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Scott Weidensaul

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Beschreibung

Scott Weidensaul erhebt mit schnörkelloser Eloquenz die Ökologie auf das Level der Philosophie.“ Los Angeles Times

Milliarden Vögel umrunden jedes Jahr die Erdkugel. Der spatzgroße Strandläufer fliegt ohne Halt von Kanada nach Venezuela – das entspricht 126 aufeinanderfolgenden Marathons ohne Nahrung, Wasser oder Schlaf. Dabei ziehen er Feuchtigkeit aus seinen Muskeln und Organen und nutzt das Magnetfeld der Erde mittels einer Form von Quantenverschränkung, die Einstein nervös gemacht hätte.
In den letzten zwanzig Jahren ist unser Wissen über Zugvögel sprunghaft gewachsen. In seinem elegant erzählten Meisterwerk zeigt der preisgekrönte Autor und Ornithologe Scott Weidensaul, dass wir mehr über die Lebewesen auf Erden verstehen, wenn wir uns mit dem Naturwunder über unseren Köpfen beschäftigen. Und wie wir trotz Klimawandel unsere fragilen Ökosysteme schützen können.

„Der preisgekrönte Autor sprüht vor Freude und Begeisterung, ein meisterhafter Erzähler.“ The Guardian

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Über das Buch

»Scott Weidensaul erhebt mit schnörkelloser Eloquenz die Ökologie auf das Level der Philosophie.« Los Angeles TimesMilliarden Vögel umrunden jedes Jahr die Erdkugel. Der spatzgroße Strandläufer fliegt ohne Halt von Kanada nach Venezuela — das entspricht 126 aufeinanderfolgenden Marathons ohne Nahrung, Wasser oder Schlaf. Dabei ziehen er Feuchtigkeit aus seinen Muskeln und Organen und nutzt das Magnetfeld der Erde mittels einer Form von Quantenverschränkung, die Einstein nervös gemacht hätte.In den letzten zwanzig Jahren ist unser Wissen über Zugvögel sprunghaft gewachsen. In seinem elegant erzählten Meisterwerk zeigt der preisgekrönte Autor und Ornithologe Scott Weidensaul, dass wir mehr über die Lebewesen auf Erden verstehen, wenn wir uns mit dem Naturwunder über unseren Köpfen beschäftigen. Und wie wir trotz Klimawandel unsere fragilen Ökosysteme schützen können.»Der preisgekrönte Autor sprüht vor Freude und Begeisterung, ein meisterhafter Erzähler.« The Guardian

Scott Weidensaul

Auf Schwingen um die Welt

Die globale Odyssee der Zugvögel

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

hanserblau

Für Amy, wie immer (aber vielleicht mehr als sonst)

Prolog

Die Tundra ist vielleicht die prachtvollste, bequemste Matratze der Welt.

Ein wenig feucht ist es schon. Deshalb sollte man Regenhosen und eine Regenjacke tragen, selbst an einem so klaren, kalten Morgen — die Sonne berührt gerade mit ihrem rosa-orangefarbenen Licht die Gipfel der Alaskakette und den in Gletscher gehüllten, massigen Denali (auch Mount McKinley genannt), einen rund 110 Kilometer weiter westlich gelegenen, gewaltigen rosafarbenen Monolithen, der untypischerweise frei von Wolken ist.

Meine drei Begleiter und ich ließen uns mit einem glücklichen Seufzen, die Beine ausgestreckt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf das weiche, schwammige Kissen aus Torfmoos, Cranberry-Zwergsträuchern, Rentierflechte und anderen kleinwüchsigen Tundrapflanzen fallen. Die Pause tat uns gut. Wir waren um zwei Uhr morgens in dem hellen Zwielicht aufgestanden, das im Inneren Alaskas als subarktische Mitternacht durchgeht. Um drei Uhr hatten wir uns mit einem wachsamen Auge auf Elche oder Grizzlybären auf die 150 Kilometer lange Schotterstraße begeben, die quer durch die 19.000 Quadratkilometer große Wildnis des Denali-Nationalparks führt. Wir wussten nie, was uns begegnen würde. Am Tag zuvor war ein großes Wolfsmännchen misstrauisch um unseren Lastwagen der Nationalparkbehörde gestrichen, bevor es, nur einen knappen Meter von meinem offenen Fenster entfernt, nervös am hinteren Kotflügel geschnuppert hatte.

Heute hatte es keine solchen Unterbrechungen gegeben. Um vier Uhr, rund 50 Kilometer innerhalb des Parks, nahmen wir unser Gepäck und Bündel von Aluminium-Netzpfosten auf die Schultern und trotteten einen langen Abhang hinunter zu einem Weidendickicht, das sich durch eine eineinhalb Kilometer lange Geländerinne schlängelte. So bequem die schwammige Tundra als Liegekissen ist, so ermüdend ist es auch, durch sie hindurchzuwandern. Mit jedem Schritt sinkt man tief ein, oder man tritt auf verborgene Grasbüschel, während die schienbeinhohen Birken und Weiden sich an Füßen und Beinen festklammern.

»He! He!«, schrien wir, um Elche oder Grizzlybären aufzuscheuchen, die sich vielleicht in dem dichten, drei Meter hohen Gebüsch vor uns versteckten. »Bla bla bla bla«, rief ich unsinnigerweise; was genau man von sich gibt, spielt keine Rolle, Hauptsache man überrascht weder eine Elchmutter, die ihr Junges beschützt, noch verschreckt man einen Grizzly, dessen erste Reaktion vielleicht in einem Angriff besteht. Im Gegensatz zu vielen anderen Wanderern riefen wir aber nie »He, Bär!«. Diese Worte, das werden altgediente Alaskakenner bestätigen, sollten ausschließlich für den Atem stockenden Augenblick reserviert sein, in dem ein Grizzly ganz in der Nähe auftaucht — als Warnung an den Bären, vor allem aber für jeden, der sich in Hörweite befindet.

Heute versetzten wir aber nur eine Familie von Moorschneehühnern in Aufruhr; es waren rund ein halbes Dutzend braune Jungvögel, die in alle Richtungen auseinanderstoben, während die Mutter lautstark ihr Missvergnügen zum Ausdruck brachte. Wir stellten unser Gepäck ab, und ich folgte Laura Phillips, der Expertin des Nationalparks für die Ökologie der Vögel. Sie bahnte sich den Weg in dem scheinbar undurchdringlichen Gewirr der Weiden. Elche haben aus irgendeinem Grund keine Schwierigkeiten, sich darin zurechtzufinden — der feuchte Boden war mit ihren untertassengroßen Fußspuren und länglichen Exkrementhaufen übersät. In der Mitte fanden wir eine schmale, rautenförmige, nur wenige Meter breite Wiese. Sie wogte blau von den stattlichen Blüten von Eisenhut und Rittersporn, die Ränder lila von den Rispen der Weidenröschen.

Wir suchten aber weder Schneehühner noch Wildblumen, sondern Drosseln — nicht um sie zu beobachten, sondern um sie zu fangen. Ich hatte den Denali-Nationalpark schon dreißig Jahre lang besucht und half jetzt mit, ein neues Forschungsprojekt ins Leben zu rufen: Wir wollten das Leben der Vögel im Park, die jedes Jahr im Laufe ihrer Wanderungen über drei Viertel der Erdoberfläche ausschwärmen, besser verstehen.

Wenig später hatten wir drei zwölf Meter lange, bis ins Gebüsch reichende Vogelnetze aufgestellt. David Tomeo von Alaska Geographic, eine Organisation die den Menschen Alaskas Naturwunder näherbringt, und der Seevogelexperte Iain Stenhouse — ein verpflanzter Schotte, der heute in Maine lebt und früher bei der Audubon Society als Direktor für Vogelschutz in Alaska tätig war — sicherten die Netzpfosten mit Abspannleinen aus leuchtend roter Fallschirmschnur. Ich rammte in der Mitte jedes Netzes einen langen Holzdübel in den Boden und brachte an der Spitze eine angemalte, lebensgroße Drosselattrappe aus Holz an. Dann betätigte ich die Schalter eines ramponierten alten MP3-Players, sodass dieser den lebhaften, himmlischen Gesang einer Grauwangen-Musendrossel von sich gab. Nachdem wir unsere Arbeit fürs Erste erledigt hatten, gingen wir alle vier rund 15 Meter den Hügel hinauf und ließen uns außerhalb des Weidendickichts in der offenen Tundra zu Boden sinken, um uns ein paar Minuten auszuruhen. Wir hatten die Hoffnung, dass ein Drosselmännchen bei dem Geräusch, das sich nach einem Eindringling in seinem eifersüchtig gehüteten Revier anhörte, durch das Gestrüpp herunterstoßen und gefahrlos in unsere zarten Netze fliegen würde. Dann könnten wir ihm vorsichtig einen winzigen, knapp ein halbes Gramm schweren Geolokator mitten auf den Rücken setzen. Das ganze nächste Jahr über würde das Gerät den Standort des Vogels aufzeichnen, während dieser nach Südamerika und zurück flog; damit konnten wir zum ersten Mal erahnen, wie die gewaltige Wanderung dieser Vögel im Einzelnen aussieht.

Wenn Forschende herausfinden wollten, wohin Vögel zogen, hatten sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang nur ein Mittel: Sie brachten an den Beinen leichte, nummerierte Ringe an und hofften darauf, dass irgendjemand den beringten Vogel sah und darüber berichtete. Das Beringen ist noch heute ein unentbehrliches Hilfsmittel bei der Erforschung des Vogelzuges — im letzten Jahrhundert wurden beispielsweise rund 7 Millionen Stockenten beringt, und 1,2 Millionen davon wurden (meist von Jägern) wiederentdeckt. Die so gewonnenen Daten verbessern die Grundlage für unsere sehr erfolgreiche Bewirtschaftung der Wasservogelpopulationen. Wenn man aber Vögel, die nur selten beringt werden, in einer abgelegenen Region erforschen will, geht es nur langsam voran — insbesondere wenn dieser Vogel im Gegensatz zu den Stockenten nicht legal gejagt wird.

In ganz Nordamerika wurden während des letzten Jahrhunderts rund 82.000 Grauwangen-Musendrosseln beringt, aber nur 4312 davon in Alaska — und von diesen Vögeln aus Alaska wurden nur drei jemals wieder gesichtet. Einer wurde in der Nähe der Stelle gefangen, an der man ihn beringt hatte, ein zweiter wurde im Frühjahr auf dem Weg nach Norden in Illinois aufgegriffen, der dritte im Herbst in Georgia, als er nach Süden zog. Viele Erkenntnisse lassen sich daraus nicht gewinnen.

Eines aber zeigen die Ergebnisse der Beringung und andere Beobachtungen: Grauwangen-Musendrosseln wandern über außerordentlich große Entfernungen. Obwohl sie nur ungefähr 30 Gramm wiegen, ziehen sie jedes Jahr aus den Nadelwäldern und Dickichten im Norden Alaskas und der kanadischen Subarktis nach Südamerika und wieder zurück. Zumindest einige von ihnen überqueren den Golf von Mexiko in einem Nonstopflug von rund 1000 Kilometern, andere folgen möglicherweise dem langen Finger Floridas und fliegen dann über die Karibik. Im Winter verschwinden sie in den Regenwäldern des nördlichen Südamerika, aber wir haben nur eine sehr schemenhafte Vorstellung davon, wo sie sich auf diesem riesigen Kontinent aufhalten.

Während es also mit dem Beringen nur schwer gelingt, Wissenslücken zu füllen, eröffnen sich durch die moderne Mikroelektronik spannende neue Horizonte für die Erforschung des Vogelzuges. Die von uns genutzten Geolokatoren sind nur eines von vielen Beispielen für winzige, relativ kostengünstige Apparaturen zur Nachverfolgung, die für die Erforschung von Tierwanderungen eine Umwälzung darstellen. Während Satellitensender pro Stück 4000 bis 5000 Dollar kosten (und ohnehin für kleine Singvögel viel zu schwer sind), wiegen unsere Geolokatoren nur den Bruchteil eines Gramms, und der Stückpreis liegt bei wenigen Hundert Dollar. Unsere Arbeitsgruppe nahm unter Leitung der Ökologin Carol McIntyre von der Nationalparkbehörde ein mehrjähriges Projekt in Angriff, mit dem wir die Zusammenhänge zwischen dem Denali-Park und den entlegenen Winkeln des Globus, zu denen die Vögel aus dem Park fliegen, genauer erforschen wollten. Unsere Geolokatoren verschafften uns zum allerersten Mal die Möglichkeit, die Flugrouten und Ziele der Drosseln aus dem Park zu verfolgen.

Aber zunächst einmal mussten wir ein paar Vögel fangen. Eine Woche zuvor war es uns ohne Schwierigkeiten gelungen, Zwergmusendrosseln einzufangen, die in den Kiefernwäldern des Denali-Parks in großer Zahl zu Hause sind. Die eng mit ihnen verwandten Grauwangen-Musendrosseln stellten uns jedoch vor eine etwas größere Herausforderung, und wir hofften, dass einige zusätzlich aufgestellte Netze an diesem Vormittag die erwünschte Wirkung erzielen würden.

Die Tundra war fast allzu bequem. Nachdem ich eine Viertelstunde gewartet und gedöst hatte, erhob ich mich vom Boden und schlenderte den Hügel hinunter zu den Weiden. In einem Netz hing ein männlicher Streifenwaldsänger kopfüber in dem weichen Geflecht — auch er ein Vogel, der eine außergewöhnliche Wanderung unternimmt: Er fliegt von Alaska an die Atlantikküste Kanadas und der nordöstlichen Vereinigten Staaten, wendet sich dann nach Süden und überquert in einem 90-Stunden-Nonstop-Flug den westlichen Atlantik in Richtung Südamerika. Das nächste Netz hielt einen männlichen Mönchswaldsänger fest, einen Vogel, der noch kleiner ist als der Streifenwaldsänger und nur rund neun Gramm wiegt. Mönchswaldsänger, die in Zentralalaska brüten, wandern (so glauben wir) an die Golfküste in Texas und in den Osten Mexikos sowie weiter südlich nach Mittelamerika. Möglicherweise pendeln viele von ihnen über den Golf von Mexiko zur Halbinsel Yucatán, aber so genau weiß das niemand. Von den Mönchswaldsängern, die man im Inneren Alaskas beringt hatte, wurde nur ein einziger außerhalb der Brutgebiete wiedergefunden, und zwar in Idaho auf dem Weg nach Süden.

Die Geheimnisse der Streifen- und Mönchswaldsänger mussten erst einmal warten, und so befreite ich sie schnell. Heute Morgen wollten wir uns auf die Drosseln konzentrieren, und zu meiner Enttäuschung war keine in unsere Netze geflogen. Ich spazierte zurück den Hügel hinauf — aber in diesem Augenblick verwandelte sich die morgendliche Stille in erschreckendes Chaos.

»He Bär! HE BÄR!« Die Stimmen von Laura und David hatten einen Anklang von Panik. Wie wild schwenkten sie die Arme vor dem blassen Himmel der Dämmerung. Iain konnte ich nicht sehen, er war für mich durch die Weiden verdeckt.

Ich hörte ein schnaufendes, stakkatoartiges Brüllen und ein explosiv-hölzernes Geräusch, als würde jemand zwei Kanthölzer gegeneinanderschlagen. Mir wurde klar, dass es die aufeinanderschlagenden Kiefer eines verärgerten Grizzly waren, der seine Zähne wütend »knallen« ließ. Wie so häufig in extremen Augenblicken schien sich die Zeit zu verlangsamen. Ich konnte den heranstürmenden Bären nicht sehen, aber ich nahm an, dass er aus dem Weidendickicht kam, in dem ich stand. Mir wurde eiskalt.

»He Bär!« Die Brüll- und Knallgeräusche waren jetzt viel näher. Man hörte, wie ein großes Tier durch das Dickicht brach; es war ganz nahe und bewegte sich schnell. David schrie: »Scott, komm sofort da raus!«

Ich sprang aus dem Weidengehölz. Der Bär war so nahe, dass ich seinen abgehackten, rasselnden Atem hören und seinen stechenden Geruch riechen konnte, und doch war er hinter dem Gestrüpp nicht zu sehen. Sekunden später hastete ich den Hang hinauf zu meinen Freunden. Als ich mich umdrehte, sahen wir, wie der Bär — ein großes Weibchen mit einem dunklen, einjährigen Jungen im Schlepptau — auf der anderen Seite aus dem Gebüsch brach und in dem Galopptempo, für das Grizzlys berühmt sind, davonrannte. Das strohblonde Fell der Bärenmutter kräuselte sich, als sie auf der anderen Seite die Tundraböschung hinaufstapfte und hinter dem Bergrücken verschwand.

Die Geschichte entfaltete sich aus verwackelten, zusammenhanglosen Details. Als der Bär rund 15 bis 20 Meter entfernt hinter meinen Freunden auftauchte, lagen alle noch auf dem Boden. »Ich habe mich zu Iain umgedreht«, erzählte Laure, »und da habe ich hinter ihm diesen Grizzlykopf gesehen. Ich habe gesagt: ›O Scheiße!‹ Wir sind aufgestanden, und sie ist einfach herangestürmt.«

Iain war ihr am nächsten. »Ich habe dich und David schreien hören, aber ich konnte mich nicht bewegen«, sagte er mit seinem Glasgower Akzent und schüttelte den Kopf. »Ich war einfach … unfähig, mich zu bewegen.« Der Grizzly hatte die Entfernung in wenigen Sekunden hinter sich gebracht. Erst ein paar Meter vor Iain überlegte er es sich anders; Laura und Ian sagten übereinstimmend, sie hätten genau gesehen, in welchem Sekundenbruchteil das Bärenweibchen sich entschloss, sie nicht zu zerfleischen, sondern umzudrehen und den Hügel hinunterzulaufen — genau in meine Richtung.

»Es ist schon paradox«, sagte David. »Der Einzige, der den Bären nicht hat kommen sehen, war vermutlich in der größten Gefahr, gefressen zu werden.« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er mich meinte. Eine Gruppe von drei Menschen ist selbst für einen wütenden Grizzly eine harte Nuss. Aber ich war allein und zwischen den Weiden eingeschlossen — wenn sie mich nur ein paar Meter entfernt im Dickicht ausgemacht hätte und ihre Frustration und Angst an mir hätte auslassen wollen, wäre ich hilflos gewesen.

Der Weg des Bären hatte genau zwischen unseren Netzen hindurchgeführt, aber irgendwie hatten das 160 Kilo schwere Weibchen und sein Junges sie verfehlt. Und ob es nun an dem ganzen Durcheinander lag oder ob sie trotz alledem auf den abgespielten Gesang hereingefallen waren, jedenfalls hingen drei Grauwangen-Musendrosseln in den Maschen. Da wir wussten, dass die Bären in sicherer Entfernung waren — und wir erleichtert waren, an etwas anderes denken zu können —, machten wir uns an die Arbeit.

Wir legten die Vögel in leichte Halteschlaufen, breiteten unser Werkzeug auf einer kleinen Plane aus: Beringungszangen, Klemmbretter, eine Federwaage, eine kleine Kamera und den ersten Geolokator. Das Gerät war einen knappen Zentimeter lang. Hinten ragte ein kleiner Kunststoffstab mit einem Lichtsensor heraus. Auf beiden Seiten waren kleine elastische Schlaufen angebracht, die aussahen wie Kaninchenohren. Laura nahm die erste Drossel vorsichtig in die Hand, wobei sie den Hals zwischen Zeige- und Mittelfinger festhielt. Grauwangen-Musendrosseln haben rund zwei Drittel der Größe einer Wanderdrossel und sind mit ihrem feinen Körperbau ausgesprochen liebenswert. Die Oberseite ist zart olivgrün gefärbt, die grauweiße Brust gesprenkelt mit bräunlichen Flecken, die aussehen, als wäre Wasserfarbe in ein Blatt Löschpapier gesickert. Den Geolokator anzubringen, dauerte weniger als eine Minute. Iain streifte eine der elastischen Schlaufen über ein Bein bis zum oberen Ende des Oberschenkels. Laura hielt den Geolokator mit dem Daumen auf dem Rücken des Vogels fest, während Iain die zweite Schlaufe über das andere Bein zog. Der so befestigte Geolokator lag fest über dem Hinterteil des Vogels und war mit Ausnahme des kleinen Stiels unter den Rückenfedern verborgen.

Mit geübten Handgriffen beringte Laura die Drossel: ein Standard-Metallband am linken Bein, zwei farbige Kunststoffbänder — gelb und darunter orange — am rechten. Wenn die Zugvögel im nächsten Frühjahr nach Denali zurückkehrten, würden wir diese und die anderen markierten Drosseln leichter wiederkennen und einfangen können, um ihnen die Geolokatoren abzunehmen und die Daten herunterzuladen. Wir bearbeiteten eine Drossel nach der anderen und ließen sie wieder frei, und alle flogen mit einem nasalen, schimpfenden ji-iir zurück in das schützende Weidendickicht. Wir packten unsere Ausrüstung ein, Iain aber blickte geistesabwesend über die Hügel in die Richtung, in der die Bären verschwunden waren.

»Weißt du was?«, sagte er mit breitem Grinsen. »Ich hätte nicht gedacht, dass mein Schließmuskel so stark ist.«

In den 1990er-Jahren reiste ich kreuz und quer über die westliche Hemisphäre den Vögeln hinterher und erforschte für ein Buch mit dem Titel Living on the Wind das Phänomen des Vogelzuges. Auf das Thema war ich vor allem als zutiefst interessierter Beobachter gestoßen —schon immer hatte ich Vögel geliebt und war seit ungefähr zehn Jahren versessen darauf, Greifvögel zu beringen. Anfangs, das muss ich zugeben, bestand der Reiz am Beringen vor allem in der adrenalinsteigernden Spannung, einen Habicht oder Keilschwanzadler vom Himmel in meine Netze zu locken — Fliegenfischerei im Großformat mit Beutetieren, die Klauen hatten und den Wind meisterhaft beherrschten. Aber mit jedem Habicht oder Falken, an dessen Bein ich einen Ring anbrachte — und mit jedem Mal, wenn ein markierter Vogel irgendwo an einem weit entfernten Ort wieder eingefangen oder tot aufgefunden wurde und so ein wenig zu unseren Kenntnissen über den Vogelzug beitrug —, war ich faszinierter von den Naturkräften, die nicht nur gewaltige Greifvögel, sondern noch die kleinste und scheinbar schwächliche Grasmücke dazu treiben, ungeheure Entfernungen zu überbrücken, und das mit einer Geschwindigkeit und körperlichen Ausdauer, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.

In den letzten zwanzig Jahren haben sich die wissenschaftlichen Kenntnisse über den Vogelzug — über die Mittel, die es einem Vogel ermöglichen, schon auf seiner ersten Reise trotz Gegenwind, Unwettern und Erschöpfung einen Weg um den Globus zu finden — explosionsartig vermehrt. Um nur ein besonders verblüffendes Beispiel zu nennen: Seit den 1950er-Jahren wissen wir, dass Vögel sich am Erdmagnetfeld orientieren. Lange nahmen Ornithologen an, die Fähigkeit entspreche einer Art biologischem Kompass, und das schien sich zu bestätigen, als man in den Köpfen vieler Vögel magnetische Eisenkristalle fand — nur spielen solche Magnetiteinlagerungen anscheinend für die Orientierung kaum eine Rolle. Sehr wichtig ist dagegen erstaunlicherweise das Sehvermögen. Setzt man einen Vogel roten Wellenlängen aus anstelle des natürlichen weißen Lichts, ist er nicht mehr in der Lage, sich magnetisch zu orientieren, ganz gleich, welche kleinen Eisenklumpen er im Kopf mit sich herumträgt. Aber die Frage, warum das so ist, bereitet Ornithologen spätestens seit den 1970er-Jahren Kopfzerbrechen.

Heute sieht es so aus, als würden Zugvögel sich das Erdmagnetfeld durch eine Art Quantenverschränkung visuell vorstellen — und ja, das ist so bizarr, wie es klingt (siehe Kapitel 2).

Und es ist keineswegs die einzige atemberaubende Entdeckung. Wie man festgestellt hat, können Zugvögel im Vorfeld ihrer Wanderungen neue Muskelmasse ansetzen, ohne zu trainieren — eine Fähigkeit, die Menschen nur allzu gern besäßen. Da das Muskelgewebe eines Vogels nahezu vollständig dem eines Menschen gleicht, muss es sich um einen biochemischen Auslöser handeln, aber das Ganze bleibt ein faszinierendes Rätsel. Außerdem setzen Vögel so viel Fett an (in manchen Fällen steigt das Körpergewicht in wenigen Wochen auf mehr als das Doppelte), dass sie nach allen Maßstäben stark übergewichtig sind, und ihr Blut ähnelt in seiner chemischen Zusammensetzung zu solchen Zeiten dem von Diabetikern und Herzpatienten —, aber es schadet ihnen nicht. Außerdem leiden Vögel während ihrer tagelangen Nonstop-Flüge nicht an den Auswirkungen von Schlafentzug; sie können eine Gehirnhälfte (einschließlich des Auges auf der betreffenden Seite) für jeweils ein bis zwei Sekunden ausschalten und wechseln so während ihres Fluges durch die Nacht hin und her. Tagsüber machen sie Tausende kleine Mini-Nickerchen, die jeweils nur wenige Sekunden dauern. Insgesamt hat man Dutzende ähnlich ungewöhnliche Mechanismen gefunden, durch die der Organismus eines Vogels die Anstrengung des Langstreckenfluges bewältigt.

Aber nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Mechanismen des Vogelzuges haben sich verbessert, sondern auch unser Wissen um die düsteren Lebensgefahren, denen Zugvögel auf ihren Reisen gegenüberstehen, und um die nahezu unvorstellbaren Leistungen, die sie zweimal im Jahr vollbringen, um ihren Bestimmungsort zu erreichen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich gezeigt, wie sträflich wir die körperlichen Fähigkeiten von Vögeln unterschätzt hatten.

Der anerkannte Langstrecken-Weltmeister unter den Vögeln war bis vor recht kurzer Zeit die Küstenseeschwalbe, ein unauffälliger grauer Seevogel von der Größe einer Taube: Sie brütet in den höchsten Breiten der nördlichen Hemisphäre und überwintert im Südpolarmeer zwischen Afrika, Südamerika und der Antarktis. Man braucht nur auf einer Landkarte Linien zwischen diesen Stationen zu ziehen und auf einem Bierdeckel ein paar Berechnungen anzustellen, dann gelangt man zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Generationen von Ornithologen: Küstenseeschwalben legen jedes Jahr zwischen 35.000 und 40.000 Kilometer zurück. Das war allerdings nur eine Schätzung, denn die Geräte zur Nachverfolgung waren bei Weitem nicht so klein, dass ein derart zart gebauter Vogel sie hätte tragen können. Als Sender und Datenrekorder aber immer kleiner wurden, konnte man sie an anderen, etwas größeren Seevögeln anbringen — und damit wurde der angebliche Rekord der Küstenseeschwalben schon bald pulverisiert.

Im Jahr 2006 gaben Forschende bekannt, sie seien 19 Dunkelsturmtauchern mit Geolokatoren von ihren Brutgebieten in Neuseeland aus auf der Spur geblieben. In der Brutsaison, wenn die Eltern Tintenfische und Fische fangen und zu ihren Jungen ins Nest bringen, fliegen die stämmigen dunkelgrauen Vögel während einer einzigen »lokalen« Nahrungssuche von Neuseeland mehrere Tausend Kilometer bis in die eisigen subantarktischen Gewässer und wieder zurück. Wenn die Jungen flügge sind, machen sie sich mit den ausgewachsenen Vögeln nach Norden auf: Sie überqueren den Äquator und erreichen ihre »Winterquartiere« im nördlichen Sommer vor Japan, Alaska oder Kalifornien. Sie folgen dem Wind und den Meeresströmungen in weiten Schnörkeln über den Pazifik und erfreuen sich so eines »ewigen Sommers«, wie ein Wissenschaftler es formulierte. Es ist ein wahrer Höllenflug: Manche Dunkelsturmtaucher bringen es auf mehr als 74.000 Kilometer im Jahr.

Bis 2007 waren die Geolokatoren dann so weit geschrumpft, dass mein schottischer Freund Iain und seine Kollegen sie in Grönland und Island an den Beinen von Küstenseeschwalben anbringen konnten. Ein Jahr später wurden die Vögel bei der Rückkehr wieder eingefangen; die gespeicherten Daten, die sie mitbrachten, enthüllten Erstaunliches.

Zunächst einmal war überraschend, dass die Küstenseeschwalben unabhängig von ihrer Herkunftskolonie auf zwei ganz unterschiedlichen Routen nach Süden flogen. Manche wendeten sich nach Osten zum nordwestlichen, breiten Teil Afrikas und bogen dann ab, um über die schmalste Stelle des Atlantiks die brasilianische Küste anzusteuern, bevor sie weiter nach Süden über das Weddellmeer zur Antarktischen Halbinsel zogen. Im Frühjahr wanderten sie zu den Gewässern vor Südafrika, dann wieder über den Atlantik ins nördliche Südamerika und schließlich zum Nordatlantik — eine Route in Form einer 8, die sie mit endlos schlagenden Flügeln über den Globus zurücklegten. Andere Seeschwalben aus denselben Kolonien folgten aus unbekannten Gründen der Küste Afrikas bis fast zum Kap der Guten Hoffnung und überquerten anschließend entweder das Südpolarmeer zur Küste der Antarktis, oder sie folgten den hohen, sturmumtosten Breitengraden Tausende von Kilometern weiter nach Osten bis zum südlichen Indischen Ozean.

Insgesamt konnten Iain und seine Kollegen feststellen, dass selbst die am wenigsten ehrgeizigen unter ihren Seeschwalben mindestens 60.000 Kilometer im Jahr zurücklegten, manche schafften aber auch 81.000 Kilometer — ein neuer Langstreckenrekord und mehr als das Doppelte dessen, was Fachleute dieser Spezies in der Regel zugetraut hatten. Und damit nicht genug: Drei Jahre später markierte man in den Niederlanden weitere Küstenseeschwalben, und es stellte sich heraus, dass diese Vögel bis zu 91.000 Kilometer im Jahr zurücklegten: Sie gelangten in die Gewässer bei Australien und trafen an Plätzen auf dem Indischen Ozean zusammen (wo sich, wie man feststellen konnte, auch Küstenseeschwalben aus dem US-Bundesstaat Maine sammelten). Eines werden alle, die sich wissenschaftlich mit Seevögeln beschäftigen, spätestens nach dem ein oder anderen Bier zugeben: Wir haben keine Ahnung, wie weit Küstenseeschwalben maximal fliegen können.

Auch viele andere Annahmen über den Vogelzug wurden in den letzten Jahren auf den Kopf gestellt. Das liegt in der Natur der Sache: Ökologie ist ein Fachgebiet von fast perverser Komplexität, und jede Haut, die wir von der Zwiebel entfernen, machte es nur noch komplexer.

Noch vor zwanzig Jahren glaubten nordamerikanische Ornithologen, die größte Schwierigkeit für die Zugvögel unter den Singvögeln liege in der Abholzung der tropischen Wälder und dem damit verbundenen Verlust ihrer winterlichen Lebensräume. Aber dann stießen sie auf ein viel näher liegendes Problem. Immer mehr Forschungsergebnisse deuteten darauf hin, dass die Zerstückelung der Lebensräume — die endlose Unterteilung großer, intakter Waldflächen in immer kleinere Strauchgehölze durch Straßen, Schneisen, Bauland und landwirtschaftliche Nutzflächen — für viele beliebte Singvögel eine ernste Gefahr darstellt, so auch für Tangaren und Drosseln, die aufgrund ihrer Evolution in zusammenhängenden Waldgebieten brüten.

Man hat den Nisterfolg der Walddrosseln und anderer Waldsingvögel verfolgt und ihre Nester überwacht; man wollte wissen, welche Vögel die meisten Eier legen und aus wie vielen Eiern später Jungvögel hervorgehen, die flügge werden, allein davonfliegen und so die nächste Generation bilden. Jahrzehntelange Studien dieser Art bestätigen immer wieder das Gleiche: Wenn große Waldgebiete zu immer kleineren Einheiten zerschnitten werden, geht der Nisterfolg im Einklang mit der Zerstückelung zurück.

Wer die Vögel retten will, muss also die Wälder retten. Die Zerstückelung zu verhindern, ist zwar in der Praxis schwierig, aber sie als Ziel anzustreben, ist einfach, und deshalb wurde dies seit den 1980er-Jahren zu einer Leitlinie des Vogelschutzes. Aber — und in der Ökologie lauert fast immer irgendwo im Gebüsch ein Aber — neuere Forschungsarbeiten haben eine echte Überraschung geliefert.

Es ist nicht so, dass diese Vögel keine zusammenhängenden Wälder brauchen würden — das schon. Aber es ist nicht das Einzige, was sie brauchen. Immer und immer wieder wurde die ökologische Komplexität des Vogelzuges von der Wissenschaft unterschätzt.

Absichtlicher Unverstand ist das nicht. Kleine, lebhafte Lebewesen zu studieren, deren alljährliche Wanderungen sich über Zehntausende von Kilometern erstrecken, ist von Natur aus ungeheuer schwierig. Aber wie es in der Wissenschaft nicht ungewöhnlich ist, war die Ornithologie immer in vielerlei Hinsicht das Opfer von Scheuklappendenken und geprägt vom Weg des geringsten Widerstandes. Fast zwei Jahrhunderte lang waren Ornithologen nahezu ausschließlich Nordamerikaner oder Europäer — und da die Erforschung von Dingen, die in der Nähe des eigenen Wohn- und Arbeitsortes liegen, am einfachsten ist, wussten wir vor allem darüber Bescheid, wie Zugvögel in den wenigen Monaten leben, in denen sie sich in ihren Brutgebieten in gemäßigten Breiten aufhalten. Das änderte sich erst seit den 1970er- und 1980er-Jahren, und die immer umfangreicheren Forschungsergebnisse aus den tropischen Überwinterungsgebieten machten viele bequeme Vermutungen über die Ökologie der Zugvögel zunichte. Viele Zugvögel, von denen man früher geglaubt hatte, sie seien sehr anpassungsfähig, kämen mit vielem zurecht und könnten sich in den Tropen an jedem freien Ort niedersetzen, erwiesen sich in jeder Hinsicht als ebenso hoch spezialisiert wie die Standvögel, mit denen sie die Landschaft teilten; oftmals sind sie eng an ganz bestimmte, schmale ökologische Nischen gebunden. Sogar innerhalb derselben Art, so die Feststellung, haben verschiedene Geschlechter und Altersklassen vielfach unterschiedliche Bedürfnisse und nutzen unterschiedliche Regionen oder Lebensräume —ausgewachsene Männchen bevorzugen beispielsweise dichte Regenwälder und jüngere Weibchen eher trockene, strauchbewachsene Lebensräume.

Die neuen Erkenntnisse entstanden gerade in der Zeit, als überall die Alarmglocken schrillten, weil man in der ungezügelten Abholzung tropischer Regenwälder die größte Gefahr für die Singvögel der Neotropis erkannte. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden neotropische Singvögel wie Waldsänger und Tangare aber auch zu Aushängeschildern der Kampagnen zur Rettung der Regenwälder und damit zum unmittelbarsten (und emotional besetzten) Bindeglied zwischen einem weit entfernten, bedrohten Ökosystem und den Gärten Nordamerikas.

Die Vernichtung tropischer Lebensräume war und ist Realität, aber keineswegs die einzige Bedrohung. Auch in den Brutgebieten der gemäßigten Breiten werden Lebensräume zerstört, und die Zwischenstationen, die Langstreckenflüge erst möglich machen, gehen ebenfalls verloren. Das Leben wilder Tiere — insbesondere solcher, die auf den Wind angewiesen sind — kann man nicht in jahreszeitliche Scheiben oder geografisch abgegrenzte Stücke zerlegen. Vielleicht sehen wir die Zugvögel heute endlich so, wie man sie sehen sollte: nicht als Bewohner eines Ortes, sondern als Weltbürger. Nur wenn wir den gesamten Lebenszyklus dieser Tiere verstehen, haben wir eine Chance, sie vor dem Gemetzel zu bewahren, dem sie auf jedem Abschnitt ihrer Reise ausgesetzt sind.

Wir müssen noch vieles lernen. So wissen wir beispielsweise in den meisten Fällen fast nichts darüber, welche Routen die meisten Zugvögel im Einzelnen einschlagen, und ebenso haben wir nur schemenhafte Vorstellungen davon, welche Stellen unterwegs als Rast- und Fressplätze von entscheidender Bedeutung sind. Erst sehr spät ist klar geworden — was allerdings keine Überraschung sein sollte —, dass regionale Brutpopulationen derselben Spezies selbst dann, wenn sie in recht enger Nachbarschaft leben, oftmals vollkommen unterschiedliche Zugwege und Winterquartiere bevorzugen.

Die meisten Walddrosseln aus New York und Neuengland zum Beispiel verbringen den Winter in einem relativ kleinen Gebiet im Osten von Honduras und im Norden Nicaraguas, solche von der mittleren US-Atlantikküste dagegen drängen sich in den Dschungeln der Halbinsel Yucatán. Mit Geolokatoren und Beringungsexperimenten konnte man zeigen, dass Pieperwaldsänger aus den Vorstädten von Philadelphia in ihrer Mehrzahl in die Karibik und insbesondere auf die Insel Hispaniola ziehen, während solche aus den gegenüber gelegenen Allegheny Mountains bei Pittsburgh geradewegs über den Golf von Mexiko ins nördliche Mittelamerika fliegen.

Das alles ist nicht nur von akademischem Interesse. Wenn ein Winterquartier oder eine wichtige Zwischenstation entfällt, verschwindet oftmals eine ganze regionale Population. Wer Walddrosseln, Pieperwaldsänger oder auch Hunderte andere Zugvogelarten schützen will, muss unter Umständen einen viel umfangreicheren Ansatz des Flächenschutzes verfolgen, als es bisher geschieht.

Wissen ist die erste Voraussetzung dazu. Eine neue Generation von Forschenden leistet die anstrengende, schwierige Freilandarbeit zur Aufklärung aller Aspekte im Lebenszyklus der Vögel, der sich über zwölf Monate im Jahr und oftmals über Tausende von Kilometern bis in abgelegene Winkel der Erde erstreckt. Das Fachgebiet wird als migratory connectivity bezeichnet und ist in gewisser Hinsicht die Weiterentwicklung eines Ansatzes, der seinen Anfang vor mehr als 200 Jahren nahm: Damals befestigte John James Audubon auf seinem Anwesen in Pennsylvania Silberdrähte an den Beinen von Phoebetyrannen, weil er herausfinden wollte, ob jedes Jahr dieselben Vögel zum Nisten zurückkehrten. Heute verfügen wir glücklicherweise über raffiniertere Hilfsmittel.

Die Aufklärung von Zusammenhängen des Vogelzugs war der Anlass, warum wir im Inneren Alaskas das Risiko einer Begegnung mit Grizzlybären eingingen: Wir wollten ganz genau wissen, wo die Vögel aus dem Park den Winter verbringen. Die Aussage, Grauwangen-Musendrosseln würden »in den Norden Südamerikas« ziehen, reicht nicht mehr. Je mehr die Welt sich wandelt und erwärmt, desto höher werden die Hürden für Zugvögel — und im Naturschutz brauchen wir solche Informationen, um die Vögel durch ein immer engeres Nadelöhr zu begleiten.

Wie für viele Männer und Frauen, die Zugvögel studieren und schützen, so ist das Ganze auch für mich zu einer Herzensangelegenheit geworden. Eine Welt ohne große Tierwanderungen — das ist eine so armselige und bedrückende Vorstellung, dass ich darüber nicht einmal nachdenken mag. Und wie viele andere, so bin auch ich schon mein ganzen Leben vom Vogelzug gefesselt. Die Besessenheit begann in meiner Kindheit und drehte sich damals um einen windumtosten Bergrücken in Pennsylvania; sie führte dazu, dass ich vom eifrigen Beobachter zum leidenschaftlichen Mitstreiter wurde, vom Freizeit-Vogelfreund zum Wissenschaftler an vorderster Front der Vogelzugforschung.

Ich bin nicht unter Vogelfreunden aufgewachsen, aber meine Eltern hielten sich gern in der Natur auf und unterstützten (manchmal allerdings mit einer gewissen Verwunderung) ihren ein wenig eigenwilligen Sohn. Insbesondere meine Mutter verfolgte aufmerksam den Rhythmus der Jahreszeiten, und dabei war der Vogelzug ein zentraler Aspekt. In ihrem Gartentagebuch hielt sie fest, wann die ersten Winter- und Weißkehlammern im Herbst an den Futterhäuschen auftauchten und wann im Frühjahr die ersten Zugvögel in unseren Garten im Osten von Pennsylvania zurückkehrten. Besondere Aufmerksamkeit schenkten wir im Frühjahr und Herbst dem Durchzug der Kanadagänse, der in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren (bevor Schwärme, die nicht wanderten, im Osten alle Gewerbegebiete und die Teiche in Stadt und Land überrannten) ein faszinierendes Merkmal der wechselnden Jahreszeiten waren.

In den meisten Jahren geschah es an einem einzigen Morgen: Je nachdem, wie streng der Winter gewesen war, meist aber Anfang März wachten wir vom Lärm der Gänse auf. Dann warfen wir uns Mäntel über, schlüpften in die Schuhe, ohne sie zuzubinden, und liefen hinaus in den ersten milden Morgen des Jahres. Wir legten die Köpfe in den Nacken und sahen Heerscharen von Gänsen vor einem Himmel von der Farbe ausgebleichter Jeans nach Norden ziehen. Es war und ist bis heute für mich einer der spannendsten Augenblicke im Jahreslauf der Natur; jeden Spätwinter, wenn die Tage länger wurden und der Schnee taute, freuten wir uns auf den »Großen Gänsetag« als einzigartigen Wendepunkt im Zyklus der Jahreszeiten.

So ist es bis heute: Frühmorgens, wenn die Sonne gerade aufgeht und meine Frau ihre erste Tasse Kaffee trinkt, klingelt das Telefon. Dann sagt meine Mutter: »Habt ihr sie gehört? Wart ihr schon draußen? Heute ist Großer Gänsetag!« Dann stürzen wir mit schleifenden Schnürsenkeln nach draußen, um das Schauspiel mitzuerleben.

In mancherlei Hinsicht war ich also darauf eingestimmt, mein Leben der Erforschung des Vogelzuges zu widmen, aber der entscheidende Moment kam, als ich zwölf war. An einem Tag im Oktober mit böigem Wind und zerklüfteten Wolken stiegen wir auf den Kittatinny Ridge, einen Bergrücken am Südrand der Appalachen ungefähr eine Autostunde von unserem Zuhause entfernt. Er war wie eine Autobahn für die ziehenden Greifvögel, die auf seinen Aufwinden schweben, wenn sie entlang des langen, gewundenen Gebirgszuges nach Süden zogen.

Zufällig herrschten gerade genau die richtigen Bedingungen für einen langen Flug: In der Nacht zuvor hatte eine kräftige Kaltfront starke nordwestliche Winde über den Bundesstaat gesaugt, und am Himmel über dem nördlichen Aussichtspunkt des Hawk Mountain Sanctuary wimmelte es von den schlanken Silhouetten der Greifvögel. Ihre Umrisse sahen in der Luft ganz anders aus als die winzigen Zeichnungen, die ich in meinem Bestimmungsbuch studiert hatte. Aber das spielte keine Rolle. An jenem Tag glitten Hunderte von Greifvögeln über den Bergrücken und segelten auf den unsichtbaren Wellen der Luft. Unermüdlich starrte ich durch mein billiges Fernglas, und jeder vorüberfliegende Falke zog meinen Blick mit sich.

Ein Falke stieß auf eine Eulenattrappe aus Kunststoff herab, und für einige Herzschlagsekunden sah es so aus, als würde er geradewegs durch mein Fernglas fliegen. Es war mit Abstand das berauschendste Schauspiel, das ich jemals mit angesehen hatte, und die Erinnerung ist bis heute fast schmerzhaft lebendig.

Damals konnte ich noch nicht mit den richtigen Worten ausdrücken, warum ich so bewegt war, warum ich den Anblick so fesselnd fand. Natürlich waren Falken und Habichte wunderschön, und es hatte etwas Majestätisches, wenn sie vorüberflogen. Es war spannend zuzusehen, wie sie mit geringfügigen Flügel- und Schwanzbewegungen ein Gegengewicht zum böigen Wind schufen und seine Energie nutzbar machten. Aber als ich an jenem Abend nach Hause ging und sowohl meine Vogelbücher als auch eine alte Landkarte von National Geographic hervorholte, brach sich eine noch machtvollere Reaktion Bahn. Als ich mit dem Finger das gewundene Rückgrat der Appalachen nachzeichnete, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, woher die Falken gekommen waren und wohin sie wohl flogen. Zuvor hatte ich nur eine verschwommene Vorstellung gehabt, aber jetzt las ich, dass manche Vögel — und zwar genau die, die ich gesehen hatte — aus fernen Regionen wie Grönland oder Labrador kamen und auf dem Weg zu Zielen wie Mexiko, Kolumbien oder Patagonien waren, Regionen, die für ein Kind am Rand der Bergbaugebiete von Pennsylvania etwas unwirklich Exotisches hatten.

Heute, ein halbes Jahrhundert später, bin ich immer noch vom Vogelzug gefesselt.

Geändert hat sich allerdings meine Mitwirkung. Jener faszinierende Tag am Hawk Mountain festigte meine Leidenschaft für Vögel und insbesondere für die Beobachtung von Falken, als Teenager wurde ich zu einem ernsthaften Vogelfan, die Liebe zu den Vögeln blieb jedoch ein Hobby. Dann kam ein ungeplanter Collegekurs in Ornithologie — ich belegte den letzten freien Platz in einem Seminar bei einem klugen, großzügigen Professor, der sein letztes Semester vor dem Ruhestand absolvierte. Er öffnete mir zum ersten Mal die Augen für die spannende Wissenschaft der Vogelforschung.

Manchmal werden Launen des Schicksals und glückliche Zufälle zu Wendepunkten im Leben. Als junger Zeitungsreporter verbrachte ich einen Tag im Tarnzelt mit Jim Bednarz, dem ersten Forschungsdirektor von Hawk Mountain, der als frischgebackener Doktor winzige Radiosender an wandernden Falken anbrachte. Als sich der erste Rotschwanzbussard mit angelegten Flügeln und ausgefahrenen Klauen vom Himmel stürzte und in unsere Netze ging wie der Bote eines heidnischen Gottes, wusste ich mit der gleichen blitzartigen Klarheit wie damals als Zwölfjähriger, dass der Boden unter meinen Füßen sich wieder einmal verschoben hatte. Ich ging bei Jim in die Lehre und besaß wenige Jahre später die staatliche Lizenz zum Beringen von Vögeln. Als er die Organisation verließ, leitete ich einige Zeit das Beringungsprogramm von Hawk Mountain, und schließlich übernahm ich selbst die Leitung einer Station. Wenig später beringte ich auch Singvögel, dann Eulen und schließlich Kolibris; immer trieb mich eine Neugier, die an eine Vogelzugmanie grenzte.

Ohne es eigentlich zu wollen, wurde ich immer stärker vom Beobachter zum Mitwirkenden. Meine Alltagstätigkeit bestand zwar (und besteht bis heute) darin, über die Natur zu schreiben, aber die Freilandforschung macht einen immer größeren und zunehmend befriedigenden Teil meines Lebens aus, und das, obwohl ich über keinen naturwissenschaftlichen Hochschulabschluss verfüge. Glücklicherweise gibt es in der Ornithologie eine alte Tradition, auch erfahrene Liebhaber wie mich mit offenen Armen aufzunehmen.

Im Laufe der Jahre habe ich mich immer stärker in die Forschung vertieft — nicht nur, indem ich die Arbeit anderer interpretiert habe, sondern auch mit eigenen kleinen Beiträgen. Seit mehr als zwanzig Jahren beaufsichtige ich eine Studie, die mittlerweile zu einer der größten zur Wanderung der Sägekauze herangewachsen ist — diese bezaubernden kleinen Greifvögel sind ungefähr so groß wie eine Drossel mit rundem Kopf und liebenswürdig großen Augen. Mit einer Mannschaft von rund hundert Freiwilligen haben wir in den Bergen von Pennsylvania mehr als 12.000 dieser niedlichen Vögel beringt und mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln — Geolokatoren, Funksendern, Infrarotaufnahmen, Meeresradar und anderen — ihre Zugwege verfolgt. Außerdem beteilige ich mich an der Koordination eines kontinentweiten Netzwerks von mehr als 125 Sägekauz-Beringungsstationen, die alle im Rahmen des gleichen Forschungsprogramms kooperieren.

Fasziniert war ich auch von Indizien, wonach sich bei amerikanischen Kolibris eine neue Wanderungsroute entwickelte, die nicht mehr nach Mexiko, sondern nach Osten führte. Mehrere Jahre lang lernte ich, die kleinen Vögel zu fangen und gefahrlos zu beringen, und schließlich war ich einer von weltweit noch nicht einmal zweihundert lizenzierten Kolibrimarkierern. Derzeit bin ich jeden Herbst hinter robusten, vagabundierenden Kolibris her, die aus Alaska und von der Pazifikküste des Nordwestens kommen, während der eisigen Herbststürme an der mittleren Atlantikküste oder in Neuengland auftauchen und dort im Januar bei Schneestürmen und frostigen Temperaturen verbleiben, womit sie alle Vorstellungen von der Empfindlichkeit dieser winzigen Vögel über den Haufen werfen.

Die gleichen Winterstürme bringen auch die Schnee-Eulen aus der Arktis mit. Vor einigen Jahren, als der Osten Nordamerikas die größte derartige Invasion seit fast einem Jahrhundert erlebte, nahmen einige Kollegen und ich ein Projekt in Angriff, das wir auf den Namen SNOWstorm tauften. Bei Schnee und eisiger Kälte stellten wir Netze für die großen Greifvögel auf, statteten sie mit Funksendern aus, die alle paar Minuten die genaue GPS-Position übermittelten, und ließen uns die Daten über das Handynetz schicken; damit kombinierten wir zwei moderne technische Verfahren und konnten so die Bewegungen der Eulen in allen Details und drei Dimensionen verfolgen.

Heute können wir unsere markierten Eulen mit wenigen Mausklicks überallhin verfolgen, ganz gleich, ob sie nachts über dem offenen Atlantik Jagd auf Wasservögel machen, über den Feldern von Michigan und Ontario nach Nagetieren suchen oder sich auf den Eisbergen treiben lassen, die im Sommer von Wind und Gezeiten in die Hudson Bay gedrückt werden. Zusammen mit einigen dieser Kollegen installierte ich auch quer durch den Nordosten der Vereinigten Staaten mehr als hundert automatische Empfängerstationen, die Signale von winzigen Funksendern empfangen; auf diese Weise können wir noch die kleinsten Vögel verfolgen, außerdem sogar wandernde Insekten wie Libellen und Monarchfalter.

Auch das Vorhaben, das mich nach Denali geführt hatte, war ein solches Gemeinschaftsprojekt. Seinen Ursprung hatte es in einer Zufallsbegegnung Jahre zuvor. Carol McIntyre studierte schon seit dreißig Jahren das Leben der Vögel in den Nationalparks von Alaska und wurde mit ihren bahnbrechenden Arbeiten über die Steinadler von Denali bekannt — diesen Ort habe ich ins Herz geschlossen und kehre seit mehr als dreißig Jahren nahezu jedes Jahr dorthin zurück. Der Plan, den wir einige Jahre zuvor in Minnesota bei einer Tagung über Greifvögel ausgebrütet hatten, war in seiner Kühnheit atemberaubend (und vielleicht auch ein wenig verrückt). Wir hatten beschlossen, im Rahmen eines zeitlich nicht begrenzten Forschungsprogramms die Zusammenhänge zwischen den Wanderungen einer sich ständig verändernden Ansammlung von Vögeln zu kartieren; dabei verschob sich der Schwerpunkt im Laufe der Zeit immer wieder von Singvögeln über Greifvögel und Küstenvögel zu Seevögeln, die im Landesinneren nisteten, und anderen Gruppen. Nachdem wir damit im Denali Erfolg gehabt hatten, weiteten wir die Studie auch auf andere Parks aus und verfolgten letztlich das Ziel, einen großen Teil der 22 Millionen Hektar der Nationalparks von Alaska abzudecken. Wenn man sich mit einem globalen Phänomen wie dem Vogelzug beschäftigt, zahlt es sich aus, groß zu denken.

Um dieses Buch schreiben zu können, segelte ich durch die sturmgepeitschten Gewässer der Beringsee und an den Rand des Kontinentalsockels bei den Outer Banks vor der Küste von North Carolina, alles um einen der am wenigsten bekannten Aspekte des Vogelzuges genauer zu durchleuchten. Ich sprach mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die im weißen Kittel in Hightech-Laboren standen und auf der subatomaren Ebene die Mechanik des Vogelzuges verstehen wollten, aber auch mit Ornithologen, die am staubigen, gefährlichen Südrand der Sahara arbeiteten, wobei sie immer mit einem Auge die Vögel beobachteten, während sie mit dem anderen Ausschau nach islamistischen Aufständischen hielten, die sie mit Vergnügen töten oder entführen würden. Ich ging Schützen und Fallenstellern im Mittelmeerraum aus dem Weg, wo ein weitgehend unsichtbarer Guerillakrieg zur Verhinderung des illegalen Gemetzels an Millionen Singvögeln tobt, und ich besuchte China, wo eine aggressive Erschließung der Küstengebiete und ein Hunger nach Wildvögeln im Kochtopf eine Naturschutzkatastrophe auslösen, während gleichzeitig unerwartete Hoffnung aufkeimt. Und ich reiste in einen der abgelegensten Teile Asiens, einen vergessenen Winkel von Indien, wo frühere Jäger eine der bedrückendsten Krisen für Zugvögel in einen beispiellosen Naturschutzerfolg umgemünzt haben.

Die Wissenschaftlerinnen und Naturschützer, die diese Seiten bevölkern, sind für mich keine Fremden; viele von ihnen sind im Laufe der Jahre zu Freundinnen und Kollegen geworden, und alle gehören zu der engen globalen Gemeinschaft, die daran arbeitet, den Vogelzug besser kennenzulernen und zu bewahren.

Aber so gern ich mir auch etwas anderes einbilden würde, in Wirklichkeit bleibe ich — wie jeder Mensch, der sich darum bemüht, das Phänomen in seinen innersten Funktionen zu verstehen — ein Außenseiter. Im besten Fall können wir an der Oberfläche dieses majestätischen globalen Schauspiels kratzen, können zu begreifen versuchen, welche rein körperlichen Leistungen die Zugvögel um uns herum vollbringen, und zu verstehen, von welchen natürlichen Systemen sie abhängig sind. Die Welt um uns herum wandelt sich so, dass wir es kaum begreifen und noch weniger kontrollieren können, und die Vögel — insbesondere Zugvögel — verschaffen uns den besten Einblick in solche Veränderungen. Oft sind es düstere Nachrichten; einem Wert zufolge hat Nordamerika seit meinen Kindertagen, als ich am Hawk Mountain meine Erleuchtung hatte, ein volles Drittel seiner Vögel verloren — rund drei Milliarden Individuen. Daran können wir mit beängstigender Klarheit ablesen, wie übel wir unserer gemeinsamen Welt mitgespielt haben. Vögel sind Wächter, Vorreiter und Opfer unserer Verrücktheit — aber wenn wir auf ihre Bedürfnisse eingehen, können sie auch uns selbst in eine nachhaltigere Zukunft führen.

Und sie sind allgegenwärtig, ob wir es mitbekommen oder nicht. Nacht für Nacht, von den lauen Abenden im August bis zu den eisigen Wochen vor Thanksgiving strömen die Singvögel nach Süden, und das in einer Zahl, die diejenigen unter uns, über deren Häuser sie fliegen, vor Ehrfurcht verstummen lassen würde, wenn wir sie nur sehen könnten.

Ich weiß davon durch Studien, die wir vor einigen Jahren in Pennsylvania mit speziellen Radargeräten unternahmen: In solchen Nächten fliegen bis zu einige Millionen Zugvögel pro Stunde vorüber. Man kann es mit Fug und Recht als das größte Naturschauspiel der Welt bezeichnen, und es findet fast überall und über allen Landmassen statt — eine Ausnahme bildet nur die Antarktis, wo die wandernden Pinguine zu Fuß unterwegs sind; gleichzeitig ist es aber durch den Schleier der Dunkelheit vor unseren Blicken verborgen. Wir schlafen und wissen nichts von dem Wunder über unseren Köpfen.

Eines Morgens schlich ich mich unmittelbar nach Tagesanbruch ins Freie. Die Luft war frisch — über Nacht hatte eindeutig der Herbst das Kommando übernommen, und ich schob die Hände tief in die warmen Taschen meiner Fleecejacke. Bäume und Sträucher erbebten von flatternden Flügeln. Vom Nachtflug erschöpft, nahmen die Vögel ein paar schnelle Bissen, dann zogen sie weiter und suchten nach einem sicheren Ort für ein Nickerchen von ein paar Stunden. Schlanke rußgraue Drosseln verschlangen die schwarzblauen Beeren des Hartriegels. Ein Weidengelbkehlchen — klein, stämmig, den kurzen Schwanz wie ein Zaunkönig aufgerichtet — beäugte mich vom Zweig einer Goldrute aus, dessen Farbe zu der seiner Kehle passte. Ein paar Rotaugenvireos arbeiteten sich systematisch durch das belaubte Astwerk eines Holzapfelbaumes und holten kältestarre Insekten aus ihren Verstecken.

Im düsteren Schatten der Kiefern, wo die Nacht noch nachzuklingen schien, sah ich dicht über dem Boden eine vorsichtige Bewegung. Ich hob das Fernglas an die Augen. In meinem Blickfeld zeigten sich die aquarellbunte Brust und das braune Gefieder einer Grauwangen-Musendrossel. Der wenige Meter entfernte Vogel beäugte mich argwöhnisch und stieß einen leisen Alarmruf aus. Da er offensichtlich zu dem Schluss gelangt war, dass ich das kleinere Übel darstellte, wandte er mir den Rücken zu und wühlte in den Kiefernnadeln, um sich nach zwölf anstrengenden Flugstunden seine erste Mahlzeit zu suchen. An den Deckfedern seiner Flügel mit ihren blassen Spitzen konnte ich ablesen, dass diese Drossel ein Jungtier war und zum ersten Mal die Wanderung unternahm. Geschlüpft war sie wahrscheinlich in den Fichtenwäldern Neufundlands oder des südlichen Labrador, eine Kontinentbreite entfernt von den Vögeln, die wir in Alaska mit Sendern versehen hatten. Und doch ergriff mich der gleiche dringende Wunsch, diesen Vogel ebenso genau kennenzulernen wie die Drosseln von Denali — nicht als vorübergehende Ablenkung, nicht als einen der vielen Zugvögel an einem lebhaften Morgen, sondern als Individuum, als einzigartiges Lebewesen mit einem einzigartigen, außergewöhnlichen Lebenslauf.

Es war ein vollkommen gewöhnlicher und doch ungewöhnlicher Vogel — genau wie jeder Zugvogel, der den Sprung ins Ungewisse wagt, geleitet von seinem Instinkt, der über Millionen Generationen der brutalen Selektion gestaltet wurde. Die Räume voller Gefahren, die wir nicht begreifen können, durchmisst er mit glücklichen Zufällen, Beinahekatastrophen und gewaltiger Ausdauer, mit der Kraft seiner eigenen Muskeln und Flügel. Über undenkliche Zeitalter reichte das. Heute liegt seine Zukunft, ob zum Guten oder Schlechten, in unseren Händen.

1

Löffelchen

Die Welt bestand aus zwei genau gleich großen grauen Hälften. Geteilt wurde sie durch die flache Linie des Horizonts: das rauchige Silber eines bedeckten, ungegliederten, gleichförmigen Himmels und die dunklere, gefleckte Granit- und Kohlefarbe einer Wattfläche, die sich nach allen Seiten dehnte. Papierdünne Wasserschichten auf ihrer Oberfläche spiegelten die Wolken oder wurden von der Brise gekräuselt. In der Luft lag ein scharfer Salzgeruch, aber der Ozean war, viele Kilometer östlich von uns, nicht zu sehen. Wenn die Gezeiten wechselten, würde das Wasser die Ebene wieder überfluten, schneller, als ein Mensch bequem gehen kann; jetzt jedoch war das Gelbe Meer nur ein Rumoren, das von einem feuchten, eisigen Wind herangetragen wurde.

Ich hatte damit gerechnet, dass meine Gummistiefel in den Boden sinken würden, aber der Schlamm fühlte sich an wie Beton; der Name, den die Einheimischen ihm hier an der Küste der chinesischen Provinz Jiangsu geben, lässt sich mit »Stahlplatte« übersetzen und trifft sowohl auf die Festigkeit als auch auf den metallischen Glanz des Sediments zu. Selbst der große Traktor mit dem Anhänger, der uns weit hinter den Deich gebracht hatte, hinterließ kaum eine Vertiefung. Hier wuchs nichts; nichts brach aus der glatten Weite der von den Gezeiten geriffelten Schlammfläche außer ein paar Stücken Treibholz und seltsamen Plastikmüllbrocken. Eine leblosere Landschaft konnte man sich kaum ausmalen. Abgesehen von meinen Begleitern — rund ein halbes Dutzend in Regenkleidung, die sich gegen den Wind und den wehenden Nebel stemmten — gab es kaum Lebenszeichen: ein paar gewundene Spuren von Weichtieren oder Würmern waren zurückgeblieben, als eine Stunde zuvor die Ebbe eingesetzt hatte.

Jing Li ließ das Spektiv von der Schulter gleiten, klappte das Dreibeinstativ auseinander und musterte mit einer geübten Bewegung die Umgebung. Zhang Lin richtete sein Spektiv in einer anderen Richtung aus, während wir übrigen einfach zufällige Stellen am Horizont mit unseren Ferngläsern betrachteten, wobei wir mehr oder weniger nichts sahen. Als ich aber die Arme senkte und den Blick schweifen ließ, hörte ich hinter mir ein spitzes, rollendes Pfeifen — und als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass wir von Vögeln umgeben waren.

Es waren Schwärme aus dem Süden, dicht gedrängte Flächen aus kleinen Körpern, die Wellen schlugen und sich auffalteten. Sie bildeten Schichten, spalteten sich zu Reihen auf und flossen in verschiedenen kleinen Strömen zu großen Flüssen aus Flügeln zusammen, sie bewegten sich ausnahmslos mit ungeheurer Geschwindigkeit. Die erste Welle schwappte innerhalb von Sekunden über uns hinweg, Tausende kleine, flüchtige Körper mit einem dünnen, flüsternden Rauschen, das sich ganz anders — höher, drängender — anhörte als der Wind. Ich bewegte mich mit ihnen, drehte mich auf dem Absatz wie eine Wetterfahne, die von wechselnden Böen gestoßen wird, aber da waren sie bereits an mir vorbeigezogen, während die nächsten Wellen zu meiner Rechten und Linken heranrauschten. In ihrer Mehrzahl waren es Rotkehl-Strandläufer, kleine, spatzengroße Küstenvögel, die in Asien weitverbreitet sind. In Größe und Form ähnelten sie den Sandstrandläufern, die mir von zu Hause vertraut waren, aber diese hier hatten im Brutgefieder eine tief dunkelbraune Färbung über Kopf und Hals. Auch Alpenstrandläufer mit gebogenem Schnabel und schwarzem Bauch waren darunter, außerdem Steinwälzer, gescheckt mit rotbraunen und schwarzen Flecken, aber auch mit weißen wie italienische Harlekine. Nicht dass ich solche Details hätte sehen können, während sie vorüberflogen; das Ganze war nur eine Masse aus bewegten, verschwommenen Gestalten und Flügeln — einmal graubraun, dann wieder weiß aufblitzend, wenn Tausende von Vögeln im gleichen Augenblick vorüberflatterten, in gespenstischer Einheitlichkeit wirbelten und ihre helle Unterseite zeigten.

Als ich mich umdrehte, sah ich etliche Kilometer entfernt dichte Wolken aus Vögeln aufsteigen. Wo sie gesessen hatten, war jenseits der zarten Wölbung des Horizonts nichts zu erkennen. Sie bildeten amöbenartige Massen, die sich dehnten und zusammenzogen, sich vereinigten und sich wie knallige Finger in unsere Richtung ausstreckten. Die Vorhut hatte jetzt den Kurs geändert, flog wieder zurück und kam im rechten Winkel unterhalb des ständigen Stroms von Vögeln aus dem Süden vorbei. Überall um uns ließen sie sich nieder wie ein Teppich brauner Körper, der sich in allen Richtungen über Hunderte von Metern erstreckte. Sobald sich die kleinen Strandläufer niedergelassen hatten, steckten sie ohne Umschweife den Schnabel in den Schlamm und erzeugten eine pulsierende, hektische Fressbewegung, als hätten sie keine Sekunde zu verlieren.

So war es auch. Die meisten dieser Vögel hatten schon Tausende von Kilometern hinter sich; sie kamen von weit entfernten Orten im Süden, vom Eighty Mile Beach im Nordwesten Australiens oder vom Firth of Thames in Neuseeland. In einer oder zwei Wochen würden sie nach Kamtschatka im fernen Osten Russlands oder zum Yukon-Delta in Westalaska weiterfliegen oder auch zu den Anschuinseln in der sibirischen Arktis. Jedes Jahr durchqueren rund 80 Millionen Küstenvögel auf ihren Wanderungen das Gelbe Meer und nutzen dabei Wattflächen oder Marschen wie diese bei Dongling, um sich auszuruhen und Nahrung aufzunehmen. Was für mich wie eine leere Schlammfläche aussah, barg unter der Oberfläche ein biologisches Mischmasch aus Borstenwürmern, Muscheln, Schnecken, winzigen Krebsen und unzähligen anderen wirbellosen Meeresbewohnern — ein Büfett für hungrige Vögel. Zugvogelspezialisten bezeichnen solche entscheidenden Zwischenstationen als Rastplätze*1, weil erschöpfte, hungrige Vögel sich dort aufhalten und Kraft tanken können. Dass es von grundlegender Bedeutung ist, solche Rastplätze zu bewahren, ist im Naturschutz erst seit einigen Jahrzehnten klar geworden, aber eigentlich sollte es für jeden auf der Hand liegen, der schon einmal eine lange Reise auf dem Landweg geplant hat mit Stopps für Treibstoff, Essen und Schlaf.

Größe und Qualität der Rastplätze können sehr unterschiedlich sein; Ornithologen sind manchmal ein wenig verspielt und haben sie als Feuerschutzräume, Lebensmittelläden oder Fünfsternehotels bezeichnet. Wenn es aber um ihre Bedeutung für die Zugvögel geht, wird die Sache todernst. Wie ein überfüllter Autobahnrastplatz, der die beste Werbung für sich selbst ist, so sind auch die beliebtesten Zugvögel-Rastplätze — also diejenigen, die genau zur richtigen Jahreszeit die größte Fülle an Nahrung, aber auch Sicherheit vor Gefahren und viel Bewegungsfreiheit bieten — dicht mit Zugvögeln besetzt. Derartige Rastplätze liegen häufig beiderseits größerer geografischer Barrieren, die einen Zugvogel an seine körperliche Leistungsgrenze bringen; so beispielsweise am Südrand der Sahara, der letzten Station für Singvögel, die auf dem Weg nach Europa zuerst die riesige Wüste und dann das Mittelmeer überqueren müssen; oder die Dickichte und Sümpfe an der Küste Neuenglands für Sing- und Küstenvögel, die anschließend mehr als 1500 Kilometer auf den Westatlantik hinausfliegen, um sich dann von den nordöstlichen Passatwinden weitere 1000 Kilometer bis zur Küste Venezuelas oder Surinams treiben zu lassen. Solche Nadelöhre und Engstellen gibt es auf jeder Flugroute, aber man kann mit Fug und Recht behaupten, dass kein Rastplatz im weltweiten Maßstab und für mehr Vogelarten von derart entscheidender, grundlegender Bedeutung ist als das Gelbe Meer.

Wir brauchen nur eine Landkarte der östlichen Hemisphäre zu nehmen und die Spitze eines Bleistifts in der Nähe von Neuseeland anzusetzen. Dann ziehen wir eine Linie nach Westen: Sie verläuft unterhalb Tasmaniens, dann 8000 Kilometer nach Nordwesten und schneidet beide Seiten des Golfes von Bengalen in Indien und Myanmar. Jetzt ziehen wir die Linie nach Osten quer durch Südchina bis nach Taiwan, dann nach Südosten über die Philippinen, Indonesien, die Insel Neuguinea und die Inselwelt des südwestlichen Pazifik mit den Salomonen und Fidschi-Inseln. Dort verbringen die Küstenvögel des Gelben Meeres die Nebensaison — »Winter« ist es nur im nördlichen Sinn, weshalb Ornithologen lieber von »außerhalb der Brutsaison« sprechen. Als Nächstes ziehen wir eine weitere Linie: Dieses Mal beginnt sie an der Mündung des Mackenzie River in Kanada, weiter verläuft sie zur Beaufortsee vor den kanadischen Northwest Territories. Wir verlängern die Linie über den Nordrand Alaskas, quer über die Beringsee und bis nach Sibirien westlich der Taymyr-Halbinsel, dann in südlicher Richtung durch Russland, die Mongolei und Westchina bis zur tibetanischen Hochebene. Wir führen den Bleistift nach Osten, umkreisen Nordkorea und Japan, dann geht es nach Nordosten zur Halbinsel Kamtschatka, dem vulkanischen Bogen der Aleuteninseln und bis zu großen Teilen Westalaskas. In dieses gewaltige Gebiet kehren die Zugvögel zurück, um sich zu paaren und ihre Nester zu bauen.

Etwa 8 Millionen Zugvögel — Küstenvögel und Hunderte Millionen Singvögel, Greifvögel und andere Spezies — nutzen den Ostasiatisch-Australasiatischen Zugweg jedes Jahr.

Die beiden großen Kreise auf der Landkarte umfassen zusammen rund 70 Millionen Quadratkilometer, und wo sie sich knapp überschneiden, liegt das Gelbe Meer, das Ostchina von Nord- und Südkorea trennt. Es ist die außerordentlich enge Mitte eines Systems von Zugrouten, das die Form einer Sanduhr hat und unter dem Namen Ostasiatisch-Australasiatischer Zugweg (East Asian-Australasian Flyway, EAAF) bekannt ist. Seine Bedeutung ist nicht nur eine Frage des geografischen Zufalls. Das Gelbe Meer ist insbesondere auf der chinesischen Seite und in dem nördlichen Golf, der als Golf von Bohai oder Bohaisee bekannt ist, besonders flach. Während der letzten Eiszeit, als der globale Meeresspiegel über 100 Meter niedriger lag als heute, war das Gebiet in großen Teilen trockenes Land, und durch seine Mitte verlief das Bett des Jangtse. Die Kombination aus flachen Küstenstreifen und einem Gezeitenhub, der je nach Mondphase acht bis zehn Meter ausmachen kann, hat eine wichtige Wirkung: Bei Ebbe zieht sich das Meer viele Kilometer zurück, sodass das weitläufigste natürliche Wattgebiet der Welt freigelegt wird. Gespeist wird das Gelbe Meer durch üppige Sedimentmengen, die ihm auch seinen Namen gegeben haben; sie stammen aus dem Jangtse, dem Huang He (Gelber Fluss) und anderen großen Strömen aus dem Osten Chinas. Der Huang He bringt mit jedem Kubikmeter Wasser bis zu 34 Kilogramm Schlick mit — allerdings ist »Wasser« für eine solche körnige Suspension vielleicht nicht der richtige Ausdruck.

Früher waren die Wattflächen an der Küste des Gelben Meeres über eine Million Hektar groß und boten den Zugvögeln den luxuriösesten Aufenthaltsort unter allen Fünf-Sterne-Rastplätzen. In den letzten fünfzig Jahren jedoch und vor allem in den letzten zehn Jahren wurden mehr als zwei Drittel dieser küstennahen Feuchtgebiete zerstört. Verantwortlich war vor allem ein beschönigend als »Landgewinnung« bezeichneter Prozess — man häufte riesige Schlammwälle auf, um die Flut fernzuhalten, und pumpte dann Millionen Tonnen Sediment vom Meeresboden in die künstlich abgegrenzten Gebiete, um trockenes Land für Industrie, Landwirtschaft und andere Zwecke zu schaffen. Auch der Zufluss frischen Schlamms aus den Flüssen wurde abgewürgt. Allein am Hauptbett des Jangtse und seinen Nebenflüssen gibt es heute rund 50.000 Dämme, diese hatten den Sedimenttransport ins Meer schon um rund 90 Prozent vermindert, bevor 2003 das umstrittene Projekt des Dreischluchtendammes in Angriff genommen wurde. Danach verminderte sich der Schlickstrom nochmals um 70 Prozent. Die Reste, die jetzt noch in die Wattflächen des Gelben Meeres fließen und für die erschöpften Vögel, die nach ihnen suchen, überaus kostbar sind, schaffen die vielleicht am stärksten bedrohte Drehscheibe der vielen miteinander verflochtenen weltweiten Vogelzugwege.

Ich war mehrere Wochen in Begleitung von Naturschützern und Wissenschaftlerinnen aus China, Europa, Australien und den Vereinigten Staaten entlang des Gelben Meeres unterwegs. Sie alle wissen um die globale Bedeutung der Wattflächen für die Zugvögel und um die existenzielle Krise dieses Ökosystem. Einige Tage zuvor — wir hatten gerade schockiert einen gewaltigen, mehrere Kilometer langen und eineinhalb Kilometer breiten Komplex aus fünf neuen Stahlwerken betrachtet, der sich über dem ehemaligen Wattgebiet erhob — sagte eine von ihnen: »Es gibt keinen Puffer mehr. Es gibt für diese Vögel kein ›woandershin‹ mehr. Jeder verlorene Hektar bedeutet, dass Vögel verloren gehen.« Nach Angaben der Internationalen Naturschutzunion IUCN gehören die Zerstörung der Küste des Gelben Meeres und der Rückgang der Küstenvögel, die darauf angewiesen sind (neben den Millionen Menschen, die wie Fischer und Muschelfischer ein gesundes Meer brauchen) zu den schlimmsten Umweltkrisen der Welt.

Durch Zufall hielt ich mich gerade zu einer Zeit an der chinesischen Küste auf, die für diese gefährdeten Vögel und ihr zerstörtes Ökosystem einen Wendepunkt darstellte. Kurz zuvor hatte die chinesische Regierung ohne weitere Anhörungen oder Verzögerungen eine umfassende Verordnung herausgegeben: Darin wurde mit einem Federstrich die ungezügelte, von lokalen Interessen getriebene Zerstörung der Küsten verboten, die seit Jahrzehnten für das Gelbe Meer charakteristisch war. Eine Naturschützerin beschrieb ihre Reaktion mit den Worten »verblüffte Freude«1. Viele andere hielten zwar ihre Hoffnung mit dem Zynismus bitterer Erfahrungen im Zaum, aber immerhin gab es jetzt, da es fünf vor zwölf war, gute Gründe für vorsichtigen Optimismus. Entscheidende Bereiche wurden kurzfristig dem internationalen Schutz unterstellt; die Welle der Zerstörung, die noch wenige Monate zuvor scheinbar unaufhaltsam gewesen war, schien sich nun abzuschwächen. Und seltsamerweise war die potenzielle Rettung in erheblichem Maße einem pummeligen kleinen Strandläufer mit bizarr geformtem Schnabel zu verdanken, der das Charisma eines Rockstars hatte und mit einem seiner winzigen Füße bereits im Grab stand.

Der Nebel hatte sich gelichtet. Der Wind frischte auf und zerriss die Wolken zu langen Streifen. »Vorwiegend Rotkehl-Strandläufer«, sagte Jing Li, wobei sie sich zu voller Größe aufrichtete und lose Strähnen ihrer langen Haare wieder unter ihre Mütze stopfte; ihr leuchtend grüner Rucksack war kilometerweit die einzige bunte Farbe. »Vielleicht ein Drittel von ihnen sind Alpenstrandläufer, dann noch ein paar Kiebitzregenpfeifer, ein paar Knutts und Schnepfen, aber vor allem Strandläufer.« Zhang Ling beugte sich immer noch über sein Spektiv, das Zählgerät in seiner Hand klickte so schnell, wie der Daumen den Knopf drücken konnte. Es war ein eindrucksvoller Anblick, aber Jing suchte vor allem nach einer bestimmten Vogelart, der Galionsfigur für den Naturschutz am Gelben Meer: dem Löffelstrandläufer.

Diese hübschen Vögel scheinen fast einem Comic entsprungen zu sein; ein Löffelstrandläufer sieht von der Seite aus wie jeder andere gewöhnliche, stämmige Strandläufer, denn er hat den gleichen rostbraunen Kopf wie der Rotkehl-Strandläufer. Von vorn jedoch kann man sehen, dass der Schnabel an der Spitze abgeflacht ist wie ein breiter Spatel, als hätte man mit dem Hammer draufgeschlagen, als er noch weich war. Warum sich in der Evolution der Löffelchen (wie die Vogelfreunde sie oft nennen) ein so absurd seltsam geformter Schnabel entwickelt hat, weiß niemand; es muss mit der Nahrungsaufnahme zu tun haben, aber im Einzelnen bleibt seine Funktion wie so vieles an diesem Vogel ein Rätsel. Die Wirkung ist aber die eines komischen Plüschtiers.

Die andere Seite der Medaille aber ist die extreme Seltenheit und daraus resultierende Gefährdung des Löffelstrandläufers. Weitverbreitet war die Spezies wohl nie; die Vögel brüten nur an wenigen Orten in einem schmalen Streifen, der sich von der Nordostküste Russlands an der Beringsee und der ostsibirischen See entlangzieht; die Nistplätze sind nie weiter als ein paar Kilometer vom Meer entfernt und befinden sich in der Regel in baumlosen, von Kronsbeerbüschen bewachsenen Tundralandschaften, die sich bis zum eisigen Wasser erstrecken.

Sowjetische Wissenschaftler vermaßen 1977 das Brutgebiet und schätzten den weltweiten Bestand auf 2000 bis 2800 Paare; danach gab es fast ein Vierteljahrhundert keine weiteren Studien, aber in dieser Zeit war die Hälfte der Löffelstrandläufer verschwunden. Die Dringlichkeit wuchs, und in den folgenden neun Jahren wurde eine intensive Suche organisiert; in Gebieten, in denen die Wissenschaftler mit bis zu 65