Aufbruch nach Sempera - Tatjana Zanot - E-Book

Aufbruch nach Sempera E-Book

Tatjana Zanot

0,0

Beschreibung

Die sechzehnjährige Daisy Demerath ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Während ihre früheren Klassenkameradinnen Listen schreiben, mit welchen Stars sie ins Bett gehen würden, führt sie eine Liste mit ihren persönlichen Worst-Case-Szenarien. Seit drei Jahren hat sie nicht mehr das Haus verlassen. Eines Abends jedoch muss sie vor die Tür treten, um den Müll nach draußen zu bringen, und gerät prompt in Schwierigkeiten. Wenn sie gewusst hätte, welches Abenteuer auf sie wartet, wäre sie vermutlich drinnen geblieben – und wäre nie in eine Parallelwelt hineingeraten, in der Gestaltwandler ihr Unwesen treiben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 388

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagträumerverlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Korrektorat: Jessica Strang

Illustrationen: Tatjana Scegelskis

Anna Dörscheln

pixabay.com

Umschlaggestaltung: Asuka Lionera

www.asuka-lionera.de/wordpress/

Bildmaterial: © Shutterstock.com

Druck: Booksfactory

ISBN: 978-3-946843-20-7

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2017

Tatjana Zanot

Für Julia

Und für alle „Daisys“ dieser Welt.

Ihr seid besonders!

Daisy Demerath: Protagonistin dieser Geschichte, auch wenn sie sich etwas Angenehmeres hätte vorstellen können

Nadja: Daisys Pflegemutter

Kasimir: Eventuell bloß ein Kater. Vielleicht auch mehr.

Daalia: Eine herzliche Frau, die Daisy und Kasimir aufnimmt

Dina und Danjos: Daalias Kinder

Rabia: Eine Freundin von Kasimir und Daalia

Kora: Eine Hexe

Félia: Eine Retterin

Fou: Er wäre gern ein echter Held

Tajo: Ein ziemlich arroganter Prinz

Tiece: Seine überraschend nette Schwester

Avos: Ein ziemlich böser Lasin

Lady Wic: Eine noch viel schlimmere Lasina

Aurora: Noch eine Hexe

1

Das allerschlimmste, was passieren könnte.

Mein Leben war schrecklich.

Genervt, von mir selbst, seufzte ich und scrollte weiter gelangweilt durchs soziale Netzwerk. Das hieß allerdings nicht, dass ich sonderlich viele virale Freunde hatte. Wenn, dann nur solche, mit denen ich seit drei Jahren kein echtes Wort mehr gesprochen hatte.

Solange war es nämlich her, dass ich das Haus verlassen hatte.

Und mein Leben war auch nicht schrecklich-schrecklich. Im Grunde genommen war es bloß… anders, als es sein sollte. Aber mein Therapeut dichtete mir neuerdings einen depressiven Schub an, der sich – wie er es ausdrückte – echt gewaschen hatte, und allmählich glaubte ich ihm auch.

Ich war 16 Jahre alt.

Andere Mädchen in meinem Alter hatten ihren ersten Freund, mussten ihren ersten Frauenarztbesuch über sich ergehen lassen oder fingen ihre Ausbildung an.

Und ich?

Ich hatte weder einen festen Freund, noch eine Art Freundin, mit der ich über Jungs hätte fachsimpeln können. Der Frauenarztbesuch erübrigte sich von selbst – wer nicht rausgehen konnte, hatte auch keine Arzttermine, so einfach war das. Und eine Ausbildung lag nicht einmal in Reichweite. Noch wurde ich zu Hause unterrichtet, und meine Ärzte kamen immer direkt zu mir, wenn ich sie brauchte.

Ich war ein Sonderfall.

Ein Teil von mir wünschte sich, an dieser Stelle behaupten zu können, an irgendeiner seltenen Krankheit wie der Mondkrankheit zu leiden, oder behindert zu sein. Aber nein, es waren lediglich Panikattacken, die mir mein Leben zur Hölle machten.

Ja, ich weiß, man sollte psychische Krankheiten nicht herunter reden. So lapidar, wie es aus meinem Mund vielleicht so manches Mal herauskam, war es auch ganz sicher nicht. Immerhin gestalteten meine Angstzustände mein Leben schon seit – na ja, eigentlich seit ich denken kann.

Vor drei Jahren war es ganz besonders schlimm geworden.

So schlimm, dass ich mich vollends von Freunden, Lagerfeuern oder Tagen am See verabschieden musste.

Die meisten verstanden das nicht. Sie dachten, ich müsste einfach nur durch die Tür gehen und alles wäre wieder gut. Die Schlimmsten von ihnen glaubten, ich würde nur simulieren. Diverse Nachbarn sagten, ich sollte mich nicht so anstellen. Jeder hatte mal einen schlechten Tag oder keine Lust aufzustehen.

Nur die Allerwenigsten verstanden, dass ich keine Wahl hatte. Dass es eine Krankheit war.

Eine psychische Krankheit konnte man sich genauso wenig aussuchen, wie seine Sexualität oder Hautfarbe.

Und wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich mir garantiert nichts ausgesucht, was mich davon abhielt, ein normales Leben zu führen.

Das war natürlich nur so daher gesagt. Mir war durchaus bewusst, dass ich nicht schlechter dran war als ein Mädchen mit Depressionen oder Magersucht. Ich war mir ziemlich sicher, dass diejenigen, die irgendwas Undefinierbares hatten, viel schlimmer dran waren als ich, sich zumindest an eine Diagnose klammern konnten.

Es ist nämlich so – und das verstanden noch viel weniger Leute als so schon – in dem Augenblick, in dem du deine Diagnose erhältst, wird deine Krankheit zu deinem allerbesten Freund und schlimmsten Feind zugleich.

Das klang total absurd. Und mir fehlten ehrlich gesagt die Worte, dieses Phänomen zu erklären.

Meine Krankheit hielt mich fest. Sie sorgte dafür, dass ich wie eine Pest-Kranke drinnen blieb, sogar an sonnigen Sommertagen. Jedes mal, wenn ich Bilder von anderen Jugendlichen sah, wie sie fröhlich an Lagerfeuern saßen, wurde ich ganz wehmütig.

Und gleichzeitig war meine Krankheit alles, was ich hatte.

Jeder hatte doch sein Etikett. Es gab die Pferde-Mädchen, die Sportler, die Kreativen. Die Mathematiker, die Stylischen, den Klassenclown. Sogar die, die ganz unten in den schulischen Schubladen steckten, hatten ihr Etikett.

Und meins war eben die Irre.

Das war okay. Ich hatte mich damit abgefunden. Wenn Nadja irgendwann an Altersschwäche verstarb, blieb ich einfach allein in der Wohnung. Um wenigstens eine Katze – oder 45 – zu kaufen - Um dem gängigen Klischee zu entsprechen, musste ich ja auch das Haus verlassen. Außer man konnte in ein paar Jahren Haustiere per Mausklick kaufen…

Nadja war übrigens die Heilige, die mich nach mehreren Pflegefamilien aufgenommen hatte. Sie hatte ihr Heim zu meinem gemacht, und als ich nicht mehr zur Schule gehen konnte, hatte sie mir eine Komplettrenovierung des Gästezimmers geschenkt, damit ich mit meinem kindlichen Hirn endlich raffte, dass ich bei ihr bleiben kann. Sie wollte mich. Für Nadja war ich die Tochter, die sie nie durch ihre Lenden pressen musste.

Wenn sie keine Heilige war, dann war das der Papst auch nicht.

Ich atmete ein weiteres Mal seufzend aus und starrte auf den Bildschirm. Da waren Bilder von ehemaligen Klassenkameraden, aber auch von Leuten, die ich in dem ein oder anderen Forum kennengelernt hatte. Von denen kannte ich keinen persönlich. Die posteten allerdings auch keine Bilder, die mich neidisch werden ließen.

Manchmal, wie jetzt, stellte ich mir vor, dass ich ein Teil dieser strahlenden Welt meiner früheren Mitschülerinnen war. Wie sie mich auf einem Foto von einer Party mit Alkopops verlinkten und etwas drunter schrieben wie: Daisy, du hast mal wieder alle unter‘n Tisch gesoffen, hahaha!

Oder auf einem Foto, wo ich mich gegen die Brust eines wahnsinnig gutaussehenden Typens lehnte, so á la Jannis Niewöhner, mit dem dazu passenden Kommentar: Du bist die Liebe meines Lebens.

Und diese Träume, oder eher Wunschvorstellungen, machten mich jedes Mal aufs Neue unglücklich; nicht, weil ich wusste, dass sie total unrealistisch waren, sondern weil es mich schlicht nervte, dass ich trotz dieser echt beschissenen Panikattacken, die mich anders als alle anderen machten, im Grunde genommen doch genauso war wie alle anderen 16-Jährigen Mädchen.

Das nervte mich so sehr, dass ich mir etwas ganz Eigenes ausgedacht hatte. Eine Art Spiel, welches ich mit mir selbst spielen musste.

Ich wusste, dass manche Mädchen eine Liste mit den Stars führten, mit denen es okay wäre, ihren mehr oder minder vorhandenen Partner zu betrügen. Und um mich von eben diesen Mädchen abzugrenzen, führte ich in meinem Kopf eine Liste mit den allerschlimmsten Dingen, die in meinem Leben passieren könnten.

Ironischerweise stand ganz oben auf meiner persönlichen Worst-Case-Szenarien-Liste: Schwanger werden.

Ich musste zugeben, sonderlich viele Gedanken machte ich mir bei der Liste nicht. Denn um überhaupt das Risiko einer Schwangerschaft einzugehen, bräuchte man einen Kerl, der mit einem schlafen wollte – im Idealfall war das der feste Freund.

Da es in meiner Reichweite niemanden gab, der mit mir intim werden wollte, konnte ich diesen Punkt genauso gut wieder streichen.

An zweiter Stelle stand: Genau in dem Augenblick, wenn ich mein schwarzgefärbtes Haar für lang genug empfand, an Krebs zu erkranken und eine Chemo machen zu müssen.

Das klang makaberer, als ich es meinte, weshalb es ganz gut war, dass diese Liste nur in meinem Kopf existierte.

Es gab nicht vieles, was ich so richtig an mir mochte. Ich war an den falschen Stellen knochig oder zu flach, und nahm an den ungünstigsten Stellen zu – wenn ich überhaupt zunahm. Meine Augen waren so hellblau, dass ich manchmal selbst erschrak, wenn ich in den Spiegel schaute. Zusammen mit meinen fliederfarbenen Augenringen und meiner noch dazu viel zu blassen Haut, gehörte ich eher Geisterwesen an als den Homo sapiens.

An meinem Körper konnte ich allerdings nichts ändern.

Aber ich konnte mich um meine Haare kümmern. Sie waren inzwischen lang genug, um meine kleine Oberweite zu kaschieren. Immer, wenn ich es für nötig hielt, schnitt Nadja mir die Spitzen mit einer Schere, die sie sich extra dafür angeschafft hatte.

Seht ihr? Ich musste gar nicht zwangsläufig das Haus verlassen. Nadja sorgte dafür, dass alles Notwendige in unseren vier Wänden zu finden war.

An dritter Stelle meiner Liste stand: Von Aliens entführt werden.

Man sollte meinen, dass wäre der Wunsch eines Mädchens, das nie das Haus verließ, aber ich dachte dabei an die Zeit nach der Entführung. Wenn die Aliens mich wieder aussetzten, irgendwelche Menschen mich im Nirgendwo aufgabelten und zur Polizei brachten, wo ich verhört werden würde, nur, um am Ende noch viel verrückter da zu stehen.

Dann war ich nicht nur die Irre, sondern der irre Freak.

Und an vierter Stelle stand: Zum fünften Mal die Pflegefamilie wechseln zu müssen.

Ich glaubte zwar nicht, dass Nadja mir das antun würde, und vermutlich würde das Pflegesystem mich im Falle eines Falles eher ins betreute Wohnen schicken, aber die Angst war unterschwellig immer schon da gewesen; seit dem Tag, an dem Nadja mich zu sich geholt hatte. Immerhin schränkte ich ihr Leben auch ein. Von ihren Männern, die sie hin und wieder traf, war bisher keiner länger geblieben.

Auf meinem Schreibtischstuhl zog ich meine Knie an mich, fuhr deprimiert meinen Computer herunter und pulte an den Fusseln meiner dunkelblauen Jogginghose herum.

Das hasste ich am meisten an meiner Krankheit: Sie beeinflusste nicht nur mich, sondern auch Nadja.

Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an mein Fenster und schaute in den nächtlichen Himmel. Ich betrachtete die Sterne und fragte mich, ob meine Eltern da oben waren und wenn ja, warum sie nicht besser auf mich aufgepasst hatten.

Und jedes Mal, wenn ich eine Sternschnuppe entdeckte, wünschte ich mir, gesund zu sein.

Ich wollte ja niemand anderes sein. Ich fand mich unter den gegebenen Umständen ziemlich okay.

Aber ich wäre gern eine bessere Version meiner selbst. Eine Version ohne Panikattacken. Und am besten ohne das schwarz gefärbte Haar, weil mich die Farbe noch viel blasser aussehen ließ.

Ich zuckte zusammen, als Nadja an meine Zimmertür klopfte. „Essen ist fertig!“, rief sie und ich hörte, wie sie sich wieder entfernte.

Das liebte ich am meisten an ihr: Sie ließ mir meinen Freiraum.

Und dann musste ich lächeln, weil ich wusste, dass ich trotz all der miesen Umstände, gar nicht so schlecht dran war. Wie sagte man immer so schön?

Es hätte auch schlimmer kommen können.

2

Die Katze

„So richtig gewöhnen kann ich mich an die schwarzen Haare ja nicht“, merkte Nadja beim samstäglichen Abendessen an.

Es war warm, draußen mussten es noch um die 25 Grad sein. Sie hatte die Balkontür und das Küchenfenster geöffnet, damit ein sanfter Durchzug herrschte.

Ich stocherte in meinen Kartoffeln herum. „Wenn es dich tröstet: ich auch nicht.“

„Hm“, machte sie und nahm einen Bissen von ihrem Fleisch. Sie ließ sich ganz besonders viel Zeit beim Kauen. Vermutlich dachte sie über irgendetwas nach.

Vor ein paar Tagen war ich auf die intelligente Idee gekommen, mein Haar schwarz zu färben. Inzwischen bereute ich es. Meine Haut wirkte dadurch beinahe durchscheinend, und meine Augen unnatürlich blau, als wäre ich eine wandelnde Leiche. Damit es besser aussah, hatte ich mir gestern meine Augenbrauen auch gefärbt, fühlte mich aber tatsächlich noch unwohler als vorher.„Du könntest sie nochmal färben“, schlug Nadja vor, nachdem sie ihren Bissen heruntergeschluckt hatte.

Ich grunzte. „Klar, weil Blondieren auch so einfach ist.“

„Ich zahl dir das Färben, wenn du zu einem Friseur gehen möchtest.“

Sie schielte vorsichtig über den Tisch hinweg, und ich blickte unverhohlen zu ihr und hob meine Augenbrauen. Besser gesagt: Die schwarzen Balken an der Stelle, wo mal meine Augenbrauen gewesen waren. Ich bezeichnete diese Prozedur als meinen abfälligen Dein-Ernst?!-Blick.

„Ja, ja“, seufzte Nadja und schob eine kleine Kartoffel durch ihre braune Sauce. „Es war nur so ein Gedanke.“

Jetzt war ich es, die seufzen wollte, allerdings unterdrückte ich den Impuls. Es ging ihr nicht um das Geld, welches sie sparen würde, wenn ich wie jede andere Sechzehnjährige auch zur Schule gehen würde.

Es ging ihr um das, was sich jede Mutter oder Mutterähnliche ihrem Kind wünscht: Ein ganz normales Leben, mit dem ganz normalen Wahnsinn.

Aber den gab es nicht für mich.

Es gab Tage, da traute ich mich nicht einmal aus dem Bett. Dann lag eine unglaublich schwere Last auf meinen Schultern, die mich daran hinderte, aufzustehen. Manchmal sogar daran zu atmen.

Nach dem Abendessen räumten wir gemeinsam den Tisch ab.

„Wie geht es… Thomas?“, fragte ich in einem unbefangenen Ton.

Sie grunzte. „Tobias. Und ehrlich, ich wünschte, du hättest ihn anders kennengelernt.“

Ich kicherte. „Du meinst: Nicht unbedingt in unserer Küche?“

„Nicht unbedingt nackt.“

„Und auch nicht in unserer Küche.“

Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ehrlich, Daisy. Das war so nicht geplant.“

Ich zuckte mit den Schultern und stellte unsere Gläser auf die Spüle. „Ich bin froh, wenn du nicht alleine bist.“

„Ach, ich bin doch nicht allein“, gab sie zurück, öffnete den Geschirrspüler und sortierte unsere Teller hinein. „Ich hab doch dich.“

„Ja, aber mit mir hast du keinen -“

Ich unterbrach mich selbst und spürte, wie meine Wangen ganz heiß wurden. Ich wollte nicht über Sex nachdenken. Für gewöhnlich hielt ich mich an die Devise: Zerbrich dir nur über Dinge den Kopf, die dich tatsächlich tangierten.

Und das war nicht Sex. Es gab kein besseres Verhütungsmittel als Angstzustände, sobald man das Haus verlassen wollte.

Aber mit den Jahren dachte ich immer öfter daran. Ich fragte mich, wie viele Mädchen aus meiner alten Klasse es schon hinter sich hatten. Wie viele Jungs sich wohl heimlich einen runterholten.

Und jedes Mal schüttelte ich, angewidert von mir selbst, den Kopf. Ich sollte mich nicht fragen, wann es endlich bei mir so weit sein würde. Und wie es sich anfühlte. Waren die Schmerzen auszuhalten? Oder würde ich in Ohnmacht fallen?

Oh mein Gott, das wäre ja mega peinlich. Oder eine Panikattacke. Und während er dann genüsslich stöhnte, während er zum Höhepunkt kam, bekam ich keine Luft mehr, und er würde meine Angst mit Lust verwechseln und einfach weitermachen.

Und Zack hatte mein Hirn Sex mit etwas Schlechtem verbunden, und zu der Ausgeh-Phobie gesellte sich eine Geschlechtsverkehr-Angst.

Okay, so leicht funktionierte das mit den Ängsten auch nicht. Sie waren nicht einfach da. Im Grunde genommen hatte ich schon mein ganzes Leben lang Ängste gehabt. Sie hatten tief in mir geschlummert und sich dann mit einem lauten: „Überraschung!“, in meiner Seele festgesetzt.

Ich hob meine Hand und massierte meine Schläfe. Mein Kopf fühlte sich an wie das Gehäuse eines Karussells. Und obwohl ich wusste, wie schwachsinnig es war, sich wegen etwas verrückt zu machen, dass vermutlich niemals eintreten würde, konnte ich es nicht abstellen.

„Schätzchen, woran denkst du nur schon wieder?“, holte Nadja mich in die Realität zurück.

Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt Kulturkreise, da wäre ich jetzt schon zum zweiten Mal schwanger.“

„Dann sind wir froh, dass du in unserem Kulturkreis die Zeit bekommst, gesund zu werden.“ Sie streckte ihren Arm aus und strich mir sanft über den Oberarm.

Dieses wir war zu ihrem Ding geworden. Sie sagte immer so etwas. Wir würden das schaffen. Wir gehen einkaufen. Wir haben Tante Margarethe zum Geburtstag gratuliert.

In den meisten Fällen tat sie all diese Dinge allein. Ich war bloß eine Art Amöbe, die hinter ihr herschwamm. Falls Amöben überhaupt schwammen.

Etwas in mir krampfte sich zusammen, noch bevor ich den Entschluss gefasst hatte.

Es war bewundernswert, wie das Unterbewusstsein funktionierte. Wie es Informationen aufnahm, noch ehe sie ins Hirn gelangt waren. Oder lag das Unterbewusstsein einfach in einem Teil des Hirns, auf den ich so nicht zurückgreifen konnte?

Interessante Vorstellung.

„Kann ich den Müll rausbringen?“, fragte ich.

Als die Worte herauspurzelten, machte der Krampf auf einmal Sinn. So lief das immer bei mir ab. Wenn ich etwas tun musste/sollte/wollte, was meiner Angst gegen den Strich ging, verkrampfte ich mich innerlich. Es fühlte sich an, als hätte jemand mehrere Seile um meine Organe gesponnen, die er mit einem Mal fest zusammenzog.

Nadja warf mir einen Blick zu. Ich wartete ebenso. Horchte in mich hinein. Aber nein, der Krampf verschlimmerte sich nicht. Er blieb erträglich.

Ich setzte ein Lächeln auf. „Bitte?“

Nadja entspannte sich sichtlich und nickte. „Klar. Aber bleib nicht zu lange draußen.“ Um ihre eigene Anspannung zu vertuschen, zwinkerte sie mir zu.

Ironie war ihre Art, damit fertig zu werden.

„Selbstverständlich“, gab ich zurück, nahm die Mülltüte aus dem Eimer heraus und zog mir im Flur graue Turnschuhe an, ehe ich die Wohnung verließ.

In einem Anfall von: Ich suche nach Gleichgesinnten, hatte ich mal im Internet nach Blogs oder Foren über Angststörungen gesucht. Ich war natürlich fündig geworden, im Internet fand man so ziemlich alles, aber die meisten sprachen nur über sich selbst.

Nirgends kamen die Angehörigen zu Wort.

Und das war etwas, das mich maßlos ärgerte.

Meine Krankheit betraf nicht nur mich. Klar, ich war die Hauptleidende, aber Nadja war eben auch ein Teil dieses Puzzles. Sie war diejenige, die ihr Leben umkrempelte, ohne einen echten Grund zu haben.

Manchmal glaubte ich, es wäre besser für sie, wenn sie Leute kennen würde, die ebenfalls ein psychisch krankes Kind zu Hause hatten.

Ich öffnete die Eingangstür und trat hinaus in die Dämmerung. Es war ein warmer Tag gewesen. Ich konnte die Wärme der Sonne auf meiner Haut spüren, obwohl sie nicht mehr direkt da war; als würde meine Haut sich an jene Tage erinnern, die ich tatsächlich draußen verbracht hatte.

Ich griff fester um den Müllsack herum. Atmete tief ein.

Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag.

Hier ist niemand, dachte ich genervt von mir selbst. Ich schaute mich suchend um, aber ich war tatsächlich allein.

Oh, doch nicht.

Auf der grünen Tonne hockte eine schwarz-braun getigerte Katze. Sie musterte mich, während ich näherkam.

Meine Nackenhaare stellten sich auf. „Herrgott, Daisy. Das ist nur eine Katze“, schalt ich mich selbst, fasste aber dennoch fester um den Müllsack, als müsste ich mich gleich verteidigen.

Als ich bei der grünen Mülltonne ankam, saß die Katze noch immer darauf und sah mich an.

Ich starrte zurück.

Einen Moment lang bewegte sich keiner von uns. Als sie plötzlich ihren Schwanz hob, zuckte ich erschrocken zusammen.

Adrenalin schoss durch meine Venen. In meinen Fingerspitzen kribbelte es, als würden sie gleich taub werden. Es ärgerte mich, dass ich nur einer schlecht platzierten Katze über den Weg laufen musste, um kurz vor einer Panikattacke zu stehen.

Mit meiner linken Hand machte ich eine halbherzige, scheuchende Bewegung. „Husch“, murmelte ich, klang aber genauso unglaubwürdig wie ein dickes Kind, das mit gierigem Blick und sabberndem Mund auf ein drittes Stück Sahnetorte verzichtete.

Die Katze bewegte sich keinen Zentimeter. Während ihr Schwanz hin und her schwankte, sah sie mich mit ihren grünen Augen erwartungsvoll an. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich geglaubt, sie würde mich mit ihrem Blick auslachen.

Vorsichtig stellte ich die Mülltüte ab und schaute mich um. Ich entdeckte einen Stein und nahm ihn. Er war nicht groß genug, um sie ernsthaft zu verletzen, aber ich hoffte, sie immerhin zu verscheuchen.

Während ich meinen Arm hob, verdrängte ich mein schlechtes Gewissen.

Wenn ich jemand mit einer dröhnenden Stimme wäre, wäre sie vielleicht von selbst abgehauen… Vielleicht wirkte mein ganzes Auftreten auch einfach nur schwach und minderbemittelt.

Ich atmete tief ein, holte aus und warf den Stein in Richtung der Katze.

Dummerweise verfehlte ich mein Ziel.

Ich wollte sie natürlich nicht direkt treffen! Ich hatte nichts gegen Tiere. Ich wollte zwar nie ein Haustier haben – nicht einmal Fische – aber ich hasste sie auch nicht. Tante Margarethe hatte einen blinden Labrador, den Nadja immer in Pflege nahm, wenn sie in den Urlaub fuhr, und mit dem kam ich auch ganz gut klar.

So okay ich Tiere auch fand, ungefähr gleichermaßen schlecht war ich im Werfen.

Der Stein traf die Katze an ihrer Brust. Sie miaute elendig auf und sprang erschrocken in die Hecke, die die Mülltonnen vor der Straße verbargen.

„Oh, verdammt!“, entfuhr es mir. Hastig nahm ich die Mülltüte und schmiss sie in die Tonne.

Anschließend trat ich suchend hinter die Hecke. „Das tut mir echt Leid“, murmelte ich vor mich hin, während ich nach der Katze Ausschau hielt. Ich glaubte zwar nicht, dass sie mich verstand, aber mein Gewissen beruhigte es.

Als sie ein wütendes Fauchen von sich gab, entdeckte ich sie auf der anderen Straßenseite. Es kam mir so vor, als hätte sie ihre Augen zusammengekniffen, um mich ganz besonders böse anzufunkeln.

Ich schluckte. „Hey, Kätzchen“, versuchte ich es einladend und trat mit ausgestreckter Hand auf die Straße. In gebückter Haltung näherte ich mich der Katze. „Mietz-Mietz.“

Sie gab ein Schnauben von sich.

Ein Schnauben? Ich schüttelte den Kopf. Es musste ein Fauchen gewesen sein.

Die Katze stand leichtfüßig auf und wollte davon marschieren, als plötzlich ein Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke bog.

Die Straßenecke, die nur fünf Meter entfernt war.

Ich starrte erschrocken das Auto an. Es war ein kleiner, blauer Wagen. Und er kam immer näher, viel zu schnell, würde nicht mehr rechtzeitig bremsen können.

In jener Sekunde geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Die Katze hielt inne, drehte sich blitzschnell um und sprang auf mich zu, und mein Inneres krampfte sich so sehr zusammen, dass ich einen schmerzerfüllten Schrei nicht unterdrücken konnte.

Und dann flog ich.

3

In der Dachshöhle

Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass man in den Sekunden kurz vor seinem Tod sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen sah.

Vielleicht lag es an meinen nicht vorhandenen, spannenden Erlebnissen, aber diese Annahme konnte ich nicht bestätigen.

Ehrlich gesagt dachte ich an Nadja. An all die Dinge, die sie tun könnte, jetzt, wo sie sich nicht mehr um mich kümmern musste. Erst da, während ich durch die Luft flog, in den Millisekunden vor dem tödlichen Aufprall, wurde mir klar, was für ein Klotz ich an ihrem Bein gewesen war.

Ich meine, im Grunde genommen wusste ich das schon immer. Aber so richtig begriffen hatte ich das nie.

Ich hoffte, sie würde wieder mit ihren Freundinnen ausgehen. Die Freitagabende in irgendeiner Bar verbringen. Sie würde auch nicht mehr warten müssen, bis der Kinofilm, den sie unbedingt hatte schauen wollen, endlich auf DVD erschienen war. Sie konnte sich einfach ihre Tasche packen und losziehen. Ungebunden, frei.

Wenn ich so darüber nachdachte, musste sie wohl eine Heldin sein, weil sie mich so lange ausgehalten hatte.

Es stimmte mich traurig zu wissen, dass niemals eine Straße nach ihr benannt werden würde.

Ich seufzte. Und dann war ich etwas genervt von mir selbst, dass ich kurz vor meinem Tod traurig seufzte. Viel schlimmer war allerdings die Tatsache, dass mein schier endloser Fall in meinen Tod das spannendste Erlebnis meiner ganzen Existenz darstellte.

Ich kniff meine Augen zusammen und wartete. Ich spürte den Wind durch meine Haare flattern. Welch Schande, ich würde niemals das neue Buch von Cody McFadyen lesen, obwohl ich seit vier Jahren sehnsüchtig darauf wartete.

Und dann hörte mein Fall auf. Ganz plötzlich.

Ich landete auf weichem Untergrund, konnte feuchtes Laub riechen.

Wenn sich Sterben immer so anfühlte, könnte ich es direkt ein zweites Mal tun.

„Bei allen Göttern, willst du hier überwintern?!“

Die Stimme war männlich, klang irgendwie spitz, und hatte einen arroganten Unterton.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, dass eine Stimme spitz sein konnte.

Was würde mich wohl erwarten? Ich hatte mir nie Gedanken über den Himmel gemacht. Seit ich denken konnte, bedeutete der Tod das Verschwinden von geliebten Menschen. Mehr nicht. Ich hatte mich nie gefragt, wo meine Eltern jetzt wohl waren, weil es so oder so nichts daran änderte, dass sie mich verlassen hatten.

Als ich meine Augen öffnete, wusste ich allerdings, dass ich damit nicht gerechnet hatte.

Ich lag in einem Laubhaufen unter einem Trio kahl werdender Bäume. Und mit Trio meinte ich tatsächlich Trio: ich lag in der Mitte von drei Bäumen. Mehr nicht. Um mich und die Bäume herum gab es nichts als Wiese. Eine weite, grüne Wiese mit ungefähr kniehohen Halmen, die in einem sanften Windhauch hin und her schwankten.

Irgendwie idyllisch, aber nicht unbedingt meine Vorstellung eines Himmels.

Wo waren die Wolken? Die Fanfaren? Die Engel? Die nie enden wollende Party?

Ich war noch nie auf einer Party gewesen, der Himmel war quasi meine einzige Chance gewesen.

Die Stimme grunzte. „Ich hätte wissen müssen, dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast.“

Er bewegte sich etwas aus dem Schatten eines Baumes heraus, sodass ich ihn erst jetzt sehen konnte.

Er war groß, schmal gebaut, und trug einen braunen Zylinder. Der Kragen seines grün-karierten Jacketts war mit braun-schwarzem Fell besetzt, welches mich unwillkürlich an die Katze denken ließ.

Die Katze!

Ich beugte mich vor und schaute suchend nach links und rechts. Okay, dann hatte das Auto immerhin nicht das Tier getroffen.

Plötzlich machte der Mann einen Satz, stand direkt vor mir, beugte sich herunter, griff nach meinem Handgelenk und zog mich schwungvoll auf die Beine.

„Hey!“, beschwerte ich mich lautstark, riss mich von ihm los, trat deshalb einen Schritt zurück und fiel vor Schreck, mit meinen Hacken das feuchte Laub berührend, wieder zurück in den Haufen.

Der Mann fasste sich niedergeschlagen an seine Stirn. „Bei allen Göttern“, brummte er und schüttelte dabei kaum merklich seinen Kopf. „Von allen Menschen, die versehentlich durch ein Tor rutschen, musste ich den Dümmsten erwischen.“

Ich blinzelte ein wenig verwirrt. „Was denn für ein Tor?“

Aber der Mann senkte bloß seine Hand und sagte: „Wenn du nicht aufstehen willst, lasse ich dich hier. Dann können die Wölfe mit dir machen, was sie wollen.“

Bei diesen Worten bekam ich eine Gänsehaut. „Wölfe?“, hakte ich nach und stand schnell auf. „Aber hier gibt es doch sicherlich nur nette Wölfe. Oder?“ Ich wischte mir mit der Hand über meinen Hintern und hoffe, dass meine dunkelblaue Jogginghose nicht zu dreckig aussah.

„Sicherlich“, grunzte der Mann, drehte sich von mir weg und setzte sich in Bewegung.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Keine Wölfe, nur Wiese. Es erschien mir irgendwie absurd, dass im Himmel bösartige Wölfe lungern sollten.

Mir kam ein erschreckender Gedanke. Vielleicht war der Himmel nur offen für Menschen, die etwas in ihrem Leben erreicht hatten? Ich kannte Gott ja nicht. Es wäre durchaus möglich, dass er kein Herz für psychisch Kranke hatte. Das würde auch erklären, warum Jesus die Kranken vor ihrem Tod noch geheilt hat.

„Kommst du jetzt mit?“, fuhr mich der Mann an und holte mich so aus meinen Gedanken.

Hastig folgte ich ihm. „Wer bist du eigentlich?“, wollte ich wissen.

„Schrei nicht so“, brummte er zur Antwort.

„Ich hab ganz normal gesprochen“, verteidigte ich mich, senkte aber meine Stimme. „Ich heiße Daisy.“

„Komischer Name.“

„Bestimmt nicht komischer als deiner.“

Er seufzte. „Ich bin Kasimir.“

Mir fiel auf, wie leise er durch das Gras schleichen konnte. Neben ihm fühlte sogar ich mich plump, und ich wurde von Nadja immer Hungerhaken genannt.

„Kasimir“, wiederholte ich in der Hoffnung, mir so seinen Namen merken zu können. In den letzten Jahren hatte ich mein Gedächtnis, was das betraf, ja nicht groß anstrengen müssen.

„Wir sollten uns nicht unterhalten, Daisy.“

„Wegen der Wölfe“, schloss ich. „Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass es im Himmel blutrünstige Wölfe -“

Er blieb so ruckartig stehen, dass ich ein paar Schritte weiterging, ehe es mein Hirn realisierte.

„Sieht das hier wie der Himmel für dich aus?!“, fuhr er mich an, trotz seiner Gefühlswallung darauf bedacht, leise zu sprechen. Dabei machte er eine weitläufige Handbewegung.

„Zugegeben, ich hätte das Meer bevorzugt, aber -“

„Wir stehen mitten auf einer – wie sagt ihr Erdmenschen? Bescheuert? - mitten auf einer bescheuerten Wiese ohne Schutzmöglichkeiten und keiner von uns – ich gehe davon aus, dass du dich nicht in einen ausgewachsenen Grizzlybären verwandeln kannst – könnte sich gegen einen Wachtrupp Wölfe verteidigen! Wir sind schon praktisch tot, wenn wir nicht schnellstmöglich zu Daalia kommen!“

Mit großen Augen starrte ich Kasimir an. Von dem, was er gerade gesagt hatte, verstand ich nicht einmal die Hälfte. Ich fühlte mich wie damals im Matheunterricht, als ich noch zur Schule ging, und keine Ahnung hatte, was der Lehrer von mir wollte.

Um nicht ganz so blöd dazustehen, versuchte ich auf das einzige einzugehen, was ich verstanden hatte.

„Erdmenschen?“, wiederholte ich. „Wenn wir nicht im Himmel sind und offensichtlich auch nicht mehr in meiner Straße, sind wir dann auf dem Mond gelandet?“

Kasimir sah mich genauso an, wie besagter Lehrer im Matheunterricht. „Wir sind in Sempera!“, sagte er verzweifelt, als versuchte er mir schon seit Stunden zu erklären, dass es gar keine vierte binomische Formel gab.

Dummerweise hätte ich ihm das eher geglaubt.

„In – wo?“

Mit jedem Wort, welches aus seinem Mund kam, wurde ich verwirrter. In meinem Kopf suchte ich nach irgendeiner Stadt mit dem Namen. Vielleicht hatte ich durch den Autounfall das Beamen erfunden und war irgendwo in Spanien gelandet? Sempera klang ziemlich spanisch. Wie Sombrero.

Oh, war Sombrero nicht mexikanisch?

Ach, verdammt.

„Sem-pe-ra!“, antwortete Kasimir und betonte jede einzelne Silbe.

Er setzte sich wieder in Bewegung und überließ es mir, ihm zu folgen.

Was ich tat. Wenn ich nicht im Himmel gelandet war, erschienen mir blutrünstige Wölfe durchaus realistischer.

„Bald bricht die Nacht herein“, stellte Kasimir fest und beschleunigte seinen Schritt.

Er hatte Recht. Der Himmel über uns wurde durchzogen von dunkelroten Streifen, die die untergehende Sonne so mit sich zog, als würde sie bluten.

„Ich verstehe nicht, wo wir sind“, sagte ich, während ich schon fast rennen musste, um hinterher zu kommen. „Ich hab nur Müll rausgebracht. Da war diese Katze. Wegen dem Vieh wollte ich über die Straße gehen, aber da kam plötzlich ein Auto und -“

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich lag im Koma. Wenn das hier nicht der Himmel war, und ich auch nicht von Aliens entführt oder zufällig das Beamen erfunden hatte, war das die einzige Erklärung.

Arme Nadja. Ich konnte sie förmlich an meinem Krankenbett sitzen sehen, wie sie darauf wartete, dass ich wieder aufwachte. Sie würde doch nicht frei sein. Bloß weil ich mich bei einer Katze entschuldigen wollte.

Nein, viel schlimmer.

Weil ich aus dem verdammten Haus gegangen war.

Auf einmal fühlte ich mich in meiner Angst bestätigt. In den letzten drei Jahren war mir nichts Schlimmes widerfahren, mal abgesehen von einer verbrannten Zunge, weil ich zu ungeduldig beim Tee trinken gewesen war.

Ich war sicher gewesen. Behütet.

Und jetzt lag ich im Koma. In einem Traum mit einem skurrilen Begleiter und blutrünstigen Wölfen.

Es war ein Traum, aus dem ich lieber wieder erwachen wollte.

Kasimir setzte seinen Weg unbeirrt fort. Er beeilte sich sichtlich.

„Menschen sind immer Ballast“, grummelte er vor sich hin, und ich beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass er selbst ein Mensch war. Da ich vorbelastet war, wäre es durchaus möglich, von einem Schizophrenen zu träumen.

Um nicht meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, konzentrierte ich mich auf seine Bewegungen.

Das hatte ich mir angewöhnt, bevor die Angstattacken so schlimm wurden, dass ich gar nicht mehr rausgehen konnte. Immer, wenn mein Körper innerlich anfing zu kribbeln, konzentrierte ich mich auf einen anderen Menschen und die Art, wie er sich fortbewegte.

Es war abenteuerlich, wie viele Variationen es da gab.

Kasimir bewegte sich wie ein Tänzer; als würde er über den Boden schweben. Seine Schultern waren angespannt, sein Kopf hatte eine leichte Duck-Haltung. Er bewegte sich graziös wie eine Katze; gekrümmt von seiner Angst.

Wir kamen an einem leichten Hang vorbei, als Kasimir plötzlich stehenblieb und in die Hocke ging.

Ich wartete. Es dauerte einen Moment, ehe Ich begriff, dass, versteckt vom hohen Gras am Hang, eine kleine, runde Holztür eingelassen war.

Kasimir klopfte. Es war keine laute, fröhliche Ankündigung seines Besuchs; sogar in dieser einfachen Bewegung konnte ich seine Angst vor den Wölfen erkennen. Die Luft zwischen uns war dadurch zum Zerreißen gespannt.

Das Geräusch eines Türriegels, der zurückgeschoben wurde, ließ mich zusammenzucken. Plötzlich wurde ich auch nervös. Ich vergewisserte mich, dass nirgends ein Tier durch das Geräusch aufgeschreckt worden war und so auf uns aufmerksam machte, als die Tür aufschwang und der Kopf einer in die Jahre gekommenen Frau auftauchte, deren Haar mit einer weißen Haube bedeckt war.

Sie fragte nicht nach dem Grund unseres Auftauchens. Sie sagte nicht einmal Hallo.

Alles, was sie tat, war zur Seite zu gehen, Kasimir und mich hineinzulassen und hinter uns sofort die Tür zu verriegeln.

Wir befanden uns in einem Tunnel unter der Erde. An den Wänden hingen alle paar Meter brennende Fackeln, hier und da guckte eine Wurzel heraus.

Ich schluckte. Der Tunnel war zwar groß genug, dass ich problemlos darin stehen konnte, mich überkam dennoch ein beklemmendes Gefühl. So ähnlich musste es sich auch anfühlen, in einem Sarg zu liegen.

Die Frau lief wortlos an uns vorbei und bedeutete uns mit einer einfachen Handbewegung, ihr zu folgen.

Sie führte uns zu einer weiteren, runden Tür, die in einem dunkelgrünen Ton gestrichen war. Vorne hing die getöpferte Figur eines Dachses.

Die Frau huschte hinein, wobei der Rock ihres taubenblauen Kleides um ihre Beine wehte. Sie war breit gebaut, eher vollschlank, und trat gewissenhaft zur Seite, damit wir eintreten konnten.

Erst, als sie die Tür hinter mir verschlossen hatte, sagte sie mit einer überraschend hellen, fröhlichen Stimme: „Kasimir! Wie schön, dich zu sehen!“

Sie streckte ihre dicken Arme aus und drückte ihn mütterlich an ihre Brust, was dem brummeligen Kasimir ganz offensichtlich missfiel.

Anschließend wandte sie sich mit einem unsagbar warmen Lächeln an mich. „Ich bin Daalia. Und du?“

„Daisy.“

Und obwohl sie mir zum ersten Mal begegnete, breitete sie ihre Arme aus und umarmte mich fest. „Es ist so schön, deine Bekanntschaft zu machen!“

Ich konnte hören, wie sie an mir schnupperte. Wie seltsam.

„Oh!“, rief sie überrascht aus und hielt mich auf Armeslänge von sich weg, um mich eingehend zu mustern. „Du riechst ja eigenartig!“

„Sie ist ein Mensch“, sagte Kasimir leise und klang irgendwie genervt.

Als ich zu ihm sah, rollte er gerade mit seinen Augen. Er war wirklich genervt. Und anders, als es die grobe Höflichkeit erlaubte, zeigte er dies auch mehr als deutlich.

Daalia ließ meine Schultern los und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ihre dunkelbraunen Augen füllten sich mit Tränen, während sie mich anstarrte, als wäre ich ein van-Gogh-Gemälde.

„Vergiss es“, brummte Kasimir, zog sich einen schiefen Holzstuhl zurück und setzte sich. „Sie ist ungefähr so einfältig wie eine Maus.“

„Ich bin nicht -“, wollte ich entgegnen, als Daalia ihren Kopf schüttelte, ihre Tränen zurück in ihre Drüsen drückte, und sagte: „Ach, papperlapapp. Ihr habt doch sicher Hunger.“

Als wäre es ein Stichwort gewesen, knurrte mein Magen.

Daalia lachte und ging zu einer Kochnische, wo auf einem Herd bereits etwas in einem Topf brutzelte.

Endlich hatte ich genug Zeit, den Raum zu betrachten.

Er war etwas zwischen rund und eckig, mit einem runden Tisch und vier Stühlen in der Mitte und einer Kochnische an einer Seite. An einer Wand direkt neben der Tür stand ein Regal mit Büchern, die mir allesamt unbekannt vorkamen. Obwohl es mein Koma-Traum war, gab es kein Harry Potter? Träume waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren.

Hoffentlich traf ich noch jemanden, bei dem ich mich beschweren konnte.

Mir fiel eine kleine Höhle daneben auf, die oberhalb des Raumes gegraben war.

Und dort, etwa mittig, saßen zwei kleine Dachskinder und starrten mich an.

Ich schluckte. Meine Nackenhaare stellten sich auf, aber ich konnte meinen Blick auch nicht von ihnen abwenden.

Warum hatte Daalia die Tiere vorher nicht bemerkt?

„Ähm“, setzte ich an, als sich beide Dachse in Bewegung setzten. Der Erste krabbelte eine Wurzel herunter, sprang aber etwa bei der Hälfte ab.

Und während des Sprungs zog sich der Dachs auf einmal in die Länge, wurde größer, veränderte seine Form und nach ein paar Sekunden stand dort, wo der Dachs hätte landen müssen, ein Mädchen.

Ein echtes Mädchen wie ich, nur jünger. Ein Mensch.

Mein Kiefer klappte herunter. Alles um mich herum schien stillzustehen, mal abgesehen von dem zweiten Dachs, aus dem kurz darauf ein Junge im gleichen Alter wurde.

Und dann wurde ich ohnmächtig.

4

Danjos und Dina

Ich wachte mit trockener Kehle und höllischen Kopfschmerzen auf.

„Ach Zähnchen“, seufzte Daalia, die neben mir saß und mir sofort einen Krug mit kaltem Wasser reichte. „Kasimir hat mir alles erzählt. Kein Wunder, dass du überfordert bist.“

Ich richtete mich auf, nahm den Krug und trank gierig. Ich fühlte mich völlig ausgetrocknet.

Daalia strich mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und nahm mir den Krug wieder ab, nachdem ich erleichtert ausgeatmet hatte.

„Ruh dich aus“, schlug Daalia vor und klopfte auf die Decke.

Erst da bemerkte ich, dass ich in einem Bett lag.

Nur, dass es statt einer Matratze Laub gab und besagte Decke aus verschiedenen Tierfellen genäht worden war.

Ich war zu erschöpft, um mich davor zu ekeln, und ließ mich zurück in die weichen, ebenfalls mit Tierfell überzogenen Kissen fallen. Daalia sagte noch etwas, allerdings bekam ich es nicht mehr bewusst mit, so schnell dämmerte ich wieder weg.

Als ich das nächste Mal aufwachte, blickte ich direkt in ein Paar braune Augen.

„Ah!“, schrie ich erschrocken. Das Augenpaar entfernte sich selbst erschrocken und der restliche Körper wurde sichtbar.

Es war das Mädchen.

Ich richtete mich wieder auf, dieses Mal ohne Kopfschmerzen, und hielt unsicher inne.

Sie starrte mich mit unverhohlener Neugier an. Also starrte ich zurück. Ihr Haar war weißblond, nur zwei schwarze Streifen in den „Ecken“ ihrer Stirn zogen sich nach hinten durch ihre Pracht. Ihre Haut war ähnlich blass wie meine.

„Ich weiß, dass du Daisy heißt!“, piepste sie, und ihre Worte überschlugen sich vor Aufregung.

Ohne es zu wollen, zogen sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen hoch. „Wenn du weißt, wer ich bin, will ich auch wissen, wer du bist. Das wäre nur fair.“

„Hm. Was heißt fair?“, gab sie zurück und krabbelte ungeniert vorwärts.

„Dass etwas gerecht ist. Oder eben nicht. Also, wenn etwas fair ist, ist es auch gerecht. Ich kann echt nicht gut erklären.“

„Stimmt.“ Sie kicherte. Es war ein helles, klares Geräusch, welches mich an einen Schmetterling erinnerte.

Prompt fiel mir ihre Verwandlung wieder ein und mir wurde ein wenig flau im Magen. Ich schüttelte meinen Kopf. Ich hatte nur halluziniert. Dachse verwandeln sich nicht in Menschen. Das war unmöglich. Kein Koma-Traum dieser Welt konnte so abstrakt sein.

„Ich heiße Dina“, beantwortete das Mädchen schließlich meine Frage. „Bist du auch ein Dachs?“

Ich schüttelte meinen Kopf. Das flaue Gefühl im Magen blieb. „Ich bin ein Mensch.“

Sie kicherte wieder. „Aber hier gibt es doch gar keine Menschen!“

Aus ihrem Mund klang es so normal. So einfach und einleuchtend. Ihr kindliches Auffassungsvermögen musste wie ein Paradies sein.

„Hier gibt es nur Lasins“, klärte sie mich auf, und ich tat so, als würde ich sie verstehen. „Ich zeig es dir. Danjos!“

Als hätte er nur darauf gewartet, krabbelte ein kleiner Dachs zu uns aufs Bett. Vielleicht hatte er auch schon die ganze Zeit dort gesessen und ich hatte ihn übersehen. Manchmal ignorierte ich auch versehentlich meine Antidepressiva, damit ich sie nicht nehmen musste.

Ich rutschte etwas zurück, um dem Dachs nicht zu nahe zu kommen. Mir wurde die Situation immer unangenehmer.

Gerade, als ich mich etwas an seine Anwesenheit gewöhnt hatte, schubste Dina ihn herunter.

Etwas polterte. Ein schwaches „Aua!“, war zu hören, und kurz darauf stand der Junge vom Boden auf und krabbelte zu Dina aufs Bett. „Du bist blöd.“

„Du bist blöd!“, entgegnete das Mädchen inbrünstig.

Ich blinzelte. Versuchte das Gesehene zu verarbeiten. Ich hob meinen Zeigefinger und zeigte zwischen dem Jungen und dem Boden hin und her. „Hast du – hast du dich gerade – also, hast du dich gerade verwandelt?“

„Klar“, meinte der Junge achselzuckend. Er hatte dieselben Haare wie Dina, nur kurzgeschnitten.

„Deswegen sind wir Lasins“, meinte Dina und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Auch diese Geste verstand ich nicht. Um ehrlich zu sein, verstand ich gerade gar nichts.

Plötzlich tauchte Daalia am Bett auf, das in die Wand der Höhle gegraben war, was mir in diesem Augenblick erst bewusst wurde.

„Kinder, ihr sollt sie doch in Ruhe lassen!“, tadelte sie.

„Kinder?“, wiederholte ich, unsicher, ob ich eine genauere Antwort wirklich hören wollte. Mein Blick huschte zwischen ihnen und Daalia hin und her.

„Natürlich“, entgegnete die Frau. „Was hast du denn gedacht? Oh!“ Sie fasste sich an den Kopf, als wäre ihr eben etwas eingefallen. „Sicher! Du hast vermutlich keine Ahnung… Kasimir ist eben ins Bett gegangen, aber er wird sich morgen um dich kümmern. Hast du sonst irgendwelche Fragen?“

Sie sah mich mitleidig an.

„Mama, sie denkt, wir wären Menschen!“, erzählte Dina, und aus ihrem Mund klang es, als hätte ich sie beleidigt.

„Ruhig, Dina“, sagte Daalia. „Unser Gast kommt aus einem sehr fernen Land.“

„Deutschland“, warf ich zermürbt ein und ließ meine Schultern hängen. Daalia hatte Recht. Ich fühlte mich unendlich weit von meiner Heimat entfernt. Auf einmal verstand ich die ganzen Flüchtlingsgegner noch weniger. Wer freiwillig sein Land verließ, musste einen ziemlich triftigen Grund dafür haben.

„Woher?“, hakte Dina einige Oktaven zu hoch nach.

Ich hob meinen Blick und sah sie an. „Deutschland“, wiederholte ich deutlicher.

„Das kenn ich gar nicht.“ Sie bekam ganz große Augen. „Ist das hinter Sempera? Unsere Frau Lehrerin hat gesagt, hinter dem Meer sind noch ganz viele Länder!“

Ich seufzte tief. Schon wieder dieser komische Name. Sempera.

„Ach Zähnchen“, meinte Daalia und ihr mitleidiger Ausdruck wurde noch intensiver. „Ich wünschte, ich könnte dir erklären, warum du hier bist, aber ich verstehe es selbst nicht.“

„Ich verstehe nicht einmal, wo ich bin“, gab ich zu.

„In Sempera“, antwortete Danjos, als würde er mit einem begriffsstutzigen Kleinkind sprechen. Das hatte er sich garantiert von Kasimir abgeguckt.

Ich schaute auf meine Hände. Mit dem rechten Daumennagel kratzte ich über den Linken. „Aber Sempera gibt es doch gar nicht...“

„Vielleicht schläfst du noch ein bisschen?“, schlug Daalia vor. „Ich kann dir auch einen Tee machen. Den kriegen meine Kinder auch immer, wenn sie nicht einschlafen können.“

Ich nickte langsam. „Vielleicht wache ich dann aus dem Koma auf.“

„Aus dem was?“, fragte Dina neugierig. Dann kicherte sie. „Du sprichst so komisch!“

„Ich liege im Koma“, antwortete ich. „Ich hatte einen ganz schlimmen Autounfall und manchmal liegt man danach im Koma. Und ihr seid mein Koma-Traum.“

Dina und Danjos starrten mich auf einmal an, als wäre ich eine Außerirdische. Ihre Mutter streckte einen Arm aus und tätschelte mir die Schulter. „Du solltest mit Kasimir morgen darüber reden.“

„Aber worüber denn?“

„Und ihr Zwei“, sagte Daalia an ihre Kinder gewandt, ihr Unterton auf einmal bedrohlich, „geht jetzt ins Bett. Sofort!“

Als ich wieder aufwachte, lag die Höhlenwohnung im Dunkeln. Nur das flache Atmen und leise Schnarchen der anderen war zu hören.

So war es in Ordnung. So stellte ich mir ein Koma vor. Dunkel, beängstigend.

Ich war nie ein Freund der Dunkelheit gewesen. Die Nacht war zwar der einzige Zeitpunkt, an dem sich kein Nachbar wunderte, warum ich nie das Haus verließ, aber das interessierte mich generell herzlich wenig.

Je dunkler ein Raum war, desto schlechter konntest du erkennen, wer oder was gerade vor dir stand.

Die schlimmsten Panikattacken meines Lebens – und ja, es gab tatsächlich schlimmere als jene, die mich dazu bewogen hatte, nicht mehr nach draußen zu gehen – hatte ich nachts. Es war zwar peinlich, aber mit meinen 16 Jahren brauchte ich auch noch immer ein Nachtlicht.

Ich spürte das Kribbeln in meinen Fingerspitzen und Zehen. Die Ankündigung einer Panikattacke. In der Höhle gab es natürlich kein Nachtlicht.

Ich drehte mich auf die Seite und atmete zur Beruhigung tief durch, als ich plötzlich Haare im Gesicht spürte.

Erschrocken zuckte mein gesamter Körper zusammen.

„Oh, tut mir leid“, flüsterte Dina in der Dunkelheit. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Was machst du hier?!“, flüsterte ich zurück.

„Du liegst in meinem Bett.“

„Oh.“ Das klang irgendwie einleuchtend.

„Mama wollte eigentlich, dass ich bei Danjos schlafe, aber er sabbert immer das ganze Kissen voll, da hab ich mich zu dir geschlichen.“

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Irgendwo schnarchte jemand laut auf und ich verstummte. Horchte. Niemand stand auf. Das Schnarchen ging gleichmäßig weiter.

„Seid ihr Zwillinge?“, fragte ich darauf bedacht, ganz leise zu sprechen.

„Ja. Hast du auch Geschwister?“

Ich schüttelte den Kopf, bis mir einfiel, dass sie das gar nicht sehen konnte. „Nein.“

„Ach je, und mit wem spielst du dann?“

Über ihre kindliche Bestürzung musste ich beinahe wieder lachen. Stattdessen versuchte ich zu erklären: „Dort, wo ich herkomme, ist es okay, nur ein Kind zu haben.“

„Bei uns haben die meisten Zwillinge“, sagte Dina. „Misa hat sogar sechs.“

„Sechs?“ Allein schon bei der Vorstellung, ein Kind durch meine Vagina zu pressen, wurde mir schlecht.

„Na ja, bei den Mäusen kommt das oft vor.“

Daran hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt. „Können sich hier alle verwandeln?“, fragte ich vorsichtig.

„Ja, deswegen sind wir Lasins.“

„Also sind Lasins Gestaltwandler.“

„Ich schätze schon. Aber hier sagt echt keiner Gestaltwandler.“

Ich versuchte, mir ein Land vorzustellen, in dem sich jeder Mensch in einen Dachs oder eine Maus verwandeln konnte, und dabei kam mir ein Gedanke.

„Gibt es hier auch andere Tiere?“

„Du stellst echt seltsame Fragen“, entgegnete Dina. „Es gibt alle Tiere in Sempera. Aber keine Magischen. Und jeder hier kann sich verwandeln.“

Ich ignorierte ihren letzten Satz geflissentlich. Es gab Dinge, die sollte man wirklich nicht besser verstehen.

Allerdings sponn ich den Gedanken mit den Tieren weiter.

Das bedeutete, die Wölfe, vor denen Kasimir solche Angst hatte, waren auch Menschen.

Kasimir! Was er wohl war?

Als ich Dina fragte, kicherte sie. „Ein Kater, natürlich. Das sieht man doch schon -“

„- an der Art, wie er geht?“, kam ich ihr zuvor.

„Genau.“ Sie gähnte herzhaft.

„Du solltest schlafen“, meinte ich.

„Okay“, sagte sie, rutschte näher und kuschelte sich an mich heran.

Im ersten Augenblick hielt ich die Luft an. Ich war einem anderen Menschen/Tier/Gestaltwandler noch nicht oft so nahe gewesen.

Aber je länger Dina an mich gedrängt lag und ihr Atem flacher wurde, desto mehr gewöhnte ich mich daran.

Ihre Anwesenheit beruhigte mich. Allmählich wurde mein Herzschlag wieder ruhiger, ich schloss meine Augen und zum ersten Mal in meinem Leben erlaubte ich mir die Vorstellung wie es wohl gewesen wäre, eine Schwester zu haben.