Dort übergab sie sich.
Tabea hatte seit ihrer Konfirmation keinen näheren Kontakt mehr mit der Kirche gehabt, doch jetzt suchte sie einen Pfarrer auf. Sie unterhielt sich lange mit dem Geistlichen. Am Ende des langen Gespräches fragte sie ihn unter Tränen, ob Selbstmord einem Mord gleichkäme und ob man seine Erlösung dadurch verlöre. Der ihr gegenüber sitzende, grauhaarige Mann erwiderte: „Sich selbst das Leben zu nehmen, ist zweifellos ein Sünde, aber dieses Vergehen gegen sich selbst ist oft nur der Endpunkt großer Seelenqual. Deshalb glaube ich im Gegensatz zu manchen meiner Amtsbrüder, dass ein solcher Mensch sehr wohl vor dem Allmächtigen Gnade erfahren kann.“
Danach rief Tabea Ihre Eltern an. Ihr Vater, Ministerialdirektor Siebert, war am Telefon. „Papa“, sagte sie, „ich habe so lange nichts mehr von mir hören lassen. Darf ich zu euch kommen?““
„Was für eine Frage, Tabea! Natürlich darfst du das. Wir freuen uns riesig.“
„Ich komme aber nicht allein. Ich bringe noch jemanden mit.“
„Der Mann an deiner Seite ist uns genauso willkommen. Schön, dass wir ihn kennenlernen.“
„Mein Mann ist gestorben, Papa. Ich bin schwanger.“
„Komm sofort her! Du bist unsere Tochter“, antwortete die ihr vertraute Stimme.
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Diebstahl ist Enteignung ohne gesetzliche Grundlage.
Karsten Mekelburg, deutscher Satiriker (*1962)
anonymer Spötter
Es ging hoch her. Sebastian Mirbach genoss seinen runden Geburtstag, er wurde 40 Jahre alt, in vollen Zügen. vierzehn Leute, darunter auch seine Schwester mit ihrem Mann waren gekommen. Die drei anderen Mietparteien im Haus hatte man über die Einladung vorinformiert, denn er und seine Frau wussten, dass es zu vorgerückter Stunde bei steigendem Alkoholpegel auch laut werden konnte. So jung würde man sich schließlich nie wieder treffen!
Ein kleiner Wermutstropfen war, dass sich seine Frau Erika seit nunmehr drei Jahren weigerte, an Geburtstagen wie auch an anderen Festtagen außer einem Nachtisch irgendetwas für das Buffet vorzubereiten. Aber sie besaßen mehr als genug Geld, um das Hauptgericht bei einem Catering-Unternehmen zu ordern. Einige der Frauen hatten entweder ebenfalls einen Nachtisch oder eine Vorspeise zubereitet. Um die Getränke hatte er sich gekümmert: Weißwein, Rotwein, Whisky, Fruchtsäfte…
Während des Abends wechselte er ab und zu den Platz, um mit möglichst vielen Gästen ins Gespräch zu kommen. Zwischendurch sorgte er dafür, dass kein Gast auf seiner Party verdurstete. Am längsten unterhielt er sich mit seinem Schwager Helmut, dem Mann seiner Schwester, und seinem Freund Oskar. Helmut hatte er anfangs reserviert gegenüber gestanden, da dieser meistens an seinem Pkw herumbastelte und ein begeisterter Anhänger von Autorennen war, womit er nun gar nichts anfangen konnte. Er war Fan des 1. FC Köln und widmete sich mit Hingabe der Pflege seines Schrebergartens vor den Toren der Stadt. Doch im Laufe der Zeit waren sie sich näher gekommen. Beide waren eher ruhige Männer und in lebenskundlichen und politisch Fragen auf einer Wellenlänge. Oskar kannte er schon seit der Schule. Sie waren in einer Klasse gewesen, zusammen einmal sitzen geblieben, hatten gemeinsam in einem Vorortsverein Fußball gespielt und dieselbe Musik bevorzugt. Wenn das nicht zusammenschweißt!
Seine Frau, so konnte er beobachten, wich kaum einmal von Brigitte Merzinskys Seite. Die war eine frühere Angestellte von Erika in deren Boutique und schon früh Witwe geworden. Ihr Mann war bei einem tragischen Autounfall, der nie richtig aufgeklärt werden konnte, ums Leben gekommen. Danach war sie des Öfteren bei ihnen eingeladen gewesen. Beide hatten versucht, ihr über den Schicksalsschlag hinweg zu helfen. An diesem Abend schien sie jedoch in bester Laune zu sein oder dies zumindest vorzugeben. Beide Frauen lachten oft und flirteten sogar mit den neben ihnen sitzenden Männern. Vor Jahren hätte ihn das noch genervt, doch mittlerweile war es ihm gleichgültig.
Um 2.30 Uhr verabschiedeten sie letzten beiden Pärchen. Sie räumten noch eine halbe Stunde auf. Bei solchen Aufräumaktionen hatte ihn schon immer gestört, dass Elke ihn herumkommandierte. Als ob er nicht selber wüsste, wo die leeren Flaschen, die schmutzigen Gläser oder das übrig gebliebene Salzgebäck hingehörten! Danach gingen zu Bett. Er in sein Zimmer, sie in ihr Zimmer. Eheliche Intimität gab es schon seit geraumer Zeit so gut wie nicht mehr. Er war es leid gewesen, ständig wie ein Bittsteller vor ihrem Bett zu stehen und dann immer häufiger zurückgewiesen zu werden. Deshalb war er ins Gästezimmer umgesiedelt. In ihrer Verlobungszeit war das noch ganz anders gewesen. Ihr Verhalten hatte sich aber nach der Hochzeit ziemlich schnell verändert. Eigentlich hätte er schon vorher stutzig werden müssen, denn Küsse, Umarmungen und andere Liebkosungen, waren von ihrer Seite fast nie gekommen. Selbst bei ihrer Hochzeitsfeier hatte sie keinerlei Zärtlichkeit gezeigt, sondern sich nur in ihrer eigenen Selbstgefälligkeit - so war es ihm vorgekommen - gesonnt. Hätte er doch bloß nicht ihrem Drängen, doch endlich zu heiraten, nachgegeben. Er war einfach zu gutmütig und naiv gewesen. Seine Hoffnung, ihr Verhalten im Laufe der Jahre verändern zu können, hatte sich als fataler Fehler erwiesen.
Am Anfang der Ehe hatte seine Schwiegermutter, die ihre Tochter gut kannte und bei ihren Besuchen ihr beiderseitiges Verhalten beobachten konnte, einmal zu ihm gesagt, er solle doch bitte mit Erika nachsichtig sein. Sie könne nun mal nicht aus ihrer Haut. Ihr verstorbener Vater sei sein Leben lang genauso gewesen. Dafür wäre sie aber eine recht gute Hausfrau und treue Seele. Doch das genügte ihm nicht. Zu einer Ehe gehörte mehr als haushälterischer Fleiß und Treue. Nach nunmehr sechs Ehejahren dachte er ernsthaft an eine Scheidung.
Auch Erika erzählte Brigitte manchmal von ihrer unglücklichen Ehe, nur stellte sie die Misere naturgemäß völlig anders da. Ihr Mann sei ein ausgemachter Langweiler, würde an den Wochenenden nur auf dem Sofa herumlümmeln und Fußball gucken oder in ihrem Schrebergarten Löcher in der Erde buddeln. Richtig schön ausgegangen seien sie schon lange nicht mehr. Er sei immer nur „an der einen Sache“ interessiert. An seinem mittlerweile deutlich erkennbaren Bauchansatz wäre sein großer Bierkonsum schuld. Dabei wäre er vor der Ehe schlank und attraktiv gewesen. Auch für ihre haushälterischen Bemühungen hätte sie von Anfang an weder Beachtung noch Lob erfahren.