Auf der Suche nach einer anderen Medizin -  - E-Book

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Beschreibung

»Was Psyche und Körper stark macht« – Schlagzeilen wie diese begegnen uns heute überall. Rückenschmerzen, Atemnot, Hautausschlag – viele körperliche Beschwerden schreiben wir emotionalen Konflikten, mangelnder Achtsamkeit oder Dauerstress zu. Doch woher stammen derartige Vorstellungen von Psychosomatik? Der vorliegende Band bietet erstmals einen Überblick über die Geschichte der psychosomatischen Medizin in Deutschland. Pointierte Einzeldarstellungen präsentieren ein Panorama, das neben den Spielarten der Psychosomatik im 20. Jahrhundert auch die Suche nach einer Medizin zeigt, die sich als menschlichere Alternative zur modernen, vermeintlich seelenlosen Apparatemedizin verstand.

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Seitenzahl: 780

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3Auf der Suche nach einer anderen Medizin

Psychosomatik im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

:

Psychosomatik – eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Teil 1

Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

:

Leibseelische Komplexe. Zur Vor- und Frühgeschichte der psychosomatischen Medizin (1850/90-1945)

Psychophysisches zwischen den Stühlen: Disziplinäre Vorgeschichten

Konzepte von Leben und Krankheit um die lange Jahrhundertwende

Ein weites Feld: Therapien im Bewussten und Un(ter)bewussten

Anerkennung in der »Krise«? Psychosomatik zwischen 1914 und 1945

Alexa Geisthövel

:

Neurose oder eine vielgestaltige Diagnose zwischen Körper, Psyche und Gesellschaft

Neurosenkonzepte zwischen Nervensystem und Psyche

Nerven, industrielle Moderne und Gesellschaftsdeutung

»Organneurosen« in der inneren Medizin

Ausblick

Uffa Jensen

:

Die Psychoanalyse oder Soma und Psyche auf der Couch

Psychoanalytische Diagnosen

Die räumliche Ordnung der psychoanalytischen Therapie

Gemeinsamkeiten psychoanalytischer Therapien

Ein Tonnengewicht auf dem Bauch: Wirkungen der psychoanalytischen Therapie

Otniel E. Dror

:

Emotionen und der physiologische Körper

Die physiologische Konzeption der Emotionen

Die physiologische Erforschung der Emotionen (1910er und 1920er Jahre)

Psychosomatische Medizin

Die Verlagerung zum Gehirn

Stress und Homöostase

Die Physiologie der Emotionen in der breiteren medizinischen Fachwelt

Epilog

Heiko Stoff

:

Endokrine Psychosomatik oder der Versuch, Hormon- und Psychotherapie zu verbinden

Psychoanalyse und Hormonforschung

Die neue Physiologie der endokrinen Regulationen

Zum fundamentalen Zusammenhang psychischer und endokriner Prozesse

Das vegetative System und die Psychotherapie

Pathogenetische Forschung und psychologische Ätiologie

Michael Giefer

:

Georg Groddeck oder der »wilde« Versuch, das Es psychodynamisch zu behandeln

Groddecks Es-Begriff

Der Sinn von Kranksein und die Heilungsprozesse

Außenseiter in Medizin und Psychoanalyse

Anthony D. Kauders

:

Felix Deutsch oder der Versuch, eine systematische Psychosomatik aller Organerkrankungen zu entwerfen

Über die kausalen Abläufe psychischer Besetzungen

Von ursächlichen zu symbolischen Erklärungsversuchen

Ulrich Schultz-Venrath und Ludger M. Hermanns

:

Ernst Simmel oder die Psycho-Klinik der Zukunft

Die Psyche im Darm/Verdauungstrakt: Die intestinale Libido

Schmerz und Schuld

Frank W. Stahnisch

:

Kurt Goldstein oder die kurze Ära des gestalttheoretischen Holismus

Erste Schritte zu einer holistischen Konzeption des Organismus

Holismus als Weg zur Überwindung von Funktionsverlusten: Das anpassungsfähige Gehirn

Holistische Wege der Rehabilitation

Ein »missverstandener« psychosomatischer Neurologe

Alexa Geisthövel

:

Viktor von Weizsäcker oder die »monumentale Unruhe« einer subjektiven Medizin

Der geistige Arzt als Menschenführer

Wege zu einer biografischen Medizin

Körper und Seele: Ausdruck, Ergänzung, Stellvertretung

Nachklang

Geoffrey Cocks

:

Johannes Heinrich Schultz oder vom steten Bemühen um entspannte Leistungsfähigkeit

Das autogene Training

Entspannte Leistung für die Volksgemeinschaft

Selbstentspannung in Ost und West

Pluralisierte Entspannung

Oliver Falk

:

Gerhardt Katsch oder wie chronisch Kranke lernten, an ihre Leistungsfähigkeit zu glauben

Funktionelle Pathologie – von den somatischen Folgen »psychogener Anregung«

»Bedingte« Gesundheit

Psyche und Leistungsfähigkeit

»Produktive Fürsorge« im Kontext psychosomatischer Medizin

Teil 2

Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

:

Gezeiten der Anerkennung. Streben nach Wissenschaftlichkeit meets Wissenschafts- und Gesellschaftskritik (1945-1970)

Reorganisation im Zeichen der Vergangenheitspolitik: Der westdeutsche Weg

Reorganisation im Zeichen des Pawlowismus: Der ostdeutsche Weg

Wie wird man Psychosomatiker?

Gründerzeit

Expansion und Kontroverse

Kampf um die Wissenschaftlichkeit

Studentenbewegung und beginnender »Psychoboom«

Tobias Freimüller

:

Alexander Mitscherlich oder wie ein Grenzgänger zum Makler der psychosomatischen Medizin wurde

Über Nürnberg zur »biografischen Medizin«

Die Entdeckung der Psychoanalyse

Psychosomatik in Heidelberg

Gründerfigur zwischen den Stühlen

Viola Balz

:

Dietfried Müller-Hegemann oder psychophysische Medizin à la Pawlow

Pawlow und die Medizin: erste Versuche der Etablierung einer sozialistischen Psychosomatik

Distanz zur Parteilinie: Müller-Hegemanns Weg in den 1960er Jahren

Die Berliner Mauerkrankheit: vom Hoffnungsträger zum Dissidenten

Kein Ort, Nirgends

Alexa Geisthövel

:

Karl Leonhard oder die Individualtherapie der Neurosen

Wenn Psychosomatik, dann mit Pawlow

Leonhards Lehre individueller Neurosen

Die Individualtherapie

Von der Individualtherapie zur psychodynamischen Kurztherapie

Simon Duckheim

:

Annemarie Dührssen oder die gesundheitspolitische Anpassung der Psychoanalyse

Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Wiederaufbau der Psychoanalyse

Psychoanalyse zwischen Widerstand und Anpassung

Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

:

Persönlichkeitstests oder wie psychodiagnostische Forschung die Psychosomatik veränderte

Psychometrische Vorgeschichte

Der »Rorschach«: Ein erster psychodiagnostischer Test

Die »Erfindung« von Persönlichkeitsprofilen

Was beweisen Tests? Von der Ursachenforschung zur Intervention

Wie veränderten Persönlichkeitstests die Psychosomatik? Fünf Thesen

Bettina Hitzer

:

Krebs oder wie weit reicht die psychosomatische Medizin?

Grenzüberschreitungen: Krebs als Psychose des Körpers

Die Krebserkrankung als Pathologie der Nachkriegsgesellschaft

Von der Psychogenese zum

coping

und zur angeleiteten Arbeit am Selbst

Neue Fragen und noch keine Antwort

Jakob Tanner

:

Die kontroverse Karriere der Kybernetik

Psybernetics

und

systems theory

im Kalten Krieg

Psychosomatik, »archetypische Emotionen« und protokybernetische Feedbackloops

Hoffnung auf Heilung durch Kybernetik

Ist der Mensch eine Maschine? Kybernetische Querelen

Neo-Kybernetik nach dem Ende des kybernetischen Zeitalters

Volker Roelcke

:

Thure von Uexküll oder wie führt man einen Paradigmenwechsel in der Medizin herbei?

Herkunft, Ausbildung und Zeit des Nationalsozialismus

USA-Reise und akademische Etablierung

Institutionelle Reformversuche und die Wende zur »Biosemiotik«

Lisa Malich

:

Kurt Höck oder der verordnete Aufstand des neurotischen Körpers

Neoanalyse im Haus der Gesundheit in Berlin

Frühe Gruppenpsychotherapie und Umwege in die Psychosomatik

Zwischen Erfolg und staatlicher Einflussnahme

Die intendiert-dynamische Revolution

Kipp-Prozesse der 1980er Jahre

Bettina Hitzer

:

Karlfried Graf Dürckheim oder die Kontinuitäten westöstlicher Ganzheitslehren

Wege zur Ganzheit in der Zwischenkriegszeit

Von der Freiheit, »das eigene Selbst dem Ganzen zu opfern«. Deutsch-japanische Erkenntnisse

Ganzheit durch westöstliche Integration

Die Uneindeutigkeit des Ich als Spur der Kontinuität

Teil 3

Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

:

Die Grenzen des Erfolgs. Endgültige Etablierung und das Verschwinden einer großen Antwort (1970-2000)

Institutionelle Etablierung in der Bundesrepublik

Medizinkritik und Gesundheitsbewegung

Antipsychiatrie und Psychiatriereform

Die Psychiatrie-Enquête und ihre Folgen

Institutionalisierungsprozesse in der DDR

Die Erweiterung des therapeutischen Spektrums

Was ist wirksam? Therapieforschung und ihre Folgen

Psychiatrisierung der Psychosomatik?

Bilanz des »Booms« und Ausblick ins wiedervereinigte Deutschland

Jens Elberfeld

:

Horst-Eberhard Richter oder die Entdeckung der Familie als psychosozialer Krankheitsfaktor

Horst-Eberhard Richter und die psychoanalytischen Anfänge

Amerikanische Alternativen: Von der »schizophrenogenic mother« zu den »psychosomatic families«

Helm Stierlin und die Richtungskämpfe innerhalb der Familientherapie

Auf dem Weg zur öko-systemischen Familienmedizin

Fazit: Vom Leiden zur Lebensführung?

Maik Tändler

:

Ratgeber oder Anleitungen zur psychosomatischen Selbsthilfe

Psychotherapeutische Ratgeberliteratur vor 1945

»Heiterkeit des Herzens«: Ratgeber in der Bundesrepublik

Empfehlungen mit Ausrufezeichen: Ratgeber in der DDR

Selbstfindung und Selbstentfaltung: Ratgeber in den 1980er und 1990er Jahren

Pascal Eitler

:

Körpertherapien oder der »Somaboom« nach 1968

Zur Genese der Körpertherapien

Zur Praxis der Körpertherapien

Fazit

Alexa Geisthövel

:

Die psychosomatische Klinik oder die Utopie heilender Kommunikation in der Bundesrepublik

Soziale Heterotopie

Ein Ort für »Gruppenprozesse«

Veränderte Praxis – zwei Beispiele

Die Wiederkehr des Raums

Monja Schünemann

:

Monika Krohwinkel oder wie die Psychosomatik in die Pflege kam

(Liebes-)Dienst am Fließband

Pflegewissenschaft in Deutschland

Von der Pflegewissenschaft zur Pflegerationalisierung: Individualität im Minutentakt?

Cornelius Borck

:

Alexithymie oder wie der Mangel an Gefühl zur Krankheit wurde

Ein neuer Name als pragmatisch-theoretische Intervention

Alexithymie als Störung der therapeutischen Beziehung von Arzt und Patient

Theorie-Diskussionen und die Situation der Psychosomatik in Deutschland

Abschied von der Theorie mit der Operationalisierung des Konzepts

Essentialisierung des Konstrukts als verpasste Chance der Psychosomatik

Anja Laukötter

:

Salutogenese oder die Herstellung von Gesundheit als neue Perspektive für die Psychosomatik

Das Modell der Salutogenese

Salutogenese als »boundary concept«

Salutogenese in der Praxis

Lara Keuck

:

DSM

und

ICD

oder die Schwierigkeit, Psychosomatisches zu klassifizieren

Medizinische Klassifikationen im ausgehenden 20. Jahrhundert

Klassifikation in der Psychosomatik: Vier Beispiele

Die organische Hirnerkrankung: Psychosomatik als multidimensionale, holistische Medizin

Alexithymie: Psychosomatik als Problematisierung kategorialer Klassifikation

Residualkategorien: Psychosomatik als Erklärung des Ungeklärten

Somatoforme Störungen: Psychosomatik als differentialdiagnostische medizinische Wissenschaft

Fazit: Klassifikationen psychosomatischer Medizin

Danksagung

Gesamtbibliografie

Über die Autorinnen und Autoren

Personenregister

Sachregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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9Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

Psychosomatik – eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Überraschenderweise gibt es bisher keine historische Gesamtdarstellung der Psychosomatik im 20. Jahrhundert, obwohl sie gerade in der deutschsprachigen Medizin auf breite Resonanz stieß und eine Vielfalt an Konzepten, diagnostischen und therapeutischen Methoden hervorbrachte. Dieses Buch tut einen ersten Schritt, um diese Leerstelle auszufüllen. Es bietet erstmals eine informative Geschichte psychosomatischer Medizin in Deutschland. Darüber hinaus versteht es sich als kritische Intervention im vielstimmigen Gespräch darüber, wie eine humane, dem Menschen zuträgliche und am Menschen orientierte Medizin aussehen könnte.

Denn die Suche nach einer »anderen« als der jeweils kritisierten dominanten Medizin, jene Suche also, die die psychosomatische Medizin in den vergangenen hundert Jahren angetrieben hat, ist bis heute keineswegs erfolgreich abgeschlossen. Die so genannte Biomedizin steht gegenwärtig im Zentrum harscher Kritik. Vom »betrogenen Patienten« spricht etwa der Radiologe Gerd Reuther in seinem gleichnamigen Bestseller und meint damit, dass in Kliniken oft nur oberflächlich Symptome, nicht selten sogar zum Nachteil der Patienten, behandelt werden, dass die unkritische, wissenschaftlich unzureichende und teilweise allein ökonomisch motivierte Anwendung von Diagnoseverfahren und Therapien oftmals desaströse Folgen zeitigt, sowie schließlich, dass Umweltfaktoren im Rahmen der Erforschung und Behandlung von Krankheiten nur unzureichend Berücksichtigung finden.[1]

Deutlich grundsätzlicher auf ein fehlgeleitetes Verständnis von Wissenschaft in der Medizin zielt dagegen die Kritik des medizinischen Anthropologen David Napier, der im Auftrag der renommierten medizinischen Zeitschrift Lancet seit 2014 eine Kommission leitet, die sich mit der Beziehung zwischen Kultur und Gesundheit beschäftigt.[2] Die Arbeit dieser Kommission geht davon 10aus, dass kulturelle Faktoren jeden einzelnen Aspekt von Medizin und Heilung wesentlich mitbestimmen. Kultur prägt demnach nicht nur die Art und Weise, wie Menschen medizinische Hilfeleistungen in Anspruch nehmen (können), wie sie mit Krankheit und den jeweils angebotenen Therapien umgehen und diese subjektiv erleben. Kulturell bestimmte Annahmen beeinflussen auch Fragestellungen und Verfahrensweisen medizinischer Forschung und sind wesentlich an der Definition von Krankheiten beteiligt. Auch Vorstellungen darüber, was im wissenschaftlichen Verständnis »objektiv« ist, wurden und werden zutiefst von kulturellen Faktoren beeinflusst.[3] Aus diesen Annahmen über die untrennbare Wechselbeziehung oder gar Einheit von Kultur und Gesundheit beziehungsweise Krankheit zog der Medizinhistoriker Volker Roelcke jüngst die Schlussfolgerung, nur eine »kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde« könne den Menschen in die Medizin zurückbringen.[4]

Hier möchte dieses Buch anknüpfen. In ihrem Bemühen, angemessene und dem Menschen hilfreiche epistemische, diagnostische oder therapeutische Modelle zu entwickeln, haben viele Protagonisten und Protagonistinnen psychosomatischer Medizin darüber nachgedacht, wie die Beziehungen zwischen Psyche, Soma und Umwelt gefasst und therapeutisch berücksichtigt werden könnten. Ihre Antworten sind durchaus unterschiedlich ausgefallen. Der hier unternommene Blick in die Vergangenheit zeigt die Vielfalt möglicher Antworten. Er macht jedoch auch deutlich, wie die jeweiligen Antworten von zahlreichen Faktoren abhingen: von den zeitgenössisch geprägten wissenschaftlichen, klinischen und außerklinischen Praktiken, von der Konfrontation mit unterschiedlichen Patientengruppen und deren auch durch die Zeitläufte bedingten Verletzungen und Erkrankungen, von gesundheitspolitischen und ökonomischen Vorgaben sowie von weit über die Medizin hinausreichenden Denkfiguren, die – wie etwa die Kybernetik – Modellvorstellungen der Psychosomatik stark beeinflusst haben. Wesentlichen Anteil daran, wie psychosomatische Medizin sich selbst, ihre Ziele und Zwecke definierte, hatten nicht zuletzt wechselnde politische Ordnungsvorstellungen und Agenden: Sollte psychosoma11tische Therapie der Wiederherstellung einer robusten, womöglich wehrtauglichen Arbeits- und Leistungsfähigkeit dienen, sollte sie eine heilsame Arbeit am Selbst ermöglichen oder die Gesellschaft emanzipatorisch verändern?

Doch die psychosomatische Medizin soll hier nicht einfach als die »andere« Medizin dargestellt werden, als die sie manchmal aufgetreten ist. Denn sie war und ist in vielen ihrer Spielarten eng mit der Biomedizin verwoben. Auch soll sie nicht schlicht als eine per se humanere Alternative präsentiert werden. Stattdessen wird ihre Geschichte hier in der Vielfalt ihrer auch politisch unterschiedlich positionierten Ansätze und Auseinandersetzungen gezeigt. So kann die Lektüre dieses Buches dazu anregen, über vergessene Alternativen oder mögliche Ergänzungen und Erweiterungen der gegenwärtigen Medizin nachzudenken. Und sie stellt an die Leser und Leserinnen die Frage, was psychosomatische Medizin ausmacht, ob sie überhaupt integraler Teil der heutigen Biomedizin sein kann, ohne dabei ihren Wesenskern zu verlieren.

Was ist Psychosomatik?

Der Begriff »Psychosomatik« sagt zunächst nur schlicht, dass es hier um das Zusammenspiel von Seele und Körper geht. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Buches verrät jedoch schnell, dass diese Basisdefinition nicht erklärt, welche Geschichte hier erzählt wird. Denn aus einer derart breit angelegten Perspektive würden ansonsten unerklärliche Lücken klaffen. Warum etwa gibt es kein Kapitel über anthroposophische Medizin? Schließlich schrieben Rudolf Steiner und Ita Wegmann in ihrer 1925 publizierten Grundlegung der anthroposophischen Medizin:

Der Mensch ist, was er ist, durch Leib, Ätherleib, Seele (astralischer Leib) und Ich (Geist). Er muss als Gesunder aus diesen Gliedern heraus angeschaut; er muss als Kranker in dem gestörten Gleichgewicht dieser Glieder wahrgenommen; es müssen zu seiner Gesundheit Heilmittel gefunden werden, die das gestörte Gleichgewicht wieder herstellen.[5]

12Hier geht es also unbestreitbar um eine Vermittlung zwischen einer leiblichen Ebene und anderen Ebenen, die als Psyche gefasst werden könnten.

Ein breites Verständnis von Psychosomatik ließe auch ein Kapitel über den Danziger Arzt Erwin Liek erwarten, der in den 1920er Jahren höchst einflussreich die Naturheilkunde propagierte und als Wegbereiter der Neuen Deutschen Heilkunde gilt. Denn wie viele andere naturheilkundlich orientierte Ärzte unterstrich Liek die Bedeutung von Gefühl und Seele in der Krankheit und betonte etwa im Blick auf die Krebskrankheit 1934: »Der erfolgreiche Krebsarzt mobilisiert, bewußt oder unbewußt, wollend oder ablehnend, seelische Kräfte gegen den Krebs.«[6] Auch innerhalb der Literatur, die man als psychosomatisch im engeren Sinne bezeichnen könnte, finden sich sehr allgemeine oder umfassende Definitionen. So bestimmte etwa 1954 der Erfinder des autogenen Trainings Johannes Heinrich Schultz Psychosomatik als »die Erkenntnis der geschlossenen Einheit des Lebendigen, wie sie besonders im Ausdruckgeschehen jederzeit zutage liegt«.[7] Ungefähr zur gleichen Zeit erklärte der in der DDR tätige Internist Werner Hollmann in der von Erwin Liek mitbegründeten Zeitschrift Hippokrates, dass die psychosomatische Medizin sich durch die Integration zweier Aspekte menschlicher Welterfahrung auszeichne, des »rationalen Erkennens« und des »liebenden Umfangens, des Du-Erlebens«.[8] Obgleich also manche Autoren, die wir zu den Vertretern psychosomatischer Medizin zählen, durchaus den »ganzen« Menschen beschworen, ist dies kein Buch über die unterschiedlichen Facetten der Ganzheitsmedizin, die sich häufig dezidiert von allen Formen der Versachlichung und damit auch von der institutionalisierten Medizin abwandten. Es beschäftigt sich vielmehr mit einer Medizin, die die Einheit von Körper und Psyche ausdrücklich systematisch und reflexiv einholen wollte und der sehr daran gelegen war, die Verbindung zum medizinischen und psychologisch-psychoanalytischen State of the Art zu halten, um auf diesen einzuwirken.

Eine allgemein anerkannte Definition von Psychosomatik gab es in der Vergangenheit nicht und gibt es auch heute nicht, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sich Vorstellungen dar13über, wie Psyche, Geist oder Seele verfasst sind, wie diese mit dem Körper zusammenhängen und ob daneben andere Dimensionen wie etwa das Soziale berücksichtigt werden müssten, kontinuierlich geändert haben. Dies wird bereits deutlich, wenn man sich die zwei großen Traditionsstränge im 20. Jahrhundert vor Augen hält: zum einen Psychosomatik als Zweig der Neurosenlehre, also eines umgrenzten Arbeitsgebiets der Nervenheilkunde und Psychoanalyse, zum anderen die integrierte Psychosomatik als das Bestreben, alle medizinischen Disziplinen so zu verändern, dass sie stets Körperliches und Seelisches berücksichtigen würden.

Ist es aus Sicht ärztlicher oder psychologischer Praktiker geradezu unerlässlich, ein trennscharfes Verständnis von Psychosomatik zu entwickeln, das möglicherweise nur wenige Phänomene umfasst, interessieren aus historischer Perspektive gerade die Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des semantischen Feldes. Für Historiker_innen verbietet es sich geradezu, bestimmte Deutungen von Psychosomatik auszuschließen, auch wenn sie heute nicht mehr überzeugen.

Auf der Suche nach dem Beginn einer so verstandenen psychosomatischen Medizin liegt die Frage nahe, wann entsprechende Begriffe erstmals auftauchten und wie sie verwendet wurden. Das postmoderne Instrument des Google Books Ngram Viewer, das die Häufigkeit der Begriffsverwendung in den von Google digitalisierten Büchern auswertet, findet das Wort »Psychosomatik« erst in den frühen 1940er Jahren in größerer Zahl in deutschsprachigen Büchern, mit einem rasanten Anstieg der Wortverwendung nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch gibt es zuvor schon einzelne, durchaus prominente Nachweise. Als Worterfinder gilt Johann Christian August Heinroth, der in Leipzig einen außerordentlichen Lehrstuhl für »Psychische Therapie« innehatte. In seinem 1818 erschienenen Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung führte er aus: »Gewöhnlich sind die Quellen der Schlaflosigkeit psychisch-somatisch, doch kann auch jede Lebenssphäre für sich allein den vollständigen Grund derselben enthalten.«[9] An anderer Stelle erläuterte er später: »Die Person ist mehr als der bloße Körper, auch mehr als die bloße Seele: sie ist der ganze Mensch.«[10] Mit dem Begriff »somatopsychisch« konterten 1838 14die beiden Psychiater Christian Friedrich Nasse und Maximilian Jacobi, um herauszustellen, dass jeder psychischen Krankheit ein körperliches Leiden vorausgehe.[11]

Gerne wird beim Auftauchen solcher Begriffe von der »Geburt« der psychosomatischen Medizin gesprochen, als sei sie eine klar begrenzte Einheit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt das Licht der Welt erblickte. Allerdings spricht ein relativ isolierter Wortgebrauch noch nicht für eine verbreitete Praxis oder die gesellschaftliche Tragfähigkeit einer so verstandenen Medizin. Die Psychosomatik speiste sich aus unterschiedlichen Quellen, und sie gewann nur allmählich an Kontur. Diese verstreute Herkunft bildet sich bis heute in ihrer Mehrdeutigkeit ab: Psychosomatik bezeichnet einerseits das (philosophische oder metaphysische) Bestreben, die psychophysische Totalität des Menschen zu begreifen, sie ist eine medizinische Spezialdisziplin, aber auch eine Perspektive der Allgemeinmedizin, sie umfasst die »Lehre von der seelischen (Mit-)Verursachung und Beeinflußbarkeit körperlicher Erscheinungen« sowie die Aufgabe, »sowohl die Forschung und Lehre der psychosomatischen Krankheiten als auch die Interaktion mit den psychosomatisch Kranken überhaupt, das heißt also mit allen Kranken, wissenschaftlich zu systematisieren«.[12] Der Begriff umfasst verschiedenartige Modelle der Krankheitsentstehung, die sich grob in kausal-psychogenetische einerseits und solche ohne klares Ursache-Wirkungs-Gefüge auf der somatischen oder psychischen Seite andererseits unterscheiden lassen (und diese Aufteilung in Soma und Psyche selbst in Frage stellen). Als kleinster gemeinsamer Nenner bleibt: Leben in Gesundheit und Krankheit kann nicht aus der Analyse der Teile, sondern nur aus dem Zusammenwirken im Ganzen verstanden und gehandhabt werden.

Aus historischer Perspektive macht gerade seine Unschärfe den Begriff Psychosomatik interessant, weil sich hieran die beteiligten Akteure, wissenschaftliche und gesellschaftliche Konfliktlinien prägnant darstellen lassen. Um den Anfängen von psychosomatischer Medizin auf die Spur zu kommen, ist es wichtig, zwischen zwei Sachverhalten zu unterscheiden: den Traditionslinien, die Pioniere und Vordenker aufriefen, und der historischen Genealogie. Psychosomatiker bezogen sich auf unterschiedliche Vorbilder und Epo15chen: Hippokrates und Galen, Paracelsus, Mesmer, die Romantische Medizin, um nur die häufigsten zu nennen. Man trifft auf die Annahme, bis zum Beginn von industrieller und wissenschaftlicher Moderne in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sei alle Medizin ganz selbstverständlich auf den »ganzen« Menschen bezogen und damit psychosomatisch gewesen; daran habe man im 20. Jahrhundert angeknüpft. Solche Aussagen sind aufschlussreich für das Selbstverständnis der Ärzte und leuchten ihre Kritik an der eigenen Gegenwart aus. Historische Entwicklungslinien für die psychosomatische Medizin des 20. Jahrhunderts lassen sich daraus jedoch nicht ableiten, nicht zuletzt weil auch in der frühneuzeitlichen Medizin und Naturforschung unterschiedliche Konzepte und Schulen existierten, darunter auch analytische.

Wir verstehen psychosomatische Medizin daher als modernes Phänomen, das um 1900 als ein neues Problembewusstsein entstand und vor diesem zeitlichen Hintergrund betrachtet werden sollte. Besser als an vermeintlichen Vorläufern lassen sich die Anfänge psychosomatischer Medizin an ihren zeitgenössischen Widersachern festmachen: Ihrer Selbsterzählung zufolge trat sie an, um die »moderne«, »naturwissenschaftliche« Medizin des 19. Jahrhunderts zu überwinden und zu erweitern. Diese sei »mechanistisch«, »kausalmechanistisch«, »lokalistisch«, nicht zuletzt auch »bürokratisch« gewesen. Das Spottwort von der »Kaninchenmedizin« mokierte sich über den Versuch, die Rätsel des menschlichen Lebens fernab des kranken Menschen in Experimenten am Tier zu ergründen. Ebenso wie die positiven Traditionsbehauptungen sind auch solche Abgrenzungsgefechte mit Skepsis zu betrachten. Das von der »modernen Medizin« entworfene Bild bezog sich stark auf programmatische Selbstaussagen von deren Exponenten, die sich ihrerseits seit den 1840er Jahren von der naturphilosophischen Annahme einer natürlichen »Lebenskraft« hatten unterscheiden wollen.[13] Im Tenor einer Fortschrittserzählung betonten diese, Leben und demzufolge auch Krankheit sei nur im Ausschnitt von Einzelfunktionen zu verstehen, in der Analyse von chemischen und physikalischen Prozessen, von einzelnen Zellen und Organsystemen.

Diesen Geltungsanspruch einer als wissenschaftlich verstandenen Medizin brachte das immer wieder zitierte Diktum des inter16nistischen Klinikers Bernhard Naunyn aus dem Jahr 1905 auf den Punkt: »Medizin wird naturwissenschaftlich sein, oder sie wird nicht sein.« An diesem Postulat arbeiteten sich die Psychosomatiker ab, und so replizierte Viktor von Weizsäcker 1949: »Medizin wird tiefenpsychologisch sein, oder sie wird nicht sein.« In den 1980er Jahren schließlich variierte der Internist und Kardiologe Felix Anschütz: »Die Medizin wird deutlich mehr sein müssen als Naturwissenschaft, oder sie wird nicht sein.«[14]

Überspitzt formuliert trafen an der Frontlinie von »naturwissenschaftlicher Medizin« und »Psychosomatik« seit den 1890er Jahren zwei Selbststilisierungen aufeinander, die der Vielschichtigkeit biomedizinischer Forschung ebenso wenig gerecht wurden wie den durchweg bestehenden Spannungen zwischen Labor und Klinik, zwischen Objektivitätsstreben und »ärztlicher Kunst« im 19. Jahrhundert. Zudem rieben sich Psychosomatiker vor allem an bestimmten Erscheinungsformen der modernen Medizin: Gegen Anästhesie und Antisepsis, die großen Neuerungen in der Chirurgie, hatten sie wenig einzuwenden; ins Visier gerieten Praktiken aus pathologischer Anatomie, Zellularpathologie, Physiologie und Bakteriologie, die für therapeutischen Nihilismus, Zergliederung und Objektivierung standen. Denn diese fassten den Menschen als chemische Reaktionskette oder eine Kombination von Reflexen.

Die Ausgangslage unserer Geschichte können wir demnach so umreißen: Unter den verschiedenen Faktoren, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Problemfeld Psychosomatik entstehen ließen, war ein wichtiger die Kritik an der naturwissenschaftlichen, »modernen« Medizin. Diese hatte – als ein Bündel unterschiedlicher Praktiken – Forschung und Krankenbehandlung, Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Selbstverständnis von Ärzten nachhaltig zu prägen vermocht. Auf die Frage, was »Leben« ausmacht, wie sich dabei Körper und Seele zueinander verhalten, hatte sie wegweisende Einzelergebnisse erbracht und diese in praktische Anwendungen übersetzt. Eine befriedigende Gesamtantwort hatte sie mit ihrer Fokussierung auf die kausale Gleichförmigkeit organischer Funktionseinheiten aber nicht gefunden – was ihren Auguren übrigens selbst durchaus bewusst war.

Wir gehen davon aus, dass sich unter denjenigen, die in diesem 17System erfolgreich ausgebildet worden waren, angesichts der ungelösten Probleme eine Art epistemologisches Unbehagen regte. Es motivierte zur Suche nach einem neuen »epistemischen Objekt« (Hans-Jörg Rheinberger), das sich nur ungefähr in einer Fragestellung abzeichnete und verhieß, neue, interessante Forschungsprobleme mit unvorhersehbaren Wendungen zu generieren. Hinzu kam Unzufriedenheit mit der menschlichen Seite der Medizin, dem Umgang mit Patienten, die mit der Professionalisierung der ärztlichen Medizin zu oftmals passiven Empfängern ärztlicher Interventionen geworden waren. Wenn die Selbsterzählung der Psychosomatik hier den Anspruch erhebt, eine Humanisierung der Medizin angestrebt zu haben, ist dies wiederum nur die halbe Geschichte. Denn dieses Anliegen erwuchs auch angesichts der enormen Popularität von Laienheilern aus der »Volksmedizin«, die mit ihren »natürlichen« und charismatischen Methoden auf dem Markt medizinischer Dienstleistungen äußerst erfolgreich waren. Inwiefern es der psychosomatischen Medizin gelang und bis heute gelingt, anders, humaner als die Biomedizin zu sein, soll an dieser Stelle gefragt, aber nicht abschließend beantwortet werden.

Hinweise zur Lektüre

Dieses Buch kombiniert Elemente aus unterschiedlichen Formaten. Seine Anlage ist monografisch, denn die einzelnen Beiträge erzählen in chronologischer Abfolge die Geschichte der psychosomatischen Medizin von etwa 1850 bis zur Gegenwart, gegliedert in drei Zeitabschnitte, denen jeweils ein Überblick über wichtige Entwicklungen und bedeutsame Kontexte vorangestellt ist. Auch sind die Texte nicht isoliert voneinander, sondern in intensiver, durch die Herausgeberinnen moderierter Diskussion aller Autorinnen und Autoren entstanden. Deren Kreis ist groß. So konnte das weitgespannte Unterfangen, erstmals eine Geschichte der psychosomatischen Medizin in Deutschland vorzulegen, auf viele erfahrene und kompetente Schultern mit jeweils unterschiedlicher Expertise verteilt werden. Doch ist jedes Kapitel bei aller Bezugnahme auf das Ganze in sich abgeschlossen, wenngleich Verweise Bezüge zwischen den Beiträgen herstellen. Insofern ähnelt das Buch einem Sammelband oder Handbuch.

18Das Buch versteht sich als Versuch, das heterogene, zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen unterworfene Feld erstmals in seinen Umrissen abzustecken. Es geht dabei weniger um eine umfassende Bestandsaufnahme als darum, die verschiedenen Spielarten von psychosomatischer Medizin in pointierten Einzeltexten möglichst breit aufzufächern. Anders als eine Monografie oder ein Handbuch erhebt das Buch daher nicht den Anspruch, einen lückenlosen Überblick zu geben.

Die erste und grundlegende Auslassung dieses Buches besteht darin, dass der Ort dieser Geschichte Deutschland ist, angefangen vom Deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, die beiden deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR bis hin zur »neuen« Bundesrepublik. Denn psychosomatische Medizin ist beileibe kein deutsches Phänomen. Es gab und gibt sie nicht nur in anderen Staaten, sondern sie ist auch seit ihren Anfängen transnational, entstanden und weiterentwickelt im kontinuierlichen Austausch von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Therapeuten und Therapeutinnen, die in vielen verschiedenen Ländern lebten, hin- und herreisten, auswanderten oder zurückkehrten. Um jedoch nachzeichnen zu können, wie psychosomatische Konzepte und Behandlungsmethoden aus konkreten, ortsgebundenen Kontexten entstanden, ist diese Geschichte nur in einem Land situiert, wobei allerdings die vielfältigen Bezüge zu anderen Ländern deutlich benannt sind. Dass dieses Land Deutschland ist, hat den Grund, dass der Diskussion um »Ganzheit« oder die Einheit des Lebendigen in Deutschland eine besondere, insbesondere politisch bemerkenswerte Rolle zugeschrieben wird, deren Bedeutung hier über mehrere Systemwechsel hinweg verfolgt wird.[15]

Den vorhandenen Kapiteln ließen sich mit jeweils guten Gründen weitere anfügen, während einige der Kapitelthemen möglicherweise auf den ersten Blick überraschen. Ihre Mehrzahl stellt Psychosomatiker vor, die für ihre Zeit maßgebende, wegweisende oder innovative Methoden und Theorien entwickelt haben – manchmal auch solche, die später weitgehend vergessen wurden, wie etwa Kurt Goldstein. In einigen Fällen stehen auch Personen im Mittelpunkt, die wie Annemarie Dührssen weniger methodisch-konzeptuell als gesellschaftlich oder gesundheitspolitisch einflussreich 19waren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf ärztlichen Vordenkern und Therapeuten, die die Entwicklung der psychosomatischen Medizin maßgeblich vorangetrieben haben. Andere Heilberufe sowie historische Patienten- oder Laienperspektiven sind weniger vertreten, was jedoch nicht deren geringerer Bedeutung geschuldet ist, sondern dem derzeitigen Wissensstand.

Quer zu dieser Protagonistenebene liegen Kapitel, die sich mit Krankheiten beschäftigen. Es handelt sich dabei nicht um den Kanon der psychosomatischen Holy Seven wie Asthma bronchiale oder Magengeschwür. Anhand von Neurose, Krebs und Alexithymie werden dagegen Krankheiten behandelt, die besonders prägnant die Veränderung psychosomatischer Medizin über das 20. Jahrhundert hinweg anzeigen. Eine dritte Kategorie von Kapiteln ist schließlich ausgewählten Methoden gewidmet, die innerhalb der psychosomatischen Medizin oder auch bei ihrer publikumswirksamen Vermittlung eine Rolle gespielt haben. Dazu gehören etwa die Kapitel über die Psychoanalyse, über Persönlichkeitstests oder über Ratgeberliteratur. Und schließlich präsentiert das Buch Kapitel, die Denkfiguren aus benachbarten Disziplinen in ihrer Bedeutung für die psychosomatische Modellbildung erkunden, etwa im Blick auf den von der Physiologie beschriebenen Körper oder auf kybernetische Steuerungskonzepte.

Wer die Beiträge liest, wird bemerken, dass Psychisches und Psychotherapeutisches sehr prominent sind, während Körperliches etwas im Abseits zu stehen scheint, auch wenn körpertherapeutische Verfahren eine gewisse Rolle spielen. Dies reflektiert die Gewichtungen in den zeitgenössischen Diskussionen, die den Weg zu einer mehrdimensionalen Medizin in der Einbeziehung der Psyche in die Körpermedizin sahen, wo man den größten Nachholbedarf ausmachte. In Zukunft wäre verstärkt nach dem Körper in der Psychosomatik zu fragen – denn auch wenn er auf der Couch oder im gruppentherapeutischen Stuhlkreis mehr oder weniger stillgestellt wurde, um die Gefühle und das Bewusstsein in Bewegung zu bringen, geschah etwas mit ihm.

So lässt sich dieses Buch also in kleiner Dosierung lesen, je nach Interesse von Kapitel zu Kapitel wandernd. Seine eigentliche Absicht, das Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft von Psychosomatik und Biomedizin anzuregen, entfaltet es jedoch erst im Ganzen.

21Teil 1

23Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer

Leibseelische Komplexe. Zur Vor- und Frühgeschichte der psychosomatischen Medizin (1850/90-1945)

An einem langen Wochenende im April 1926 trafen sich in Baden-Baden weit über 500 Männer und Frauen, unter ihnen auch eine Reihe derer, die in diesem Band eine Hauptrolle spielen werden. Sie waren aus vielen Teilen der deutschsprachigen Welt und einigen anderen europäischen Staaten gekommen, um am I. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie teilzunehmen. Die Vorbereitung hatte einiges diplomatisches Geschick erfordert, allein schon um ein Einladungskomitee auf die Beine zu stellen, viel mehr noch schließlich, um ein gemeinsames Programm zu entwerfen, in dem Gegner wie Anhänger der Tiefenpsychologie, Theoretiker und praktizierende Psychotherapeuten, Internisten, Gynäkologen, Pädiater und Psychiater vertreten waren.[1]

Die federführenden Initiatoren, Wladimir Eliasberg aus München und Benno Hahn in Baden-Baden, betrieben Psychotherapie als außeruniversitäre Praxis, so wie sie zu dieser Zeit von vielen niedergelassenen Nervenärzten ebenso wie in Sanatorien angeboten wurde. Doch dank der gelungenen Tagungsregie reisten auch ausgewählte Repräsentanten des akademischen Establishments an, Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektoren wie der Psychiater Robert Sommer von der Universität Gießen oder der Internist Gustav von Bergmann von der Berliner Charité.

Erklärtes Ziel war es, die teils verfeindeten Schulen und Einzelinitiativen zusammenzubringen und einen gewissen therapeutischen Konsens herzustellen, um gemeinsam der Psychotherapie mehr Geltung zu verschaffen. Zwar erwies sich der Kongress in dieser Hinsicht als Fehlschlag. Dennoch erscheint die Versammlung rückblickend als Meilenstein in der Geschichte der psychosomatischen Medizin in Deutschland, denn sie bildete den Auftakt für die Selbstorganisation einer psychologisch und psychothera24peutisch verstandenen Heilkunde. An die Versammlung in Baden-Baden schlossen sich bis 1931 im Jahrestakt fünf weitere, stark besuchte Kongresse an. Schon 1927 wurde die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) als eigenständige Fachgesellschaft gegründet, ein Jahr später folgte als erstes Fachjournal die Allgemeine Ärztliche Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene, 1930 umbenannt in Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete.

Gründungsdatum der Psychosomatik ist der Kongress gleichwohl nicht gewesen. Zum einen ist Psychosomatik nicht deckungsgleich mit der Einführung psychotherapeutischer Methoden in die Medizin. Zum anderen verweist das Anliegen, verhärtete Konflikte beizulegen und Gemeinsamkeiten Gehör zu verschaffen, auf eine längere Geschichte.

Psychophysisches zwischen den Stühlen: Disziplinäre Vorgeschichten

Das Projekt der psychosomatischen Medizin hat keinen singulären Ursprung. Es ging aus einer spezifischen Wissenschaftskultur hervor, die sich während der langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert insbesondere im deutschsprachigen Raum entwickelte. Hier entstand eine Vielzahl neuer Disziplinen, Forschungsfelder und Methoden und mit diesen zugleich ein Grenzgängertum, das die gerade erst verfestigten Trennlinien immer wieder überschritt und in Frage stellte. Schulmedizin und »alternative« Gesundheitskonzepte konkurrierten nicht nur, sondern es gab auch unterschiedlichste Versuche einer Synthese. Die selbstbewusst auftretende »naturwissenschaftliche« Medizin musste sich einer breit gefächerten, scharfen Kritik stellen, die durchaus auch aus den eigenen Reihen kam. Karrieren verliefen zum Teil zwischen akademischem und außerakademischem Bereich und hoben auch lebenspragmatisch allzu scharfe Grenzziehungen auf.

Es ist daher kein leichtes Unterfangen, die verzweigte Herkunft der Psychosomatik aufzudecken. An diesem Punkt verbinden sich zahlreiche Fäden, deren Verlauf sich in jeweils anderen hochkomplexen Geschichten zurückverfolgen ließe. Dazu gehören die disziplinären Entwicklungen von Physiologie und Innerer Medizin 25ebenso wie von Neurologie, Psychiatrie und Psychologie. Psychosomatik entstand durch Anleihen bei den theoretischen Rahmungen, konkreten Fragen und praktischen Methoden dieser Disziplinen: Modelle der biologischen Regulation, der Bioenergetik und des industriellen Arbeitskörpers, Krankheitskonzepte wie Neurose und Neurasthenie sowie schließlich Behandlungsmethoden wie die Hypnose und die Psychoanalyse.

Wenn sich in diesen Vorgeschichten der Psychosomatik überhaupt ein übergreifendes Motiv ausmachen lässt, ist dies die funktionell-dynamische Auffassung von Lebensprozessen. Anders als die Suche nach dem anatomisch lokalisierbaren Sitz von Krankheiten richtete die Frage nach der (krankhaft gestörten) Funktion das Augenmerk auf das Zusammenspiel der Lebenstätigkeiten im Körper und damit auf die Fähigkeit des Gesamtorganismus, sich unter wechselnden inneren und äußeren Bedingungen aufrechtzuerhalten. Die Prozesshaftigkeit des Lebendigen wurde daher wesentlich mit der Vorstellung verknüpft, dass es sich um eine zielgerichtete und sinnhafte Tätigkeit der materiellen Strukturen lebendiger Organismen handelte[2] und nicht um ein zweckfreies physikalisches oder chemisches Geschehen.

Eingebettet war der Aufstieg der funktionellen Betrachtungsweise in eine anhaltende Diskussion um den »psychophysischen Parallelismus«. Dies war ein frühneuzeitliches philosophisches Konzept, das im 19. Jahrhundert empirisch zu erforschen begonnen wurde. Während zuvor materieller Körper und immaterielle Seele als unverbunden galten, stellte sich nun die Frage, ob es zwischen beiden kausale Zusammenhänge gebe, ob Körperliches und Seelisches dabei zwei Aspekte desselben Geschehens darstellten oder eigengesetzliche Sphären seien, die zwar in Wechselwirkung miteinander treten konnten, jedoch mit unterschiedlichen Mitteln erforscht werden müssten.[3]

Seit den 1840er Jahren dominierte die Physiologie als kommende Leitdisziplin der Lebenswissenschaften die Diskussion. Sie wollte Lebensprozesse nicht mehr einer romantischen »Lebenskraft« zuschreiben, sondern sie in ihre beobachtbaren chemischen und physikalischen Basisprozesse zerlegen. Die Physiologen machten sich daran, Körperfunktionen wie Blutkreislauf, Atmung und Mus26kelkontraktionen mit eigens entwickelten Apparaturen im Zeitverlauf grafisch sichtbar zu machen.[4]

Die Physiologie griff auch auf die Reflexlehre zurück, die lebendige Systeme als Konstellationen von Erregungszuständen verstand und annahm, dass eine durch Reiz erzeugte sensorische Erregung durch Umleitung über das Rückenmark in eine motorische Reaktion mündete. Die Reflexlehre ging davon aus, dass sich auch »höhere« mentale Lebensfunktionen, insbesondere willentlich beeinflusste Handlungen, Sprache und kognitive Leistungen, grundsätzlich als Reiz-Reaktions-Ketten verstehen ließen. Daher waren psychologische Fragen Bestandteil der Experimentalphysiologie. Gustav Theodor Fechner nannte seine experimentelle Psycho- oder Neurophysiologie »Psychophysik« und postulierte damit, dass messbare physikalische Reize und körperliche Erregungen zu psychischem Erleben führten. Nur im ersten Teil der Reaktionskette handle es sich um eine materielle Kausalbeziehung, während der Übergang von energetischer Erregung in psychische Empfindungen mit den Mitteln der seinerzeitigen Wissenschaft vorerst nur theoretisch als »funktionelle« Beziehung, als »simultane Abhängigkeit zwischen zwei Momenten oder Seiten eines einheitlichen Vorgangs«, beschrieben werden könne.[5] Während Fechner also darauf insistierte, dass körperliche Prozesse und die geistig-subjektive Innensicht als gleichberechtigte Seiten der psychophysischen Medaille zu verstehen seien, setzte sich im Anschluss an ihn eine physiologische Deutung durch, die Mentales in direkter Abhängigkeit von körperlichen Reizgrößen auf messbare Formeln bringen wollte.

Jedoch ließ sich »das Kausalitätsproblem am Übergang zwischen Psyche und Physis«[6] so kaum befriedigend lösen. 1872 erklärte Emil Du Bois-Reymond, einer der prominentesten Vertreter der Experimentalphysiologie, das Verhältnis von Materie und Bewusstsein zu einer der unüberschreitbaren »Grenzen des Naturerkennens«. Damit löste er den so genannten Ignorabimus-Streit aus, der darum kreiste, welche seinerzeit noch rätselhaften Lebensphänomene überhaupt wissenschaftlich erforscht und aufgeklärt werden könnten.[7]

27Einige Disziplinen wandten sich nun dezidiert der Erforschung des Seelischen zu und lösten sich aus ihrer engen Beziehung zu Physiologie und Philosophie. Um 1880, angeführt von Wilhelm Wundt, etablierte sich so die Psychologie als eigenständiges, experimentell-naturwissenschaftliches Fach.[8] Gleichwohl gab es auch später wichtige Brückenschläge von der Physiologie zur Psychologie, etwa in der Folge von Iwan Petrowitsch Pawlows Arbeit zum konditionierten Reflex. Hier erschien körperliches Verhalten – und also auch pathologisches Fehlverhalten – als plastisch und »erlernbar«, was ein Umlernen durch Manipulation der Reflexe als therapeutische Option empfahl (→ Dietfried Müller-Hegemann).

Einen anderen Weg nahm die Psychiatrie, die sich bemühte, ihre Vergangenheit als Anstaltsmedizin und »Irrenverwahrung« hinter sich zu lassen und zu einer vollgültigen akademischen Disziplin zu werden. Zu jener Zeit hieß das, psychische Erkrankungen als wissenschaftlich beschreibbare Körper-, genauer: Gehirnkrankheiten zu verstehen.[9] Es gelang den Psychiatern zwar, ihre Zuständigkeit über die schweren Geisteskrankheiten hinaus auf Schwellenphänomene wie »Psychopathie«, also Persönlichkeitsabnormitäten, oder Hysterien und → Neurosen auszudehnen. Da sie in der Regel aber keine psychodynamische Erklärung verfolgten, interessierten sich die meisten Anstaltsdirektoren und Klinikchefs – von namhaften Ausnahmen abgesehen – allerdings kaum für psychotherapeutische Verfahren, weder bei leichteren Störungen noch bei schweren Erkrankungen.

Aus bundesrepublikanischer Perspektive sprach der Psychosomatiker Adolf-Ernst Meyer daher später von einem »Sonderweg« der deutschen Psychosomatik, die sich – anders als in den USA – bis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht in enger Verbindung mit der Universitäts- und Krankenhauspsychiatrie, sondern geradezu im Antagonismus zu ihr entwickelt habe.[10] Zwar gab es Bestrebungen, die Psychiatrie unter dem gemeinsamen Label »Nervenheilkunde« eng mit der Neurologie zu verbinden, die sich ihrerseits in diesem Zeitraum aus der Inneren Medizin heraus zur selbständigen Disziplin entwickelte. Dennoch blieb eine wichtige Differenz zwischen 28Psychiatern und Nervenärzten bestehen, da man unter Letzteren niedergelassene Ärzte mit eher psychotherapeutischer Ausrichtung verstand, die den Leiden des modernen Lebens mit innovativen Behandlungstechniken zu begegnen suchten.

Konzepte von Leben und Krankheit um die lange Jahrhundertwende

Zu einem zentralen psychophysischen Krankheitsbild, das sich Anfang der 1880er Jahre rasch im deutschsprachigen Raum verbreitete, wurde die »Neurasthenie«. Das Konzept der Neurasthenie griff zeitgenössische Erfahrungen und Imaginationen der urbanen Elektrifizierung auf und diente zugleich der Selbstbeschreibung als »nervöses Zeitalter«:[11] Die moderne Lebenswelt wirke pathogen, denn sie konfrontiere den Menschen mit erbarmungsloser Konkurrenz in Berufswelt und Wirtschaft, »Überbürdung« in Schule und Studium, allgemeiner Beschleunigung und sensorischer Überreizung, die Zuflucht bei Genussgiften und »Zerstreuungen« suchen ließen. Angesichts begrenzter Energiereserven verursache die Verausgabung in einem Teil des Organismus Störungen in anderen. Als genuin psychophysisches Problem erschien sie, weil angenommen wurde, dass ein Übermaß an geistiger Anspannung zu allgemeiner Erschöpfung und körperlichen Symptomen wie etwa Potenzschwäche bei gleichzeitiger Übererregung führe. Untergründig bahnte sich hier bereits die Suche nach einem empfindlich-labilen Typus, nach Menschen mit ererbter konstitutioneller »Nervenschwäche« oder einer »neuropathischen Disposition« an, die den modernen Herausforderungen qua Biologie nicht gewachsen seien.

Doch gehört nicht nur die experimentelle Nervenphysiologie mit den von ihr benutzten technischen Apparaten und Metaphern der Kommunikation und Kontrolle[12] zu den Vorläufern der Psychosomatik. Auch die Physiologie der industrialisierten Arbeitswelt, die den Menschen als Energie verbrauchende Kraftmaschine verstand, gab Impulse. Das Ziel dieser Art von Physiologie war es, die charakteristischen Ermüdungskurven von Arbeitskörpern zu 29erforschen, um eine auf Dauer optimale Produktivität zu erzielen.[13] Hintergrund war die Einführung der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherung im Deutschen Kaiserreich, womit die ersten Weichen dafür gestellt wurden, staatsbürgerliche Partizipation an die Arbeitsfähigkeit zu knüpfen. Obwohl die Psychosomatik sich später von der Metaphorik des menschlichen Motors scharf abgrenzte, eignete sie sich durchaus die Aufgabe an, leistungsfähige Arbeitskörper herzustellen, nun allerdings mit dem Umweg über das Seelische. »Funktionen« wurden in diesem Zusammenhang zu »Leistungen« umgedeutet. Hier zeigt sich, dass die Psychosomatik weitaus stärker mit der Geschichte des Wohlfahrtsstaats und seinen Anforderungen an den »Gesundheitswillen« der Einzelnen verwoben ist, als es ihre Selbsterzählungen widerspiegeln.

Konzeptuell spielten in der Psychosomatik systemische Modelle der Körperregulation eine weitaus größere Rolle – Modelle, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts boomten und in der Wissenschaftsgeschichte häufig als Widerpart zur Lehre des menschlichen Motors gelten. Bereits seit dem 17. Jahrhundert hatte die Deutung der körpereigenen Regulationstätigkeiten im Spannungsfeld von mechanistischen und vitalistischen Lehren gestanden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der französische Physiologe Claude Bernard Versuche an lebenden Tieren unternommen, um die Zuckerproduktion der Leber und damit die Fähigkeit des tierisch-menschlichen Organismus zu ergründen, durch permanentes Ausgleichen wechselnder Bedingungen ein labiles Gleichgewicht beizubehalten, das er »inneres Milieu« (milieu intérieur) nannte.[14] Diese Herangehensweise wurde um 1900 aufgegriffen, als immer mehr Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen forderten, das lebendige »Ganze« müsse wieder zum Gegenstand von Forschung und Theoriebildung werden.[15] So stellte der Biologe Jakob von Uexküll, Vater des Psychosomatikers → Thure von Uexküll, unter dem Begriff »Funktionskreis« das Konzept einer Umwelt vor, die durch die Wahrnehmung und die Aktionen der in ihr lebenden Menschen und Tiere jeweils spezifisch gestaltet werde. Zwar gab es in diesem Kontext auch neovitalistische Ansätze, die von einer nicht 30beobachtbaren Lebensenergie ausgingen, doch beschritt die Suche nach dem lebendigen »Ganzen« vielfach den Weg des »Systems« beziehungsweise der systemischen Selbstorganisation, der sich als zukunftsweisende Alternative zur grundsätzlichen Opposition von basalen Naturgesetzen einerseits und Holismus andererseits verstand (→ Kybernetik).[16] »Ganzheit« figurierte so nicht als erklärende Eigenschaft des Lebendigen, sondern als eine erforschbare Leistung oder Funktion von Systemen.

Experimentell und klinisch einflussreich wurde um 1900 die Lehre von der inneren Sekretion, die mit der kommunikativen Metapher der »Botenstoffe« den Körper als ein informationsverarbeitendes System umriss (→ Endokrine Psychosomatik). Man staunte über die »Weisheit des Körpers«, jedoch nicht im heutzutage eingebürgerten Sinne, dass der Körper unerledigte emotionale Konflikte zum Ausdruck bringe. Vielmehr feierten Stoffwechselphysiologen die Fähigkeit lebendiger Einheiten, in hochkomplexen Operationen ihr labiles dynamisches Gleichgewicht selbsttätig aufrechtzuerhalten. Der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon prägte für dieses Phänomen den Begriff »Homöostase« (Gleichstand).[17] Gleichwohl riss die Verbindung zum Leib-Seele-Problem keineswegs ab. Denn die Experimentalsysteme nutzten Versuchstiere, denen eine Psyche und ein Stoffwechsel der Gefühle zugestanden wurde (→ Emotionen und der physiologische Körper). Zudem sollte in der Nachkriegszeit die seit den 1930er Jahren aufstrebende physiologische Stress-Forschung zu einer maßgeblichen Referenz der Psychosomatik werden.

In der klinischen Medizin um 1900 wurde die mechanistische Energetik des Körpermotors nicht selten mit der systemischen Selbsterhaltung zusammengedacht. Aus dieser Synthese entwickelten sich einige der »modernen« psychosomatischen Fragestellungen. Ein Pionier dieser Richtung war Ottomar Rosenbach, der als Privatgelehrter und Arzt keine klinische Schule begründete, jedoch maßgeblich ein funktionelles Krankheitsverständnis formulierte, das experimentalphysiologische Praktiken und klinische Medizin miteinander fusionierte.[18] Rosenbach brachte seit 1878 das Konzept der Organinsuffizienz in Umlauf, das ganz auf das muskuläre oder 31anderweitige Leistungsvermögen eines Organs fokussierte, statt anatomischen Veränderungen auf den Grund zu gehen.[19] Dadurch wollte er Erkrankungen schon im Entstehungsstadium erkennen und behandeln. Notwendig war eine exakte Funktionsprüfung, um die Insuffizienz, also die Kluft zwischen Aufgabe und Leistungsvermögen eines Organs, quantifizieren zu können.

Theoretisch gründete Rosenbach seine Medizin auf ein Modell der Bioenergetik, das die im und auf den Körper wirkenden Energieströme sowie deren spezifische Umwandlungsformen in den Blick nahm. Im Sinne einer dynamischen Ökonomie hoffte er, durch Funktionsprüfungen »die Größe der noch vorhandenen, zum temporären Ausgleich heranzuziehenden, Vorräthe von Energie« feststellen zu können.[20] Dieser Ausgleich konnte nach seiner Überzeugung nur durch eine Synergieleistung zustande kommen, die er sich beim Menschen analog zur industriellen Produktion vorstellte: Während dort der »Betriebsleiter« die einzelnen »Maschinen« planmäßig aufeinander abstimme, leiste dies »im psychosomatischen Betriebe die Psyche«,[21] die Rosenbach als etwas vom Körper und seinen energetischen Prozessen Verschiedenes auffasste.

In eine ähnliche Richtung gingen die Überlegungen des österreichischen Internisten Friedrich Kraus. Seine 1897 veröffentlichte experimentalphysiologische Studie zur Ermüdung als ein Maass der Konstitution war einer betrieblich-energetischen Begrifflichkeit verpflichtet. Er betonte die praktische Notwendigkeit, »das Ganze, das geschlossen und untrennbar zusammenhängende Thätigkeitssystem des Organismus ins Auge [zu] fassen«. Es sei eine wiederkehrende klinische Erfahrung, dass die Funktionsausfälle eines Organs »mehr oder weniger den gesammten vitalen Process in abweichende Bahnen« führe, was eine Reihe von »Selbstregulirungen behufs Erhaltung und Anpassung des Organismus an das störende Agens« in Gang setze.[22]

Kraus sprach an dieser Stelle auch bereits von der »Person«, in deren Gestalt der sich selbst regulierende Energiehaushalt dem Arzt gegenübertrete. Als Chef der II. Medizinischen Klinik der Charité (1902-1927) baute er diese Einsicht in seiner Allgemeinen und spezi32ellen Pathologie der Person aus und wurde damit zur Gründerfigur einer Inneren Medizin, die über die Biochemie von kortikalem Ich und unbewusster »Tiefenperson« psychophysisches Zusammenhangswissen in der Klinik stiftete.[23] Diesen Ansatz verfolgten seine Mitarbeiter Theodor Brugsch und Friedrich Heinrich Lewy weiter, die das einflussreiche vierbändige Handbuch Die Biologie der Person (1926-1931) herausgaben. Gustav von Bergmann, ein weiterer Kraus-Schüler, entwickelte diesen Ansatz in seiner 1932 zusammengefassten Funktionellen Pathologie weiter, in der er anatomische Veränderungen etwa des Verdauungstrakts als Folge pathologischer Funktionsstörungen beschrieb, die er wiederum psychisch beeinflusst fand (→ Gerhardt Katsch). Diese stark differentialdiagnostisch ausgerichtete Medizin blieb bei allem Bekenntnis zur Ganzheit des kranken Menschen weiterhin dem Tierexperiment und den apparativen Technologien verpflichtet, etwa mit der Einführung des Elektrokardiogramms in die klinische Funktionsprüfung. Ähnliches gilt für die Heidelberger Schule der internistischen Psychosomatik, die in der erstmals 1893 vorgestellten Pathologischen Physiologie Ludolf Krehls wurzelte (→ Viktor von Weizsäcker).

Ins Blickfeld funktioneller Deutungen gerieten Allgemeinerkrankungen oder jene Störungen einzelner Organfunktionen, bei denen bis dato vergeblich somatische Ursachenforschung betrieben worden war: Epilepsie und Neurosen, Asthma bronchiale, Adipositas und Magersucht, entzündliche Darmerkrankungen oder essentielle Hypertonie. Sie luden dazu ein, psychodynamisches Geschehen in die Vorstellung eines sinnvollen Funktionierens einzubeziehen und nach seelischen Ursachen somatischer Erkrankungen zu suchen. Dieser Kunstgriff zeigte angesichts spärlicher somatisch-pharmakologischer Behandlungsmöglichkeiten neue Möglichkeiten auf, dem ärztlichen Therapieauftrag nachzukommen.

Ein weites Feld: Therapien im Bewussten und Un(ter)bewussten

Um 1880 verhalf die Hypnose ersten psychologischen Therapien zum Durchbruch. Sie war zuvor als physikalische, auf magne33tischen Kräften basierende Praxis außerhalb der akademischen Wissenschaften angesiedelt gewesen. Nun aber transformierten französische Internisten und Neurologen das außerakademische Psychowissen in eine klinische Heilmethode auf Grundlage der Fremdsuggestion, die als genuin psychisch verstandene Dynamiken nutzte. Im Umfeld von Jean-Marie Charcot an der Pariser Salpêtrière wurde Hypnose als ein Zustand gestörter Nerventätigkeit betrachtet und ausschließlich zur experimentellen Erforschung der Hysterie eingesetzt.[24] Hippolyte Bernheim, Professor für Innere Medizin in Nancy, etablierte dagegen die hypnotische Suggestion als therapeutische Technik, um ganz unterschiedliche Beschwerden zu behandeln. Anders als Charcot nahm er an, dass die hypnotische Suggestion nicht-pathologische mentale Mechanismen nutze. Um 1890 verbreiteten international vernetzte Ärzte wie der Zürcher Psychiater August Forel und der Berliner Nervenarzt Albert Moll die nach wie vor durchaus kontrovers diskutierte Hypnose im deutschsprachigen Raum.[25]

Die Hochzeit der Hypnosemedizin währte nicht lange. Dennoch erwies sie sich als Schrittmacherin für die konzeptionelle Erschließung des »Un-« beziehungsweise »Unterbewussten«, das für die ätiologische Deutung psychosomatischer Erkrankungen eine herausragende Bedeutung erhalten sollte. Daneben regte sie die Entwicklung neuer psychotherapeutischer Ansätze an, selbst wenn diese sich von der Fremdbestimmung der Hypnose und ihrer rein symptomatischen Ausrichtung abgrenzten. In der Folgezeit wurden die unterschiedlichen Therapien häufig in verschiedenen Stadien einer Behandlung oder auch kombiniert angewendet. Dazu zählten Autosuggestion, Persuasion, Psychagogik, Hypnokatharsis und nicht zuletzt tiefenpsychologische Verfahren, die beanspruchten, an die psychodynamischen Ursachen von körperlichen Beschwerden und Verhaltensstörungen heranzugehen, folglich also Heilung durch persönliche Veränderung der Patienten herbeizuführen.

Wohl keine der neuen therapeutischen Techniken entwickelte eine solche Sprengkraft wie die → Psychoanalyse, die zugleich Theorie seelischer Dynamiken, medizinische Behandlungsmethode sowie Kultur- und Gesellschaftsbeobachtung war. Die Psychoanalyse beruhte unter anderem auf einer physikalischen Energetik, 34die insbesondere Sigmund Freuds Konversionstheorie prägte: Ein durch ungelöste Konflikte erzeugter energetischer Überschuss vollziehe einen – später als »rätselhaft« qualifizierten – »Sprung aus dem Seelischen in die somatische Innervation«.[26] Damit etablierte Freud eine hermeneutische Lesart seelischer Erkrankungen, die einer thermo- und hydrodynamischen Metaphorik verpflichtet blieb und so noch einmal prägnant zeigt, wie stark die neue psychologische Medizin in den Naturwissenschaften verwurzelt war.[27] Auch Freuds zentrales, besonders umstrittenes Argument, mit der Analyse den rationalen Kern der vermeintlich unsinnigen Umwege des Unbewussten freizulegen,[28] fügte sich in die Grundidee der Medizin des 19. Jahrhunderts ein, nach sinnvollen Funktionen im Lebendigen zu suchen.

Aus der rückblickenden Zusammenschau wird deutlich, dass sich die psychosomatische Medizin nicht aus einer klar umrissenen Abfolge einander ablösender Körper-, Lebens- und Menschenkonzepte entwickelte. Vielmehr verweist ihre Vorgeschichte auf ein komplexes Neben- und Ineinander unterschiedlicher wissenschaftlicher Konzepte und Problemlagen. Zu ihren Wurzeln gehörten sowohl der mechanisch-thermodynamische »Motor« als auch das sich selbst regulierende System und die psychisch-kognitiven »Ressourcen« des Menschen ebenso wie nervöses Reflexgeschehen oder endokrine Prozesse. Diese Konzepte waren zudem sehr unterschiedlich ausdeutbar. Die Hormonlehre beispielweise ließ sich als umfassende Humoralpathologie ebenso wie als reduzierender »Chemismus« in Stellung bringen. Die biomedizinischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, ob Reflexe, Zellularpathologie, innere Sekretion oder Mikroorganismen, erklärten jeweils bestimmte pathologische Phänomene, aber keines dieser Modelle erwies sich als hinreichend in einem allgemeinen klinischen Sinne. Es blieb ein großer »Rest« von Allgemeinerkrankungen, diffusen chronischen Beschwerden und funktionellen Störungen, die nicht befriedigend zu erklären, geschweige denn zu behandeln waren. Vor diesem Hintergrund verwies die nie abgerissene Debatte um psychophysische Zusammenhänge die klinische Medizin auf die Eigendynamik mentaler Prozesse innerhalb eines unteilbaren 35Lebens- und Krankheitsgeschehens, auch wenn dieses theoretisch nicht überzeugend zu fassen war.

Anerkennung in der »Krise«? Psychosomatik zwischen 1914 und 1945

Der Erste Weltkrieg gab schließlich einen entscheidenden Anstoß, um die Suche nach seelischen Behandlungsformen organischer Beschwerden und Krankheiten zu intensivieren. Denn Soldaten litten nicht nur an zerschossenen Gliedmaßen, Infektionskrankheiten oder verätzten Lungen, sondern auch an »Neurosen« – heute würde man sagen: psychischen Traumata – und Hirnverletzungen. In den Kriegslazaretten sammelte eine zwischen 1880 und 1890 geborene Generation von Neurologen und Psychiatern, zu der der eingangs erwähnte Wladimir Eliasberg ebenso gehörte wie → Ernst Simmel, Arthur Kronfeld, → Johannes Heinrich Schultz oder → Kurt Goldstein, wegweisende therapeutische Erfahrungen. In einem auf Befehl und Gehorsam angelegten Umfeld erfuhr vor allem die hypnotische Fremdsuggestion einen erneuten Aufschwung. Bis dato als unheilbar geltende Störungsbilder erwiesen sich nun als therapeutisch beeinflussbar, wenngleich es in diesem Kontext einen fließenden Übergang von der Suggestion zu brutalen Zwangsmethoden gab. Den Ärzten eröffneten sich hier neue Handlungsfelder, die den Weg zu einer undogmatischen, nicht auf eine bestimmte Schule fixierten Psychotherapie wiesen.[29] Allerdings gelang es nicht wie erhofft, die therapeutischen Institutionen des Krieges in Friedenszeiten hinüberzuretten und für die ganze Bevölkerung zu öffnen.

Für diese Ärzte lautete daher die Frage, auf welche Versorgungsstrukturen ihre medizinische Praxis nach dem Krieg zurückgreifen konnte. Aus dem Zeitalter der Nervosität existierte bereits eine Vielzahl privater Kurhäuser, Sanatorien und Heilanstalten außerhalb der großen Städte. Diese Häuser hatten in der Tradition der Bäderkultur psychologische Behandlung für eine wohlhabende, staatsdienende und kulturschaffende Klientel angeboten. Therapie und gehobene Hotellerie gingen hier fließend ineinander über.[30] Für die Vorgeschichte der Psychosomatik ist dies insofern inter36essant, als die in Privatkliniken beschäftigten Ärzte über größere Freiräume verfügten, um gleichsam undiszipliniert neue psychologische Verfahren anzuwenden und therapeutische Erfahrungen zu sammeln – sofern die Kundschaft dies goutierte. So war es wohl kein Zufall, dass → Georg Groddeck die »wilde Analyse« in seinem Baden-Badener Sanatorium Marienhöhe entwickelte. Auch das autogene Training, eine der im 20. Jahrhundert verbreitetsten psychophysischen Behandlungstechniken, nahm seinen Anfang in einem Privatsanatorium, dem damals größten in Deutschland. In Dresden Weißer Hirsch konnte der Chefarzt J. H. Schultz Anfang der 1920er Jahre sein Konzept der »seelischen Krankenbehandlung« in größerem Umfang stationär umsetzen, unter anderem gemeinsam mit seiner dortigen Assistentin, der hernach einflussreichen Psychoanalytikerin Frieda (Fromm-)Reichmann.

In den Städten wurden die Polikliniken zu ersten Erprobungsorten psychosomatischer Medizin. Sie, die das Krankenhaus zur urbanen Umwelt hin öffneten, wandten sich seit den 1870er Jahren gezielt an Patienten mit schwächeren beziehungsweise chronischen Beschwerden.[31] Beachtung fand die 1920 eröffnete Poliklinik des Berliner Psychoanalytischen Instituts, die kostenlos ambulante Behandlungen anbot. 1936 übernahm das so genannte Göring-Institut die Poliklinik,[32] an das nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum das Zentralinstitut für psychogene Störungen anknüpfte. Daneben wurden in den 1920er Jahren erste Initiativen vorangetrieben, um eine psychosomatische Behandlung im stationären Rahmen zu ermöglichen. Ein solches Angebot schuf etwa Ernst Simmel mit dem psychoanalytischen Sanatorium Schloss Tegel am Rand von Berlin. Ansonsten lag die Initiative aber vor allem bei niedergelassenen Fachärzten, darunter auch Dermatologen und Gynäkologen, da sowohl bei Hautkrankheiten als auch bei Störungen von Zyklus und Fruchtbarkeit teilweise ein psychogener Ursprung vermutet wurde.[33]

Universitätskliniken und große städtische Krankenhäuser wurden durch entsprechende Initiativen einzelner Ärzte ebenfalls hie und da zum Ort psychosomatischer Intervention, so etwa auf der 37Herzstation des Allgemeinen Krankenhauses in Wien, der Wirkungsstätte von → Felix Deutsch. Auch anderswo versuchten Einzelne jene Fragen ins Klinische zu übertragen, die die physiologische Forschung um 1900 abgesteckt hatte. So verband beispielweise Karl Hansen, Oberarzt an Ludolf Krehls Medizinischer Klinik in Heidelberg, Pawlows Lehre der bedingten Reflexe mit der Hypnosetechnik, um »psychosomatische« Funktionszusammenhänge bei Asthma aufzuspüren.[34]

Im akademischen Lehrangebot fehlte die Psychosomatik dagegen fast gänzlich. Eine der wenigen Veranstaltungen zum Thema bot der Privatdozent Erich Wittkower seit dem Wintersemester 1931/32 an der I. Medizinischen Klinik der Berliner Charité an. Er wollte seinen Studierenden die »Bedeutung psychosomatischer (später: seelisch-körperlicher) Zusammenhänge für die innere Medizin, Diagnostik und Therapie der Organneurosen« vermitteln und bot dazu begleitend »hypnotische Experimente und Krankendemonstrationen« an.[35] Wittkowers Wirken zeigt geradezu exemplarisch die Spielarten psychophysischer Medizin in der Zwischenkriegszeit. Er, der in der Emigration zu einem Begründer der transkulturellen Psychiatrie werden sollte, beschäftigte sich seit Mitte der 1920er Jahre vor allem mit der Psychogenese des Asthma bronchiale und warb für eine integrierte internistische Psychotherapie bei leichteren Organneurosen, die nicht an Fachpsychotherapeuten überwiesen werden sollten.[36] Unter anderem erprobte er in diesem Zusammenhang die therapeutische Wirkung modifizierter Yoga-Übungen.[37] Anfang der 1930er Jahre wechselte er an die Berliner Psychiatrische und Nervenklinik und wurde mit einer experimentalphysiologischen Arbeit habilitiert, die den psychogalvanischen Reflex, also die Variabilität des elektrischen Hautwiderstands bei seelischer Erregung, zu einem Instrument der Persönlichkeitsdiagnostik entwickeln wollte.[38]

Erfolglos verlief dagegen noch wenige Jahre zuvor die akademische Laufbahn von Gustav Richard Heyer, der als Assistent an der II. Medizinischen Klinik in München Hypnoseexperimente durch38führte, um die psychische Beeinflussbarkeit der Organfunktionen nachzuweisen, und Hypnose in diesem Zusammenhang auch als therapeutisches Instrument einsetzte. Trotz origineller Leistungen wurde er mit dieser Arbeit nicht zur Habilitation zugelassen.[39] Daraufhin eröffnete er eine Praxis und etablierte sich als Autor über Methoden der Seelenheilkunde und der »Seelenführung«, wobei er sich stark an der Psychoanalyse nach C. G. Jung orientierte. Gemeinsam mit seiner Frau Lucy Heyer-Grote entwickelte er zudem eine Atemtherapie, die »Funktionserziehung« für den »ganzen psycho-physischen Menschen« und damit eine umfassende → Körpertherapie bieten sollte.[40]

Die Karrieren von Wittkower und Heyer zeigen zweierlei: Einerseits bot die Idee einer psychosomatischen Medizin in dieser Zeit große Spielräume. Therapeutisch und wissenschaftlich konnte man sich auf Anregungen aus unterschiedlichen Bereichen und Traditionen beziehen. Andererseits bedeutete diese Offenheit für die Protagonisten auch ein berufliches Risiko. Zudem gab es keine anerkannte formelle Ausbildung, eine Lehranalyse war kostspielig und bei vielen Klinikchefs verpönt. Seit den 1920er Jahren kamen zwar einige Lehrbücher und Einführungen in die gängigen psychotherapeutischen Methoden auf den Markt, die interessierten Studierenden und Ärzten einen ersten Zugang boten. Regelmäßige Fortbildungskurse, wie sie sich seit den 1950er Jahren mit den Lindauer Therapiewochen etablieren sollten, fehlten dagegen fast völlig.

Die psychotherapeutische Ausbildung zählte deshalb zu den zentralen Anliegen des eingangs erwähnten Kongresses von 1926. Zwei Referate von J. H. Schultz und Arthur Kronfeld widmeten sich ausdrücklich diesem Thema. Kronfeld, der regelmäßig Ärztekurse in Psychotherapie angeboten und daraus 1924 ein entsprechendes Lehrbuch gemacht hatte,[41] wirkte seit 1931 als außerordentlicher Professor für Psychotherapie an der Charité – dies war jedoch nur ein erster kleiner Schritt in Richtung eines regelrechten Ausbildungsangebots. Ein weiteres Hauptziel der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie war es, die von vielen Nervenärzten nach je eigenen Methoden praktizierte »kleine Psy39chotherapie« zu standardisierten kompakten Therapieformaten (»Kurztherapie«) auszubauen, um der langwierigen und daher kostspieligen tiefenpsychologischen Analyse eine praktikable Alternative an die Seite zu stellen. Als Kassenleistung wurde die Psychotherapie jedoch noch nicht anerkannt.[42] 1930 empfahl der Berichterstatter für Abrechnungsangelegenheiten daher, dass Ortsgruppen und Ärzte Einzelabsprachen mit lokalen Trägern treffen sollten, da eine Einigung mit übergeordneten Stellen nicht in Aussicht stehe.[43] Bei dieser Praxis sollte es auch in der Bundesrepublik bis 1967 bleiben (→ Annemarie Dührssen).