Auf der Suche nach dem Geschmack der Kindheit - Christine Zeile - E-Book

Auf der Suche nach dem Geschmack der Kindheit E-Book

Christine Zeile

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Beschreibung

Alles Bio? Wenn es nur so einfach wäre! Obst und Gemüse im eigenen Garten, ›natürliche‹ Pflege und kein bisschen Chemie – mit diesem Vorsatz macht sich die Autorin ans Werk. Doch die Natur hat sich verändert. Hitzewellen lassen die Kartoffelreihen verdorren, Obstbäume wachsen, tragen aber keine Früchte. Oder blühen im September. Von den Schädlingen ganz zu schweigen. Aus der kommerziellen Landwirtschaft werden sie mit allen nur denkbaren Giften vertrieben, und so suchen sie sich giftfreie Inseln für ihren Lebenszyklus. Die furchtlose Gärtnerin nimmt den Kampf auf. Zuerst pflückt sie die Raupen des Frostspanners eigenhändig vom Baum. Das ist schon mal nichts für Feiglinge. Es reicht aber nicht. Und so steigt sie ein in die Welt der Pflanzenschutzmittel, wo die Neonicotinoide alles Insektenleben abtöten und das Glyphosat den Boden reinhält. Dabei wird ihr erst richtig klar, in welchem Ausmaß die Landschaft inzwischen mit Insektengiften getränkt ist, nur damit in jedem Supermarkt Obst wie aus den Gartenkatalogen zu Niedrigstpreisen angeboten werden kann. Mit ausgeklügelten biologischen Maßnahmen einschließlich eines Granulosevirus – da kann man wirklich noch was von ihr lernen – gelingt es Christine Zeile schließlich, den Geschmack der Kindheit im eigenen Garten wiederzufinden, ohne ihm mit Pflanzenschutzmitteln den Garaus zu machen. Das alles schildert sie humorvoll und kritisch zugleich. - durchgehend vierfarbig - liebevoll illustriert

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Seitenzahl: 218

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Christine Zeile

Auf der Suche nach dem Geschmack der Kindheit

Mein Leben als furchtlose Gärtnerin

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.

Im Gedenken an

Heinrich Brändle und Johanna Brändle, geb. Haug

(1888–1964) (1886–1971)

sowie

Elisabeth Brändle-Zeile

(1922–2009)

Am Gartentor

 

Angefangen hatte alles ganz harmlos. Vor vielen Jahren unternahm ich eine Ferienreise an die Loire, wunderbare Renaissance-Schlösser, hoch stehende Sommerwiesen in romantischen Flusstälern, ländliche Stille und eine großartige Weite der Landschaft. Dort, beim Umherstreifen, hinter einer Biegung, stellte sich mir ein seit vielen Jahren unbewohntes, uraltes Steinhaus in den Weg, das laut nach Wiederbelebung rief, mit viel Grün drum herum, der Traum und garantierte Albtraum für naive, landliebende Städter, für Frankreichsüchtige mit Ausstiegshintergedanken. Wer hätte dem widerstehen können?

Das Haus bewohnbar zu machen, das war die eine Sache. Eine andere, in der Wiese vor dem Haus etwas anzupflanzen, was nahrhaft war, was schmeckte. Garten, egal welcher, ist Arbeit, daran erinnerte ich mich von früher. Auch eine Wiese muss gemäht werden, das war mir klar. Dann doch gleich den Garten mit einigen Pflanzen besiedeln, die mir für meinen Einsatz etwas zurückgeben würden, Obstbäume, Gemüse, Kräuter. Selbst gezogen, schmackhaft und gesund. Lauter natürliche Früchte, die mir der Supermarkt in der Stadt nicht bieten konnte, Geschmacksvarianten, Sortenvielfalt, Selbstbestimmung in der Auswahl. Ohne großen Aufwand, versteht sich.

Aber erst, als ich nicht nur kurze Urlaube dort verbrachte, sondern über mehr Zeit verfügte, begann etwas, was den Namen Gärtnern verdiente. Allerdings hatte ich anfangs keine Ahnung. Es wäre egal gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, wann man Möhren sät oder welchen Abstand Bohnenreihen brauchen. Das lernt man rasch. Aber Gärtnern fordert einen ganz, von Kenntnissen über die Beschaffenheit des Bodens, über Pflanzenaffinitäten hin zu den vielfältigen ökologischen Beziehungen, von denen man anfangs nicht einmal weiß, dass es sie gibt, geschweige denn, welchen Einfluss sie haben auf das Gedeihen etwa einer Kartoffel. Man bewegt sich in einem großen Freiluftlabor, es brummt, schäumt, duftet oder stinkt und verfärbt sich, aber erst nach zehn, 15 Jahren, vielleicht, versteht man besser, was man da zusammenrührt, spritzt, abschneidet und ob und wie es wirkt. Schmetterlinge lieben den Nektar des Sommerflieders, aber wo werden die Eier abgelegt und wovon ernähren sich die Raupen? Wie sehen sie aus? Und wie verhält man sich zu dem Käfer, der gerade den Kirschast hinaufstrebt, ignorieren oder herausfinden, wie er heißt und was er beruflich so macht? Ob es, wie man sagen könnte, Handlungsbedarf gibt oder nicht? Gärtner oder Gärtnerin ist man nicht, man wird es durch die Erfahrung und eine andauernde Auseinandersetzung mit der Natur.

Als mich meine Tochter einmal besorgt anrief und fragte, was machst du da eigentlich die ganze Zeit? Ist das nicht furchtbar langweilig, so allein auf weiter Flur und immer in der Hängematte liegen? Und deine Tomaten, gut und schön, aber der Unterhaltungswert ist doch begrenzt, oder? Also, was machst du den lieben langen Tag? – da ahnte ich, ich bewegte mich gerade in einer anderen Welt.

Eigentlich war ich noch nie so beschäftigt, so fasziniert von dem Geschehen vor meiner Haustür, wie damals vor einigen Jahren, als ich anfing, meinen Garten zu bestellen. Das Leben da draußen, das Blühen, Wachsen oder Dahinwelken, nahm mich mehr und mehr in Beschlag, denn es war gar nicht so einfach, für meinen Einsatz auch eine Ernte einzufahren. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Anfangs legte ich unbekümmert los und wusste doch nicht, auf was ich mich da eingelassen hatte. Aber wann weiß man das schon so genau?

1Wie alles begann oder Wie ich auf die Idee kam, einen Garten anzulegen

 

Was hat der Mensch für Gewinn von aller seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibet ewiglich.

Prediger 1

 

Den Wind um die schweißnasse Nase, der Geruch frischer Erde bei Sonnenaufgang, das Fest der Ernte im Herbst, wenn alles gut gegangen war im Lauf des Jahres – das war das Lebensgefühl unserer Vorfahren, fast ausnahmslos. Meist schafften sie die Ernte, hart an allen möglichen Katastrophen vorbei. Manchmal nicht: Hagel, Fröste, Trockenheiten, zu viel Regen. Dann konnte es knapp werden. Wie viele Hungerzeiten gab es im Lauf der Geschichte? Gibt es noch immer?

Einige wenige Menschen, im Lauf der Zeit wurden es mehr, betraf diese Abhängigkeit von Erde und Klima nicht so direkt, die Reichen und Mächtigen. Aber ihre Zahl hielt sich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende in engen Grenzen. Es waren wenige, die einer riesigen Schar von Bauern und Handwerkern mit Feldern, Wiesen und Gärten gegenüberstanden. Heute konzentriert sich der Reichtum immer noch bei einer relativ kleinen Schicht. Der Unterschied ist nur, dass auch der größte Teil der Bevölkerung hierzulande sein Brot nicht mehr im Schweiße seines Angesichts isst.

Bis in die 1950er-Jahre wuchs auch bei uns noch fast jedes Kind mit einer gewissen Landerfahrung auf, ich Kleinstadtkind war keine Ausnahme. Aber das Gefühl des Ausgeliefertseins an die Natur, des drohenden Hungers, dieses Gefühl gab es damals nicht mehr. Der Hunger des Krieges war zwar noch präsent, ja, aber jeder wusste, nicht die Natur war daran schuld gewesen. Jeder, der konnte, hatte sich im Krieg ein Fleckchen Erde gesichert und Rüben oder Kohl angebaut. Da war die Natur eher die Trösterin.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben wir die Natur vergessen. Sie verschwand aus dem Blickfeld der Mehrheit, sie hatte mit Erde nichts mehr zu schaffen. Nur noch ein bis zwei Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in Deutschland in der Landwirtschaft.

Scheinbar widerstandslos ließ sich die Natur in Umwelt umdefinieren und zur unbeschränkten Lieferantin all der Rohstoffe machen, die wir industriell verarbeiten. Von einer beschworenen, dämonisierten, romantisierten, gefürchteten, aber auch unabhängigen, dankbar anerkannten Partnerin wurde die Natur zu einer einfachen Ressource herabgestuft, die man beliebig ge- und verbrauchen konnte. Die man »bewirtschaftet«, heute inzwischen mit iPad und vollautomatisch. Vom Schweiß im Angesicht ist keine Rede mehr.

Erde und Ernte gibt es nicht mehr, wir alle, auch den Agrartechniker vulgo Bauer eingeschlossen, ernähren uns aus dem Supermarkt, jeden Tag im Jahr aus den Regalen mit dem gleichen Angebot. Egal, wo der Supermarkt steht, ob in Moskau, Amsterdam, Kleinmachnow oder Houston/Texas. Wir nehmen dieses Angebot kaum noch zur Kenntnis, außer dass es geschmackvoller sein könnte und bitte mit etwas weniger Schadstoffen. Wenn es sich machen lässt. Randprobleme. Ansonsten alles okay.

Die Ernährung als eine fühlbare kollektive Anstrengung ist aus dem Bewusstsein der westlichen Gesellschaften verschwunden. Die wenigen Großagrarier werden in der EU hoch subventioniert, dafür werden sie es dann schon richten. Die kleinen Nebenerwerbsbauern lässt man weiter wurschteln, sie leisten praktisch kostenlos auch einen bescheidenen Beitrag zum großen Nahrungsvolumen. Sie stellen keine besonderen Ansprüche. Denn diese kleinen Bauern leben in ständiger Angst um ihre Existenz, um ihren 500 Jahre alten Hof, sehen sie doch, wie die Rationalisierung in der Landwirtschaft Welle um Welle ihre Nachbarn und Kollegen weggespült hat. Irgendwann sind sie auch dran. Die berühmten »Früchte des Zorns« hat noch keiner genießen können.

Diese Landwirtschaft ist eine einzige Erfolgsstory, sagen viele, wenn auch der Chor inzwischen etwas dünner klingt. Fest steht: Eine unvorstellbar kleine Zahl von Landwirten versorgt die Menschen in der westlichen Hemisphäre mit Nahrungsmitteln. Das »Land« hat sich deshalb mehr und mehr entvölkert, denn das Land bietet den Leuten gute Luft, aber keine Jobs. 1956, als der Großteil der Menschen auch in Deutschland noch auf dem Land lebte, waren 54 Prozent der Befragten der Ansicht, dass man in der Stadt besser lebt. Was man hat, das schätzt man nicht? Heute, da mehr als die Hälfte der Menschheit verstädtert ist, sind nur noch 21 Prozent dieser Meinung. Jetzt schauen die Städter sehnsuchtsvoll hinaus ins weite Land und träumen vom Landleben als dem Inbegriff des guten Lebens.

 

Dies ist der Bericht von einer, die in der Stadt lebte, aber auf das »gute Leben« auf dem Land nicht ganz verzichten wollte. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eigentlich hatte ich weniger den weiten Blick, die ländliche Ruhe beim Morgenlauf vor Augen, als ich mich nach Landleben sehnte; mir geht und ging es eher um das Gärtnern, um den Geschmack des Essens, um die Freude, die Qualität und den Genuss, die sich mit selbst gezogenem Gemüse oder Obst verbinden. Ein Hobby also, wie Abertausende das auch haben.

Nichts gegen diese anderen Gärtner, die ihren Rasen mähen oder Stauden tauschen! Die ihre Rittersporn-Rabatte mit den richtigen, den preisgekrönten Sorten bestücken und Sorten wie Galahad oder King Arthur eher vermeiden. Ein farbenfroher Garten mit 32 genau arrangierten Phloxsorten ist eine bewundernswerte Leistung. Hätte ich, nebenbei gesagt, auch gerne. Nein, mein Ansatz war viel bescheidener, ich wollte mir mittags die Karotten im Beet ziehen können und nicht länger die wässrigen und geschmacksneutralen Kartoffeln essen, die in den gelochten Zwei-Kilogramm-Plastiktüten im Regal liegen. Ich wollte keine Parks entwerfen und entsprechend anpflanzen, keine begehbaren, für die Bewunderung der Besucher gedachten Kunstwerke schaffen. Nein, ich wollte viel prosaischer ein bisschen Selbstversorgung ausprobieren. Spaßeshalber für einen Teil meiner Nahrung selber einstehen. Für mehr Geschmack sorgen.

Als ich mich daranmachte, meine frühkindlichen Geschmackserlebnisse in einem Garten in Westfrankreich wieder aufleben zu lassen, war ich anfangs davon überzeugt, dass dieses »Hobby« einfach so mitlaufen würde. Ich wollte, en retraite, nicht nur ins Land hinaus, sondern auch wieder in die Archive und nach meinem Berufsleben zurück in eine kleine, spezielle historische Forschung in unserem Nachbarland, in dem ich schon länger während meiner Urlaube heimisch geworden war. Der durchaus ausgedehnte, aber überwiegend mit wildem Gras bewachsene Garten sollte zu dieser Schreibtischarbeit das gymnastische und atmosphärische Ausgleichsprogramm liefern.

Seit meinen Studentenjahren lebte ich in der Stadt und hatte nicht viel Ahnung von Pflanzen oder vom Gartenbau. Es gab in unserer Stadtwohnung einen Balkon, den ich immer wieder mit Erika oder mit Petunien bepflanzte. Letztere bekamen meistens Läuse, nach einem Urlaub standen sie in Strohform. Auch versuchte ich mich in Schnittlauch und Koriander, das war ziemlich erfolgreich.

Meine neuen Anstrengungen im Garten liefen allerdings nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Manche Gartenratgeber leiten den Anfänger Schritt für Schritt an, es gibt erklärende Fotoserien wie in Kochbüchern. Was aber, wenn nach Bild 2 – Samen in die feinbröselige Erdrille legen – das Bild 3 – junge Pflänzchen sprießen hoch – sich vor Ort partout nicht einstellen will? Ich greife jetzt nicht vor, aber eine einfache Erfolgsgeschichte kann ich nicht bieten. Eher eine Geschichte, wie ich allmählich das vertraute Grün immer genauer und auch ungläubiger betrachtete, wie ich immer weniger begriff, was sich eigentlich auf den Obstbäumen oder in den Beeten abspielte. Die Erde bleibet vielleicht ewiglich, mag sein, aber das Land, die Natur um mich herum auch?

Jeder, der einen Garten bestellt, hat eine Idee von dem, was er erreichen will. Da der elementare Zwang zur Nahrungsbeschaffung wegfällt, kann sich jeder aussuchen, was er anbaut, wie er es anbaut, wie viel Zeit er darauf verwendet, und jeder hat seine eigenen Motive für die Gartenarbeit, die ein Hobby ist wie Golfen oder Malen. Andere gehen lieber segeln, bergsteigen oder ins Kino.

Das Garteln ist chic geworden. Nicht nur in Europa. Wer ein Penthouse in Manhattan besitzt, kann sich in den Hamptons einen Gemüsegarten anlegen lassen. Besonders viel macht es her, wenn man den Freunden dann auch noch Hühnereier offerieren kann, die auf dem eigenen Landsitz aus dem Nest geholt worden sind. Die professionellen Landschaftspfleger empfiehlt man sich weiter wie sonst die Raumdesigner. Die normalen Gärtner arbeiten um das Haus herum oder treffen sich in den Kleingartenkolonien und bewirtschaften streng limitierte 300 Quadratmeter. Oder sie mieten sich beim Bauern einen Krautgarten. Es gibt viele Varianten, sich in der frischen Luft mit Grün zu betätigen.

 

Wer heute groß wird, der hat in 20, 30 Jahren wahrscheinlich nicht wie ich dieses Bohren im Bauch, diese Unruhe, diese Sehnsucht nach »richtigem« Essen. Ich bin nicht mit Burgern und Cola aufgewachsen, sondern mit dem Gemüse und den Früchten aus den großen Gärten einer schwäbischen Kleinstadt. Das war in den späten 1950er- und 1960er-Jahren. Der Entwicklungsschub durch Agrarimporte und vor allem durch die chemische Agrarindustrie stand noch ganz am Anfang.

Das Gras wachsen zu hören ist genauso schwierig, wie zu fühlen, dass manche Dinge nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Dass sie ihre Lebenskraft verlieren und verschwinden. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten hörte die Tomate auf, wie eine Tomate zu schmecken. Aber wann genau war das? Gestern, vor einem Jahr, vor zehn? Und wer kann das schon feststellen, wer hat noch die Vergleiche? Was war der »richtige« Geschmack einer Tomate? Gab es einen Moment, in dem wir ahnten, dieser Geschmack kommt nicht mehr zurück, oder kam die Erkenntnis des Verlustes erst im Rückblick, nach Jahren?

Ich erinnere mich noch gut, dass ich als Kind den Garten und seine Produkte überhaupt nicht schätzte. Damals ging all mein Sinnen und Trachten auf eine Banane. Oder auf eine ach so verlockende Orange. So etwas hätte meine Mutter nie gekauft, sie lehnte alles fremde »Zeugs«, das importiert werden musste, kategorisch ab. Für mich dagegen war alles, was man kaufen konnte, besonders attraktiv, während das, was wir hatten, was nichts kostete, irgendetwas Hinterwäldlerisches an sich hatte.

Die Qualität der heimischen Küche konnte ich nicht wirklich beurteilen, geschweige denn würdigen. Wir aßen, es schmeckte, Punkt. Selbst die Hirnsuppe, die meine Großmutter auf dem holz- und kohlebefeuerten Herd mit »Schiff« simmern ließ, habe ich klaglos gegessen (sie war köstlich!). Wofür diese Küche stand und was sie mir bedeutete, dämmerte mir erst, als ich in pampigen Mensa-Saucen herumstocherte, die sich in unterschiedlichen Farben präsentierten – Tomatenrot, Senfgelb, Spinatgrün oder Sahneweiß –, aber alle einheitlich nach Mehl und schlechtem Fett schmeckten. Ich fing an, selbst zu kochen.

Heute denke ich auch wieder an die Küchengespräche zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, die mir damals unendlich fad vorkamen. Kunstvoll präparierten sie die geschmacklichen Unterschiede heraus zwischen einem Brettacher und einem Berlepsch-Apfel oder sie legten mir verschiedene Birnenschnitze vor, und ich hatte die Sorte zu nennen: Herzogin Elsa? Köstliche von Charneux? Oder doch eine Conférence? Nicht jede Apfelsorte kam für ein gutes Apfelkompott infrage, nein, bewahre! Auch die Apfelauswahl für den sonntäglichen Kuchen wollte wohlbedacht sein. Probier doch mal den Apfelschnitz! Nein, ich wollte keine Apfelproben und auch keinen selbst gekelterten Apfelsaft, ich wollte Orangensaft, natürlich aus dem guten Orangensaftkonzentrat wie bei meiner Freundin im Haus gegenüber.

Viele Jahre später sind es genau diese Geschmacksnuancen, die mir fehlen. Die Zeiten von Golden Delicious und sonst nichts sind vielleicht passé, aber wie viele Apfelsorten werden uns heute noch angeboten? Granny Smith und Braeburn, Topaz? Pink Lady? Vier oder fünf? Gegenüber den mehr als 1000 Apfelsorten um 1920 eine gewisse Verengung. Was also lag näher, als zu sagen, dann pflanze ich eben die alten Apfelsorten meiner Kindheit wieder an, Goldparmäne, Gewürzluik, Klarapfel zum Beispiel? Dann würde ich die Geschmäcker meiner Kindheit wiederfinden, auch den sagenhaften Duft reifer Quitten, der mich von November bis in die Weihnachtszeit hinein in unserem immer kühlen Hausflur empfing.

Geschmackserlebnisse und Gerüche prägen sich in der Kindheit tief ein. Kinder schmecken intensiver, sie verschlingen lustvoll und völlig haltlos ihre Lieblingsspeisen und ekeln sich unüberwindlich vor manchen Dingen, die wir Erwachsenen völlig normal essbar finden. Wie nachhaltig, wie prägend sind solche frühen Erfahrungen? Wo ist die Soziologie des Geschmacks, die darüber informiert, wie sich das Bildungserlebnis eines Kindes mit selbst gepflückten Kirschen oder mit vorindustriellen Tomaten auf sein weiteres Leben auswirkt? Wird dann der ausgewachsene Mensch sich je mit druckresistenten wassergefüllten Hohlkörpern abfinden, die sommers wie winters, ob’s außen friert oder innen kühlt, im Regal die gleiche glänzende Röte ausstrahlen (das Schimmeln wurde ihnen im vorletzten Züchtungsschub auch noch abgewöhnt)? Die Stück für Stück – ebenso wie die Zucchini, die Auberginen oder die Spargel – wie geklont wirken und in keinem Garten je so wachsen würden? Und, wenn wir schon dabei sind, wer forscht den Spätfolgen von Fruchtzwergen und Toastbroten mit Kiri-Creme oder Nutella nach? Wird diese Generation je wissen, wie eine reife Erdbeere schmeckt, die am Boden auf der Erde natürlich gewachsen ist in Sonne und Regen? Und wird sie diesen Geschmack, den sie nicht kennt, nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht so toll finden, im besten Fall vielleicht »anders«? Und wenn also eine »normale« Erdbeere nicht mehr goutiert wird, ist das ein Verlust? Für wen, wie lange?

 

Heutzutage liest man allenthalben über Gärten und Pflanzen, dem Thema – und der Verlockung – kann man ja kaum noch aus dem Weg gehen. Sie wollen hobbymäßig ein paar Kartoffeln anbauen? Kein Problem, dafür reicht ein Blumentopf! Gibt man »Kartoffeln anbauen« bei Google ein, dann bietet sich automatisch die Ergänzung »Balkon« an, und – schwups – schon hat man seinen Kartoffelturm und ist Selbstversorger! Oder im Gartencenter, ganze Wände voll mit herrlich bunten Samentütchen, überall möchte man zugreifen! Bohnen, lang, dünn und knackig! Man dreht das Tütchen um und sieht, es ist ganz einfach: Bohnenkerne im Mai in den Boden legen, begießen, zuschauen beim Wachsen, ernten und essen! Nein, natürlich ist niemand so gutgläubig. Aber manchmal funktioniert es ja tatsächlich: ein Tütchen Tagetessamen in die Balkonkästen, genügend Wasser, und wenige Wochen später blüht es dort prächtig.

An die Gartenarbeit in meiner schwäbischen Kleinstadt hatte ich vage Erinnerungen. Es war durchaus lästig, wenn man zu mühsamen Arbeiten im Garten einfach an einem sonnigen Samstagnachmittag abkommandiert wurde. »Nimm doch mal ’ne Hacke, da sind schon wieder so viele Unkräuter im Beet, die müssen weg.« Es hatte einige Zeit nicht geregnet. Dann stand abends das Gießen an. Gießkannen schleppen, eine, die zweite, und immer noch eine. Zuweilen konnte das ganz schön anstrengend sein. Aber wenn das passte – vonseiten der Pflanzen erinnere ich mich an keine größeren Schwierigkeiten, keine Krankheiten, die die Ernte zunichtegemacht hätten, gesunde grüne Blätter, Schnecken ab und zu, die von meiner Mutter gnadenlos verfolgt wurden, höchstens ein paar Läuse im Salat. Wehe, eine Laus hatte alle Kontrollen und Waschaktionen ausgetrickst und landete im Ölbad auf dem Teller, dann heulte der ganze Kinderchor auf und aß kein winziges Blatt mehr.

Aber ein bisschen Paradies sind die Erinnerungen an die Gärten meiner Kindheit doch. Alles wuchs und gedieh, Fülle gepaart mit einer großen Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit. Bestimmt habe ich als Kind einen Großteil der Anstrengungen und der Sorgen nicht mitbekommen. Völlig ohne Chemie, mit der Komposterde und etwas Mist gediehen Gemüse, Beeren und Obst, die Ernten fielen immer sehr reichlich aus. Sollten wir solche Erfahrungen nicht ganz fest in Erinnerung behalten, wenn uns weitschweifig erklärt wird, dass so etwas gar nicht möglich ist, niemals und nimmermehr?

War Erdbeer- oder Himbeerzeit, dann hieß es: Bitte geh doch schnell in den Garten und pflücke ein Körbchen für den Nachtisch! Im Herbst die Apfelernte, nur die Großen durften auf die Leitern, ich nicht. Jeder Apfelbaum wurde mit größter Sorgfalt abgeerntet, wurmige Exemplare wurden aussortiert, und dann wurde alles nach Sorten getrennt in großen Kisten verstaut, bis das Auto voll war. Manchmal gab es mehrere Fuhren von der Apfelwiese. Meist etwas später im Herbst, manchmal auch früher, folgten dann die reifen Zwetschgen, riesige Körbe, und wenn es immer noch nicht reichte, streiften wir über die abends schon recht kühlen Obstwiesen weiter draußen, dahin, wo es noch nachtblau im grünen Laub schimmerte und am Boden die letzten Wespen einen erschreckten.

 

Diese Erfahrungen gaben mir sehr viel Zuversicht für meine Pläne, es selbst mit dem Obst- und Gemüseanbau zu versuchen. Vor neun Jahren pflanzte ich den ersten Kirschbaum auf die bis dahin baumlose Wiese inmitten einer freien Landschaft zwischen Flüssen, Äckern und Wald. Es war, wie erwartet, ganz und gar nicht schwierig. Großes Loch, gute zusätzliche Erde, ein fester Pfahl und dann viel Wasser. Aber dieser Kirschbaum, der es inzwischen zu einer stattlichen Größe von fünf oder sechs Metern gebracht hat, trägt bis heute keine Kirschen. Er blüht, oh ja, er setzt büschelweise Früchte an, aber dann, peu à peu, verschwinden alljährlich die Hoffnungsträger, Ende Mai sind es noch ein paar Kirschen, die ich fast namentlich kenne, zumindest exakt lokalisiere bei täglicher Visite, dann sind auch sie verschwunden, abgefallen, verdorrt, angenagt, ehe sie richtig saftig und rot werden konnten.

In meinen inneren Bildern sitze ich in unserem Kirschbaum, die hellroten, in der Mitte gestreiften süß-saftigen Knorpelkirschen wachsen in meinen Mund, ohne dass ich groß auf dem Ast herumklettern müsste, die Füße baumeln, und ich greife nach den Kirschen über mir, neben mir, um mich herum, bis mir das Kirschkernspucken reicht. Zum Schluss werden die Kirschen zu Verschönerungszwecken missbraucht, die Klunker hängen hinter den Ohren, und das eine oder andere Schmuckstück saust in die Tiefe. Wie alt bin ich da? Zwischen sechs und zwölf? Es muss Anfang der 1960er-Jahre gewesen sein.

Genau diese Kirschsorte suchte ich aus, als ich den jungen Halbstamm pflanzte. Diese Knorpelkirsche wollte ich wieder essen. Selbst gezogen, ohne Chemie. Und ich dachte an die eines Tages vielleicht erscheinenden Enkelkinder, die auf diesem Baum dann ähnlich wie ich früher ihre Kirschen essen würden. »Ein Geschlecht geht, das andere kommt« – dieser Gedanke an eine Fortsetzung gefiel mir gut. Der Kirschbaum meiner Kindheit musste in den 1970er-Jahren einem Krankenhausneubau weichen, das sollte hier nicht passieren. Dass der Baum groß werden würde, dass aber die Kirschen fehlen könnten, auf diese Idee bin ich nicht gekommen.

 

Wir sind gefangen in einem Kokon, der sich Gegenwart nennt. Aus diesem kommen wir nie heraus, erst, wenn es uns nicht mehr gibt. Wer hatte in den 1970er-Jahren eine Idee von den Veränderungen, die wenig später Computer, Internet und Smartphones auslösen würden? In den 1970er-Jahren starrte alles auf den Ölpreis, den sicheren Untergang des Kapitalismus und den drohenden Atomtod. Wenn wir heute zurückschauen, sehen wir die Dinge, die damals als progressive Errungenschaften gefeiert wurden – Auto, sprich: Mobilität für alle, Befreiung der Bauern vom Joch der Natur, Entwicklungspolitik und das Ende des Kolonialismus –, mit anderen Augen. Es war ein Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg mit gewaltigen Nebenwirkungen. Fünfzig Jahre später erkennen wir in dem großen Fortschrittsschub auch den Beginn einer großen Vergiftung, in den wir den Rest der Welt mit hineingezogen haben: der Luft mit Abgasen und einem exponentiell ansteigenden CO2-Ausstoß, der Erde mit Herbiziden und Insektiziden, der Meere mit Plastik. Und das niemals einzulösende Versprechen für eine verdoppelte, bald verdreifachte Weltbevölkerung auf ein Leben in westlichem Wohlstand für alle. Wie wird der Rückblick meiner Tochter ausfallen, wenn abermals 50 Jahre vergangen sind?

Neben dem lauten Fortschrittsglauben der 1950er-, 1960er-Jahre erinnere ich mich aber auch an eine damals kaum wahrgenommene Naturerfahrung mit Maikäfern in löchrigen Pappkartons, an Bäche im Schwarzwald, aus denen man trinken konnte, an weite Sternenhimmel und ohrenbetäubendes Vogelgezwitscher an einem frühen Morgen im Mai. Ein solches Glück gab es einmal ganz kostenlos, es war geradezu banal, nichts Besonderes und für jeden zu haben. Heute locken in den Luxusmagazinen die tiefenscharfen abendrotdurchtränkten Landschaftsbilder mit allein und einsam stehendem Wohnmobil am Bergsee, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen. Luxus heute, aber in den 1960er-Jahren war es das Höchste, mit dem R4 und hippem Stau am Brenner nach Rimini zu den Sonnenschirmen in endloser Reihe zu fahren, das musste sein, sonst konnte man nicht mehr mitreden.

 

Ab dem Jahr 2013 verbrachte ich immer mehr Zeit auf dem Land. Hier, dachte ich, ist wenigstens alles gleich geblieben nach dem Motto: »Die Erde aber bleibet ewiglich.« Was sollte sich hier auf dem Land schon groß verändert haben? Wie die Sonne im Osten aufgeht, so würden die Bäume und Pflanzen in meinem Garten wachsen und gedeihen, so wie früher halt. Aber, leider, war das ziemlich naiv.

2Meine Früchte der Erkenntnis

 

Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.

Genesis 2/9

 

Ich hatte von der Aufzucht von Obstbäumen keine Ahnung. Ich dachte allerdings auch nicht, dass es viel Ahnung braucht, um von einem Obstbaum ein paar Früchte ernten zu können. Jeder kann doch wohl ohne Grundkurs und Aufbaustudium einen Obstbaum in seinen Garten pflanzen. Was gehört da schon groß dazu? »Der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume …« – das hatte doch immer noch Gültigkeit. Die Natur lässt wachsen, und ich schaue bewundernd zu, so ungefähr. Deshalb habe ich das Pflanzen und Wachsenlassen erst einmal sehr locker genommen.

In der Baumschule kaufte ich meine Obstbäume. Aber natürlich sagte mir dort kein Verkäufer: Kaufen Sie diesen Baum nur, wenn Sie genau wissen, ob der Baum für Ihr Klima, Ihre Erde, genau Ihren Standort passt. Wenn Sie wissen, wie sich der Baum sexuell verhält, welche Partner er zur Befruchtung braucht und welche anderen Bäume er oder sie befruchten kann. Oder ist Ihr Apfelbaum etwa triploid? Dann ist es nichts mit einer monogamen Partnerschaft, dann braucht es gleich zwei diploide Gefährten, damit es für alle auf Dauer stimmt. Sie sollten auch etwas von Baumkrankheiten und Schädlingen verstehen, es empfiehlt sich eine kleine Bibliothek auf biologischem und chemischem Gebiet, damit Sie Spinnmilben, Rost, Nager, Viren, Bakterien, Pilze, Mehltau oder Schorf richtig einordnen. Sie sollten sie erkennen können und wissen, wie man sie wieder loswird, denn sonst, ja, sonst könnte es sein, dass Ihr Baum schnell wieder eingeht oder nie Früchte tragen wird. Eine umfassende »Betriebsanleitung« für Ihre neue lebende Pflanze können wir leider, leider nicht mitliefern. Und belegen Sie auch einen Kurs in Baumschnitt, nicht vergessen!

Das Wiesenstück, mein Stück Natur, befindet sich nicht weit weg von Loire und Indre, etwa einen Kilometer vom nächsten kleinen Dorf entfernt. In der Umgebung werden Birnen in größerem Umfang angebaut, die Früchte werden gedörrt, auch gibt es neben den unvermeidlichen, riesigen Maisfeldern zusätzlich Apfel- und Pfirsichplantagen. Eine Obst- und Weinbaugegend, ein mildes Klima, an besonders geschützten Flecken wachsen Mimosen, Palmen, Olivenbäume.

Früher gab es im Dorf etliche Kleinbauern, fast jeder hatte eine Kuh, aber das ist längst vorbei. Übrig geblieben ist ein einziger Bauer, der Landwirtschaft, wie könnte es anders sein, in großem Maßstab betreibt. An die 1000 Hektar werden bewirtschaftet, in einem Großstall stehen 400 Milchkühe, demnächst werden es 800 sein, und eine Biogasanlage wird Strom ins Netz einspeisen, damit der Atomstromanteil ein kleines bisschen weniger wird in Frankreich. Die meisten Äcker sind gepachtet, kein Feld weit und breit, das nicht von diesem einen agriculteur