Auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht? - Ina Döttinger - E-Book

Auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht? E-Book

Ina Döttinger

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Beschreibung

Seitdem in Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist, hat sich "Inklusion" gerade im Schulbereich zu einem Kernbegriff der bildungspolitischen Diskussion entwickelt. Doch wie weit ist die Umsetzung der Konvention in den Bundesländern bereits vorangeschritten? Dieser Band betrachtet sowohl den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf als auch die schulgesetzliche Umsetzung von Inklusion und gemeinsamem Lernen: Nach einer begrifflichen Klärung und einem Gesamtüberblick zur schulischen Inklusion in Deutschland werden in 16 Bundeslandprofilen die Ausbaustände und Gesetzeslagen im Detail vorgestellt und durch Eindrücke aus der Praxis ergänzt. Abschließend werden die Ergebnisse auf internationaler Ebene eingeordnet und offene Fragen für die deutsche Schullandschaft abgeleitet.

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Ina Döttinger, Nicole Hollenbach-Biele

Auf dem Wegzum gemeinsamen Unterricht?

Aktuelle Entwicklungen zur Inklusionin Deutschland

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In dieser Publikation verwenden wir nicht durchgängig eine geschlechtergerechte Sprache. Mit »Schüler«, »Lehrer« etc. sind immer auch Schülerinnen, Lehrerinnen etc. gemeint.

© E-Book-Ausgabe 2015© 2015 Verlag Bertelsmann Stiftung, GüterslohVerantwortlich: Ina Döttinger, Nicole Hollenbach-BieleLektorat: Ingrid Furchner, Heike HerrbergHerstellung: Christiane RaffelUmschlaggestaltung: Elisabeth MenkeUmschlaggestaltung und -abbildung: Elisabeth MenkeSatz und Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, BielefeldISBN 978-3-86793-586-9 (Print-Ausgabe)ISBN 978-3-86793-681-1 (E-Book PDF)ISBN 978-3-86793-682-8 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Grußwort der Bertelsmann Stiftung

Grußwort der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Einleitung

Teil I: Inklusion in Deutschland – ein Überblick

Inklusion kommt in Deutschland nur langsam voran

Teil II: Länderprofile

Baden-Württemberg

Bayern

Berlin

Brandenburg

Bremen

Hamburg

Hessen

Mecklenburg-Vorpommern

Niedersachsen

Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz

Saarland

Sachsen

Sachsen-Anhalt

Schleswig-Holstein

Thüringen

Teil III: Ausblick

Das Recht auf inklusive Bildung für alle verwirklichen

Inklusion in Deutschland: Resümee der offenen Fragen

Literatur

Abstract

Grußwort

Noch vor ein paar Jahren konnten nur Fachleute mit dem Begriff »Inklusion« etwas anfangen. Mittlerweile ist er in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Das ist erst mal ein gutes Zeichen. Denn es zeigt, dass die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen, die in Deutschland im März 2009 in Kraft trat, Wirkung entfaltet. Inzwischen wird intensiv darüber diskutiert, wie die Verpflichtung der Konvention, alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu unterrichten, umgesetzt werden kann. Leider sind die Debatten häufig emotional aufgeladen. Vor allem bei Lehrkräften und Eltern ist Inklusion zum Reizwort geworden.

Umso wichtiger ist es, die Kontroversen mit Zahlen und Fakten zu versachlichen und Impulse für die weitere Entwicklung zu geben. Das tut der vorliegende Band, indem er die aktuellen Kennzahlen (Schuljahr 2013/14) der Kultusministerkonferenz in Länderprofilen zusammenfasst, gleichzeitig einen Blick auf die Gesetzeslage in den Bundesländern wirft und die Praxis zu ihrer Einschätzung befragt. Drei Befunde der Analyse sind bemerkenswert:

• Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die inklusiv an Regelschulen unterrichtet werden, ist seit dem Schuljahr 2008/09 bundesweit von gut 18 Prozent auf über 31 Prozent gestiegen.

• Gleichzeitig wird bei immer mehr Schülern in Deutschland ein Förderbedarf festgestellt: Die entsprechende Quote ist um 13 Prozent von 6,0 auf 6,8 Prozent gestiegen.

• Somit ist der Anteil der Schüler, der an separaten Förderschulen unterrichtet wird, seit 2008/09 nur geringfügig – nämlich auf 4,7 Prozent aller Schüler gesunken.

Besonders der Anstieg der Förderquote kann ein Zeichen für einen verdeckten Förderbedarf sein, der erst jetzt zutage tritt, weil die Diagnose nicht mehr automatisch zum Förderschulbesuch führt. Auch wenn die Identifikation des echten Förderbedarfs notwendig ist: Wir sehen an den Zahlen eben auch, dass das Mehr an Inklusion bisher meist ohne wirklichen Bezug zum Förderschulwesen läuft. Damit gehen zwei Problematiken einher. Erstens bindet der Erhalt der Förderschulen wichtige finanzielle und personelle Ressourcen, die für einen qualitativ hochwertigen gemeinsamen Unterricht benötigt werden. Zweitens erweist sich der Besuch einer Förderschule weiterhin für die deutliche Mehrheit der Schüler als Sackgasse: Nach wie vor verlassen fast drei Viertel von ihnen die Förderschulen ohne Hauptschulabschluss. Für diese Jugendlichen ohne Schulabschluss ist die gesellschaftliche Teilhabe besonders schwierig.

So weit die Statistik. Der Blick auf die Gesetzgebungen der 16 Bundesländer zeigt zudem, dass jedes Land anders an die Gestaltung des inklusiven Schulsystems herangeht. Neben der Schulstruktur sind auch die Diagnostik von Förderbedarfen, die Strategien beim Ausbau des gemeinsamen Unterrichts und der Stellenwert der Förderschulen sehr unterschiedlich. In Sachsen und Baden-Württemberg verpflichten die derzeitigen Gesetze bei diagnostiziertem Förderbedarf noch immer zum Besuch einer Förderschule, und auch in Bayern und in Sachsen-Anhalt kann der Besuch einer separaten Förderschule unter bestimmten Umständen noch verpflichtend sein.

Fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Konvention ist es zu früh, eine Bilanz für Deutschland zu ziehen. Es zeigt sich aber bereits, dass die Länder bei der Umsetzung eines inklusiven Schulsystems noch viel zu tun haben. Es fehlt an einem gemeinsamen Verständnis von Inklusion mit guten, praxiserprobten Ansätzen und bundesweiten Standards. Auch konnten sich Bund, Länder und Kommunen bisher noch nicht einigen, woher die dringend benötigten zusätzlichen Ressourcen kommen, um in zunehmend heterogenen Klassen alle Kinder und Jugendlichen individuell fördern zu können.

Wenn es nicht gelingt, übergreifende Konzepte und Strategien zu entwickeln und systematisch umzusetzen, wird es schwierig, in absehbarer Zeit allen Kindern und Jugendlichen faire Chancen zur Teilhabe an unserer Gesellschaft zu eröffnen. Das aber muss das Ziel von konsequenter Inklusion im Schulsystem sein.

Dr. Jörg Dräger

Ulrich Kober

Mitglied des Vorstands

Programmdirektor Integration und Bildung,

der Bertelsmann Stiftung

Bertelsmann Stiftung

Grußwort

Der vorliegende Band zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen (UN-BRK) zur schulischen Bildung beschreibt den Status quo der schulischen Inklusion in den einzelnen Bundesländern. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland wird Bilanz gezogen über das, was bei der schulischen Inklusion erreicht wurde und was noch getan werden muss. Dabei bestätigt sich: Die Situation in den Ländern bei der Umsetzung der schulischen Inklusion ist sehr unterschiedlich. Ein einheitliches Bild gibt es nicht. Der vorliegende Band zeigt, wo Inklusion in den Schulen bereits gut funktioniert, wo noch Umsetzungsbedarf besteht und was zum Gelingen von gelebter Inklusion beiträgt. Denn nach wie vor ist der Wohnort entscheidend dafür, ob und inwieweit behinderte Kinder die Möglichkeit haben, an allgemeinen Schulen gemeinsam mit nicht behinderten Kindern zu lernen. Das bestätigt auch der aktuelle Bildungsbericht 2014, der dem Thema der Bildung von Menschen mit Behinderungen einen Schwerpunkt gewidmet hat.

Die Umsetzung der UN-BRK ist ein Prozess, der sicher noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Vieles muss neu gedacht, alte Strukturen müssen aufgebrochen werden. Unabhängig davon ist immer wieder der Einwand zu hören, Inklusion brauche Zeit, nichts dürfe überstürzt werden. Sicherlich sind Veränderungen etwa in den Schulen nicht von heute auf morgen zu leisten. Die notwendigen Hilfsmittel müssen organisiert, Barrieren beseitigt und Lehrende gut ausgebildet werden. Fakt ist aber, dass Kinder und Jugendliche, die die schulische Inklusion wollen, keine Zeit haben. Sie können nicht warten, denn sie haben nur diese eine Schullaufbahn.

Die aktuellen und oft sehr emotional geführten öffentlichen Diskussionen zur gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder zeigen eindrücklich, dass es hier noch große Schwierigkeiten und noch viel größeren Diskussionsbedarf gibt. An diesem gesellschafts- und bildungspolitisch bedeutsamen Thema muss weiter intensiv gearbeitet werden. Denn nur der gemeinsame Schulbesuch aller Kinder legt den Grundstein für eine lebendige inklusive Gesellschaft. Wenn Vorurteile gar nicht erst entstehen, müssen sie im Erwachsenenalter auch nicht mühevoll abgebaut werden. Es ist daher zwingend notwendig, die Probleme im Bildungsbereich engagiert anzugehen.

In vielen Bundesländern gibt es inzwischen eine Reihe guter Regelungen zur Umsetzung der Verpflichtung aus Art. 24 der UN-BRK auf gemeinsame Bildung. Manche Gesetze gehen aber noch nicht weit genug. So machen Elternverbände immer wieder darauf aufmerksam, dass der Anspruch behinderter Kinder und Jugendlicher auf Unterricht an einer allgemeinen Schule durch Kostenvorbehalte eingeschränkt und vom Vorhandensein entsprechender Ressourcen abhängig gemacht werden kann. In der Praxis sollte zudem darauf geachtet werden, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte auch durchsetzen können.

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass Inklusion an Schulen nur dann gelingen kann, wenn die Sozialsysteme entsprechend ausgestaltet sind. Sie müssen auf die veränderten Anforderungen von Unterstützungsbedarfen an allgemeinen Schulen angemessen reagieren können. Es gibt einige Bereiche, in denen noch bundesgesetzliche Lösungen notwendig sind, um die Umsetzung der UN-BRK voranzubringen. Ohne eine solide rechtliche Basis kommen wir hier nicht weiter, das zeigt sich immer wieder. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag bereits darauf verständigt, für die gemeinsamen Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen für mehr Inklusion eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Die Erarbeitung dieser Regelungen werde ich vorantreiben, und bei einem neuen Bundesteilhabegesetz darauf achten, dass die Lösungen für die Inklusion an Schulen so passgenau wie möglich sind.

Ich kenne die Probleme und Herausforderungen, vor denen Menschen mit Behinderungen oft stehen und die ihnen den Alltag erschweren. Daher weiß ich, wie dringend einheitliche Kriterien sind, die die Richtung für gelungene Inklusion vorgeben können. Wenn in den Ländern nach solchen einheitlichen Kriterien vorgegangen würde – bei all der Unterschiedlichkeit der Systeme –, könnte dies die schulische Inklusion in ganz Deutschland voranbringen.

Auf dem Weg zur Inklusion in der Bildung gibt es noch viel zu tun. Entscheidend ist, dass die Barrieren in den Köpfen abgebaut werden, dass das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung selbstverständlich wird und die erforderliche Unterstützung jeweils bereitgestellt wird.

Verena Bentele

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange

behinderter Menschen

Einleitung

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – formal: das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – wurde 2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedet. Ziel dieses völkerrechtlichen Vertrags ist, behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Behindertenrechtskonvention verweist dabei sowohl auf grundlegende Aspekte allgemeiner Menschenrechte, etwa das Recht auf Leben, als auch auf spezielle Bestimmungen zur konkreten Lebenssituation behinderter Menschen wie die Teilhabe an Bildungsprozessen. Als »Menschen mit Behinderungen« gelten nach der Konvention »persons […] who have long-term physical, mental, intellectual or sensory impairments which in interaction with various barriers may hinder their full and effective participation in society on an equal basis with others« (UN-BRK, Artikel 1)1.

Die UN-BRK besteht nach der Präambel aus 50 Artikeln. In der deutschen Diskussion steht allerdings seit Inkrafttreten der Konvention im Jahr 2009 vor allem Artikel 24 im Vordergrund, der sich auf Teilhabe an Bildung bezieht. Inhalt und Reichweite dieses Artikels werden von den verschiedenen Interessengruppen sehr unterschiedlich interpretiert.

Artikel 24 regelt, dass die Vertragsstaaten »an inclusive education system at all levels« bereitstellen müssen und dass »a) […] [p]ersons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disability, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary education, or from secondary education, on the basis of disability; b) Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live«.

Entscheidend ist der Anspruch auf »Zugang zu inklusiver […] Bildung«. Nimmt man Artikel 24a und b ernst, werden hier sogar zwei Ansprüche formuliert: Erstens muss inklusive, qualitativ hochwertige und kostenfreie Bildung in Wohnortnähe angeboten werden, zweitens müssen Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zu diesen Bildungsangeboten haben. Um dem Anspruch auf inklusive Bildung zu genügen, reicht es danach also weder aus, wenn Kinder und Jugendliche mit Behinderungen überhaupt eine Schule besuchen dürfen, noch, wenn ihnen rein rechtlich der Besuch von Regelschulen erlaubt ist. Denn ein Schulsystem ist noch nicht inklusiv, nur weil Kinder und Jugendliche mit Behinderungen die betreffenden Schulen besuchen. Vielmehr lässt sich aus der UN-BRK schließen, dass es eines inklusiven Bildungssystems bedarf, um Teilhabe überhaupt zu ermöglichen. Das wiederum fügt sich ein in das Inklusionsverständnis, das im »Index for Inclusion« formuliert wird. Dieses Werkzeug für inklusive (Schul-)Entwicklung formuliert für Inklusion im Bildungssystem elf Eckpunkte.

Inclusion in education involves:

• Valuing all students and staff equally.

• Increasing the participation of students in, and reducing their exclusion from, the cultures, curricula and communities of local schools.

• Restructuring the cultures, policies and practices in schools so that they respond to the diversity of students in the locality.

• Reducing barriers to learning and participation for all students, not only those with impairments or those who are categorised as »having special educational needs«.

• Learning from attempts to overcome barriers to the access and participation of particular students to make changes for the benefit of students more widely.

• Viewing the difference between students as resources to support learning, rather than as problems to be overcome.

• Acknowledging the right of students to an education in their locality.

• Improving schools for staff as well as for students.

• Emphasizing the role of schools in building community and developing values, as well as in increasing achievement.

• Fostering mutually sustaining relationships between schools and communities.

• Recognizing that inclusion in education is one aspect of inclusion in society.

Quelle: www.csie.org.uk/resources/inclusion-index-explained.shtml

Inklusion geht also weit über das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung hinaus. Die Institution Schule und damit die schulische Bildung an sich braucht, um erfolgreich zu sein, intensive, sich wiederholende Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen. Inklusive Bildung fokussiert gerade diesen Prozesscharakter: Das gemeinsame Lernen aller basiert darauf, dass die Unterschiedlichkeit aller Menschen immer wieder als Chance begriffen wird, voneinander zu lernen, und darauf, dass alle sich zugehörig fühlen können.

Neben dem fachlichen Lernen rückt damit der Alltag sehr viel stärker die soziale Kompetenz von Einzelnen und Gruppen in den Mittelpunkt. Das bedeutet: Nur ein inklusives Schulsystem kann leistungsstark und chancengerecht sein – wobei Leistung und Chancen immer bezogen sind auf die Möglichkeiten des einzelnen Schülers mit seinen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen. Vor diesem Hintergrund steht Deutschland seit der Unterzeichnung der UN-BRK gleich vor zwei großen Herausforderungen: Zum einen muss ein inklusives Schulsystem nach dem oben ausgeführten Inklusionsverständnis entwickelt werden; zum anderen müssen an diesem System alle Kinder und Jugendlichen teilhaben können, auch alle mit Behinderungen.

Diese Herausforderungen treffen allerdings derzeit noch auf zwei Schwierigkeiten:

• das stark gegliederte Schulsystem, das erheblich von (wahrgenommenem) fachlichem Leistungsvermögen und sozialen Unterschieden geprägt und zudem in den 16 Bundesländern sehr unterschiedlich ausgestaltet ist, und

• ein besonders ausgeprägtes Sonderschulsystem, wiederum in 16 verschiedenen Ausgestaltungen, das ebenfalls meist stark gegliedert ist (mit bis zu zehn verschiedenen Schultypen) und im europäischen Vergleich von besonders vielen Kindern besucht wird (vgl. Preuss-Lausitz 2013: 1, Abb. 1).

Die ausgeprägte Gliederung der Schulsysteme und die Unterteilung in Regel- und Sonderschulsystem haben in Deutschland die Schulerfahrung der meisten heute erwachsenen Menschen geprägt. Daraus ergibt sich in der öffentlichen Debatte eine weitere Komplikation: »Inklusion« wird häufig gleichgesetzt mit dem gemeinsamen Unterricht von Kindern ohne und mit Behinderungen – Letztere werden im schulischen Kontext als Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bezeichnet. Diese Gleichsetzung spiegelt sich auch in Begriffen wider, die in der Debatte verwendet werden, wie »Inklusionsanteil« etc. Das ist insofern problematisch, als damit die Gefahr besteht, dass die beiden Herausforderungen, die sich aus Artikel 24 ergeben, verkürzt werden auf die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, während das Konzept von Inklusion – im Gegensatz zu Integration – jegliche Gruppeneinteilung von Menschen nach bestimmten Merkmalen überwinden will. Hinz (2002) erklärt den Unterschied zwischen dieser »Zwei-Gruppen-Theorie« und Inklusion so:

»Das Konzept der Inklusion versteht sich als eine allgemeine Pädagogik, die es mit einer einzigen, untrennbar heterogenen Gruppe zu tun hat. In ihr sind unterschiedlichste Dimensionen von Heterogenität vorhanden: Verschiedene Geschlechterrollen, ethnische, sprachliche und kulturelle Hintergründe, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen, Familienstrukturen, soziale Lagen sowie Fähigkeiten und Einschränkungen kommen in ihnen vor.«

Schuck und Rauer (2014: III) konkretisieren dieses Verständnis von Schule: Diese habe sich »darin zu bewähren, für alle Formen individueller, sozialer und kultureller Heterogenität optimale schulische Lernbedingungen zu schaffen. Kategoriale Feststellungen, wie z.B. die des sonderpädagogischen Förderbedarfs, können dabei nur begrenzt die differenzierten Fördernotwendigkeiten auf einem Kontinuum individueller Bedürfnisse beschreiben, müssen aus entscheidungstheoretischen Gründen immer fehlerhaft sein und sollten in einer inklusiven Schule überwunden werden. […] Aufgabe der Schulentwicklung und -steuerung wird es sein, die Schulen in die Lage zu versetzen, mit den vorhandenen individuellen Problemlagen ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen zu können, gleich ob nach klassischer Terminologie mutmaßlich ein sonderpädagogischer oder ein allgemeinpädagogischer Förderbedarf besteht.«

Vor dem Hintergrund dieses Inklusionsverständnisses und der daraus abgeleiteten Vorstellung einer inklusiven Schule ist es besonders schwierig, die seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention regelmäßig gestellte Frage zu beantworten, wie Inklusion in den 16 Bundesländern umgesetzt werden kann. Bis heute haben sich die Länder nicht auf ein gemeinsames Qualitätsverständnis und auf Maßstäbe für Inklusion verständigt. Damit gibt es keine Anhaltspunkte, anhand derer man die Umsetzung von Inklusion wirklich messen und vergleichen könnte.

Zurzeit kann deshalb nur hilfsweise auf Daten und Erkenntnisse zurückgegriffen werden, die öffentlich zugänglich sind und eine gewisse Standortbestimmung ermöglichen. Hier bieten sich zum einen die schulstatistischen Kennzahlen an, die von den statistischen Landesämtern jährlich an die Kultusministerkonferenz (KMK) gemeldet werden. Diese Kennzahlen erfassen die Lernorte von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.2 Gewisse Hinweise geben auch die Gesetzeslage in den einzelnen Bundesländern an den jeweils verschiedenen Orten der Landesgesetzgebung und die hier vorgenommenen Veränderungen: Sie geben Aufschluss über Rahmenbedingungen und Grundhaltungen zu den Themen »Inklusion« und »gemeinsames Lernen in den Ländern«. Hinzu kommen zahlreiche Erfahrungsberichte von Schulen, die beispielhaft zeigen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Maßnahmen Inklusion vor Ort konkret umgesetzt wird.

Aus der Kombination dieser drei Quellen können wir in diesem Band zumindest ein ungefähres Bild davon zeichnen, wie weit die Länder auf dem Weg zum gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf vorangekommen sind. Das ist zwar nicht gleichzusetzen mit Inklusion – doch ist Inklusion ohne gemeinsames Lernen erst recht nicht denkbar.

Der Band gliedert sich in drei Teile: Im einleitenden ersten Teil werden die zur Verfügung stehenden KMK-Zahlen für Inklusion/Integration vom Schuljahr 2008/09 bis zum Schuljahr 2013/14 vorgestellt. Der zweite Teil umfasst 16 Länderporträts: Für jedes Bundesland stellen wir anhand der schulstatistischen Zahlen der KMK 2008/09 bis 2013/14 den Stand der Umsetzung von Inklusion vor und beschreiben die Umsetzung des gemeinsamen Lernens, soweit sie aus den Gesetzen des jeweiligen Bundeslandes ersichtlich wird.3

Da bekannt ist, dass Gesetzeslage und Umsetzung in der Regel nicht Hand in Hand gehen, schließt sich an diese Darstellung jeweils ein kurzer Erfahrungsbericht an: Ein Schulleiter aus dem betreffenden Bundesland schildert die Umsetzung von Inklusion und die Auswirkungen der Gesetzgebung auf den Alltag in seiner Schule und sagt, was aus seiner Sicht für den weiteren Umsetzungsprozess wichtig wäre. Hier fällt auf, dass die Schulleitungen durchgehend einen weiten Inklusionsbegriff vertreten und meinen, entscheidend für eine gelungene inklusive Schulentwicklung sei vor allem, die Verschiedenartigkeit aller Kinder ins Zentrum zu stellen. Die Verengung auf Förderbedarf ist in der (guten) Praxis also offenbar weit weniger aktuell als in der öffentlichen Debatte.

Auf die Interviews folgen Porträts von bisherigen Jakob-Muth-Preisträgern4 – also von Schulen, die sich bereits erfolgreich auf den Weg zu einer gelingenden Inklusion als Regelfall gemacht haben. Solche Schulporträts gibt es (noch) nicht für jedes Bundesland: Mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schule wurden bisher 18 Schulen aus neun Bundesländern ausgezeichnet. Auch in diesen Porträts zeigt sich, dass das Konzept der betreffenden Schulen auf einem weiten Inklusionsbegriff basiert.

Schließlich werden im dritten Teil des Bandes die vorgestellten Standortbestimmungen der 16 Bundesländer abschließend diskutiert. Die Entwicklungen in den Bundesländern lassen sich auf verschiedenen Ebenen einordnen: Sie müssen sich zum einen daran messen lassen, wie weit sie in Bezug auf Inklusion (im umfassenden Sinne nach Hinz 2002) gekommen sind, zum anderen daran, wie weit das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf gediehen ist. Darüber hinaus können die Entwicklungen der Bundesländer miteinander verglichen werden, und schließlich ermöglicht es der Blick über den Tellerrand auch, die bisherigen Entwicklungen in Deutschland auf die internationale Entwicklung in Sachen Inklusion zu beziehen.

Mit diesem Band legen wir eine systematische Übersicht über den aktuellen Stand zum gemeinsamen Lernen in den Bundesländern vor. Dabei ist uns bewusst, dass sich in dieser Hinsicht derzeit ungeheuer viel bewegt. Umso wichtiger ist es unseres Erachtens, mit Momentaufnahmen wie dieser aktuelle Problemlagen aufzuzeigen und eine solide Basis bereitzustellen, auf der Stand und Fortschritt gleichermaßen auch zukünftig beurteilt werden können. Nicht nur deshalb hoffen wir, dass dieser Band als Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen zur Entwicklung des gemeinsamen Lernens, aber auch umfassender eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland dient.

Bei der Erstellung des Bandes wurden wir von zahlreichen Menschen unterstützt, denen wir hier danken möchten: Die Texte zur gesetzlichen Umsetzung der UN-BRK in den Bundesländern basieren auf einer Analyse, die Sören Thoms von der Universität Hannover im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Sommer 2013 durchgeführt hat. Die Ergebnisse dieser Analyse wurden in Kooperation mit Vertretern der 16 Bildungsministerien wiederholt geprüft, sodass wir für die Länderporträts über eine gut gesicherte Datenlage verfügen. Die letzte Verantwortung für die Texte liegt bei den Autorinnen des Bandes. Die Schulleiterinterviews hat Andreas Henke geführt und aufbereitet. Schließlich danken wir ganz besonders der Bundesbehindertenbeauftragten Verena Bentele für ihre Bereitschaft, dem Band ein Grußwort voranzustellen, und der Deutschen UNESCO-Kommission für ihre Einordnung der Situation in Deutschland auf internationaler Ebene.

Ina Döttinger, Nicole Hollenbach-Biele

1 Wir beziehen uns hier auf den englischen Originaltext der UN-BRK, weil in der offiziellen deutschen Übersetzung »inclusive« – unseres Erachtens fälschlich – als »integrativ« übersetzt wird. Die Schattenübersetzung, die in Deutschland ebenfalls zum Teil verwendet wird, ist wiederum an anderen Stellen ungenau oder benutzt unklare Begriffe. Die Behindertenbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland stellt unter www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile eine vergleichende Darstellung der drei Versionen zur Verfügung.

2 Bei der Auswertung der Statistik muss berücksichtigt werden, dass deren Aussagekraft und Vergleichbarkeit begrenzt ist. So ist z.B. nicht festgelegt, ob die Länder die Kinder mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf angeben sollen oder diejenigen, die sonderpädagogische Förderung erhalten. Nicht geregelt ist ferner, wann genau die Beschulung als »inklusiv« gilt. So können hinter den Zahlen der inklusiven Beschulung sehr unterschiedliche Modelle stehen – von gemeinsamem Lernen bis hin zu Außenklassen. Andererseits ist anzunehmen, dass die Zahlen zumindest dem Selbstverständnis des gemeinsamen Lernens entsprechen, sodass sie immerhin bis zu einem gewissen Grad vergleichbar sind (vgl. dazu auch Klemm 2013; Gresch und Piezunka 2015). Entsprechend den Gepflogenheiten im Feld verwenden wir deshalb trotz der Unklarheiten die derzeit gängigen Begriffe, um den Anteil der Schüler im gemeinsamen Unterricht und an separaten Förderschulen zu bezeichnen. Wir sind uns bewusst, dass auch wir hier den Begriff »Inklusion« verengen, da die Zahlen eher die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wiedergeben.

3 Mit dieser Herangehensweise unterscheidet sich die vorliegende Betrachtung deutlich von anderen Analysen zum Thema Inklusion in Deutschland. Zwar geht z.B. das Deutsche Institut für Menschenrechte (vgl. Mißling und Ückert 2014) in seinen Analysen ebenfalls von den Schulgesetzen aus und beschreibt die rechtliche Implementierung, doch dort liegt der Fokus auf der systematischen Betrachtung von zwölf ausgewählten Kriterien des Menschenrechts auf inklusive Bildung, während der vorliegende Band mit den Porträts und dem Blick auf die Zahlen zum gemeinsamen Lernen den Blick stärker auf die einzelnen Bundesländer (Stand Dezember 2014) richtet.

4 Seit 2009 vergibt die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit der Bundesbehindertenbeauftragten und der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) den Jakob Muth-Preis für inklusive Schule. Bis zur Ausschreibung 2013/14 trug der Preis noch den Untertitel »Gemeinsam lernen mit und ohne Behinderung«. Die Bewerbungen und insbesondere die Preisträgerschulen haben aber deutlich gemacht, dass für gelingende Inklusion immer der Blick auf alle Kinder entscheidend ist. Deshalb haben die Projektträger 2014 beschlossen, künftig auf den Untertitel zu verzichten.

Teil I: Inklusion in Deutschland – ein Überblick

Inklusion kommt in Deutschland nur langsam voran

Der Begriff der Inklusion wurde bis vor wenigen Jahren nur von Fachleuten benutzt. Heute ist er in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Das zeigt, dass die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen (UN-BRK), die Deutschland am 23.3.2009 ratifiziert hat, wahrgenommen wird. Auch erste Wirkungen der Konvention haben sich eingestellt: Aktuell wird hierzulande heftig darüber gestritten, wie der Anspruch, Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten, in den Schulsystemen der 16 Bundesländer umgesetzt werden kann. Durch diese Debatte hat sich der Begriff »Inklusion« vielerorts vom Fach- zum Reizwort gewandelt. Eines ist jedoch unbestreitbar: Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention hat Deutschland sich verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung den Zugang zum allgemeinen Schulsystem zu eröffnen.

Diese Öffnung von Schulen für alle Kinder und Jugendlichen gilt es nun weiter voranzutreiben, um sich Schritt für Schritt einem wirklich inklusiven Schulsystem – zum Verständnis des Begriffs siehe Seite 18 ff. – anzunähern. Dazu ist es wichtig, sich die verfügbaren Zahlen und Fakten vor Augen zu führen und die bisherigen Entwicklungen sauber zu dokumentieren, um die oft sehr emotional geführte Diskussion über den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung auf eine empirische Grundlage zu stellen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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