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Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, welche zum Nachdenken anregt, aber auch die humorvollen Seiten des Lebens nicht außer Acht lässt.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, welche zum Nachdenken anregt, aber auch die humorvollen Seiten des Lebens nicht außer Acht lässt.
Für meine kleine Enkelin Lara, der ich alles Glück dieser Welt wünsche.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Das Baby hatte einen krebsroten Kopf und brüllte nach Leibeskräften. Nachdem die Hebamme es jedoch Katrin auf die Brust gelegt hatte, hörte es sogleich auf zu schreien. Es war eine schwierige Geburt gewesen. Die junge Mutter hatte viel Blut verloren. „Es ist ein Junge“, sagte die Hebamme und Katrin lächelte schwach. Sie küsste den kleinen Kopf und weinte.
Nachmittags kam ihre Mutter mit zwei Flaschen Vitaminsaft in das Krankenhaus Maria Hilf in Daun, am darauf folgenden Tag ihre Schwester. Beide sagten, es sei ein drolliges Kind. Katrin musterte es und stellte fest, dass es nicht besonders hübsch, aber eben drollig war.
Am dritten Tag kam schließlich Kurt. Sie hatte sehnlichst auf ihn gewartet und sah sofort, dass er betrunken war. Er ließ sich in den an der Wand stehenden Stuhl fallen. Einige Momente starrte er sie aus glasigen Augen an. Dann schüttelte er den Kopf.
„Warum?“, murmelte er. „Du wusstest doch genau, ich wollte das nicht.“ „Es war ein Unfall“, sagte Katrin. „Unfall, Unfall! Du hast einfach nicht aufgepasst, verdammte Scheiße. Soll ich dich jetzt heiraten oder was? Nee, Mädchen, so haben wir nicht gewettet.“ Er blieb nicht lange. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, schluchzte sie so laut, dass eine Krankenschwester, die zufällig im Flur ihren Jammer gehört hatte, hereinkam und ihr zehn Minuten lang die Hand hielt. Immer wieder sah sie ihren kleinen Jungen an. Er war aufgewacht und sah auch sie aus großen, nichtverstehenden Augen an.
Kurz nach der Geburt kündigte sie ihre Stelle als Verkäuferin. Sie gab ihre kleine Souterrainwohnung auf und zog wieder zu ihrer Mutter. Ihr Vater war vor drei Jahren mit einer Jüngeren durchgebrannt, so dass genügend Platz vorhanden war. Kurt Hommes, den Vater des Kindes, sah sie nur noch einige Male. Beim letzten Mal machte er ihr unmissverständlich klar, er würde sie nie heiraten und im Übrigen zöge er ohnehin demnächst nach Trier, wo er endlich Arbeit gefunden hätte.
Das erneute Zusammenleben mit der Mutter erwies sich nach vier Jahren Trennung als schwierig. Schon vorher war es kein sehr inniges Verhältnis gewesen. Sie machte ihre Mutter für manches verantwortlich, was in ihrem bisherigen Leben schief gelaufen war. Aber besonders trug sie ihrer Mutter nach, dass sie den Vater mit ihrem dominanten Verhalten, häufigem Geschrei und ständigem Gemäkel in die Arme einer weniger komplizierten Frau getrieben hatte. Zärtlichkeit hatte sie auf Seiten ihrer Mutter nie gesehen.
Eines Morgens - es hatte schon vorher die halbe Nacht Streit gegeben - war ihr Vater vom Frühstückstisch aufgesprungen, hatte seinen Ehering vom Finger gezogen und im hohen Bogen aus dem Fenster geworfen. Danach war er aus dem Haus und seinem bisherigen Leben verschwunden.
In den Monaten nach der Geburt übernahm ihre Mutter mit der ihr eigenen Konsequenz größtenteils die Betreuung des Babys. Katrin kam sich sehr bald wie eine Ersatzmama vor, die immer dann einsprang, wenn ihre Mutter ihrer Halbtagsarbeit nachging oder anderweitig keine Zeit hatte.
Mit einer Sache setzte sie sich jedoch durch. Sie nannte ihren Sohn, sehr zum Missfallen der Mutter, nach ihrem Vater: Michael, Michael Schneider. Ihr Verhältnis zu ihrem Kind war zwiespältig. Einerseits sah sie in ihm eine frappierende Ähnlichkeit zu Kurt, der sie einfach sitzen gelassen hatte, andererseits fühlte sie doch Mutterliebe. Der Winzling konnte nichts für das charakterlose Verhalten seines Erzeugers.
Gelegentlich ging sie aus, meistens zusammen mit einer Freundin in die einzige Diskothek der Kleinstadt Daun. Dort lernte sie Walter Witowski kennen. Er war 26 Jahre alt, drei Jahre älter als sie. Sein selbstbewusstes, manchmal großspuriges Auftreten kam ihrem eher schüchternen Naturell entgegen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher. Er arbeitete als Vorarbeiter bei TechniSat, dem größten privaten Arbeitgeber in Daun. Das verdiente Geld brachte er großzügig unter die Leute.
Nach drei Monaten bezog sie mit ihm eine Dreizimmerwohnung am Stadtrand. Ihre zögernd vorgebrachte Idee, vielleicht doch vorher zu heiraten, stieß bei ihm auf wenig Gegenliebe. Gleich zu heiraten sei heute doch wirklich nicht mehr zwingend, beschied er ihr. Dem Kind gegenüber verhielt er sich weitgehend indifferent. Wenn es schrie, konnte er allerdings sehr aufbrausend werden. Katrin hoffte, dass sich dies mit der Zeit ändern würde.
Anfangs gingen sie noch jede Woche einmal zusammen aus. Das Kind war dann bei ihrer Mutter. Doch mit der Zeit wurden die gemeinsamen Unternehmungen seltener. Er zog lieber mit seinen Kumpels durch die Kneipen. Er kam dann meistens erst frühmorgens nach Hause und lag kurz darauf laut schnarchend neben ihr. „Glück ist anders“, dachte sie.
Manchmal überlegte sie, ob Walter wirklich der Richtige für sie war. Aber was sollte sie tun? Sie war nicht hässlich, aber auch nicht besonders hübsch oder klug, das wusste sie. Die Männer fielen nicht reihenweise über sie her. Wer würde sie also sonst nehmen, - mit Kind? Es fehlte ihr jedoch auch die Willenskraft, dem Schicksal eine andere Wendung zu geben.
So vergingen zwei Jahre, in denen Walter abends immer öfter lange weg blieb. Auch seine Arbeit in der Fabrik schien seltsam unregelmäßig strukturiert zu sein. Die Schichten wechselten offensichtlich unvorhersehbar, Kurzarbeit kam sehr oft vor. Geld war allerdings immer ausreichend vorhanden.
Eines Tages standen zwei Polizisten vor der Tür. Ob ihr Lebensgefährte da wäre, wollten die wissen. Katrin ging ins Schlafzimmer und weckte Walter. Er lag um 12 Uhr mittags noch im Bett. Sie nahmen ihn mit auf die Polizeiwache.
Bei der Gerichtsverhandlung erfuhr sie, dass Walter schon vor Monaten seine Arbeit verloren hatte, da er dort Werkzeuge hatte mitgehen lassen. Danach verdiente er sich sein Geld mit dem Dealen von Heroin und anderen Anabolika in der Vulkaneifel und in Wittlich. Auch einen Einbruch warf man ihm vor. Sie hatte von all dem nichts mitbekommen. Er bekam eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.
Ohne eigenes Geld konnte sie die Wohnung nicht mehr halten. Der Vermieter gab ihr zwei Monate Zeit, um sich nach einer neuen Bleibe umzusehen. Er wollte für die Zeit auch nur einmal Miete. Das könnte sie sich ja bei ihrer Bank leihen.
Nach drei Wochen meldete sich bei ihr Eduard Raschke, ein Freund von Walter. Er solle sich um sie kümmern, hätte Walter gesagt. Tags darauf besuchte sie Walter im Gefängnis und fragte ihn, ob er seinen Freund beauftragt habe, ihr zu helfen. „Ist mir egal“, bekam sie zur Antwort. „Was ist dir egal, Walter?“ Ratlos blickt sie ihn an. „Alles! Das Scheißleben, das blöde Rauschgift, du und dein ewig brüllender Bankert.“
Nachdem sich Eduard zwei Monate um sie gekümmert hatte, zog sie auf seinen Wunsch hin bei ihm ein. Da konnte er ihr noch besser zur Seite stehen. Es musste ja irgendwie weiter gehen.
Liebevoll wiegte Christine Meyer-Abendroth das Neugeborene in ihren Armen. Um das Bett herum standen ihr Mann mit ihrer zweijährigen Tochter, ihre Eltern und ihr Bruder. Alle fanden das Baby besonders hübsch, fast wie ein kleines Mädchen. Felix sollte der Kleine heißen. Felix, der Glückliche!
Christine war Lehrerin an der Grundschule in Mehren. Da der Beruf doch zeitaufwendiger und anstrengender war, als sie es sich ursprünglich vorgestellt hatte, wollte sie, wie schon bei der Tochter, ein Jahr aussetzen, um sich ganz dem Baby zu widmen, und danach auf eine halbe Stelle zurückgehen.
Das war auch der Wunsch ihres Mannes. Detlef hatte ebenfalls feststellen müssen, dass der angeblich so laue Job an der Schule in Wirklichkeit ein strammer 40 Stunden-Beruf war. Und die hiermit verbundenen Belastungen wollte er weder seiner Frau noch dem kleinen Stammhalter zumuten. Er verdiente als Juniorpartner in der Steuerberater-Sozietät Feldmann, Birsky & Meyer genug, um ihnen auch ohne das volle Lehrergehalt ein angenehmes Leben zu garantieren.
So wurde der kleine Felix von Anfang an von allen Seiten nach Strich und Faden verwöhnt und vergöttert. Jeder noch so kleine Entwicklungsschritt war Beweis besonderer Aufgewecktheit. Die ganze Verwandtschaft versorgte den kleinen Kerl mit Spielzeug oder Süßigkeiten. Letzteres bekam er allerdings nur in bekömmlichen Rationen zugeteilt, denn der Vater wollte später kein unsportliches Dickerchen als Sohn, sondern nach Möglichkeit einen durchtrainierten Jungen, der anderen zeigen konnte, wer das Sagen hat.
Unter den geschilderten Bedingungen war es somit nicht verwunderlich, dass Felix meist gut gelaunt in die Welt hinausschaute. Nach Meinung von Christine konnte er auch am schnellsten in der Mutter-Kind-Gruppe krabbeln, am durchsetzungsstärksten anderen ihr Spielzeug wegnehmen, am frühesten Mama und Papa sagen und am lautesten schreien.
Auch die musische Früherziehung wurde nicht vernachlässigt. Christine sang ihm täglich Kinderlieder vor, führte seine Hand, wenn er auf einem großen weißen Blatt Papier erste Malversuche unternahm und freute sich, wenn er hemmungslos sein einfaches Xylophon malträtierte.
Manchmal hatte sie allerdings das Gefühl, dass bei all der Fürsorge für Felix seine nur zwei Jahre ältere Schwester etwas zu kurz kam. Diese zog ab und zu ein recht beleidigtes Schnütchen, wenn sie mal wieder nicht die gleiche Zuwendung wie ihr Bruder erhielt. Aber Felix war halt einfach ein besonders goldiger Junge. Und wie putzig er immer lachte!
Als Felix zwei Jahre alt war, durfte er mit dem Opa Meyer Fahrrad fahren. Er saß dann in seinem an der Stange befestigtem Kindersitz vorne hinter dem Lenker. Der Wind wehte durch seine blonden Haare und er hatte beinahe das Gefühl, selber zu fahren. Auf halber Strecke kehrten die beiden meistens irgendwo ein. Felix bekam dann einen Kakao und der Opa bestellte sich ein Kännchen Kaffee. Heißa, das Leben war schön!
Michael und Felix kamen, als sie drei Jahre alt waren, in den Kindergarten des Dauner Ortsteils Neunkirchen. Die Gruppenleiterin hieß Helga Michels. Sie war eine erfahrene Kraft in der Einrichtung und machte sich schnell ein Bild von den beiden Neuzugängen.
Der eine kam meist in jahreszeitlich unpassender, abgetragener Kleidung in die Gruppe, ihm lief ständig der Rotz aus der Nase, der andere hatte stets teure Markenklamotten an und sein Haarschnitt entsprach neuesten modischen Anforderungen.
Auch das Verhalten der Jungen war sehr unterschiedlich. Während Michael ein eher ängstliches Kind war, das aber hin und wieder auch verschlagen reagierte, versuchte Felix von Anfang an, seine Erzieherin um den Finger zu wickeln und die anderen Kinder selbstbewusst zu dirigieren. Frau Michels musste ständig dahinter her sein, dass Felix insbesondere die kleinen Mädchen nicht zu sehr herumkommandierte.
Einmal schlug er Frieda, die er nicht leiden konnte, mit einem Bauklötzchen heftig auf den Kopf. Das Ergebnis war eine laut und anhaltend brüllende Frieda und eine schnell anwachsende Beule auf ihrem Kopf. Ein anderes Mal schubste er Susi, so dass diese kreischend zu Boden fiel. Susi hatte zuvor der etwas kleineren Alexandra ihre Puppe weggenommen und diese damit zum Weinen gebracht. Während Michael hilflos daneben stand und aus Solidarität selber zu heulen begann, fühlte sich Felix als Beschützer der niedlichen Alexandra, indem er Susi ruppig wieder die Puppe entriss. Eine junge Erzieherin schimpfte daraufhin mit Felix, der sich nun seinerseits zu Unrecht kritisiert fühlte und ebenfalls zu plärren anfing. Aufgrund des vielstimmigen, unmelodischen Geschreis eilte Frau Michels herbei, nahm nacheinander jedes der vier Kinder auf ihren Schoß, redete begütigend auf es ein und streichelte seine Wangen. Innerhalb kürzester Zeit war der Burgfrieden wieder hergestellt.
Hieran konnte man sehen, dass Konflikte, die sowohl in frühester Kindheit als auch später im Erwachsenenalter, z.B. in der Politik, auftreten können, durch pädagogisches bzw. allgemein menschliches Einfühlungs- vermögen leicht zu schlichten sind. Ob allerdings hartgesottene Politiker aller Couleur bzw. deren weibliche Counterparts auf ein zwangsweises Sitzen auf einem fremden Schoß und das Streicheln ihrer Wangen positiv reagieren, bleibt dahingestellt. Derlei gutgemeintes Verhalten könnte auch als übergriffig interpretiert werden.
Die hier beschriebenen Vorkommmisse mussten natürlich in Elterngesprächen thematisiert werden, da - wie jedermann weiß - gerade in den ersten Lebensjahren entscheidende erzieherische Impulse gesetzt werden.
Frau Meyer-Abendroth hatte denn auch nach außen hin großes Verständnis für die Sorgen der Erzieherin und versprach, ihren Felix ins Gebet zu nehmen. Eigentlich hielt sie jedoch die Haltung der Gruppenleiterin für nicht ganz nachvollziehbar, wie sie ihrem Gatten beim Abendbrot erklärte. Ein Junge war eben ein Junge. Felix müsste sich ja auch später im Leben bewähren und da sei etwas Durchsetzungskraft sicher nötig. Außerdem hätte sie schließlich Pädagogik an einer Hochschule studiert und ihr Sohn sei ihrer Meinung nach ein ganz normales und gescheites Kind. Detlef Meyer schüttelte unschlüssig den Kopf, zog es aber letztendlich vor, seiner Frau nicht zu widersprechen.
Mit derlei Faxen wollte er sich eigentlich auch nicht belasten. Ihm saß Wichtigeres im Nacken, z.B. das Problem, wie man dem Unternehmer Luppes eine möglichst vorteilhafte Steuererklärung zusammenbasteln konnte. Dieser hatte in der Kleinstadt einen Namen als erfolgreicher Geschäftsmann, aber auch als ein großzügiger Mäzen. Er war stolz, einen solchen Mann als Mandanten zu haben. Wollte er das Mandat nicht verlieren, galt es die Klaviatur der Steuerberatung zu beherrschen. Keine Möglichkeit der Steuerreduzierung durfte er außer Acht lassen.
Auch mit Michaels Mutter war ein Beratungsgespräch vereinbart worden. Die hatte mittlerweile wieder eine Teilzeitstelle als Verkäuferin angenommen und konnte deshalb nur nachmittags ab 15.00 Uhr in den Kindergarten kommen. Sie erschien denn auch relativ pünktlich zu dem vereinbarten Termin um 15.15 Uhr. Obwohl sie einen Regenschirm dabei hatte, waren ihre Hosenbeine völlig durchnässt. Ein Auto stünde ihr nicht zur Verfügung und bei dem Unwetter hätte der Schirm nicht den ganzen Regen abhalten können. Man wolle ja nicht zu spät kommen, sagte sie schüchtern und schniefte. Besonders glücklich sah die Frau nicht aus.
Nach einigen höflichen, einleitenden Sätzen kam die Erzieherin vorsichtig auf die allgemeine Verzagtheit von Michael zu sprechen. Nun sah Frau Schneider noch unglücklicher aus. Zuerst druckste sie wenig aussagekräftig um das Thema herum, lieferte aber dann doch noch einen brauchbaren Erklärungsansatz. Ihr Mann, das heißt zur Zeit noch ihr Freund, sei sehr streng mit dem Kleinen, oft zu streng, bekannte sie kleinlaut. Aber sie könnte da wenig machen. Sie wäre froh, dass er, obwohl er nicht der leibliche Vater des Jungen sei, sich überhaupt kümmern würde.
Die Wahrheit war, dass der kleine Michael zu Hause häufig schon bei den geringsten Anlässen Dresche von dem Freund seiner Mutter bekam. Der Junge weinte oft schon, wenn er den bulligen Mann mal wieder betrunken durch die Tür kommen sah. Er versteckte sich dann hinter seiner Mutter, die ihren Lebensgefährten durch freundliche Worte gnädig zu stimmen versuchte. Es war schon vorgekommen, dass er seine Hand dann auch gegen sie erhob.
Frau Michels waren solche Dinge nicht unbekannt. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass Frau Schneider hier auch nicht alle Karten auf den Tisch legte. In den vielen Jahren als Erzieherin hatte sie immer wieder Kinder betreut, die aus problematischen Familienverhältnissen kamen. Wenn man nichts Genaues wusste und nichts Gravierendes passierte, konnte man da kaum intervenieren. Sie nahm sich jedoch vor, Michael noch genauer zu beobachten, um im Notfall geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
„Sie sind also noch gar nicht mit dem Mann verheiratet?“, fragte sie.
„Nein, noch nicht, aber im Sommer wollen wir heiraten“, bekam sie zur Antwort.
„Na ja, bis dahin ist ja noch etwas Zeit und vielleicht können Sie noch einmal überlegen, ob das auch wirklich der Weg ist, den Sie gehen wollen.“
Frau Schneider schaute sie aus glanzlosen Augen an.
Nach den Sommerferien erfuhr Helga Michels, dass ihr Schützling nun einen anderen Familiennamen hatte. Er hieß jetzt nicht mehr Michael Schneider, sondern Michael Raschke.
„Vierzehn mal acht ergibt welche Summe?“ fragte der Grundschullehrer. Er blickte dabei Michael an. Der Junge schaute auf seine Finger. Die konnten ihm jedoch nicht weiterhelfen. Hilflos richtete er den Blick aus dem Fenster. Zwei Mädchen vor ihm drehten sich um und kicherten. Einen Nebenmann, der ihm vielleicht die Summe hätte zuflüstern können, hatte er nicht, denn keiner wollte neben ihm sitzen. Die anderen Kinder sagten, dass er immer müffele.
Andere Schüler meldeten sich, am eifrigsten der blonde Felix. „Na, dann sag du die Lösung, Felix“, forderte Herr Neureuter ihn auf. „Hundertundzwölf!“, rief Felix laut in den Raum hinein. Er war der Klassenprimus im Rechnen. „Prima Felix, da kann in der nächsten Arbeit ja nichts schiefgehen“, lobte ihn der Lehrer. „Aber du, Michael, solltest unbedingt mehr üben. Sonst muss ich mal mit deiner Mutter sprechen. So klappt das nämlich nicht mit dem Gymnasium“, wandte er sich wieder an Michael. Der bekam einen roten Kopf.
In der Pause auf dem Hof stand er alleine in einer Ecke. Felix und drei seiner Freunde schlenderten an ihm vorbei und Felix rief: „Kommt Mami morgen zu dem Lehrer in die Schule? Du kommst doch sowieso auf die Dummenschule, du Muttersöhnchen.“ „Haut ab!“ murmelte der Angesprochene. Die anderen drehten um und kamen auf ihn zu. „Was hast du gesagt, du Spacko?“, krächzte der lange Anton. Er befand sich in der vierten Klasse schon im Stimmbruch. Allerdings war er spät eingeschult worden und schon einmal sitzengeblieben und damit fast zwei Jahre älter als die anderen. Er spielte sich gern als Bodyguard von Felix auf, der manchmal zwischen den Stunden für ihn die Hausaufgaben erledigte. Die waren dann zwar immer sehr kurz, aber nicht gänzlich falsch. Er holte mit der rechten Hand aus, grabschte dann aber mit der linken Hand Michaels Pudelmütze und warf sie in den Schnee. Einige umher stehende Mitschüler lachten.
Michael traten Tränen der Wut in seine Augen. Einer der wenigen erzieherischen „Ratschläge“, die sein Stiefvater ihm gegeben hatte, war, dass man sich nichts gefallen lassen darf. „Wenn dir einer blöd kommt, hau ihm auf die Backen. Sonst bist du ein Feigling und die anderen machen mit dir, was sie wollen.“
Und ein Feigling war das letzte, was Felix sein wollte. Er trat einen Schritt nach vorne und schlug dem überraschten, ihm körperlich überlegenen Anton auf sein linkes Ohr. Daraufhin ergriffen ihn Anton, Felix und ein weiterer Mitschüler und warfen ihn gegen die Wand.
Ein Mädchen, das etwa zehn Meter daneben stand, mischte sich ein. „Lasst ihn in Ruhe! Sonst sag ich es der Aufsicht. Ihr habt doch angefangen, ihr Spinner. Ich hab es gesehen.“
„Oho, die doofe Alexandra. Der Spacko hat ´ne Freundin. Stinkst du genauso wie die hohle Nuss?“, blaffte Felix sie an.
Inzwischen war aber die Referendarin Möbius, die Dienst auf dem Pausenhof hatte, auf den Aufruhr aufmerksam geworden und näherte sich schnellen Schrittes den Kindern.
„Was ist hier los?“, fragte sie.
„Nix, wir haben nur Spaß gemacht“, entgegnete Anton.
“Ist das wahr?“, wollte sie von Michael wissen. Der hob seine Mütze auf und nickte nur mit dem Kopf.
„Dann geht mal da drüben hin!“, befahl sie den vier Jungen. „Und Michael und Alexandra bleiben hier.“
Sie kannte ihre Pappenheimer, da sie die Klasse in Sport unterrichtete.
„Warum hilfst du mir immer?“. Michael schaute die Mitschülerin an.
„Weil du ganz nett bist und ich Gemeinheiten nicht ausstehen kann.“
„Du weißt doch gar nicht, ob ich wirklich nett bin“, nuschelte Michael. Aber er freute sich innerlich, denn so was hatte er noch nie von einem Mädchen zu hören bekommen.
„Doch, das sehe ich. Wir sind ja seit über drei Jahren in derselben Klasse.“
Alexandra Kettler hatte ihren Mitschüler schon des Öfteren unterstützt, wenn er mal wieder von anderen in die Mangel genommen wurde. Michael hatte sie immer nur dankbar angeschaut, aber seinen Dank bisher noch nicht in Worten ausdrücken können. Sein Mangel an Selbstbewusstsein und seine Verklemmtheit hatten dies verhindert.
Jetzt aber sagte er laut und deutlich: „Danke! Vielleicht kann ich dir ja auch mal helfen.“
„Vielleicht“, sagte sie leise, schaute ihn lächelnd an und ging ihrer Wege. Hatte er sich getäuscht oder war sie etwas rot geworden? „Sicher nur die kalte Luft auf dem Schulhof“, dachte er.
Alexandra hatte es auch nicht einfach zu Hause. Ihr alleinerziehender Vater - die Mutter war vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen - war mit seinem Beruf und zusätzlich drei Kindern überfordert. Deshalb musste sie als älteste der drei Kinder, trotz einer zweimal die Woche zu ihnen kommenden Haushaltshilfe, oft die Rolle der verstorbenen Mutter einnehmen: einkaufen, die Zimmer in Ordnung halten, die Geschwister beaufsichtigen usw. Zu viel für eine Zehnjährige. Aber das hatte sie zu einer frühreifen Göre gemacht. Sie dachte über Dinge nach, die andere Mädchen in ihrem Alter noch nicht beschäftigten.
Am Ende der vierten Klasse wechselte fast die Hälfte der Kinder auf das am Stadtrand gelegene Sankt-Laurentius-Gymnasium. Zu ihnen gehörten Michael, Alexandra und natürlich Felix. Bei Michael gab es einige Bedenken, ob er die Schule schaffen könnte. Letztendlich meinte jedoch Herr Neureuter, man müsse dem Jungen eine Chance geben. Er sei zwar familiär benachteiligt, aber nicht unbegabt. Dabei dachte der Pädagoge an seinen eigenen familiären Hintergrund, welcher auch keineswegs optimal gewesen war.
Wie schlimm es um Michaels Familie wirklich stand, konnte er allerdings nicht erahnen. Er hatte immer nur Frau Raschke gesehen, wenn sie zum Elternsprechtag in der Schule erschien. Den ließ sie nie aus. Einmal kam es ihm so vor, als habe sie ein geschwollenes Auge, das sie mit Make-up zu kaschieren versucht hatte.
Eduard Raschke hatte nie etwas Richtiges gelernt. Er hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Seit einem knappen Jahr arbeitete er in einer Imbissbude und verkaufte Frikadellen mit Kartoffelsalat und Bratwürste mit Pommes Frites. Eines Tages war er nach Hause gekommen und hatte behauptet, das viele Fett und die ungesunde Luft in der Imbissbude würden bei ihm Allergien verursachen. Schon als Kind hätte er unter Hautkrankheiten zu leiden gehabt.