Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - E-Book

Auf der Suche nach dem Ich E-Book

Eva Link-Nagel

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Beschreibung

Diese Buch befasst sich mit zwei aktuellen Problemen: Erstens mit psychischen und körperlichen Schäden nach körperlicher Gewalt und zweitens mit Schäden, die nicht genügend kontrollierte medizinische Produnkte verursachen. Der Autorin geht es nicht um die nachträgliche Diagnose, es geht hauptsächlich um die Publikation des wertvollen Nachlasses der Dr. Susanne Link.

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Auf der Suche nach dem Ich

Biographie der Susanne Link

Éva Link-Nágel

Impressum

Texte:© Copyright by Dr. Éva Link-Nágel

Unter Mitarbeit von Axel Frerk

Umschlag:© Copyright by Dr. Éva Link-Nágel

Fotos:Dr. Franz Link

Titel:„Schlafender Tourist an der spanischen Treppe“

Aufnahme von Dr. Franz Link symbolisch in verdrehter Form

Gestaltung: Axel Frerk

Dortmund 2018, 1. überarbeitete Auflage

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Die Anfänge

Studentenzeit, stürmische Jahre.

Das Versagen

Zwischen dem Klopfen eines Reflexhammers und dem eines Herzens

Geheimnis und die Folgen

Fillinges, Grossman, Amalgam

Kampf und Zuversicht

Vor dem Sterben versuchen das Leben zu genießen

Epilog

Anlagen

Fotonachweis

Vorwort

Sie lag neben mir, die Neugeborene. Ihre kleinen Finger klammerten sich fest an meinen kleinen Finger. Sie hatte einen runden Kopf.

Als sie starb, ihr Schädel war kahl, hielt ich ihre Hand.

Sie, Susanne und ich - ihre Mutter - werden Ihnen über 48 Jahre ihres Lebens erzählen. Es ist kein Roman und kein Gedicht-Band, es ist eine Krankengeschichte. Es war lange eine Krankengeschichte ohne Diagnose.

Für mich ist es eine schwierige Aufgabe im Greisenalter, als Nicht-Psychiater eine psychiatrische Krankengeschichte zu schreiben, als Nicht-Literaturwissenschaftlerin Gedichte und Texte zu präsentieren und last not least als Mutter die tragische Geschichte der Tochter zu bearbeiten.

Eigentlich musste ich nur ein Versprechen einlösen. Ein Versprechen, das ich meiner schwerkranken Tochter gegeben habe. Ihr lag sehr daran, dass ihre Gedichte veröffentlicht werden. Ich versprach es Susanne. Zum Verständnis dieser Gedichte sind eine Lebens- und Krankengeschichte

nötig - und eine Diagnose, die da war, aber an der ich stets zweifelte.

Zwei Fragmente ihrer Lebensgeschichten kannte ich, im ersten erzählte sie den Anfang ihres Lebens, das zweite schrieb sie am Ende ihres Lebens, als sie an Krebs erkrankte. Ich hatte die ungefähr dreißig Tagebücher nie angerührt. Jetzt war es nicht einfach sie zu lesen. Ich fand das Lesen dieser Tagebücher als Wühlen in ihrem Leben und ihren Gefühlen. Ich fand das inkorrekt, schmerzhaft und geschmacklos. Doch ich wollte verstehen, warum sie krank war. Ich fand, was ich von Anfang an geahnt hatte. Die Tagebücher enthüllten heimlich, verabreichte Drogen, Kuppelei und Vergewaltigung. Sie verheimlichte es, und das hatte schwere gesundheitliche Folgen. Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab.

Das Schicksal eines Menschen ist so vielschichtig eingebettet in etwas, was man Zeitgeist nennt, man muss zum Überleben feste Wurzeln, einen Kompass haben. Beides hatte sie verloren. Warum? Wie komplex die Ursachen sein können, wie viele pathogene Faktoren zusammenkommen in einer Krankengeschichte, ist schwierig zu eruieren. Das Ergebnis ist Tragik, geschrieben in Prosa und Gedichten. Die Diagnostik ist komplex, es spielen verschiedene Ursachen zusammen. Bei ihr spielte vermutlich auch die Toxikologie eine Rolle, die oft belächelte Amalgamtoxikologie, dafür sprechen wesentliche Laborergebnisse.

In den folgenden Seiten wird der Leser Bekanntschaft machen mit Susanne. Sie war ein ungewöhnlicher und begabter Mensch, dessen hoffnungsvoller Lebensanfang abrupt verändert wurde. Als Ärztin kam ich lange nicht von der Frage weg, was die Ursache ihres Krankheitsbildes war, die in den üblichen Beschreibungen der psychischen Erkrankungen nicht richtig eingereiht werden konnte. Die Entdeckung und wissenschaftliche Bearbeitung der Krankengeschichten von vergewaltigten Kindern und Frauen brachte Beweise über Hirnveränderungen bei den Traumatisierten.

Zum besseren Verständnis der pathologischen Veränderungen bei dem posttraumatischen Stress-Syndrom muss ich auf die evolutionäre Entwicklung des zentralen Nervensystems zurückgreifen. Der älteste Teil des Gehirns in der Evolution sind der Hirnstamm, bestehend aus dem oberen Teil des Rückenmarks, aus dem Kleinhirn und die basalen Ganglien. Diese drei Teile formen das sogenannte Reptiliengehirn, weil es vom Aufbau identisch ist mit dem der Vögel und Reptilien. Funktionsmäßig beherrscht das Stammhirn die wichtigsten Lebensfunktionen wie Atmung, Blutdruck, sexuelle Funktionen mittels vorprogrammierter Regulatoren und Reflexe.

Die nächste Stufe der Entwicklung entspricht dem des primitiven Säugerhirns. Es befindet sich in der mittleren Region des Gehirns, umringt von oben das Stammhirn und hat deshalb den Namen Limbisches System (Limbus lat. Ring). Teil des Systems sind

a.) der Hypothalamus (Seepferdchen genannt durch seine Form) speichert die Erinnerungen und erkennt Strukturen,

b.) der Mandelkern (Nucleus Amygdala), doppelseitig angelegt an der Unterseite des limbischen Rings. Er ist der Sitz der negativen Emotionen, impulsiven Gefühle wie Wut und Angst, bewahrt die Erinnerung an massive emotionale Reaktionen. Der Mandelkern hat Verbindung zum

c.) Thalamus, aber auch direkte Verbindungen zur Zentrale in der Hirnrinde. Der Thalamus (griechisch Kammer) ist die Verbindung und Umschaltzentrale von den sensitiven Organen zur Cortex-rinde.

Die Rinde gehört zum Neocortex, in der Evolution der jüngste Teil des Gehirns, es ist die äußere Schicht von grauer Substanz, vier paarige Lappen, die sensorische Signale verarbeiten. Der Stirnlappen liegt hinter der Stirn, dessen vorderer Teil, der präfrontale Cortex, ist verantwortlich für logisches Denken, bewertet Informationen, urteilt, entscheidet, beherrscht. Er entwickelt sich vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter, deshalb ist er bei Jugendlichen durch Traumata sehr verletzbar.

Ich erwähne nur kurz die Beschreibung des posttraumatischen Stress-Syndroms (PTSD) nach Goleman: Es ist die aufdringliche Erinnerung an das zentrale gewaltsame Geschehen.

Tatsächlich sind die Symptome Anzeichen eines übererregten Mandelkerns. Die Spur des Grauens im Gedächtnis und die daraus resultierende Überwachsamkeit hält sich manchmal ein Leben lang. Das PTSD ist auf Veränderungen in den limbischen Schaltungen zurückzuführen, in dessen Mittelpunkt der Mandelkern steht. Die Erinnerungen können im Mandelkern gespeichert werden und zu Flashbacks (Rückblenden), plötzliche ungewollt auftretende Erinnerungen, führen. Der Hypocampus dient als Zwischenlager aktueller Ereignisse, die Langzeiterinnerung ist im kortikalen Bereich gelagert. Der Hypocampus kann durch die vom Trauma ausgelösten Stresshormone so geschädigt werden, dass Erinnerungslücken verursacht werden.

Neuere Untersuchungen von Christine Heim an der Charité beweisen strukturelle Veränderungen in der Hirnstruktur bei in der Kindheit und Jugend missbrauchten Frauen. In einigen Hirnregionen ist die Hirnrinde um ein Drittel bis ein Viertel dünner als bei den gesunden Vergleichspersonen. Diese Veränderung ist im somatosensorischen Bereich der Hirnrinde zu finden, wo die Wahrnehmung von Körperempfindungen reguliert wird.

Gewalt führt zur Persönlichkeitsverletzung, zur Veränderung des Selbstwertgefühles und kann zur wesentlichen Schädigung der Persönlichkeit führen, mit schweren Beziehungsproblemen mit Partnern und im sexuellen Bereich.

Ein Angriff auf den Körper eines Individuums im Intimbereich ist ein Angriff nicht nur auf seine materielle Substanz, es ist ein Angriff auf die Persönlichkeit, die man durch diesen Akt in Besitz nimmt, entmachtet und zerstört. Dieser Akt zerstört auch Hirnsubstanz materiell und zerstört das Immaterielle, das Ich-Gefühl, die Identität.

Susanne Link hatte für den Titel ihrer Gedichte „Auf der Suche“ gewählt. Eines ihrer Gedichte hat den Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Ich“. Im Tagebuch von 1999 schreibt sie darüber, wie das verlorene Ich zu Negativismus, zum Hang für Irreales führt – weil man die Realität nicht ertragen kann. Es ist nicht nur die Angst des Mandelkerns, die ihr Schaffens- und Lebensgefühl überschattet, es ist auch die Identitätssuche, die Trauer nach der verlorenen Identität. In diesem Buch sind Auszüge von fast unübersichtlichen Material, die dazu dienen, ihre Krankheit, ihren Charakter, ihre Reaktion auf die Erkrankung besser zu verstehen, und ihre Gedichte, die sicherlich in der deutschen Literatur Platz haben werden. Sie zeigen die Entwicklung auf vom zerstörten, traumatisierten, pubertären Mädchen zur kranken kritischen Erwachsenen, die ihre Identität sucht.

Wegen der Komplexität des Materials, um Übersicht zu gewinnen, muss ich die Geschehnisse und Materialbereiche in Kapitel aufteilen, wo ich parallel mit ihren Gedichten und Aufzeichnungen, die faktischen Ereignisse beschreibe.

Die Anfänge

Der Geburtsort des Mädchens war Bratislava (Preßburg) in der Slowakei, in einer jüdischen Ärztefamilie, Überlebende des Holocaust.

Sie war ein braves Kind, oft meinte ich, sie sei zu brav. Schon als Baby wollte sie alles allein machen, ohne Hilfe. Sie war das zweite Kind, der Bruder fünf Jahre älter. Weil Hausmädchen und meine Schwiegermutter nur ungarisch sprachen, holten wir Tante Rosenzweig. Die Tante war klein wie ein Kind und zerbrechlich und hatte eine große Tasche voll mit winzigen Puppen. Sie sollte Laci, Susannes Bruder, Deutsch beibringen. Das Mädchen, fast noch im Babyalter, wollte mitspielen und sie wurde nicht weggejagt. Am Hof lernte sie von den anderen Kindern slowakisch, so hatte sie auch später mit Sprachen und dem Lernen keine Schwierigkeiten. Ihr Streben war perfekt zu sein und durch Leistung Lob und zusätzliche Liebe zu erhalten. Motivation gab auch der Wettbewerb mit dem Bruder.

In der Kindheit hatte sie zwei angsterregende Erlebnisse: Ein Fremder wollte sie vom Spielplatz weglocken und in einen Keller zerren. Sie schrie so laut, dass er sie los lies und sie konnte fliehen. Jahre später, als wir in der Schweiz wohnten, erwachten wir von einem furchterregenden Angstschrei. Mein Mann stand auf, eilte ins Kinderzimmer und stieß von dort eine wankende Gestalt durch die Wohnungstür, die nie abgeschlossen war, ins Treppenhaus. Ein schwedischer Student, der die Gelegenheit nutzte, sich in der Schweiz volllaufen zu lassen, verwechselte die Wohnungstür und landete im Kinderzimmer.

Diese zwei beängstigenden Ereignisse hatten keine negative Wirkung auf ihr Verhalten. Susanne hatte ein ruhiges ausgeglichenes Wesen, diszipliniert, ohne Hektik. Mit vierzehn Jahren fuhr sie allein nach Israel, und als sie die auf sie wartenden Verwandten verpasste, konnte sie die Situation lösen. Sie schien damals keine Angst zu haben, oder konnte die Angst verarbeiten und beherrschen. Ihre Motivation war, einerseits den älteren Bruder, der auch Vorbild war, zu überholen, ein gewisser Kampf um Anerkennung spielte mit. Sie lernte mit einer Leichtigkeit und Präzision, mit Sprachen hatte sie nie Probleme. Wohin uns unser Lebensweg führte, nach Israel, in die Schweiz oder Deutschland, mit wechselnden Sprachen und Lernstoff wurde sie spielend fertig.

Sie war überall beliebt, besonders bei Kindern, immer ausgeglichen und lieb. Mit zwölf Jahren beherrschte sie sechs Sprachen. Deutschland war das vierte Land nach der Slowakei, Israel und der Schweiz, wo sie in die Schule ging. Deutschland kurz nach achtundsechzig bot eine andere Qualität als die mehr konservativen anderen Länder. Sie war mit fünfzehn Jahren die jüngste in ihrer Klasse. Sie hatte in fast jedem Land, so auch in Deutschland, eine Klasse übersprungen. Sie wollte Mitglied bei den Falken sein, aber nach kurzer Zeit hörte sie dort auf. Im Sommer nach dem Abitur wurden ihre Zähne mit Spange reguliert, und der Zahnarzt hatte mit einer neuen Mischung von Amalgam die Löcher saniert. Es waren ungefähr vierzehn bis sechszehn Zähne, die so behandelt wurden. Als sie mit sechzehn Jahren etwas zu spät die Periode bekam, hörte sie auf zu wachsen, bei einer Größe von 172 Zentimetern. Emotionell blieb sie aber noch lange in der Pubertät.

Nach dem Abitur war sie mit siebzehn Jahren in die Studienstiftung aufgenommen worden. In dieser Zeit begann sie zu schreiben. Die Kinder und der Vater waren durch ihren Sinn für Humor verbunden: Die Kuckucksuhr, die ja dreidimensional ist, symbolisiert die gelangweilte, resignierte Susanne, die von anderen Dimensionen träumt. In dieser Zeit fängt sie an ein Tagebuch zu führen, die Eintragungen sind etwas kindisch.

Sie kam als 18-jährige in den Universitätsbetrieb in Ulm und damit traten die ersten Auseinandersetzungen auf. Sie wollte in eine Wohngemeinschaft, aber die ganze Familie war dagegen. Die Frage damals war, entweder Wohngemeinschaft oder Familie. Am Ende stand ein Kompromiss: Während des Tages war sie in der Wohngemeinschaft, aber sie schlief zu Hause. Aus dieser Zeit sind die folgenden Gedichte.

Eindimensional

Ein Strich

Durchzieht sein holzfreies Papier

Von links unten nach rechts oben.

Die elektrisch betriebene Kuckucksuhr

Überwindet schweigend

Die Steigung gleich tangens alfa

Und verharrt in der rechten oberen Ecke.

Es ist so still, als müsste etwas kommen.

Die Kuckucksuhr wartet,

Resigniert - gelangweilt,

Immer noch,

Obwohl sie die Hoffnung

Auf eine zweite Dimension

In diesem Gedicht

Bereits aufgegeben hatte.

Willenlos stereotyp ihre Pflicht erfüllend

Vergisst sie alsbald das Ganze:

„Kuckuck – Kuckuck“

Du hörst aber es ist halb-

Und fragst dich:

Wozu eigentlich über diesen Strich brüten?

Jetzt aber endgültig Schluss damit.

Trotz

Da, wo ich

Hergestellt wurde,

Hat man mich

Mit einem Stempel versehen,

Auf dem war zu lesen:

„Bei Nichtgefallen zurück“

Darum braucht man mir nur

Das rosa Schleifchen abzustreifen,

Mich nur auspacken,

Ausprobieren,

Auszuspucken,

Aus.

(Mami ich bin dir böse, - du mir auch, wie du sagtest.)

An einem Frühlingsabend im Jahre 1975, Susanne war im zweiten Semester, kam sie von einem Ausflug mit leichtem Temperaturanstieg, erschöpft und depressiv nach Hause und weinte. Mein Mann und ich machten uns Sorgen, weil das ungewöhnlich war und meinten, ein Wechsel der Umgebung wäre das Richtige und beschlossen mit ihr an die Riviera, wo meine Tante eine Wohnung besaß, zu fahren. Wir riefen die Tante an und vereinbarten, dass sie aus Köln zu uns kommt und am Wochenende wollten wir gemeinsam starten.

Susannes Garderobe bestand im Geist der Zeit nur aus abgetragenen Jeans, es war nötig, ihr “anständige” Kleider zu kaufen. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag fuhren wir zusammen in die Klinik, in der Hoffnung, dass einer meiner Kollegen mich für die Zeit der Einkäufe, vertreten wird. Wir wollten schon am Nachmittag starten, aber es kam so, dass keiner der Kollegen sich freimachen konnte.

Ich hatte eine Mitarbeiterin, Frau N. Sie war geschieden, hattet einen zweijähriges Kind. Sie sprach über ihre konservative Mutter mit unverständlichem Hass. Sie war nicht sehr vertrauenswürdig. Sie bat mich einmal, ihr Weckamine zu verschreiben, was ich ablehnte. Sie war mit einem unheimlichen Typ befreundet, einem Hilfsarbeiter des Krankenhauses.

An dem besagten Morgen erzählte sie, dass ihr geschiedener Mann sie an diesem Tag besuchen würde. Als sie von unserem Problem hörte, bot sie sich an, mit Susanne die Einkäufe zu erledigen und ich hatte leider keine Einwände. Kurze Zeit danach kam ich von der Dialyse in das Laboratorium. Die Laborantinnen saßen wie üblich beim Kaffee, auch Susanne trank mit ihnen. Ungewöhnlich war aber, dass der Freund von Frau N. am Kaffeetisch neben Susanne saß.

Als ich nach der Arbeit nach Hause fuhr, in der Hoffnung, meine Tochter zu Hause zu treffen, war sie nicht da. Das Telefon läutete, es war ein kurzer Anruf von ihr. Sie sagte, sie käme nie wieder nach Hause und legte auf.

Es folgten schreckliche zwei Tage. Wir standen unzählige Male vor der Wohnung von Frau N. und niemand öffnete und niemand konnte uns über sie Auskunft geben. Die Polizei verweigerte die Hilfe, sie sagten, meine Tochter sei volljährig. So verging mit verzweifelter Suche die Nacht vom Freitag, danach der Samstag.

Am Sonntagnachmittag tauchte meine Tochter auf, sie war schwer psychotisch. Sie sprach ununterbrochen und schnell, verworren und unverständlich. Zu der Tante sagte sie, sie sei eine Ente, aber ich hörte aus dem Wortsalat auch Wörter, wie ´schwarzes Loch´ oder ´da war nur Schweiß´.

Wir fuhren in die Schweiz, wo unser Jugendfreund Ivan Major, mit dem wir gleichzeitig nach Israel geflüchtet waren, jetzt Oberarzt an der Psychiatrie bei Professor Pöldinger in Wiel war. Er hat Susanne mit Psychopharmaka beruhigt. Ivan gehörte praktisch zur Familie, in Israel wohnten wir nebenan. Seine zwei Töchter waren Susannes beste Freundinnen. Sie war dort praktisch den ganzen Tag über bei ihnen und deshalb gab man ihr den Spitznamen Shoshanna Link-Major. Ivan versuchte herauszufinden, wo sie gewesen und was geschehen war. Sie gestand, dass sie die ganze Zeit bei der Frau N. gewesen war. Aber da geschah nichts, sie erinnerte sich nur, dass sie Alkohol bekommen hatte. Dass was sie erzählt hat, glaubte man ihr, ich aber hatte mächtige Zweifel. Ivan verschrieb ihr Neuroleptika, durch diese Therapie normalisierte sich die Situation.

Wir wollten sie nach Deutschland zurückbringen und im Krankenhaus untersuchen lassen. Meine Freundin Judith Major meinte: “Jede Mutter, die ein psychisch krankes Kind hat, hofft, dass die Krankheit eine organische Ursache hat.“

Im Krankenhaus fand man außer hoher Eosinophilenzahl, was auf Stress und allergisches Geschehen deutete, keinen anderen Befund. Der Chefarzt Professor Thure von Uexkuel, ein berühmter Psychosomatiker, äußerte Verdacht auf Rauschgift. Sie berichtete ihm über plastische optische Erlebnisse und psychischen Zuständen, die in der Straßenbahn auf der Fahrt zum Einkauf aufgetreten waren. Das wies auf damals modische Halluzinogene hin. Da sie psychisch auffällig war, überwies sie der Neurologe des Krankenhauses an die Psychiatrie nach Weissenau in Baden-Württemberg.

Bevor wir nach Weissenau fuhren wollte ich die nagelneuen Jeans, die sie gekauft hatten, waschen und Susi zeigte mir eine Telefonnummer, die mit Tintenschreiber am unteren Rand des Hosenbeines geschrieben stand. Sie erzählte, bevor Frau N. sie nach Hause gehen ließ, befahl sie ihr: “Du erzählst nicht, wo Du warst und wenn was los ist, rufst du diese Nummer an.” Die Vorwahl war von Senden bei Ulm und es war nicht schwer zu identifizieren, es war die Telefonnummer des Freundes.

Im Unispital vermutete die Gerüchteküche offensichtlich etliches, denn eines Tages tauchte der unheimliche Freund der Frau N.in der Dialyse auf und bedrohte mich vor Patienten und Personal wegen angeblichen Beschuldigungen, die ich verbreite. Ich musste mich wehren und fragte ihn, wie seine Telefonnummer in die Jeans von Susanne gelangt ist, wo mit Tinte „für den Notfall“ aufgeschrieben war. Er verschwand wie ein geschlagener Hund.

In Weissenau besuchte ich sie täglich nach der Arbeit. Es war nötig, dass sie erneut Boden fassen konnte. Später sagte der behandelnde Assistenzarzt: „Wer solche Eltern hat, kann nicht ins Bodenlose sinken“. Vor der Entlassung aus Weissenau teilte mir der Chefarzt dagegen mit, dass Susanne an juvenile Schizophrenie leide, die in 75% der Fälle nicht heilbar ist. Er schrieb mir die Rolle einer schizophrenogener Mutter in der Entwicklung der Krankheit zu.

Nach dieser Besprechung war ich entschlossen, meine Tochter unter keinen Umständen in einer Psychiatrie stationär behandeln zu lassen. Mein Verdacht einer möglichen Vergewaltigung wurde mit der Behauptung, es seien die sexuellen Vorstellungen der Mutter, abgetan. Damals war die Symptomatik von hunderter vergewaltigter Kinder noch nicht bekannt. Man hätte nur Susannes Zettel, die sie mit grüner Tinte geschrieben hatte, lesen sollen. Ich fand diese leider zu spät, da war sie schon tot. Auf den folgenden Seiten können Sie Susannes Erinnerungen an diese Zeit lesen.

Trauma 1975 (Erster Teil der Lebensgeschichte 1998 von Susanne geschrieben)

Ich vermisse jene ruhige Gelassenheit, mit der ich Rechenschaft ablegen könnte über meine Jugend. Wohl weiß ich, dass eine Zukunft ohne eine Vergangenheit nicht existiert, aber in meinem Leben waren so viele Einschnitte und auch Neuanfänge, war so ein Mangel an Kontinuität von Kindheit an, dass das eine wirklich schwierige Aufgabe ist.

Bis ich neun Jahre alt war, lebten wir in der Tschechoslowakei, eine vierköpfige Familie jüdischen Glaubens. Wir litten ziemlich unter dem Antisemitismus um uns herum. Auf der sozialen Ansehensskala waren wir ziemlich weit unten. Vor allem war das für mich und für meinen Bruder der Fall. Ich hatte kaum Freundinnen. In der Schule war ich zwar recht erfolgreich, aber dennoch stufte ich mein Leben dort als trostlos ein. Ich glaube, es war für mich das höchste der Gefühle, gelobt zu werden. Damit aber ging eher eine passive Haltung einher. Ich selber war eher unbeweglich, wusste nicht, dass ich mich wehren kann und eine häufige Angstvorstellung war, hilflos einer Übermacht ausgeliefert zu sein. Ich fühlte mich auf einer Ebene anders, was von meinen Mitmenschen nicht wahrgenommen wurde, es war eine Ebene aus Angst.

Als wir 1966 illegal nach Israel ausgewandert waren, weinte ich der Tschechoslowakei keine Träne nach. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich akzeptiert, so, wie ich war, und das war ein äußerst wohltuendes Erlebnis. In Israel hatte ich auch eine „beste Freundin“ und ich wäre gern bis an mein Lebensende dortgeblieben. Aber berufliche Gründe zwangen meinen Vater, Israel zu verlassen. Wir sind in die Schweiz ausgewandert.

An einem trüben Novembertag trafen wir in Bern ein. Unser Vater erwartete uns mit Pommes-Chips und Hähnchen und ich war angenehm überrascht, wie gut sich mein Vater als Hausmann machte. Er hatte eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Essecke gemietet und konnte sich auch ein Auto leisten, einen VW Käfer. Das eine große Zimmer war das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem anderen schlief ich und meine Großmutter väterlicherseits, die ebenfalls mit uns nach Israel ausgewandert war. Auch in Israel hatte ich ein Zimmer mit ihr geteilt.

Da meine beiden Eltern berufstätig waren, übernahm sie den Haushalt. Sie war energisch und sparsam und sehr stolz auf ihre ungarische Küche. Kontaktfreudig wie sie war, hatte sie es immer leicht, Freundinnen zu finden, auch aufgrund ihrer Hobbies: Tennis und Töpfern, eigentlich Keramik, denn am liebsten modellierte sie kleine Statuen und Vasen.

Unser Leben in der Schweiz verlief in ruhigen Bahnen, mein fünf Jahre älterer Bruder ging ins Gymnasium, ich zunächst in die Sekundarschule, dann ins Progymnasium. Dadurch, dass der Schuljahresbeginn in der Schweiz im Frühjahr stattfindet, gewann ich ein halbes Jahr, und dank des Nachhilfeunterrichts in Mathematik konnte ich schnell Anschluss finden und die deutsche Sprache bereitete mir keine großen Schwierigkeiten.

Ich erlebte die Schweiz so, wie Max Frisch sie in seinem Buch „Wilhelm Tell für die Schule“ beschrieben hatte: als verschneit und demokratisch. Überall begegnete ich der Schweizer Fahne als dem Symbol des Nationalstolzes. Die Schweizer erlebte ich schon sehr als selbstbewusstes Völkchen. Als Ausländerin, als Fremde, bekam ich das sehr oft zu spüren, und ich war dafür auch sensibilisiert, denn schon an unserem ersten Tage in der Schweiz bezeichnete mein Vater die Schweizer als xenophob, ein Fremdwort, dass ich wohlweislich für mich behielt. Aber allenthalben war die Rede von Überfremdung, von der Schwarzenbach-Initiative, einem Versuch, per Plebiszit die Zahl der „Fremdarbeiter“ (nur in Deutschland sagt man „Gastarbeiter“ dazu) einzuschränken. Diese Initiative ist gescheitert, und als nächsten Fortschritt führte die Schweiz das Frauenwahlrecht ein. Von der heutigen Perspektive aus unglaublich, dass die Schweiz vor 30 Jahren noch so rückständig war.

Wenn ich die Schweiz heute betrachte, ich wohne jetzt in Frankreich nahe der Schweizer Grenze bei Genf, so habe ich ein viel moderneres Bild. In der Schweiz meiner Kindheit war ein gewisser Liberalismus auf Seiten der jungen 68iger zu sehen, aber ich war zu wohlerzogen und auch zu jung, um mich ihnen anzuschließen. Ich erinnere mich nur an Schlagworte wie „Manipulation“ und „Establishment“, die ich nicht verstand oder zumindest nicht nachvollziehen konnte. Später, als wir dann nach Deutschland kamen, las ich das Buch über Summerhill, sozusagen das Standardwerk über die antiautoritäre Erziehung. Dieses Buch hatte ich bei meinem Großvater gefunden. Inzwischen war nämlich er mit meiner Großmutter mütterlicherseits und dessen Schwester dank des „Prager Frühlings“ nach Deutschland gekommen.

Mein Großvater interessierte sich für alles: Bei ihm fand sich das „Schwarzbuch Franz-Josef Strauss“ genauso wie ein Buch mit dem Titel „Wer ist Jude?“. Ihn interessierte also die Meinungsbildung. Während ich in meiner Schweizer Zeit fleißig die öffentliche Bibliothek besuchte, um Kinderbücher zu lesen, samstags in die jüdische Jugendgruppe ging und Mitglied im Wasserspringer Club war, ging ich in Deutschland in die öffentliche Bibliothek nur um der Sachbücher Willen, mit dem Wasserspringen war nichts mehr und eine jüdische Jugendgruppe gab es da, wo wir wohnten, nicht.

Die Sachbücher las ich nicht so sehr, weil sie mich interessierten, sondern, um mich damit interessant zu machen. Symptomatisch dafür war, dass um mein Bett herum immer fünf bis sechs offene Bücher herumlagen, die ich in der Regel nicht zu Ende las, weil ich befürchtete, von ihnen enttäuscht zu werden. Ich hatte mir Vorurteile gebildet darüber, was ich lesen wollte, und wenn das Gelesene meinen Vorurteilen nicht entsprach, ließ ich es fallen. Auch wohnten wir in Deutschland zum ersten Mal seit fünf Jahren nicht mehr möbliert. Und ich hatte den Ehrgeiz, meine Bücherregale mit eigenen Büchern anzufüllen. So trat ich dem “Deutschen Bücherbund” bei, der mich verpflichtete, alle drei Monate mindestens ein Buch zu kaufen oder vielleicht sogar mehrere.

Seit wir in Deutschland wohnten, war mein Bruder nicht mehr in der Familie. Er ging auf Wunsch meiner Eltern zum Militärdienst nach Israel. Mir ging dadurch eine Kontrollinstanz verloren, denn mein Bruder war ein großer Kritiker meines Tuns und Lassens gewesen.

So ging ich denn ins 20 Kilometer entfernte Gymnasium, machte die Hausaufgaben noch vor der Heimfahrt während der Wartezeit auf den Bus und verbrachte die Nachmittage allein zuhause mit Illustrierten und sonstiger oberflächlicher Lektüre. Abends saß ich dann vor dem Fernseher. Ich nahm auch Privatunterricht in Englisch, bei einer Engländerin. Einmal hatte mir ihr Mann, der Bridge-Partner meines Vaters, seine Gitarre geliehen, nachdem er mir einige elementare Griffe beigebracht hatte. Die Gitarre war ein exzellenter Freizeitfüller. Ich war Autodidakt. So begann meine Karriere als Komponistin und Gedichte-Schreiberin, aber dazu später mehr.

Während meiner Zeit auf dem Gymnasium ereilte meinen Bruder, der in Israel im Militärdienst war, der Jom-Kippur-Krieg. Er war im Sanitätsdienst und am ersten Abend des Krieges meinten meine Eltern, ihn in den Nachrichten gesehen zu haben, wie er einen Verletzten versorgte. Am darauffolgenden Tag brach ich mitten im Unterricht in Tränen aus und erklärte vor der ganzen Klasse, dass ich Angst um meinen Bruder hatte. Der Lehrer zeigte Verständnis für mich. Das hat mich zwar getröstet, aber Gewissheit darüber, dass mein Bruder wohlbehalten zurückkehren würde, konnte mir der Lehrer nicht geben. Mag es ihm zur Ehre gereichen, dass er mich nicht in einer falschen Sicherheit wiegen wollte. So blieb nur das Beten.

Glücklicherweise ist meinem Bruder während des Krieges nichts passiert. Als er zurückkam, machte er auf mich den Eindruck eines Erwachsenen. Er riet mir dringend davon ab, in den Militärdienst gehen zu wollen, das sei nichts für mich. Er wirkte auch auf unsere Eltern ein, dass sie mich davon abhielten. Es gehörte zwar zu meiner Lebensplanung, nach dem Abitur nach Israel zu gehen, aber das war wohl mein Schicksal, seit wir nach Deutschland gekommen waren, einer größeren Freiheit ausgesetzt zu sein als je zuvor.

Schon mein Erster Schultag in Deutschland war von diesem Geist gezeichnet gewesen: Als der Klassenlehrer und ich das Schulzimmer betraten, lagen die Schüler auf den Tischen herum und machten nicht die geringsten Anstalten, sich beim Eintreten des Lehrers zu erheben oder zumindest die Plätze einzunehmen. An sich war ich immer ein braves Kind gewesen, aber vom Geist der Freiheit (oder war es nur Disziplinlosigkeit?) wurde ich auch erfasst. Als dann nach beendigtem Militärdienst mein Bruder zu uns kam (ich war zu der Zeit schon im ersten Semester), kam ich eines Abends zu spät nach Hause. Mein Bruder erwartete mich schon auf der Straße vor dem Haus, und als er mich erblickte, fragte er mich, ob ich mir denn nicht vorstellen könnte, dass meine Eltern sich um mich Sorgen machten und ob ich nicht zumindest hätte anrufen können. Der Aspekt, dass meine Eltern sich sorgten, hat mich überrascht. Dass ich meinerseits Verantwortung trug für die, die für mich Verantwortung trugen, ging mir offenbar nicht ein.

Noch bevor ich Studentin wurde, habe ich meine Praktikantenzeit begonnen und musste als erstes lernen, wie wichtig das akkurate Einsortieren der Bettwäsche in die dafür vorgesehenen Schränke sei. In den Krankenhausalltag wurde ich von einer drakonischen Oberschwester eingeführt, welche sich in ihrem Temperament unangenehm von den eher fröhlichen und immer zu Späßen aufgelegten Ärzten abhob. Diese saßen etwas, was man nicht an allen Krankenhäusern sieht, mit den Schwestern zusammen zu den Mahlzeiten in der Küche. Ansonsten hatte ich mit den Ärzten nicht allzu viel Kontakt. Ich erlernte das Katheterisieren der weiblichen Blase, das Bettenmachen, das Bettenwaschen und alle Verrichtungen, die der Tagesablauf vorschrieb.

Das Ganze betrachtete ich eher als sportliche Herausforderung, wie ich auch das Studium als Herausforderung und Aussicht auf jede Menge Spaß betrachtete. Mir war es noch nicht darum zu tun, in verantwortlicher Weise Menschenleben verlängern zu wollen oder Krankheiten zu heilen; die medizinische Kunst war für mich vielmehr ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem ich dabei sein wollte und außerdem hatte ich eine beachtliche Portion Neugier, den menschlichen Körper betreffend und seine Dysfunktionen.

Kompetent sein zu wollen war noch nicht so sehr mein Anliegen, vielmehr genoss ich es, überall Zaungast sein zu dürfen und wollte erst mal alles sehen, was es zu sehen gab. Die Krankenhaus-Atmosphäre mit ihrer Geschäftigkeit und auch Fremdartigkeit war für mich eine große neue Welt, die ich erst einmal kennen lernen wollte, ohne Berührungsängste. Als Papas Liebling hatte ich auch keine Scheu, mit wichtigen Persönlichkeiten zu reden, vor allem, weil ich mir erlauben konnte, selber Fragen zu stellen oder einfach dumm zu sein.

Ich war nicht nur ehrgeizige Studentin gewesen - allerdings ohne den Ehrgeiz auf den Lernstoff auszudehnen - ich meine, der Status des Student seins war für mich voller Klischees von Aktivismus, Engagement und Progressivität, denen ich gerecht werden wollte. Ich schlief wenig, nicht zuletzt deswegen, weil ich Nachtwachen im Krankenhaus übernahm; dafür erhielt man hundert Mark. Morgens kam ich dann völlig erschöpft nach Hause. Ich wohnte noch bei meinen Eltern, schlief dann bis zwei Uhr nachmittags. In meinem Zimmer herrschte ständig Unordnung Ich weiß gar nicht, wie damals der Kontakt zu meinen Eltern war. Ich erinnere mich nur, dass es auch zu meinem Ehrgeiz gehörte, von zu Hause ausziehen zu wollen.

Ich hatte so viele verschiedene Menschen kennengelernt, denn ich war ja hungrig nach Kontakten. Manchmal entstand eine engere Beziehung, weil mich ein Gesicht an meine Kindheit erinnerte. So hatte ich Gisela kennen gelernt. Bei der ersten Begegnung hatten wir uns einfach länger in die Augen geschaut und schon war der Kontakt hergestellt. Gisela war auf der Suche nach einer Bleibe, und ich lud sie ein, bei uns in unserem Mansardenzimmer zu wohnen. Ich wusste nicht wirklich, was sie über mich dachte, machte mir damals aber wohl keine Gedanken darüber. Gisela war älter und reifer als ich und selbstbewusster. Meine Mutter meinte, dass sie mich ausnützte und mich gegen sie aufhetzte. Ich wollte das nicht wahrhaben. Doch als ich krank wurde, bezeichnete ich sie als eine Hexe.

Mit dem Hexe-Sein hat es so etwas auf sich gehabt. Als ich vier Jahre alt war, behauptete ich von mir selbst, ich könne zaubern, sei also eine Hexe. Die Situation, die dazu Anlass gegeben hatte, war die: Ich schaute durch das Fenster in einen dunstigen Tag hinaus. Die Sonne erschien mir als großer feuriger Ball. Ich hatte das Gefühl, jetzt, in diesem Moment, müsse die Sonne verschwinden. Aber sie blieb. Und das führte mich zu der Überzeugung, dies hätte ich bewirkt. Es war wie im Märchen. Aber Strafe musste sein: Deshalb war ich eine Hexe.