Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft - Hepp Andreas - E-Book

Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft E-Book

Hepp Andreas

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Beschreibung

Wir sind Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft, aber wir sind noch lange nicht angekommen. Andreas Hepp beleuchtet in seinem Buch die tiefgreifende Mediatisierung der Gesellschaft. Er fokussiert den Umgang mit digitalen Medien, ihre Infrastrukturen und die automatisierte Verarbeitung der Daten, die wir alle online hinterlassen. Hepp diskutiert die Rolle der Industrie, des Staates und der Pioniergemeinschaften dabei und fragt danach, warum digitale Medien als Plattformen und kommunikative Roboter immer "prozesshafter" werden. Was bedeuten diese Veränderung für Organisationen, Gemeinschaften und Individuen? Und wie sollten wir einen solchen Wandel gestalten, um zu der digitalen Gesellschaft zu gelangen, die wir uns auch wünschen?

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

Andreas Hepp

Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft.

Über die tiefgreifende Mediatisierung der sozialen Welt

Köln: Halem, 2021

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2021 für die deutsche Ausgabe Herbert von Halem Verlag, Köln

Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor

Originaltitel: Deep Mediatization

All Rights Reserved. Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of Taylor & Francis Group.

ISBN (Print)978-3-86962-599-7

ISBN (PDF)978-3-86962-595-9

ISBN (ePub)978-3-86962-561-4

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im

Internet unter http://www.halem-verlag.de

E-Mail: [email protected]

SATZ: Herbert von Halem Verlag

LEKTORAT: Volker Manz, Rüdiger Steiner

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

UMSCHLAGFOTO: Timon Stadler / Unsplash

GESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Andreas Hepp

Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft

Über die tiefgreifende Mediatisierung der sozialen Welt

ANDREAS HEPP (Jg. 1970) ist Professor am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen. Aufenthalte als Gastwissenschaftler und Gastprofessor u.a. an der London School of Economics and Political Science, dem Goldsmiths, University of London, der Université Paris II Panthéon ASSAS und der Stanford University (USA).

Forschungsschwerpunkte: Mediatisierung, Datafizierung, Mediennutzung und Medienaneignung. (Foto: Beate C. Koehler)

FÜR LEVI DANIEL HEPP

INHALT

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

1.EINLEITUNG

1.1Von der Mediatisierung zur tiefgreifenden Mediatisierung

1.2Traditionen und Perspektiven

1.3Die Kapitel dieses Buches

2.DAS ZUSTANDEKOMMEN DER TIEFGREIFENDEN MEDIATISIERUNG

2.1Eine politische Ökonomie der digitalen Infrastrukturen

2.2Die Rolle von Pioniergemeinschaften

2.3Die quantitativen Trends der tiefgreifenden Mediatisierung

3.MEDIEN ALS PROZESS

3.1Zur Frage der Medienlogiken

3.2Medien als Prozesse denken

3.3Die Mannigfaltigkeit der Medien

4.EIN FIGURATIONSANALYTISCHER ANSATZ

4.1Figurationen, Kommunikation und Medien

4.2Die (digitale) Gesellschaft in figurationsanalytischer Perspektive

4.3Transformation als Refiguration

5.DIE REFIGURATION DER GESELLSCHAFT

5.1Neue Relationalitäten von Figurationen

5.2Die Transformation von bestehenden Figurationen

5.3Das Entstehen neuer Figurationen

6.DAS INDIVIDUUM IN ZEITEN TIEFGREIFENDER MEDIATISIERUNG

6.1Medienrepertoires und die Vielfalt von Figurationen

6.2Die alltagsweltlichen Ambivalenzen von digitalen Daten

6.3Die Neuausrichtung des Selbst

7.DIE DIGITALE GESELLSCHAFT UND DAS GUTE LEBEN

7.1Ein tiefgreifender Generationswandel?

7.2Neue Organisationsformen

7.3Das Bedürfnis nach individueller Autonomie

LITERATUR

REGISTER

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Wir leben nicht in der digitalen Gesellschaft. Wir sind aber auf dem Weg dahin. Diese beiden Sätze mögen zu Beginn eines Buches mit dem Thema ›digitale Gesellschaft‹ überraschen. Sie sollen aber signalisieren, dass wir es bei dem, was unter dem Begriff der digitalen Gesellschaft verhandelt wird, mit einem weitaus komplexeren Zusammenhang zu tun haben, als es gemeinhin den Anschein hat. Was ist die digitale Gesellschaft? Diese Frage ist leicht gestellt. Ungleich schwieriger ist es, sie zu beantworten.

Befasst man sich näher mit dem Begriff ›digitale Gesellschaft‹, so stellt man fest, dass er seit nunmehr mindestens einem Jahrzehnt so etwas wie eine Chiffre zu sein scheint: eine Chiffre für eine Gesellschaft, in der digitale Medien und Infrastrukturen eine herausgehobene Rolle spielen. Betrachtet man alleine die Buchpublikationen im deutschsprachigen Raum, die ›digitale Gesellschaft‹ in ihrem Titel tragen, zeigt sich das Spektrum, mit dem man es zu tun hat: Man findet historische Bände, die die Wege in die digitale Gesellschaft (2018) aufzeigen, Sammelbände, die die Politik in der digitalen Gesellschaft (2019) reflektieren, Bücher zur Netzpolitik (BECKEDAHL/LÜKE 2012), Kommunikationspolitik (2015) und Partizipationskultur (2014) der digitalen Gesellschaft oder ganze Entwürfe einer Theorie der digitalen Gesellschaft (NASSEHI 2019). Die verbindende Linie zwischen so unterschiedlichen Publikationen ist, dass sie unter digitaler Gesellschaft eine Gesellschaft verstehen, die auf digitalen Medien und ihren Infrastrukturen basiert. Unterschiede gibt es dann in den Perspektiven und Zäsuren. Beispielsweise lässt sich argumentieren, dass die moderne Gesellschaft bereits seit ihren Anfängen verschiedene Probleme aufgeworfen hat, deren »Lösung« (NASSEHI 2019: 12) die heutige Digitalisierung ist. Die digitale Gesellschaft ist in einer solchen Perspektive weit älter als die digitalen Medien selbst. Oder man bringt – wesentlich dichter an unserem Alltagsverständnis – die digitale Gesellschaft mit der schrittweisen »Durchdringung« (BÖSCH 2018: 10) der Gesellschaft mit Computertechnologien in Verbindung. Man hat es dann mit einem Prozess zu tun, der in den 1950er- und 1960er-Jahren begann.

Ich möchte in diesem Buch von einem Verständnis der digitalen Gesellschaft als einer auf digitalen Medien und ihren Infrastrukturen beruhenden Gesellschaft ausgehen. Mein Kernargument dabei ist, dass wir – auch wenn es die oben genannten Publikationen suggerieren – noch nicht in einer solchen Gesellschaft leben, uns aber auf dem Weg dorthin befinden. Es geht mir also um ein Prozessargument: Will man wirklich verstehen, was die entstehende digitale Gesellschaft ausmacht, sollte man sich näher mit dem gegenwärtigen Prozess ihres Entstehens befassen. Dies ist nicht unbedingt leicht, befinden wir uns doch inmitten dieses Prozesses. Es handelt sich bei ihm um eine vielschichtige Refiguration der Gesellschaft, die gleichwohl nicht einfach nur auf die jüngsten digitalen Medien verweist, sondern im Zusammenhang der Transformation der Gesellschaft mit und durch Medien insgesamt zu sehen ist.

Die Corona-Pandemie, wie wir sie alle 2020 und 2021 erlebten, ist ein gutes Beispiel für dieses Argument. Zuerst einmal führt uns die Pandemie vor Augen, dass wir gerade nicht bereits in einer digitalen Gesellschaft leben: Egal, ob man an das eigene Arbeiten, die Schule und Universität, die öffentliche Verwaltung oder die Organisation privater Unternehmen denkt – der Druck, unter Pandemie-Bedingungen viel mehr als bisher ›online‹ zu realisieren, hat exemplarisch gezeigt, dass dies trotz der von der Politik immer wieder proklamierten Digitalisierungsstrategien nicht so einfach möglich ist. Wären wir wirklich schon in einer digitalen Gesellschaft, in der digitale Medien und Infrastrukturen wirklich die Basis jeglicher sozialen Praktiken sind, hätten wir mit der Pandemie ganz anders umgehen können als in unseren heutigen Gesellschaften, die sich mitten auf dem Weg dahin befinden. Dennoch waren aber elektronische und digitale Medien zentral für die Art und Weise, wie wir diese Pandemie sozial erfahren haben und wie wir mit ihr umgegangen sind.

Es lassen sich hier zumindest vier Punkte ausmachen. Erstens haben wir die Pandemie von Beginn an auf der Basis von medienvermittelten Erwartungen erfahren. Filme und Serien, die gefährliche Viren, deren rasche Verbreitung und das Kämpfen der Menschheit mit diesen zum Gegenstand haben, sind mindestens seit den 1970er-Jahren populär. Und für diejenigen, die sie noch nicht kannten, waren sie nach Ausbruch von Covid-19 über die verschiedenen digitalen Plattformen leicht verfügbar. Vor diesem Hintergrund haben wir uns der Pandemie von bestehenden medienvermittelten Skripten dazu, was ›passieren kann‹ und ›wie man damit umgehen muss‹, aus angenähert. Zweitens haben wir eine medienvermittelte Erfahrung der Pandemie: Was wir über die Pandemie wissen, wurde uns über die Medien vermittelt, wobei hier der in Teilen automatisierte Datenjournalismus – die fortlaufende visuelle Aufbereitung der letzten Corona-Zahlen (Infektionen, Tote, Impfungen) – phasenweise eine erhebliche Rolle gespielt hat. Drittens haben wir es mit einer fortlaufenden medienvermittelten Analyse des Pandemieverlaufs zu tun. Damit ist gemeint, dass insbesondere digitale Medien und deren Infrastrukturen dazu eingesetzt werden, ›Daten‹ darüber zu gewinnen, wie Menschen mit der Pandemie umgehen. Beispiele dafür sind die Analysen zur Mobilität der Menschen während des Lockdowns anhand von Login-Daten ihrer Mobiltelefone oder verschiedene mathematische Modellierungen möglicher Pandemieverläufe anhand unterschiedlicher anderer digitaler Daten. Viertens schließlich waren wir immer wieder mit der Idee einer medienvermittelten Lösung einzelner Probleme der Pandemie konfrontiert. Insbesondere digitale Medien sind hier zu nennen, wenn beispielsweise zu Beginn der Pandemie die Politik eine Covid-App als zentrale Lösungsstrategie imaginierte, wenn digitale Verkaufs-, Vermittlungs- und Präsentationsplattformen als Lösung gesehen wurden, um einen Zusammenbruch von lokaler Wirtschaft, Kultur- und Veranstaltungsbranche zu verhindern, oder wenn das Homeoffice nur durch spezifische Plattformen und Videokonferenzsysteme möglich war. In all diesen Fällen wurden erhebliche Teile der ›Lösungen‹ aus dem Silicon Valley eingekauft und haben Unternehmen dort um die Faktoren reicher gemacht, wie Menschen durch die Pandemie in Deutschland ärmer wurden. Ungleichheiten der entstehenden digitalen Gesellschaft wurden durch die Pandemie nicht nur für alle ersichtlich, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verschärft.

Aus Sicht der Kommunikations- und Medienforschung verwundert all dies kaum. Seit Längerem wird zu der Frage geforscht, wie sich Kultur und Gesellschaft mit dem Wandel von Medien und Kommunikation ändern – und digitale Medien und deren Infrastrukturen sind nur Teil der letzten Stufe eines lang anhaltenden Wandels. Dieser Prozess der zunehmenden Durchdringung von Gesellschaft mit technischen Kommunikationsmedien wird als ›Mediatisierung‹ bezeichnet und hat eine lange Geschichte. So können wir uns beispielsweise moderne Nationalstaaten ohne mechanische und elektronische Massenmedien wie Druckmedien und Rundfunk nicht vorstellen. Erst diese machten es möglich, dass sich eine große Zahl von Menschen zu so etwas wie einer Nation ›zugehörig‹ fühlte. Oder anders formuliert: Die Nation wurde mit diesen und durch diese Medien erst »erfunden« (ANDERSON 1996: 1). Und auch unsere heutigen, hochgradig differenzierten Gesellschaften sind ohne die gegenwärtigen Medien – wie sie in Endgeräten wie dem Smartphone, Laptop oder Tablet greifbar werden – nicht vorstellbar. Weil diese digitalen Medien und Infrastrukturen unsere heutigen Gesellschaften umfassend durchdringen, spricht man hier von einer tiefgreifenden Mediatisierung – im Englischen ›deep mediatization‹, ähnlich wie auch ›deep learning‹ oder ›deep analytics‹ für verschiedene computerbasierte Verfahren des maschinellen Lernens oder der automatisierten Datenanalyse.

Das Kernargument dieses im englischen Original unter dem Titel Deep Mediatization erschienenen Buches ist, dass wir uns mit dem Prozess der tiefgreifenden Mediatisierung auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft befinden. Wenn wir die digitale Gesellschaft für uns alle auf eine produktive Weise gestalten wollen, ist es zuerst einmal notwendig, diese Transformation – die Refiguration von Gesellschaft mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen – zu verstehen. Hierzu möchte ich in diesem Buch das Rüstzeug vermitteln. Bei der Übersetzung des englischen Buches ins Deutsche – die während des zweiten Lockdowns der Corona-Pandemie entstand – habe ich an einigen Stellen zusätzliche Erläuterungen, Beispiele und Literaturhinweise eingefügt, die mir für ein deutschsprachiges Publikum wichtig erschienen. Im Kern ist die deutsche Übersetzung aber identisch mit der englischen Originalausgabe.

Ich möchte dieses Buch meinem Sohn Levi Daniel Hepp widmen, der selbst zum Studium auszog, als ich die letzten Korrekturen am Original in englischer Sprache vornahm. Meine Hoffnung ist, dass zumindest einige der Gedanken, die ich formuliert habe, für ihn anregend sein werden.

Danken möchte ich vor allem meiner Frau Beate C. Koehler für die vielen Ermutigungen und Unterstützungen, die ich erfahren habe, sowie für ihre Begleitung bei Gastprofessuren, Auslandsaufenthalten und diversen Auslandsreisen. Ohne ihre Liebe, Akzeptanz, Unterstützung und Hilfe wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

Dieses Buch ist das Ergebnis einer umfangreichen Forschungsarbeit, die zu einem großen Teil in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen durchgeführt wurde, denen ich an dieser Stelle ebenfalls danken möchte. Der Ansatz, der meiner Argumentation zugrunde liegt, wurde in vier wissenschaftlichen Kontexten entwickelt. Dies ist erstens die gemeinsame Arbeit mit Nick Couldry zum Themenfeld der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit, deren Ergebnis u.a. das Buch The mediated construction of reality ist. Ich möchte Nick für die mehr als zehnjährige Zusammenarbeit und für die Möglichkeit danken, unsere gemeinsamen Ideen weiterzuentwickeln. Der zweite Kontext ist der Forschungsverbund ›Kommunikative Figurationen‹, in dem wir die medienbedingte Refiguration der Gesellschaft empirisch erforschen. Ich danke allen Beteiligten, insbesondere Andreas Breiter, Uwe Hasebrink, Leif Kramp und vor allem Wiebke Loosen für die anregende Arbeit in unseren gemeinsamen Projekten, die mir immer wieder neue Themenfelder erschlossen hat. Wichtig war hier für mich – neben der gemeinsamen theoretischen Arbeit – vor allem die Forschung zu Pioniergemeinschaften und zum Pionierjournalismus. Als dritter Kontext ist das DFG-Schwerpunktprogramm ›Mediatisierte Welten‹ zu nennen, in dem wir sechs Jahre lang die Mediatisierung verschiedener gesellschaftlicher Domänen untersucht haben. Ich möchte mich bei allen Mitgliedern dieses Programms für die gemeinsame Arbeit und die vielen anregenden Diskussionen bedanken, insbesondere bei Ronald Hitzler, Friedrich Krotz, Michaela Pfadenhauer und all den ›jungen Wilden‹, die schon früh Fragen zur Datafizierung aufgeworfen haben. Viertens basiert dieses Buch auf mehr als 15 Jahren empirischer Forschung zur Mediatisierung am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Kolleg:innen für die konstruktive und anregende Zusammenarbeit über so viele Jahre hinweg bedanken, insbesondere bei den Mitgliedern meines Labs ›Mediatisierung und Globalisierung‹, mit denen ich auch frühere Versionen dieses Buches diskutiert habe: Alessandro Belli, Susan Benz, Matthias Berg (der inzwischen am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering arbeitet), Julia Gantenberg, Stephan Görland, Andrea Grahl, Katharina Heitmann, Marco Höhn (der mittlerweile leider verstorben ist), Florian Hohmann, Sigrid Kannengießer, Heiko Kirschner, Leif Kramp, Hendrik Kühn, Anke Offerhaus, Cindy Roitsch und Anne Schmitz.

Darüber hinaus habe ich in diesem Buch verschiedene Anregungen aus Forschungsaufenthalten und Konferenzen aufgegriffen, für die ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Kapitel 3 dieses Buches ist während einer Gastprofessur an der Université Paris 2 Panthéon-Assas entstanden. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei meinen dortigen Kolleg:innen bedanken, insbesondere bei Tristan Mattelart, ohne den mein Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre und der mir sehr konstruktives Feedback während meiner Zeit dort gab. Die Kapitel 5 und 6 habe ich geschrieben, als ich Gastprofessor am Department of Media and Communications der London School of Economics and Political Science war. Auch hier möchte ich mich bei meinen dortigen Kolleg:innen bedanken, insbesondere bei Bart Cammaerts, Nick Couldry, Sonia Livingstone und Robin Mansell – nicht nur dafür, dass sie mir den Aufenthalt ermöglicht haben, sondern auch für die Anregungen, die sie in vielen Gesprächen gegeben haben (und die vielen schönen Abende in und um London). In die deutsche Übersetzung sind einige Hinweise eingeflossen, die ich während eines Gastaufenthalts am Department of Communication der Stanford University erhalten habe. Hier danke ich insbesondere Fred Turner, dass er den Aufenthalt möglich gemacht hat – sowie für die Anregungen, die er mir gab. Darüber hinaus konnte ich Teile des Manuskripts dieses Buches auf vielen Konferenzen und Workshops vorstellen, teilweise als Keynotes, teilweise als Panel Papers. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich großzügig eingeladen haben, bei den Teilnehmer:innen der Tagungen und Workshops für die vielen ausführlichen Diskussionen und bei den anonymen Gutachter:innen für die Hinweise, die ich erhalten habe. Ein großer Dank geht auch an die Sektion Mediatization der European Communication Research and Education Association (ECREA), die seit vielen Jahren eine perfekte Heimat bietet, um Fragen der Mediatisierung zu diskutieren.

Ich möchte mich bei Göran Bolin, Nick Couldry, Knut Lundby, Wiebke Loosen und Kim Schrøder für ihre sehr hilfreichen Kommentare zum ersten Entwurf dieses Buches bedanken. Ihre Hinweise auf Unschärfen in der Argumentation, fehlende Beispiele und Verweise sowie reine Denkfehler ermöglichten es mir, das Manuskript weiter zu verbessern.

Eine wesentliche Hilfe bei der Fertigstellung des englischen Manuskripts waren verschiedene studentische Hilfskräfte. Ich möchte Jeanette Asmuss, Linda Siegel und Kian Reiling für ihre Besuche in der Bibliothek, ihre Visualisierungen der Daten und ihr Korrekturlesen danken. Alle drei haben mich bei meiner Arbeit maßgeblich unterstützt. Ein ganz besonderer Dank geht an Marc Kushin, der mir bei der sprachlichen Überarbeitung meines englischen Manuskripts geholfen hat. Bei der Übersetzung half mir Nicola Peters beim Finden der deutschen Zitate, bei der Korrektur des Literaturverzeichnisses und beim Erstellen des Index. Vor allem danke ich aber Leif Kramp, der mein Manuskript kritisch auf nach wie vor auftretendes ›Denglish‹ durchsah, sowie Heide Pawlik für die finalen Korrekturen.

Dem Verlag Herbert von Halem möchte ich dafür danken, dass er diese deutsche Übersetzung von Deep Mediatization möglich gemacht hat. Danken möchte ich daneben Volker Manz für das sorgfältige Lektorat. Mein Dank geht insbesondere an Rüdiger Steiner für die vortreffliche Betreuung und Begleitung im Prozess des Übersetzens sowie für seine Korrekturen und Hinweise zum eingereichten deutschen Manuskript.

Aber all diese Dankesworte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich für die verbleibenden Fehler, Unklarheiten oder einfach schlechtes Schreiben selbst verantwortlich bin. Es liegt nun an den Leser:innen, über die Qualität dieses Buches zu entscheiden. Ich hoffe jedenfalls, dass es für viele Menschen anregend sein wird und dass es unser kollektives Nachdenken über die tiefgreifende Mediatisierung und die entstehende digitale Gesellschaft voranbringt.

Bremen, im Sommer 2021

Andreas Hepp

1.EINLEITUNG

Populäre Medien präsentieren uns gerne fiktive Charaktere wie Mia, eine junge Frau, die im Jahr 2037 lebt: Eines Morgens wird Mia mit freundlichen Worten von Ben, ihrem künstlichen Begleiter, aus ihrem tiefen Schlaf geweckt. Ben ist eine auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Softwareanwendung, die hauptsächlich in der ›Cloud‹ existiert. Mia kann jederzeit über ihre Smartwatch, ihr Mobiltelefon und andere Geräte auf Ben zugreifen. Sie lebt in einem Smart Home: Wenn sie ihr Badezimmer betritt, schaltet sich das Licht automatisch ein. Am Rand des Badspiegels erscheint stets ein kuratierter Fluss von Nachrichten aus ihren Social-Media-Kanälen sowie eine Auswahl von Gesundheitsdaten und persönlichen Metriken wie ihre Herzfrequenz, die Qualität ihres Schlafs in der letzten Nacht und wie viele Kalorien sie am Vortag verbrannt hat. Das Essen in ihrer Küche wird automatisch zubereitet; künstliches Fleisch wird dafür in Bioreaktoren gezüchtet und der Kühlschrank wird automatisch durch Online-Einkäufe aufgefüllt. Mia fährt mit einem Hochgeschwindigkeitszug zur Arbeit. Wenn sie sich individueller durch die Stadt bewegen möchte, kann sie dies in einem autonomen Elektroauto tun. Sie arbeitet in einem Support-Center für autonome Fahrzeuge und es ist ihre Aufgabe, einen Simulator zu steuern, um einen fahrerlosen Lkw durch belebte Innenstädte zu manövrieren, wenn menschliche Unterstützung benötigt wird. Dank der Produktivitätsvorteile, die Robotik und KI-Technologien bieten, muss Mia nur vier Stunden am Tag arbeiten. In ihrer Freizeit genießen Mia und ihre Freunde Virtual-Reality-Erlebnisse und reisen auf diese Weise an weit entfernte Orte, vielleicht zu einem Außenposten auf dem Mars, um über die wogenden Dünen des Roten Planeten zu fahren.

Dieses Szenario wurde ursprünglich als ›Multimedia-Story‹ von Journalist:innen des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel in Zusammenarbeit mit Zukunftsforscher:innen des Ars Electronica Future Lab entwickelt. Der Artikel positioniert sich als »optimistische[r] Blick in die Zukunft, der nicht zwangsläufig der realistischste ist«.1 Trotz der oft beschworenen Risiken und Gefahren, die mit der Digitalisierung verbunden werden, geht es den Autor:innen vor allem um die »Chancen […], die die Zukunft bietet«. Ihr Szenario begreifen sie dabei nicht als »haltlose Fantasie«, sondern als eine »auf dem aktuellen Stand der Forschung« basierende Zukunftsvision, die von den bereits heute verfügbaren medientechnologischen Innovationen ausgeht.

Es gibt mehrere Gründe, warum ich dieses Buch mit der Geschichte von Mia beginne. Zunächst einmal zeigt Mias Alltagswelt, wie ein Leben in der digitalen Gesellschaft aussehen könnte. Einige der im Szenario beschriebenen Möglichkeiten sind bereits heute Teil unserer Alltagswelt: Während Bens Funktionalitäten umfangreicher sind als die der aktuellen Sprachassistenten, haben wir auf ähnliche Artificial Companions bereits jetzt über unsere Smartphones, Smartwatches und andere ›smarten‹ Geräte Zugriff. Beispiele dafür sind Amazons Alexa, Microsofts Cortana oder Apples Siri. Diese sind bereits in der Lage, unsere Termine zu erfassen, wir können Nachrichten und E-Mails diktieren, nach Informationen suchen lassen und mit einfachen Sprachbefehlen Einkäufe tätigen. Und diese Begleiter ›leben‹ bereits jetzt in der ›Cloud‹. Es scheint, dass wir möglicherweise auf dem besten Weg zu einer digitalen Gesellschaft sind, die dem oben beschriebenen Szenario ähnelt.

Interessant ist dieses Szenario aber auch im Hinblick auf das, was es nicht thematisiert – nämlich die potenziell problematischen Aspekte eines durch immer mehr vernetzte digitale Medientechnologien umfassend durchdrungenen Lebens. Zum Beispiel sammeln heutige Sprachassistenten kontinuierlich Daten über uns, während wir sie nutzen. In vielen Fällen ist die automatisierte Analyse dieser Daten das zentrale Geschäftsmodell hinter ihrer Entwicklung. Technologien, bei denen wir mittels Simulation Fahrzeuge und andere Geräte steuern, sind bereits in mehr Berufen verbreitet, als wir denken. Aber auch hier wird in der Zukunftsvision des Spiegel nicht deutlich, in welchen Bereichen die Simulationssteuerung derzeit am weitesten verbreitet ist.2 Wenn wir ihren Einsatz genauer untersuchen würden, könnten wir feststellen, dass ihr vorherrschendes Einsatzgebiet das Militär und dessen Steuerung unbemannter Drohnen ist.

Einerseits unterscheidet sich Mias Geschichte also vielleicht gar nicht so sehr von der heutigen Zeit, in der digitale Medien und Technologien bereits in erheblichem Maße die Alltagswelt durchdringen. In der sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung wird diese zunehmende »Verschränkung« (engl.: »entanglement«, SCOTT/ORLIKOWSKI 2014: 873) unserer sozialen Welt mit allgegenwärtigen Medientechnologien als »tiefgreifende Mediatisierung« bezeichnet. Andererseits projiziert die Erzählung des Spiegel das Fortschreiten einer solchen tiefgreifenden Mediatisierung in die Zukunft der digitalen Gesellschaft ausschließlich als eine durch digitale Technologien besser und effizienter gewordene Alltagswelt. Die Darstellung bleibt kurzsichtig gegenüber den möglichen negativen Seiten eines durch tiefgreifende Mediatisierung geprägten Lebens.

Die utopische Beschreibung des Spiegel stimmt mit vielen anderen Mainstream-Darstellungen des medialen Wandels überein, in denen uns Imaginationen von möglichen Zukünften präsentiert werden. Journalist:innen und Zukunftsforscher:innen versprechen seit Jahrzehnten eine ›schöne neue Welt‹ der digitalen Gesellschaft. Diese Welt ist ›weiß‹, sie ist ›sauber‹ und einfach ›besser‹, weil sie durch ›weiße‹, ›saubere‹ und ›bessere‹ Medientechnologien geschaffen wird. Wir können solche Mythen bis zum Beginn der Digitalisierung zurückverfolgen. Schon in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren wurde von digitalen Medientechnologien erzählt, die eine Fülle von ›positiven‹ Transformationen der Gesellschaft mit sich bringen würden. Wir würden mit ihnen beispielsweise in einer ›neuen Wirtschaft‹ (ALEXANDER 1983) kooperieren und in ›virtuellen Gemeinschaften‹ (RHEINGOLD 1994) zusammenleben.

Solche Erzählungen zeigen, dass die tiefgreifende Mediatisierung nicht einfach von Technologieunternehmen ›produziert‹ und von Nutzer:innen ›angeeignet‹ wird. Sie wird auch von verschiedenen Akteur:innen imaginiert und durch positive Zukunftsszenarien wie die oben beschriebenen vorangetrieben. Wir haben es bei dem Entstehen der digitalen Gesellschaft mit einem hochdynamischen und vielschichtigen Prozess zu tun.

In diesem Buch möchte ich der so entstehenden digitalen Gesellschaft nachspüren. Als digitale Gesellschaft bezeichne ich solche Gesellschaften, deren verschiedene Domänen – Gemeinschaften, Organisationen, Gruppen etc. – auf digitalen Medien und deren Infrastrukturen beruhen. Der Wandlungsprozess, der uns hin zur digitalen Gesellschaft führt, ist die tiefgreifende Mediatisierung. In einem solchen Verständnis ist die digitale Gesellschaft noch nicht vollkommen erreicht. Aber wir sind in vielen Ländern der Erde auf dem besten Weg dahin. Um die sich so eröffnenden Möglichkeiten, aber auch Grenzen und Probleme nachzeichnen zu können, bedarf es allerdings vor allem eines Verständnisses des Wandlungsprozesses ihres Entstehens: der tiefgreifenden Mediatisierung selbst. Mein Ziel mit diesem Buch ist es, zu einem Verständnis dieser tiefgreifenden Mediatisierung beizutragen, um den Blick für die Herausforderungen der Gestaltung einer digitalen Gesellschaft zu eröffnen.

1.1VON DER MEDIATISIERUNG ZUR TIEFGREIFENDEN MEDIATISIERUNG

Der in den Sozial- und Kulturwissenschaften häufig genutzte Begriff der Mediatisierung verweist auf eine Erfahrung, die jede:r aus dem Alltag kennt: Technologisch basierte Kommunikationsmedien durchdringen immer mehr gesellschaftliche Domänen, die sich gleichzeitig drastisch verändern. Allgemein gesagt bezeichnet der Begriff ›Mediatisierung‹ das Wechselverhältnis des Wandels von Medien und Kommunikation auf der einen Seite und des Wandels von Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite (COULDRY/HEPP 2013: 197). Mit Bezug auf diese Alltagserfahrung lässt sich sagen, dass Mediatisierung sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale aufweist.

Quantitative Aspekte betreffen die immer stärkere Verbreitung von Medien in der Gesellschaft. Sie lässt sich in dreifacher Hinsicht erfassen (KROTZ 2007a: 96): zeitlich (Medien wie beispielsweise das Fernsehen waren früher nur zu bestimmten Tageszeiten verfügbar; heute ist es rund um die Uhr zugänglich), räumlich (Medien wie das Telefon waren in der Vergangenheit als Festnetztelefon ortsgebunden; heute ist es als Mobiltelefon an nahezu allen Orten und in Bewegung verfügbar) und sozial (unsere sozialen Praktiken werden mit einer Vielzahl von Medien verschränkt und durch sie ergänzt, wenn wir uns beispielsweise über www, YouTube und Bücher über ein und dieselbe Sache informieren). Einige Medienforscher:innen haben argumentiert, dass Medien so allgegenwärtig geworden sind, dass wir von der »medialen Vermittlung von allem« sprechen können, der »mediation of everything« (LIVINGSTONE 2009: 1).

Eine qualitative Analyse der Mediatisierung richtet ihr Augenmerk sowohl empirisch als auch theoretisch darauf, welche spezifischen Folgen diese Durchdringung der sozialen Welt mit Medien hat und inwieweit sich dies auf den sozialen und kulturellen Wandel bezieht.3 Die Mediatisierungsforschung befasst sich aber nicht mit den Wirkungen einzelner Medieninhalte, sondern mit der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft und die menschlichen Praktiken als solche durch die Prägkräfte der Medien verändern. Mediatisierung kann daher als »sensibilisierender Begriff« verstanden werden,4 der »einen allgemeinen Bezugsrahmen und eine Orientierung bei der Annäherung an empirische Instanzen« (BLUMER 1954: 7) gibt und so die Aufmerksamkeit auf (aktuelle) Phänomene in Kultur und Gesellschaft lenkt. In diesem Sinne ›sensibilisiert‹ uns Mediatisierung für grundlegende Transformationen, die wir mit der heutigen Medienumgebung erleben, und zwar insbesondere in dreierlei Hinsicht: die historische Tiefe des Prozesses medienbezogener Transformationen, die Vielfalt medienbezogener Transformationen in den unterschiedlichen sozialen Domänen und das Wechselverhältnis von medienbezogenen Transformationen mit weiteren Modernisierungsprozessen (LUNT/LIVINGSTONE 2016: 465).

Ein aktueller Schwerpunkt innerhalb der Mediatisierungsforschung ist der digitale Charakter der gegenwärtigen Medien und die damit verbundene Notwendigkeit, die gesamte Idee der Mediatisierung neu zu überdenken. Während die ersten Beiträge zu diesem Thema eher allgemein gehalten waren (FINNEMANN 2014; MILLER 2014), hat sich die Diskussion in dem Maße intensiviert und konkretisiert, wie die Digitalisierung die Prozesse der Mediatisierung und damit das Entstehen der digitalen Gesellschaft vorangetrieben hat. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Mediatisierungsforscher:innen sind sich bewusst geworden, dass medienbezogener Wandel weniger durch den Einfluss eines dominanten Mediums vorangetrieben wird, sondern vielmehr durch die Differenzierung einer großen Zahl von hochgradig vernetzten digitalen Medien und die damit verbundene Veränderung von Kommunikation. Der Fokus hat sich daher auf den »polymedialen« (MADIANOU 2014: 323) Charakter des Lebens und die »Mannigfaltigkeit« (COULDRY 2012: 16) der heutigen Medienumgebung verlagert. Vor diesem Hintergrund und um zu verstehen, wie Medien die unterschiedlichen sozialen Domänen prägen, ist es notwendig, digitale Medien in ihrer Wechselbeziehung zueinander zu betrachten. Dabei sind digitale Medien nicht mehr nur Mittel der Kommunikation. Sie sind aufgrund ihres digitalen Charakters, während sie für Kommunikation genutzt werden, gleichzeitig Mittel zur Erzeugung von Daten. Diese Daten dienen als Quelle für verschiedene Formen der automatisierten Verarbeitung und sind so zu einem grundlegenden Bestandteil der Konstruktion unserer sozialen Welt geworden.

Hervorzuheben ist, dass wir mit der Digitalisierung in eine neue Stufe der Mediatisierung eingetreten sind, die wir als tiefgreifende Mediatisierung bezeichnen können. Die tiefgreifende Mediatisierung ist ein fortgeschrittenes Stadium dieses Prozesses, bei dem zunehmend alle Elemente unserer sozialen Welt eng mit digitalen Medien und den ihnen zugrunde liegenden Infrastrukturen verbunden sind (COULDRY/HEPP 2017: 7, 34). Wie die bisherige Forschung gezeigt hat, ist die Mediatisierung kein linearer Prozess, sondern vollzieht sich in verschiedenen ›Schüben‹ der grundlegenden Veränderung der Medienumgebung. Wenn wir die letzten Jahrhunderte betrachten, können wir mindestens drei solcher Schübe ausmachen: die Mechanisierung, die Elektrifizierung und die Digitalisierung.

Die Mechanisierung bezieht sich auf die Veränderungen der Medienpraktiken, wie sie durch mechanische Prozesse hervorgerufen werden. Dafür steht insbesondere die Erfindung der Druckerpresse um 1400, dazu zählen müssen wir aber auch die Entwicklung anderer mechanischer Medien wie der Schreibmaschine und der Kamera, die sich im 19. und 20. Jahrhundert verbreiteten. Die Elektrifizierung führt zum Entstehen der elektronischen Medien im Laufe des 20. Jahrhunderts; dabei fallen uns in erster Linie Radio und Fernsehen ein, aber auch Technologien wie der Phonograph und das Telefon sind von Relevanz. Wir können deutlich sehen, dass durch Prozesse der ›Remediation‹ (BOLTER/GRUSIN 2000) ältere Technologien in neue umgewandelt werden; so wie die Bildgestaltung der Malerei in der Fotografie aufging, so erneuerte der elektrisch betriebene Offsetdruck und schließlich der Fotokopierer Gutenbergs mechanische Druckpresse. Die Schreibmaschine wurde zur elektrischen Schreibmaschine und zur Computertastatur. Der Film im Kino wurde zum Fernsehspiel und so weiter. Der aktuellste Schub der Mediatisierung ist die Digitalisierung, von der ein Teil der Trend zur zunehmenden Datafizierung ist.5 Medien werden computerisiert, und Objekte, die vorher nicht als Medien galten, ein Auto z. B., werden durch ihre digitale Konnektivität zu Medien. Da diese digitalen Medien nun softwarebasiert sind und sich durch Algorithmen – in Einzelschritten definierte Abfolgeregeln, wie sie z. B. in Computerprogrammen festgelegt sind – automatisieren lassen, sind sie nicht mehr nur Mittel der Kommunikation, sondern fungieren auch als Generatoren von Daten. Dies zeigt deutlich, wie das fortgeschrittene Stadium der tiefgreifenden Mediatisierung mit dem Entstehen einer digitalen Gesellschaft verbunden ist: einer Gesellschaft, in der soziale Prozesse eng an die automatisierte Verarbeitung von Daten gekoppelt sind.

Die oben beschriebenen Schübe der Mediatisierung sind in sich widersprüchlich und entstanden in verschiedenen Phasen der Geschichte als Folge von Kräften, die über die Medien selbst hinausgehen. Es ist jedoch klar, dass die Allgegenwärtigkeit der Medien in unserer heutigen sozialen Welt sich größtenteils in der Folge ihrer digitalen Umgestaltung ergeben hat. Die softwarebasierten Medien werden in einer Vielzahl von digitalen Endgeräten konkret. Das Medium ›Radio‹ ist z. B. nicht mehr an das Radiogerät gebunden. Mit einer Vielzahl von Softwarelösungen können wir eine ganze Reihe von digitalen Geräten nutzen, um Radio zu hören. Einige sehen immer noch wie Radios aus (das Digitalradio als eigenständiges Endgerät), andere sind Software-Interfaces auf unseren Bildschirmen (eine Radio-App auf einem Smartphone). Das gleiche Prinzip können wir beim Fernsehen, bei der Telefonie und der gesamten Breite der Mediendienste und -geräte, die wir nutzen, ausmachen.

Die tiefgreifende Mediatisierung stellt eine Herausforderung für die Mediatisierungsforschung dar, weil sie nun die Analyse von Algorithmen, Daten und digitalen Infrastrukturen einbeziehen muss. Die Untersuchung von Algorithmen und Daten wird notwendig, da in einem Zustand tiefgreifender Mediatisierung Teile der Konstruktion der sozialen Welt durch automatisierte Datenverarbeitung erfolgen. Die Klassifizierung von Daten z.B. beim Online-Shopping in Bezug auf bestimmte Gruppen von Konsument:innen oder persönliche Empfehlungen auf der Basis von Download-Historien müssen anders analysiert werden als z.B. politische Diskussionen in Talkshows.6 Und ein Teil der Aufmerksamkeit muss dabei auf die Infrastrukturen gerichtet werden, die den heutigen digitalen Medien zugrunde liegen.7

Da es sich bei der Mediatisierung um ein Konzept handelt, das uns für die gegenwärtigen Veränderungen mit den digitalen Medien und ihren Infrastrukturen sensibilisiert, müssen wir die bisherige Diskussion in der Mediatisierungsforschung nochmals überdenken. Die aktuellen Veränderungen zwingen uns, weitere analytische Konzepte in unseren Begriffsapparat zu integrieren – Konzepte, die Fragen von Algorithmen, Daten und digitalen Infrastrukturen adressieren. Vor dem Hintergrund dieser analytischen Anforderung schwingen im Begriff der tiefgreifenden Mediatisierung auch verschiedene andere Verwendungen von ›deep‹ mit, wie etwa ›deep learning‹ (worunter eine neue Art maschineller Lernprozesse auf der Basis algorithmischer Verfahren verstanden wird) oder ›deep analytics‹ (ein anderer Ausdruck für Data Mining). Die Bildung des Begriffs ›tiefgreifende Mediatisierung‹ – im Englischen: ›deep mediatization‹ – ist daher sehr gezielt erfolgt, um deutlich zu machen, dass es sich um die Stufe der Mediatisierung handelt, bei der die Analyse von Algorithmen, Daten und digitalen Infrastrukturen entscheidend wird für unser Verständnis der sozialen Welt. Oder anders formuliert: Wir können das Entstehen der digitalen Gesellschaft nur dann angemessen erfassen, wenn wir deren Verankerung in Prozessen tiefgreifender Mediatisierung verstehen und einen angemessenen Begriffsapparat haben, um diese zu beschreiben.

1.2TRADITIONEN UND PERSPEKTIVEN

Mit meinem Fokus auf tiefgreifende Mediatisierung positioniere ich dieses Buch innerhalb einer bestimmten Perspektive. Grundlegend lassen sich in der Mediatisierungsforschung zwei Denkrichtungen unterscheiden, nämlich die institutionalistische und die sozial-konstruktivistische Tradition.8

Die institutionalistische Tradition ist aus der Massenkommunikations- und Journalismusforschung hervorgegangen. Die Forschung in dieser Tradition konzentriert sich auf den Einfluss von Medien – verstanden als »semi-unabhängige Institution« (HJARVARD 2013: 21) – auf andere, scheinbar unabhängige Bereiche von Kultur und Gesellschaft. Zentral dafür ist die Idee der ›Medienlogik‹. Von David Altheide und Robert Snow (1979) entwickelt, beschrieb das Konzept der Medienlogik ursprünglich den Einfluss bestimmter massenmedialer Formate, insbesondere des Fernsehens: die ›Eigenlogik‹ der Medien bei der Verarbeitung und Darstellung von Inhalten, die – so die Annahme – zunehmend andere Bereich der Gesellschaft wie Politik oder Religion dominiere. In jüngerer Zeit wird das Konzept aber breiter verstanden. Es wird von Medienlogiken im Plural gesprochen, um damit sehr unterschiedliche medienbezogene Dynamiken zu beschreiben (STRÖMBÄCK/ESSER 2014a; 2018). Der Begriff der Medienlogiken fungiert so zunehmend als »eine Metapher bzw. Abkürzung für die verschiedenen modi operandi, die die Funktionsweise der Medien ausmachen« (HJARVARD 2017: 11). Solche Verständnisse von Medienlogiken betreffen den Einfluss medialer Formen (Genres, Rahmungen etc. im Hinblick auf Medieninhalte), den Einfluss organisatorischer Regeln (Arbeitsroutinen, Entscheidungsfindung etc. von Medien als Organisationen) und den Einfluss der technologischen Affordanzen von Medien (die materiellen Eigenschaften von Medien als Endgeräte, Plattformen etc.). Bei all dem wird davon ausgegangen, dass die Logiken von Medien auf gegenläufige Logiken anderer Gesellschaftsbereiche treffen: Nicht-mediale Institutionen (in den Bereichen Politik, Religion etc.) hätten ebenfalls ihre ›Eigenlogiken‹, die wiederum das Potenzial haben, sich gegen die Logiken der Medien zu positionieren, was zu einer gewissen Trägheit und Widerstand in einer sich verändernden Medienumgebung führen kann.

Die sozial-konstruktivistische Tradition hat ihre Ursprünge in der Forschung zu Medienpraktiken – also zum Handeln von Menschen mit Medien –, sowohl im Hinblick auf Mediennutzung als auch hinsichtlich der Medienproduktion. Sie betont die Rolle von Medien bei der kommunikativen Konstruktion sozialer und kultureller Wirklichkeit und erforscht Mediatisierung vor allem aus der Perspektive der Alltagswelt (KNOBLAUCH 2013; KROTZ 2014). Forscher:innen in dieser Tradition untersuchen, wie sich soziale Praktiken verändern, wenn sie mit Medien verschränkt werden. Hier wird eine andere Art der Theoretisierung des Medieneinflusses greifbar, die über die Idee der Medienlogik und die direkten Konsequenzen der Materialität von Medien hinausgeht. Medieneinfluss wird als »Institutionalisierung« und »Materialisierung« von sozialen Praktiken verstanden (COULDRY/HEPP 2017: 32). In Bezug auf einzelne Medien bezieht sich die Institutionalisierung auf eine Stabilisierung der Kommunikationsmuster und der damit verbundenen Erwartungen: Wir wissen, wie ein bestimmtes Medium – z.B. Telefon, E-Mail, Fernsehen – typischerweise für die Kommunikation genutzt wird, wir kommunizieren mithilfe dieses Mediums auf diese Weise und erwarten, dass andere das Gleiche tun. Damit geht eine Materialisierung einher, das heißt, dass solche Muster selbst den Medientechnologien und den ihnen zugrunde liegenden (digitalen) Infrastrukturen eingeschrieben sind. Messenger-Software z. B. materialisiert eine bestimmte Art des ›Sprechens‹ durch ihre softwarebasierte Benutzeroberfläche. Institutionalisierung und Materialisierung sind jedoch keine Einbahnstraße. Die für die verschiedenen sozialen Domänen (Gemeinschaften, Organisationen etc.) konstitutiven Alltagspraktiken haben eine eigene Handlungsorientierung, die durch mediale Institutionalisierungs- und Materialisierungsprozesse stabilisiert oder durch sie herausgefordert werden kann. Wir können hier die Familie oder die Schule als Beispiel nehmen: Viele ihrer konstitutiven Praktiken werden heute auch mittels digitaler Medien realisiert und auf diese Weise stabilisiert. Wir können an die bestehende Praxis des Anlegens von Familienalben denken, die in der Programmierung von entsprechender Fotosoftware aufgegriffen wird, oder an digitalisierte Schulverwaltungssysteme, die die Organisationsstruktur der Schule abbilden. Gleichzeitig werden die konstitutiven Praktiken von Familie und Schule durch digitale Medien aber auch herausgefordert, wenn die direkte familiäre Kommunikation am Esstisch mit der parallelen Kommunikation der Kinder über ihre Smartphones konfrontiert wird oder wenn sich die organisatorische Kommunikation der Schule auf Messengerdienste verlagert, die sich der Kontrolle der Schulleitung entziehen. In der sozial-konstruktivistischen Tradition der Mediatisierungsforschung geht es darum, die Dynamik dieser sich verändernden Bedingungen sozialer Konstruktion zu rekonstruieren, ohne von vornherein bestimmte Logiken zu unterstellen.

Vielleicht erleben wir gerade eine Annäherung dieser beiden Traditionen und ihrer Perspektiven. Diese Annäherung könnte ihre Ursache in den jüngsten Veränderungen der Medientechnologien haben, die Implikationen für beide Traditionen haben: Da digitale Medien verschiedene Domänen der Gesellschaft durchdringen und eng mit deren Praktiken verschränkt sind, ist es heute schwierig anzunehmen, dass Medien die ›semi-unabhängige Institution‹ bleiben, als die sie in der institutionalistischen Tradition betrachtet werden. Digitale Medien sind mit den Praktiken, die Institutionen konstituieren, so verschränkt, dass es kaum möglich ist, Medienlogiken und institutionelle Logiken einander gegenüberzustellen. Gleichzeitig müssen wir aber bedenken, dass die Untersuchung digitaler Medien nicht einfach bedeutet, dass wir Alltagspraktiken und die kommunikative Konstruktion der Gesellschaft nur auf der Ebene der Mediennutzung erforschen können, sondern wir sollten auch die Rolle berücksichtigen, die große Konzerne wie Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft und die von ihnen (und anderen) aufgebauten Infrastrukturen spielen. An dieser Stelle müssen die ursprünglichen sozial-konstruktivistischen Argumente erweitert werden, indem unter anderem stärker die Rolle der Organisation beim ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung berücksichtigt wird.

Generell wäre es irreführend, den Begriff der Mediatisierung in einer oder beiden Traditionen mit einer geschlossenen Theorie des Medienwandels gleichzusetzen. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich noch einmal das Argument ins Gedächtnis zu rufen, dass Mediatisierung ein ›sensibilisierender Begriff‹ ist, der unseren Blick für einen wichtigen Aspekt des aktuellen gesellschaftlichen Wandels schärft. Mit dieser sensibilisierenden Eigenschaft kann der Begriff für sich allein keine eigenständige Theorie bilden, sondern eine andere Sichtweise ist hilfreicher: Mediatisierung ist ein sensibilisierender Begriff, um den sich verschiedene Wissenschaftler:innen versammelt haben, die an einer empirisch fundierten Untersuchung der Bedeutung von Medien und Kommunikation für den Wandel von Kultur und Gesellschaft interessiert sind. Gemeinsam ist diesen Wissenschaftler:innen, dass sie nach Ansätzen suchen, die über einfache Wirkungsmodelle hinausgehen, und versuchen, den aktuellen Wandel in einer längerfristigen, historischen Perspektive sowie medienübergreifend zu beschreiben.9 Aus dieser Sicht verweist der Begriff ›Mediatisierung‹ auf einen offenen, kontinuierlichen Diskurs der Theoretisierung von sozialem und kulturellem Wandel in Bezug auf Medien und Kommunikation.

Innerhalb dieses Diskurses nimmt dieses Buch eine Position ein, die Nick Couldry und ich an anderer Stelle als »materialistische Phänomenologie« (COULDRY/HEPP 2017: 5-8) beschrieben haben. Wie Raymond Williams (1990) mit seiner Idee des ›kulturellen Materialismus‹, betonen wir, dass es für jede Analyse von Medien und Kommunikation grundlegend ist, sowohl das Materielle als auch das Symbolische zu berücksichtigen. In Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ist die Berücksichtigung beider wahrscheinlich noch dringlicher, als dies bereits beim Fernsehen der Fall war, auf das sich Williams in seinem Werk bezog: Die ›Materialität‹ der heutigen Medien betrifft nicht nur die verschiedenen Endgeräte, Kabelnetze und Satelliten. Wie ich bereits oben betont habe, ist es, da die heutigen Medien weitgehend softwarebasiert sind, wichtig zu bedenken, dass komplexe Aufgaben an Algorithmen ›ausgelagert‹ werden können und in einer zunehmenden Zahl von Fällen auch werden. Es ist daher notwendig, viel grundlegender über die Materialität von Medien nachzudenken und die Frage zu stellen, welche Art von Handlungsfähigkeit – von Agency, wie es in der wissenschaftlichen Diskussion heißt – digitale Medien wann und wie entwickeln. Dies betrifft insbesondere Formen von automatisierter Kommunikation, wenn also Social Bots, Artificial Companions und andere ›eigenständig‹ kommunizierende Medien Teil menschlicher Kommunikationsbeziehungen werden. Eine materialistische Phänomenologie untersucht die ›Dinghaftigkeit‹ von Medientechnologien und -infrastrukturen anhand der gegenwärtigen Kommunikation.

Trotz der wichtigen Rolle, die Daten und Algorithmen spielen, sind aber Fragen der menschlichen Bedeutung und Sinngebung immer noch ein zentrales Thema für jede Analyse der sozialen Konstruktion. Finanzprodukte, die einen beträchtlichen Teil der an den heutigen globalisierten Börsen gehandelten Produkte ausmachen, basieren beispielsweise oft vollständig auf automatisiert verarbeiteten Daten und sind ohne eine visuelle, computergestützte Repräsentation derselben nicht greifbar.10 Aber die verarbeiteten Daten erhalten erst durch die menschliche Zuschreibung von Bedeutung eine Wertigkeit als Finanzprodukt. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Symbolische nicht aus den Augen zu verlieren: die soziale Konstruktion der Wirklichkeit bleibt auch in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ein Prozess der Zuschreibung von Bedeutung. Der Ansatz der materialistischen Phänomenologie zielt darauf ab zu verstehen, dass die soziale Welt, so komplex und undurchsichtig sie auch erscheinen mag, der Interpretation und des Verständnisses durch menschliche Akteure bedarf. In der Tat ist sie eine Struktur, die zum Teil erst durch diese Interpretationen und Verstehensweisen aufgebaut wird.

Ein zentrales Anliegen der materialistischen Phänomenologie sind deswegen die jeweils beteiligten Akteur:innen, seien es Individuen oder überindividuelle Akteure wie Unternehmen und Kollektive.11 Um diesem Anliegen Rechnung zu tragen, wird in diesem Buch die Mediatisierung aus einer Akteursperspektive untersucht: Mediatisierung ist kein Prozess, der einfach ›passiert‹. Obwohl dieser Prozess eine Vielzahl von Technologien und einige der komplexesten Infrastrukturen der Geschichte umfasst, bleibt er einer, der von Menschen gemacht ist, die ihm Bedeutung verleihen: individuelle Akteur:innen als einzelne Menschen, korporative Akteure als Organisationen, Unternehmen und staatliche Behörden sowie kollektive Akteure als Gemeinschaften oder soziale Bewegungen. Eine Akteursperspektive auf tiefgreifende Mediatisierung einzunehmen bedeutet, zu versuchen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie der Prozess der Mediatisierung in der Überschneidung der Interessen und Praktiken einer großen Zahl sehr unterschiedlicher Akteure stattfindet.

Die heutige Mediatisierung ist in ihrem tiefgreifenden Charakter durch das Ausmaß gekennzeichnet, mit dem die Praktiken dieser verschiedenen Akteur:innen mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen verschränkt sind.12 Da Medien die verschiedenen Domänen der Gesellschaft durchdringen, sind sie Teil der Praktiken geworden, durch die diese sozialen Domänen konstruiert werden. Praktiken, die in der Vergangenheit vielleicht nicht als medienbezogen betrachtet wurden, werden zu Medienpraktiken.13 Im Büro und im Labor, in der Schule und an der Universität, mit der Familie oder unter Freund:innen: Unsere aktuellen Praktiken sind dadurch gekennzeichnet, dass wir sie auch mit und durch Medien realisieren. Damit wird die besondere Situation der tiefgreifenden Mediatisierung deutlich, die die digitale Gesellschaft entstehen lässt, nämlich dass Praktiken des physischen Handelns – Handarbeit, Putzen, Autofahren, Kochen und so weiter – zunehmend eng mit Praktiken der Kommunikation verwoben sind und dass digitale Medien dabei eine zunehmende Rolle spielen. Wenn wir Dinge gemeinsam tun, koordinieren wir unsere Handlungen und orientieren unser Wissen durch Kommunikation, und wir projizieren unsere Ziele durch kommunikative Mittel (REICHERTZ 2009: 118-220). Diese Kommunikation ist heute eine Kommunikation, die auch durch digitale Medien vermittelt geschieht. Mit der Verschränkung allgemeiner sozialer Praktiken mit digitalen Medien verschwimmt die Trennung zwischen kommunikativem Handeln und physischem Handeln weiter. Ein gutes Beispiel dafür ist die automatisierte Selbstvermessung von Laufen, Radfahren und Schlafen mithilfe von Smartwatches: Es geht um körperliche Tätigkeiten, die für uns eine ganz neue Bedeutung bekommen können, wenn wir sie mit Medien verschränken – nicht nur Medien des Sammelns von Daten über diese Tätigkeiten, sondern auch Medien wie Facebook und Instagram, mittels derer wir anderen fortlaufend kommunizieren, was wir gerade getan haben. Die analytisch interessantere Frage ist damit die, wie sich physisches und kommunikatives Handeln aufeinander beziehen – wie physische Praktiken auch zu medialen Praktiken werden.

Wenn wir bei unserer Analyse des Entstehens der digitalen Gesellschaft den Weg der materialistischen Phänomenologie beschreiten, können wir die tiefgreifende Mediatisierung als einen Prozess rekursiver Transformation verstehen (COULDRY/HEPP 2017: 216-218). ›Rekursivität‹ ist ein Begriff, dessen Ursprünge in der Logik und Informatik liegen. Er bedeutet, dass Regeln auf die Entität, die sie generiert hat, erneut angewandt werden (KELTY 2008). Dies ist ein generelles Moment des Sozialen: Wir erhalten eine soziale Entität wie beispielsweise eine Gruppe aufrecht und nehmen notwendige Anpassungen vor, indem wir entlang der Regeln und Normen, auf denen sie basiert, erneut handeln, wenn Probleme auftreten, gegebenenfalls mit einer gewissen Variation.14 Bei der tiefgreifenden Mediatisierung sind wir allerdings mit einer gesteigerten Rekursivität konfrontiert: Da viele heutige Praktiken digitale Medien einbeziehen, die auf Software und den damit verbundenen Algorithmen basieren und fortlaufend Daten generieren, potenziert sich Rekursivität:15 Selbst scheinbar einfache Handlungen, die von sozialen Akteur:innen ausgeführt werden, gestatten als Quelle von Daten das Erschließen möglicherweise versteckter, unsichtbarer oder gar nur unterstellter Regelhaftigkeiten, die dann die Basis weiterer Verarbeitungsschleifen und Datenrepräsentationen werden.16 Ein Beispiel dafür sind die verschiedenen Online-Stores, deren Plattformen fortlaufend automatisiert anhand des Kaufverhaltens von Kund:innen auf ›Regelhaftigkeiten‹ schließen, die dann u.a. als Kaufempfehlungen präsentiert werden, was wiederum mögliche Kaufentscheidungen anderer Kund:innen nach sich zieht, wodurch die computerisierten Annahmen der Regelhaftigkeit ggf. erst zur sozialen Regel werden. Die Transformation der Gesellschaft wird nicht nur zu einer tiefgreifend rekursiven, sondern bezieht in diesen Prozess auch Imaginationen mit ein: Imaginationen davon, wie sich etwas verändern sollte, werden als Regelsetzungen in Datenverarbeitungsalgorithmen eingeschrieben, die auf die sozialen Phänomene, über die sie Daten sammeln, angewendet werden und durch diese rekursiven Schleifen selbst ein einflussreicher Faktor bei der Transformation sozialer Phänomene sein können. Vermittelt durch digitale Medien und deren Infrastrukturen werden die Imaginationen der Regelhaftigkeit zur sozialen Regel selbst.

1.3DIE KAPITEL DIESES BUCHES

Es sind die bisher umrissenen Überlegungen, ausgehend von denen ich in diesem Buch eine Annäherung an die entstehende digitale Gesellschaft wagen möchte. Während dieses einleitende Kapitel eine erste Darstellung des Konzepts der tiefgreifenden Mediatisierung geleistet und es innerhalb der weiteren Mediatisierungsforschung verortet hat, zielen die folgenden Kapitel darauf ab, die soziale und technologische Formierung der tiefgreifenden Mediatisierung genauer herauszuarbeiten sowie empirisch zu erfassen.

Das Kapitel 2 mit dem Titel Das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung beginnt mit einer akteurszentrierten Perspektive auf diesen Prozess und diskutiert dessen Entwicklungsgeschichte. Dabei befasse ich mich sowohl mit korporativen Akteuren (Technologiekonzernen und Regierungen) als auch mit kollektiven Akteuren (den verschiedenen Pioniergemeinschaften, die die medientechnologische Entwicklung imaginiert und befördert haben). Mein Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass das ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung nicht allein auf die Aktivitäten großer Unternehmen und Regierungen reduziert werden kann, wie es oft im Ansatz der Politischen Ökonomie der Medien gemacht wird. Wir haben es vielmehr mit einem rekursiven Zusammenspiel von korporativen und kollektiven Akteuren zu tun und können die Entstehung der tiefgreifenden Mediatisierung nur begreifen, wenn wir diese Dynamik kennen. In ihrem gegenwärtigen Stadium führte diese Dynamik zu fünf quantitativen Trends des Wandels der Medienumgebung: die Ausdifferenzierung einer Vielzahl von medialen Endgeräten, deren zunehmende Konnektivität durch das Internet, die steigende Omnipräsenz dieser Medien durch mobile Kommunikationstechnologien, ein beschleunigtes Innovationstempo und schließlich das Aufkommen der Datafizierung.

In Kapitel 3Medien als Prozess argumentiere ich, dass es unmöglich ist, die tiefgreifende Mediatisierung ohne einen angemessenen Medienbegriff zu erfassen. Mein Hauptanliegen in diesem Kapitel ist es, Medien als Prozess zu verstehen. Medien sind nicht einfach da, sondern sie entstehen in einem fortlaufenden Prozess der Institutionalisierung und Materialisierung von Kommunikation. Medien auf diese Weise zu betrachten, wirft ein neues Licht auf die Diskussion um die Medienlogik. Es wird deutlich, dass der prozessuale Charakter von Medien in dem Moment am greifbarsten wird, in dem sie digital werden: Basierend auf Algorithmen und digitalen Infrastrukturen werden sie in engen Rekursivitätsschleifen generiert und existieren als ›ständige Beta-Versionen‹ und damit in einer fortlaufenden Veränderung. Während Medien durch ihre Institutionalisierung und Materialisierung die soziale Welt prägen, würden wir uns einer gewissen Verdinglichung hingeben, wenn wir dabei von festen Logiken als inhärenten Eigenschaften von Medien ausgehen würden. Um das Entstehen der digitalen Gesellschaft durch die tiefgreifende Mediatisierung zu erfassen, muss man hingegen den Blick für die Prozesshaftigkeit digitaler Medien schärfen, zumal deren Fähigkeit, die soziale Welt zu formen, nie von einem einzigen Medium ausgeht. Wir haben es mit einer Mannigfaltigkeit der Medien in gesamtgesellschaftlichen Medienumgebungen zu tun, die sich in den Medienensembles verschiedener sozialer Domänen und in den Medienrepertoires der Individuen konkretisiert.

In Kapitel 4Ein figurationsanalytischer Ansatz wird ein grundlegender Zugang zur entstehenden digitalen Gesellschaft dargestellt. Vereinfacht gesagt, sind Figurationen musterhafte Konstellationen von Menschen, wie sie in Familien, Gemeinschaften, Organisationen oder rund um bestimmte Medien zu finden sind. Mein Hauptargument in diesem Kapitel ist, dass wir, wenn wir die tiefgreifende Mediatisierung verstehen wollen, unsere Analyse nicht bei den Medien selbst beginnen lassen sollten, sondern bei einer vergleichenden Betrachtung der Figurationen verschiedener sozialer Domänen und deren Veränderung mit digitalen Medien und ihren Infrastrukturen. In Bezug auf die Gesellschaft ist das Hauptargument eines solchen Ansatzes, dass ihr Wandel am besten als ein Prozess rekursiver Transformation zu verstehen ist, den wir Refiguration nennen können: ein struktureller Wandel von Figurationen selbst wie auch ihrer Wechselbeziehung untereinander, wobei digitale Medien und Infrastrukturen die Schleifen der Rekursivität intensivieren. Ein solcher Zugang zum Entstehen der digitalen Gesellschaft hat enge Bezüge zu einer ›nicht-medienzentrierten Perspektive‹, die zuerst die menschlichen Praktiken analysiert und dann die Frage stellt, welche Rolle digitale Medien und Infrastrukturen bei der Veränderung dieser Praktiken haben.

Das Kapitel 5Die Refiguration der Gesellschaft konzentriert sich auf den gesellschaftlichen Wandel hin zur digitalen Gesellschaft. Die Schwerpunkte liegen dabei auf den sich verändernden Relationalitäten von Figurationen durch Mythen, Daten und Infrastrukturen, auf der Transformation bestehender Figurationen von Organisationen (am Beispiel der öffentlichen Debatte und der journalistischen Nachrichtenproduktion) und von Gemeinschaften (am Beispiel lokaler und transnationaler Familien) sowie auf der Entstehung neuer Figurationen (am Beispiel von Plattformkollektivitäten, konnektiver Praxis und globalen Finanzmärkten). Bei all diesen Beispielen geht es auch um das, was man als ›Akti vierung‹ des Medienensembles der einzelnen Figurationen bezeichnen kann, oder konkreter gesprochen darum, wie die Automatisierung von Kommunikation und das Aufkommen kommunikativer Roboter die soziale Konstruktion der Gesellschaft verändern. Insgesamt möchte ich mit diesem Kapitel zeigen, dass tiefgreifende Mediatisierung ein Transformationsprozess ist, der figurationsübergreifend erfolgt, gleichzeitig aber in Bezug auf einzelne Arten von menschlichen Figurationen Besonderheiten aufweist.

Im Kapitel 6Das Individuum in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung kehre ich die Perspektive um: Im Fokus stehen nicht mehr Figurationen als solche, sondern der Einbezug des Individuums in diese. Hier diskutiere ich, welche Folgen es für den einzelnen Menschen hat, dass sie bzw. er in eine Vielzahl von Figurationen eingebunden ist, wie dies seine bzw. ihre Medienrepertoires und Medienpraktiken prägt. Eine besondere Veränderung, die auf der Ebene des Individuums stattfindet, besteht darin, dass die digitalen Spuren, die es über verschiedene Figurationen hinterlässt, in Form von ›Datendoubles‹ akkumuliert werden. Solche Datendouble sind höchst ambivalent, da sie einerseits die Möglichkeiten der Überwachung eines Individuums durch Unternehmen und staatliche Akteure bieten bzw. die gegenseitige Überwachung in Partnerschaften, Gruppen oder Gemeinschaften. Andererseits können Datendoubles aber auch eine Ressource bei der Veränderung der eigenen Lebensführung sein, wie das Beispiel der Selbstvermessung zeigt. All dies rückt die Ambivalenzen der tiefgreifenden Mediatisierung für das Individuum in den Vordergrund und wirft die Frage auf, ob wir in der digitalen Gesellschaft mit einem sich verändernden Sozialcharakter oder Habitus konfrontiert sind.

Das Schlusskapitel dieses Buches trägt den Titel Die digitale Gesellschaft und das gute Leben. In diesem Kapitel diskutiere ich die tiefgreifende Mediatisierung aus einem normativen Blickwinkel. Während das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung eng mit der Idee verbunden war, eine Generation von Digital Natives zu formen, die die Welt zum Besseren verändern würde, hat die Analyse innerhalb dieses Buches gezeigt, dass es sich um einen höchst widersprüchlichen Metaprozess des Wandels handelt. Aber trotz dieser Probleme wäre es ein Fehler anzunehmen, dass die tiefgreifende Mediatisierung einfach ›abgestellt‹ werden könnte. Ähnlich wie bei der Globalisierung, Individualisierung und anderen Metaprozessen des Wandels ist dies nicht möglich. Entscheidend wird damit die Frage, welche Form die tiefgreifende Mediatisierung annehmen sollte, um unter den von ihr produzierten Bedingungen ein gutes Leben zu ermöglichen. Im Kern geht es damit um die normativen Bedingungen der Gestaltung der tiefgreifenden Mediatisierung und damit der digitalen Gesellschaft.

Meine Hoffnung ist es, mit diesem kompakten Band einen allgemeinen Einblick in die Diskussion um die entstehende digitale Gesellschaft aus Sicht der Mediatisierungsforschung geben zu können. Mein Ziel dabei ist es, die Ambivalenz der tiefgreifenden Mediatisierung zu erklären, mit der wir alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, konfrontiert sind. Diesen Veränderungsprozess produktiv zu gestalten, ist nur möglich, wenn man sich analytisch präzise mit ihm auseinandersetzt. Das vorliegende Buch will dazu eine Anregung geben.

Ich sehe dieses Buch nicht als eine Standardeinführung in ein wissenschaftliches Gebiet. Das wäre schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, da die Forschung zur tiefgreifenden Mediatisierung und digitalen Gesellschaft gerade erst beginnt. Mein Ziel mit diesem Buch ist es, die Leser:innen zu einer entstehenden Diskussion einzuladen. In diesem Sinne mag es hilfreich sein, dieses Buch neben einer Reihe anderer Veröffentlichungen zu lesen: Wer sich für Mediatisierung im Allgemeinen interessiert, findet Zugang zu dieser Diskussion durch einführende Publikationen wie die Monografie von Stig Hjarvard (2013), ein von Knut Lundby (2014) herausgegebenes Handbuch, einen Sammelband von Frank Esser und Jesper Strömbäck (2014), ein von mir selbst verfasstes Buch (HEPP 2013) und die Publikationen der Mediatization Section der European Communication Research and Education Association (DRIESSENS et al. 2017; THIMM/ANASTASIADIS/EINSPÄNNER-PFLOCK 2018). Diese Titel sind wichtige Ergänzungen zu diesem Buch, um einen übersichtlichen und dennoch gründlichen Einstieg in die allgemeine Diskussion über Mediatisierung zu finden.

Wie bereits erwähnt, hat dieses Buch aber den Anspruch, viel spezifischer und zugleich breiter zu sein, indem es einen Zugang zur Idee der tiefgreifenden Mediatisierung im Hinblick auf die digitale Gesellschaft bietet. Da es in dieser Diskussion um ein fortgeschrittenes Stadium der Mediatisierung geht, bei dem Fragen von Algorithmen, Daten und digitalen Infrastrukturen relevant sind, werden neue interdisziplinäre Beziehungen wichtig. Ich versuche deshalb, die Medien- und Kommunikationswissenschaft mit einer Reihe von weiteren Feldern und Teildisziplinen wie Software Studies, Medien- und Techniksoziologie sowie Science and Technology Studies in Dialog zu bringen. Dieser Dialog ist jedoch kein Selbstzweck, sondern er zielt darauf, das für ein besseres Verständnis der entstehenden digitalen Gesellschaft notwendige Wissen zusammenzutragen. Wenn eines durch die tiefgreifende Mediatisierung und die Verschränkung der digitalen Medien mit so vielen Facetten der sozialen Welt deutlich wird, dann ist es die Dringlichkeit, dass die Kommunikations- und Medienwissenschaft die Kluft zwischen ihren eigenen Traditionen und einer immer größer werdenden Anzahl akademischer Disziplinen, die sich ebenfalls mit digitalen Medien befassen, überbrücken sollte.

Im Kern sind meine Argumente eng mit einer Reihe anderer Publikationen verbunden, die ich mit verschiedenen Kollegen verfasst habe. In The Mediated Construction of Reality (COULDRY/HEPP 2017) entwickelten Nick Couldry und ich das Konzept der tiefgreifenden Mediatisierung und die Grundlage für einen figurationsanalytischen Ansatz zu deren Analyse. Aus dem Forschungsverbund ›Kommunikative Figurationen‹ sind eine Reihe weiterer Publikationen hervorgegangen, die weitere Bausteine für einen figurationsanalytischen Zugang sind, namentlich der Sammelband Communicative Figurations: Transforming Communications in Times of Deep Mediatization (HEPP/BREITER/HASEBRINK 2018), ein Themenheft zu digitalen Spuren im Kontext (HEPP/BREITER/FRIEMEL 2018), ein weiteres Themenheft zum sozialen Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft (HEPP et al. 2017) sowie jüngst ein Themenheft zu Forschungssoftware und einer Medien- und Kommunikationsforschung jenseits des Computational Turn (HEPP/LOOSEN/HASEBRINK 2021). Unser Ziel in diesen Publikationen ist es, die Forschung zur tiefgreifenden Mediatisierung zu operationalisieren, und ich werde mich häufig auf sie beziehen.

1Siehe https://www.spiegel.de/wirtschaft/deutschland-in-der-zukunft-wie-wir-2037-lebenwerden-a-1183331.html [01.05.2019].

2Eine anschauliche fiktionale Darstellung dieser Art von Arbeitsumgebung bietet der Film Eye on Juliet (2018), in dem die Hauptfigur Gordon als Supervisor einer Ölpipeline im Nahen Osten Überwachungsdrohnen steuert, die wie Krabben über den Wüstenboden krabbeln. Siehe http://eyeonjuliet-themovie.ca [01.05.2019].

3Siehe hierzu die verschiedenen Beiträge in Lundby (2014).

4Zu diesem Argument siehe Jensen (2013: 206).

5In unserem Buch The Mediated Construction of Reality diskutierten Nick Couldry und ich die Frage, ob ein »neuer Schub der Datafizierung innerhalb des Schubs der Digitalisierung« (COULDRY/HEPP 2017: 41) entsteht. In Erweiterung unserer ursprünglichen Überlegungen ist mein folgendes Argument, dass wir Datafizierung am besten als einen der aktuellen Trends der tiefgreifenden Mediatisierung verstehen, deren Ausbildung wiederum mit der der Digitalisierung verbunden ist.

6Siehe z.B. Beer (2016) und Gillespie, Boczowski und Foot (2014).

7Das zeigen eindrücklich die Arbeiten von Bowker et al. (2010), Parks und Starosielski (2015), Karasti und Baker (2004) sowie Mosco (2017).

8Göran Bolin (2014; 2017: 19-24) und Knut Lundby (2014) unterscheiden drei Traditionen der Mediatisierungsforschung: neben den oben erwähnten, institutionalistischen und der sozial-konstruktivistischen, zudem eine technologische. Allerdings teile ich mit André Jansson (2018: 2-3) die Ansicht, dass man zwar grundsätzlich eine technologische Perspektive in der Mediatisierungsforschung ausmachen kann, diese sich aber nicht zu einer eigenständigen Tradition entwickelt hat.

9Siehe u. a. die Diskussion zum Mediatisierungsansatz in der Zeitschrift Media, Culture & Society: Deacon und Stanyer (2014), Hepp, Hjarvad und Lundby (2015), Lunt und Livingstone (2016) sowie Ekström et al. (2016).

10Dies wird von Karin Knorr Cetina unter dem Begriff der ›skopischen Medien‹ diskutiert, den sie verwendet, um die ›fließende Repräsentation‹ solcher Informationen zu betonen; siehe Knorr Cetina (2014). Zur weiteren Diskussion dieses Zusammenhangs siehe meine Darlegungen in Kapitel 5.3.

11Zur Unterscheidung von ›individuellen Akteuren‹ und ›überindividuellen Akteuren‹ siehe Schimank (2010: 327-341).

12Im Weiteren benutze ich den deutschen Ausdruck ›verschränkt‹ für das Englische ›entanglement‹. Siehe zu Letzterem als wissenschaftlichem Konzept die Arbeit von Scott und Orlikowski (2014: 873).

13Für einen allgemeinen Ansatz, ›Medien als soziale Praxis‹ zu verstehen, siehe Couldry (2004, 2012). Für eine Diskussion über die Beziehung zwischen kommunikativem Handeln und anderen Formen des menschlichen Handelns siehe Reichertz (2008, 2011).

14Dies wurde in der Soziologie von der Ethnomethodologie (GARFINKEL 1967) erforscht, auf die sich auch Anthony Giddens (1984) in seiner Theorie der Strukturierung bezieht.

15Für einen Überblick siehe z.B. Beer (2017), Gillespie (2014), Manovich (2013) und Striphas (2015).

16Im Kern ist dies die Idee des Buches Muster von Armin Nassehi, der argumentiert, dass Digitalisierung so »die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft« (NASSEHI 2019: 28) erstmals für die Gesellschaft selbst zugänglich macht.

2.DAS ZUSTANDEKOMMEN DER TIEFGREIFENDEN MEDIATISIERUNG

Wie in der Einleitung in dieses Buches dargelegt, besteht eines meiner Hauptziele darin, die tiefgreifende Mediatisierung aus der Sicht der Akteur:innen zu betrachten, um besser zu verstehen, wie unser Weg hin zur digitalen Gesellschaft in menschlichen Praktiken verwurzelt ist, die zunehmend mit digitalen Medien und den damit verbundenen Infrastrukturen verschränkt sind. Diese Perspektive einzunehmen bedeutet zu reflektieren, dass tiefgreifende Mediatisierung nicht einfach ein eigenständig ablaufender, ›natürlicher‹ Prozess ist. Die tiefgreifende Mediatisierung ist im Gegenteil ein gesellschaftlich verorteter »Metaprozess« (KROTZ 2007b: 256). Ähnlich wie die Individualisierung, Kommerzialisierung und Globalisierung ist sie eine übergreifende soziale Transformation, die sich in zahlreichen anderen Teilprozessen konkretisiert. Als Metaprozess bleibt die tiefgreifende Mediatisierung jedoch – unter Berücksichtigung ihrer Eigendynamiken – in menschlichen Praktiken verankert und sollte entsprechend analysiert werden. Ein erster Schritt in einer solchen Analyse ist es, das ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung zu betrachten. Ich verwende den Begriff ›Zustandekommen‹ in einem weitergehenden Sinne,17 als ›Herstellung‹ und zugleich auch ›Entstehung‹ der tiefgreifenden Mediatisierung, als Dynamik des ›Aufbaus‹ der digitalen Medien und ihrer Infrastrukturen, die die technologische Seite der tiefgreifenden Mediatisierung bilden.

Bei der Betrachtung des Zustandekommens der tiefgreifenden Mediatisierung aus Akteurssicht müssen wir verschiedene Arten von »überindividuellen Akteuren« (SCHIMANK 2010: 327-341) im Blick haben. Überindividuelle Akteure sind Figurationen von Individuen mit eigener Handlungsfähigkeit. Dazu gehören – wie bereits in der Einleitung gesagt – ›korporative Akteure‹ wie Unternehmen und staatliche Behörden sowie ›kollektive Akteure‹ wie soziale Bewegungen und Pioniergemeinschaften.

In Bezug auf das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung sind korporative Akteure wie Medien- und Technologieunternehmen vielleicht die ersten überindividuellen Akteure, die einem in den Sinn kommen. Wenn wir die westliche Welt betrachten, können wir uns eine tiefgreifende Mediatisierung nur schwer vorstellen, ohne die Aktivitäten von Unternehmen wie Alphabet (Google), Amazon, Apple, Facebook und anderen im Blick zu haben. Erweitern wir den Blick auf den Rest der Welt, so spielen weitere große Unternehmen wie die Alibaba Group in China und ihre Tochterunternehmen wie Taobao (ein Online-Auktionshaus) oder Alipay (ein Online-Bezahlsystem) eine ebenso wichtige Rolle beim Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung wie ihre westlichen Pendants. Und es gibt Unternehmen, die bestimmte sektoriale Dienstleistungsplattformen anbieten, wie Airbnb für Unterkünfte oder Didi Chuxing und Uber für den Transport. Darüber hinaus können wir den Erfolg von Medien- und Technologieunternehmen wie diese nicht verstehen, ohne andere korporative Akteure zu berücksichtigen: Regierungen und staatliche Stellen, die bestimmte Märkte und wirtschaftliche Aktivitäten unterstützen (oder behindern). All dies bringt uns an einen Punkt, an dem wir über die Rolle der politischen Ökonomie nachdenken müssen, um die gegenwärtigen Dynamiken und Teilprozesse der tiefgreifenden Mediatisierung umfassend zu verstehen.

Sich ausschließlich auf die politische Ökonomie zu konzentrieren, hätte aber einen eindimensionalen Blick auf das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung zur Folge. Neben korporativen Akteuren müssen wir nämlich kollektive Akteure