Aufs Kreuz gelegt - Chris Knopf - E-Book

Aufs Kreuz gelegt E-Book

Chris Knopf

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Beschreibung

Sam Aquillo – Ex-Boxer, Ex-Firmenchef und zufälliger Held von »Letzte Zuflucht« – ist zurück in dieser actiongeladenen, spannenden Fortsetzung. Sam will eigentlich nur ein paar Nägel in sein baufälliges Cottage schlagen, jede Menge Wodka trinken, mit seinem Hund Eddie abhängen und sich ansonsten von Ärger fernhalten. Aber der Ärger scheint ihn trotzdem zu finden. Als eine Autobombe vor einem angesagten Restaurant am Hafen einen prominenten Anlageberater tötet und Sam und die mit ihm befreundete Anwältin Jackie Swaitkowski verletzt, wird er praktisch automatisch in die Ermittlungen hineingezogen. Wo die Polizei auf Hindernisse stößt, kommt Sam mit seinem typischen Witz, Instinkt und Charme weiter. Außerdem will er es einfach wissen: Warum würde jemand einen solchen Aufwand betreiben, um einen Menschen nicht nur zu töten, sondern ihn buchstäblich auszulöschen? »Aufs Kreuz gelegt« spielt wieder vor der Kulisse von Southhampton, Long Island, und ist voll von stimmungsvollen Sonnenuntergängen, Strandgrundstücken und schönen Menschen mit außergewöhnlich viel Geld und sehr gefährlichen Geheimnissen.

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Seitenzahl: 467

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AUFS KREUZ GELEGT

EIN SAM ACQUILLO ROMAN

CHRIS KNOPF

ÜBERSETZT VONDENISE HILLEBRAND + JÜRGEN BÜRGER

Erste eBook-Ausgabe 2021, v1.0

Titel der amerikanischen Originalausgabe »Two Time«, 2006

Copyright © 2006, 2021 by Chris Knopf

Copyright der deutschen Übersetzung © 2021 by Denise Hillebrand + Jürgen Bürger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 978-3-945684-33-7

eBook 1.0, Dezember 2021

Copyright © dieser Ausgabe 2021 bei spraybooks Verlag

Redaktion: Doris Engelke

Korrektorat: Ute Lüers

spraybooks Verlag Bielfeldt und Bürger GbR, Remigiusstr. 20, 50999 Köln

www.spraybooks.com

Erstellt mit Vellum

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagungen

Über den Autor

Mehr spraybooks …

1

Manchmal, wenn die Sonne über dem East End von Long Island untergeht, spielt der liebe Gott Maler und versprüht ein leuchtendes Rot über den ganzen Himmel. Wer zur richtigen Zeit auf der Sonnenterrasse des Windsong Restaurants in East Hampton sitzt, kann dieses Schauspiel in aller Pracht bewundern.

Ich hatte bereits einen Wodka auf Eis bestellt und lehnte mich zurück, um den Anblick zu genießen. Jackie Swaitkowski war noch nicht aufgekreuzt, aber das überraschte mich nicht. Sie war nie zu irgendwas pünktlich. Sie hielt sich eher an das Einsteinsche Konzept von Raum und Zeit. Alles war relativ. Mir war das egal. Meinetwegen konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Sie war ein Freund.

Unterhalb der Terrasse befand sich ein kleiner Parkplatz, auf dem Autos am Rand der Bucht aufgereiht waren. Er gehörte zum Restaurant und zu einem kleinen Yachthafen, der neben den großen Sportjachten noch eine Handvoll Fischerboote beherbergte, die dem kläglichen Rest der Einwohner von Bayman gehörten. Am anderen Ufer der Bucht befand sich eine kleine mit Gestrüpp überwucherte Insel, an deren sandiger Klippe sich geradezu waghalsig ein einsames zweistöckiges Haus festklammerte. Dahinter lag die Gardiners Bay, benannt nach der Familie, der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts diese abgelegene Insel gehörte. Bis vor kurzem hatte einer der alten Gardiners die Insel quasi für sich allein gehabt. Nun bin ich auch nicht grade der gesellige Typ, aber ganz allein auf dieser riesigen Insel zu leben, wäre mir etwas zu viel Einsamkeit. Vielleicht würde es ja funktionieren, wenn Jackie sich von Zeit zu Zeit dort blicken ließe. Sie müsste auch nicht unbedingt pünktlich sein.

Auf der Terrasse befanden sich außer mir noch vier weitere Leute. Ein junges, frisch verliebtes Pärchen lehnte an einem Tisch und schien sich förmlich gegenseitig aufzufressen. Er trug gelbe Stoffhosen, einen grünen Pullover und Halbschuhe mit Quasten an den nackten Füßen. Nichts daran schien seine Begleiterin zu stören. Die Illusion des perfekten Glücks strahlte aus ihren hellblauen Augen. Die anderen beiden Gäste waren zwei alte Schachteln aus dem Norden von Long Island – die Gesichter dank diverser chirurgischer Eingriffe zu Masken erstarrt, die Nägel so hart wie Epoxidharz und die Haare glänzten wie lackiertes Teakholz. Eine der beiden trug ein weißes Baumwolltop bestickt mit Pailletten, die zu ihren Slippern und dem glitzernden Zeug auf ihren Augenlidern passte. Die andere rauchte und hielt die Zigarette so zwischen den Fingerspitzen, dass es aussah, als hielte sie einen Splitter mit einer Pinzette. Beide konnten kein ordentliches „r“ aussprechen und gaben ständig Sprüche von sich wie „Hab ich’s nicht gesagt“ und „Mal ganz ehrlich“. Sie schienen mich nicht wahrzunehmen. Ich war nicht beleidigt.

Die Bedienung kam alle zehn Minuten raus, wollte sehen, ob wir noch irgendwas benötigten, aber bei uns gab es wenig zu tun. Wir nippten bedächtig an unseren Drinks. Eigentlich hatte ich vor, die Zeit bis zu Jackies Ankunft mit nur einem Wodka zu verbringen. Es hatte mich nie besonders gekümmert, wie viel ich trank oder zu welcher Tageszeit, aber ich hatte mir vor kurzem ein Optimierungsprogramm auferlegt. Um den Übergangscharakter dieses Programms zu wahren, steckte ich mir eine Zigarette an.

Ein schwarzer Lexus fuhr auf den Parkplatz. Ein paar Minuten lang geschah gar nichts, dann öffnete sich die Autotür und ein strubbeliger französischer Zwergpudel schoss einem Ball hinterher, den der Fahrer des Wagens geworfen hatte. In seinem strahlendweißen Shirt mit Stehkragen und Hosen in der Farbe seines Wagens wirkte der Mann besonders geschniegelt und elegant. Sein Haar war ebenfalls schwarz und kurzgeschnitten, sein Schnurrbart akkurat über der Lippe gestutzt. Das weiße Shirt war eindeutig professionell gereinigt und steckte ordentlich in seiner Hose. Die Schuhe waren von der Sorte teure, schwarze Lederslipper, die im Schaufenster tantig aussahen, sich an den Füßen von gewissen Menschen aber in den letzten Schrei verwandelten. Allerdings definitiv nicht an meinen Füßen.

Der Pudel gab alles bei der Verfolgung des Balls. Er fing ihn zwischen seinen Vorderbeinen auf und warf ihn dann hoch in sein Maul. Der Ball war für ihn fast zu groß, aber er reckte den Kopf soweit er nur konnte und schaffte es so, den Rückweg rennend zurückzulegen.

„Keine Ahnung, was Michael in letzter Zeit anstellt“, sagte die Frau mit den glitzernden Augenlidern zu ihrer Freundin, „aber arbeiten kann man es nicht nennen.“

„Was hat er angestellt?“

„Was er mit seinem Leben anstellt.“

„Ach so.“

„Es ist lächerlich, dieses ganze Rolfing-Zeugs.“

„Nie gehört.“

„Rolfing. Ist eine Art Massage, nur tiefgehender. Durchdringender. Sie dringen in die Muskeln ein.“

„Michael dringt in seine Muskeln ein?“

„Nicht in seine. In die von anderen Leuten.“

„Das kann nicht gut sein.“

„Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll. Jemanden rolfen …“

„Klingt irgendwie nach Eingeweiden.“

„Nein, damit hat das nichts zu tun. Ist wie Massage. Ach, was weiß ich.“

„Würdest du wollen, dass Michael, in deine Muskeln eindringt? Ich glaube nicht.“

„Meine Tochter meint, das ist in Europa total angesagt. In Skandinavien.“

„Aber die gehen auch im Winter schwimmen. Hacken extra das Eis dafür auf.“

„Ich verstehe das alles nicht.“

„Und dafür wirft Michael eine perfekte Ehe weg.“

„Nicht, wenn man seiner Frau glaubt.“

„Du sagst es.“

Bei ihrem nächsten Rundgang ließ ich mir von der Bedienung einen weiteren Wodka bringen. Jackie schien eine Phase kategorischer Ablehnung von Pünktlichkeit durchzumachen. Sowas kam vor.

Der Pudel war immer noch nicht müde. Sein Besitzer hatte bisher den Ball nur knapp über den Boden geworfen, verlegte sich nun aber auf lange, hohe Würfe. So hatte er mehr Zeit, sich die großen Boote anzusehen. Oder den Sonnenuntergang. Das war von meinem Platz aus schwer zu beurteilen. Wenn er grade keinen Ball warf, hatte er die Hände in den Hosentaschen und spielte mit Kleingeld und Schlüssel. Daran, wie sein Shirt über Schultern und Hüften spannte, konnte man erkennen, dass er in guter physischer Verfassung war. Das körperliche Potenzial eines anderen Menschen einzuschätzen, ist für einen alten Kämpfer selbstverständlich. Das hatte ich von meinem Vater gelernt. Dieser Typ wäre eine harte Nuss, war aber unerfahren. Keine Kampfspuren und keine Abnutzungserscheinungen erkennbar. Aber man darf Menschen nicht unterschätzen, pflegte mein Vater zu sagen.

Der Pudel raste wieder heran auf seinen schmutzig weißen Beinchen. Der Typ nahm ihm den Ball aus dem Maul und warf ihn im hohen Bogen an den kleinen Holzbooten vorbei ins Wasser. Der Hund wartete auf das Platschen und sprang dann ohne zu zögern zwischen den Booten in das ölig schimmernde Wasser.

Nachdem die Sonne untergegangen war, veränderte das Kunstlicht der Laternen auf dem Parkplatz langsam die Farben und die Stimmung auf der Terrasse. Es war Mai, noch vor der Zeitumstellung, und der Erdwinkel sorgte dafür, dass es bis in den Abend hinein hell blieb. Die kleine Brise, die gerade noch von der Bucht hereingeweht war, wurde jetzt zu einem Hauch, trug aber weiterhin die Gerüche der Ebbe und das Lärmen der Möwen herüber, die gelegentlich über den Booten kreisten.

Der junge Schnösel in den gelben Hosen verließ den Tisch und ging hinein. Er war rundlich um die Mitte und hatte X-Beine. Würde innerhalb einer halben Sekunde zu Boden gehen. Das Mädchen sah ihm gebannt nach, bereit, sofort wieder Blickkontakt aufzunehmen, falls er sich umdrehen würde. Was er natürlich nicht tat.

Kaum fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, wanderte ihr Blick Richtung Lagune, so als hätte er keine Daseinsberechtigung, solange er nicht auf irgendetwas gerichtet war. Oder um nicht mich anzusehen, während ich sie schamlos anstarrte. Ruckartig drehte sie wieder den Kopf und erwischte mich dabei, wie ich sie angaffte. Ich blinzelte. Sie lächelte dümmlich und täuschte dann großes Interesse an den Resten ihres Thunfischsalats vor. Ihre Füße waren unter dem Tisch ineinander verschlungen, genauso wie die meiner Tochter früher, wenn sie an dem Teetischchen saß, das ich für sie gebaut hatte. In mir erwachte der Wunsch, sie vor schlechten Entscheidungen im Leben zu bewahren. Noch so eine Angewohnheit alter Haudegen.

Irgendwo klingelte ein Handy. Die Frau von der New Yorker East Side hörte auf zu reden und wühlte in ihrer Tasche. Dann klingelte es erneut und der Typ an den Docks drehte sich zu seinem Auto um.

Gelbhöschen kam zurück auf die Terrasse, schob Stühle beiseite, die ihm im Weg standen und übertönte so das nächste Klingeln des Handys. Aber der Typ auf den Docks hörte es dennoch, ging zur Beifahrertür, öffnete sie und ließ sich auf den Sitz fallen. Er hatte das Handy in der Hand, als es das nächste Mal sein hartnäckiges Zwitschern ertönen ließ. Er hieb auf die Tasten, aber ohne erkennbaren Effekt. Die beiden Frauen setzten ihr Gespräch fort, beschwerten sich jetzt über den Kaffee, der sich nicht annähernd vergleichen ließ mit dem Cappucino, den sie neulich in einer Trattoria in einer Seitenstraße der Piazza del Duomo hatten.

„Firenze. So nennen die selbst ihre Stadt dort. Wenn ich’s dir doch sage! Fie – renn – zeee.”

„Das klingt aber so gar nicht wie Florenz.“

„Ich dachte immer, Florence wäre der Name ihrer Königin oder so was.“

„Aus der Zeit, bevor sie da drüben Demokratie hatten.“

„Überhaupt klingt nichts von dem, wie die reden, so, dass man es auch versteht. Die Familie meines Schwagers – das sind Italiener.“

„Ich hab mich schon immer gewundert, was zum Teufel diese Florence mit der Stadt zu tun hat. Und ich war wie lange dort? Eine Woche?“

Der Typ in dem Lexus zog die Füße ins Auto und schloss die Tür. Ich warf einen Blick auf den Pudel. Mit dem Ball im Maul ragte seine Nase knapp über der Wasseroberfläche, was ihn in seiner Geschwindigkeit etwas drosselte. Eine kleine Welle aus öligem Meerwasser folgte ihm. Die teuren Sitzbezüge im Lexus taten mir leid.

Das erste Dröhnen war geradezu unterirdisch – zu leise für das menschliche Ohr. Der Kopf von Gelbhöschens Begleiterin zuckte hoch wie der eines aufgeschreckten Rehs. Das Innere des Lexus füllte sich mit wunderschönen rot-orangenen Blüten, und ein Strudel aus Flammenwirbeln brandete wie eine Welle gegen die getönte Heckscheibe. Das Auto begann zu schaukeln. Die Heckscheibe zersplitterte wie ein gezacktes Netz, das eine betrunkene Spinne gewoben hat.

Ich hörte jemanden schreien. Der Ton kam von der Treppe neben der Terrasse. Die Stimme klang vertraut. Der Pudel hörte auf zu paddeln und sah zu dem Auto hoch. Die Begleitung von Gelbhöschen griff nach ihrem Weißwein. Verwirrung überspülte die Terrasse. Irgendetwas stimmte nicht mit der Farbe der Flammen. Ich rannte zur Brüstung, um besser zu sehen. Gelbhöschen raunzte mich an, als ich seinen Stuhl aus dem Weg stieß.

Wieder hörte ich Jackie Swaitkowski. Sie rief meinen Namen. In diesem Moment begriff ich, was die Flammen bedeuteten. Ich dachte, es wäre schon zu spät, aber mehr als über die Brüstung auf die Treppe zu springen, konnte ich jetzt sowieso nicht mehr tun. Beinahe landete ich auf Jackie, die am Fuß der Treppe stand und das Auto anstarrte. Sie drückte sich an die Wand, den Handrücken gegen den Mund gepresst. Ich packte ihr Shirt. Unwillkürlich versuchte sie sich loszureißen.

„Weg hier!“

Als sie mich erkannte, hörte sie auf, sich zu wehren. Ich zog sie die Treppe hoch, stürzte zum Haupteingang des Restaurants und knallte gegen einen Zigarettenautomaten, der den Vorraum beinahe ausfüllte. Die Luft um uns herum begann in einem leichten flackernden Gelb zu leuchten.

„Sam?”

Ich zog sie an einem Münzfernsprecher und einem Regal mit unzähligen Broschüren vorbei durch den vollgestopften Vorraum und stieß sie ins Restaurant. Drinnen war es so gut wie leer. Ein Mann mit schmalem schwarzem Schnurrbart stand an einem Tresen aus Glas, hinter ihm eine altmodische Registrierkasse und darunter Reihen von Pfefferminzbonbons und Schokoriegeln so groß wie Kinder. Nach dem Telefon auf dem Tresen tastend, starrte der Mann auf das glitzernde Licht, das ins Restaurant fiel.

Wir pflügten an dem Schild „Bitte nehmen Sie Platz“ vorbei in den hinteren Teil des Raums. Ein großer Tisch voll mit Horsd’œuvres und Häppchen zur Happy Hour versperrte uns den Weg. Jackie versuchte sich loszumachen.

„Was zum Teufel tust du?”

Ich packte ihr Shirt noch fester und warf sie über den Tisch. Sie rutschte über die Tischplatte an Eimern voller Chicken Wings und große Glasschüsseln mit grünen Paprika- und Selleriestreifen vorbei. Ich schob die Hände unter den Tisch und warf ihn um. Von hinten überrollte mich betonharte Luft wie ein Faustschlag, und ein funkelnder Sprühnebel aus Glas, der sich anfühlte wie ein elektrischer Graupelschauer, traf meinen Rücken, als ich über die Kiefernplatte des Tisches hechtete.

Der Tisch war massiv genug, dass uns der Hurrikan aus umherfliegenden Balken und Trägern, Fensterrahmen, Regenschirmen, Aschenbechern und Long-Island-Bewohnern, die von der Terrasse des Windsongs hereingefegt wurden, nicht bei lebendigem Leib häutete.

Einige Zeit später zupfte eine kleine Frau mit kurzem schwarzem Haar an meinen Fingern, die ich hinter Jackies Kopf verschränkt hatte. Die Frau sprach mit mir, Jackies Augen waren geschlossen. Zumindest das eine. Das andere war zu vermatscht. Man konnte nicht sehen, ob es offen oder geschlossen war.

Die Frau sagte etwas zu mir, aber ich konnte sie nicht hören. Ich schüttelte den Kopf.

„Sir, es wäre gut, wenn ich Sie untersuchen dürfte“, schrie sie.

Die schwere Tischplatte hatte Jackie zwar das Leben gerettet, aber die umherfliegenden Trümmer nicht davon abhalten können, auf uns niederzuregnen. Ein Teil von dem, was wohl mal eine gläserne Salatschüssel auf dem Häppchentisch gewesen war, hatte die eine Hälfte von Jackies Gesicht übel zugerichtet. Wie das passiert war, hatte ich nicht gesehen, aber das Ergebnis war unübersehbar. Als die kleine Frau uns fand, erzählte ich Jackie gerade, dass Baseball seit dem Aufkommen der freien Agenturen nicht mehr das gleiche war, und checkte gleichzeitig immer wieder ihre Atmung, indem ich meine Wange an ihre Nase hielt.

Ich ließ es zu, dass die kleine Frau ihre Hände unter Jackies Kopf legte, während ich meine in ihren Nacken schob. Mit dem Daumen lupfte die Frau Jackies heilgebliebenes Augenlid und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe darunter. Dann horchte sie mit einem Stethoskop Jackies Brust ab. In der Zwischenzeit rannte ein Sanitäter herbei. Er hatte ein kompliziertes Plastikding im Schlepptau, das er laut klappernd zu Boden fallen ließ. Ohne aufzusehen, bellte die kleine Frau einen Befehl, und der Sanitäter machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück.

„Was ist mit den anderen?”, fragte ich, bekam aber keine Antwort und wollte kein zweites Mal fragen, bevor sie nicht so weit war.

Endlich sah sie mich an.

„Wie bitte?”, fragte sie.

„Die anderen. Auf der Terrasse. Was ist mit denen?”

„Wie viele waren dort?”

„Keine Ahnung. Fünf?”

Sie wandte sich wieder Jackie zu, legte deren Hände sanft zur Seite und formte aus dem Plastikding eine Stütze zur Stabilisierung für Jackies Kopf. „Ich werde die Bergungsmannschaften informieren, dass sie nach Teilen von fünf Personen suchen sollen.“

„Teilen?“

„Sir, lassen Sie mich meine Arbeit machen.“

Sie legte ihre kleinen zarten Hände auf meine Handgelenke und ich ließ Jackie los. In diesem Moment realisierte ich, dass ich meinen Atem hörte – und das verzweifelte Bellen eines kleinen Hundes in der Ferne.

Ich legte mich hin und sah in den Himmel, der noch immer wunderschön hellblau war – mit einem leichten Hauch von Rosa und Purpur, der wohl vom Sonnenuntergang im Westen und den flackernden Überresten des Feuers am Rand des Docks stammte. Seemöwen segelten über den Himmel und wunderten sich bestimmt über den Tumult.

2

Joe Sullivan war genau der Typ, den Regisseure als Cop besetzen – rundlich um die Mitte, ein bulliger Kopf, den ein blonder Militärhaarschnitt krönt und als i-Tüpfelchen: kleine, eng zusammenstehende Augen. Dass er tatsächlich Cop war, machte die Sache nicht besser. Sein zynischer, halb gelangweilter, halb misstrauischer Gesichtsausdruck passte perfekt zu dem großen Streifenwagen, einem Ford, und seiner verspiegelten Sonnenbrille. Beides sollte ihm das Aussehen eines harten Cops verleihen. Dazu am Gürtel eine Smith & Wesson Kaliber .38 mit kurzem Lauf und ein Walkie-Talkie, sowie ein gestärktes Hemd und Schuhe, die glänzten wie mit Spucke poliert. Abwehr total.

Ich stand gerade auf einer Leiter, als sein Wagen in meine Einfahrt bog. Es war mitten am Nachmittag und die Sonne hatte sich über der Little Peconic Bay eingerichtet. Es lag gerade genug Dunst in der Luft, um ein diffuses Licht zu erzeugen und die flirrende Sommerhitze festzuhalten. Ein für die Jahreszeit typischer Südwestwind wehte so stark, dass die Blätter an den Bäumen an der Rückseite des Grundstücks raschelten, ohne den Schweiß auf der Haut zu trocknen oder die Luft zu reinigen. Eddie, die Promenadenmischung, mit der ich das Haus teilte, lag zusammengerollt unter dem struppigen Rhododendron neben der Veranda. Ich trug ein weißes T-Shirt, abgeschnittene Jeans, Arbeitsstiefel und weiße Socken. Der Werkzeuggürtel um meinen Bauch mitsamt dem Lederschurz zog die abgeschnittene Jeans unangenehm in Richtung Boden. Ich hielt ein Winkelmaß in der einen, einen Hammer in der anderen Hand und versuchte krampfhaft mir eine dritte Hand für eine Wasserwaage wachsen zu lassen, als ich hörte, wie Sullivans Auto knirschend den Kiesweg hochfuhr. Ich hatte den Firstbalken bereits provisorisch mit zwei fünf Meter langen Kanthölzern gesichert – zumindest hoffte ich das. Der obere Winkel am Sparren sah gut aus, aber irgendwas an der Art wie die Kerbung auf die Platte traf, wirkte falsch. Vielleicht war der obere Winkel doch nicht so gut gelungen, wie ich dachte.

„Hey Sam“, rief Sullivan von unten. „Was machst du da?“

Ich nahm die zwei Nägel zwischen meinen Lippen raus.

„Ich ziehe Dachbalken hoch.“

Eddie taumelte aus dem Rhododendron hervor, um Sullivan zu begrüßen. Normalerweise wäre er schwanzwedelnd mit einem seltsamen Seitwärtshüpfer an dem Besucher hochgesprungen, aber die Hitze hatte Eddies Umgangsformen etwas lädiert. Sullivan ging in die Hocke, um Eddie hinter den Ohren zu kraulen.

„Das sind keine Balken“, schrie er hoch. „Balken sind horizontal. Das da sind Sparren.“

„Klär das mit Seymour.“

„Wer ist Seymour?“

„Seymour Glass.“

„Kenn ich nicht.“

„Ein verdammt guter Zimmermann.“

„Arbeitet allein, hm?“, fragte Sullivan.

„Sozusagen.“

„Vielleicht könnte er helfen.“

„Das hier ist der einzig knifflige Teil.“

„Was? Den Dachstuhl aufzurichten?“

„Den Firstbalken einzupassen. Bringt selbst die klügsten Köpfe zum Qualmen.“

„Nicht bei den Typen, mit denen ich gearbeitet habe. Die reinsten Hohlköpfe. Konnten trotzdem einen Firstbalken einpassen.“

Ich schlug seitlich gegen den Sparren, um ihn in die richtige Position zum Dachfirst zu bringen, und überprüfte das Ergebnis mit dem Winkelmaß. Dort, wo Sparren und Dachfirst aufeinandertrafen, klaffte immer noch ein großer, hässlicher Spalt.

„Schon mal selbst was gebaut?“, fragte ich Sullivan.

„Überall auf der Insel. Hab ’ne Menge Dachstühle gezimmert. Aber nie mit eigenen Händen.“

„Ist ’ne einfache Konstruktionsarbeit. Steckt alles in den Zahlen. Ein paar Berechnungen und ungefähr hundert Jahre Rumtüfteln, schon steht das Ding wie ’ne Eins.“

„Ich würde ja hochkommen und dir helfen, aber ich bin im Dienst.“

„Na klar, versteck dich nur hinter deiner Marke.“

„Du würdest mich sowieso nicht helfen lassen.“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Zu dickköpfig.“

„Da ist noch Bier im Kühlschrank.“

„Dabei kann ich dir helfen.“

„Im Dienst?“

„Empfehlung von ganz oben.“

Er verschwand im alten Teil des Hauses. Ich arbeitete gerade an einem Anbau an der Rückseite, um meine letzte Zuflucht in dieser Welt noch etwas aufzumöbeln. Das Grundgerüst hatte ich schon hochgezogen und bisher alles allein gemacht bis auf das Gießen des Betons. Mein Vater hatte die Grube für das Fundament des alten Gebäudeteils noch mit Hacke und Schaufel gegraben und dann aus Schlackenbeton gebaut. Alles mehr aus der Not heraus als aus besonderem Heldenmut. Er hatte sehr wenig Geld und machte dieses Manko durch grimmige Entschlossenheit wett.

„Hab dir eins mitgebracht“, rief Sullivan aus der Hintertür.

Ich ließ den Hammer in den Werkzeuggürtel gleiten und den noch nicht befestigten Sparren langsam zu Boden sinken. Vielleicht würde sich dieses ganze Dachproblem von allein lösen, während ich mit Sullivan ein Bier trank. Wenn man Holz lang genug sich selbst überlässt, passiert das manchmal.

„Was soll’s denn werden?“, fragte Sullivan, als ich die Leiter herunterkletterte.

„Was?“

„Na, das da.“ Er deutete mit der Flasche in Richtung Baustelle. „Was baust du da?“

„Schlafzimmer, Badezimmer und eine kleine Kammer im Obergeschoss. Mehr Platz im Erdgeschoss.“

Er nahm einen großen Schluck.

„Warum reißt du das Ding nicht ab und baust was Neues?“ Sein Blick wanderte raus zur Bucht, während er sich mit dem Ärmel den Mund abwischte. „Hast ein großartiges Stück Land hier.“

„Wie ist das Bier?“

„Kalt.“

Ich schnallte den Werkzeuggürtel ab und ließ ihn zu Boden rutschen. Es war eigentlich ein Gürtel für Elektriker, aber ich benutzte ihn gerne für Zimmermannsarbeiten. Viele nützliche kleine Taschen und ein robustes Holster für einen Hammer. Dann nahm ich die Lederschürze ab und zog das Frottee-Schweißband vom Kopf, presste die kühle Flasche an meine Stirn. Die Schwüle dieses Tages war nicht unbedingt geeignet für die Beschäftigung mit Douglasien und Dimensionsberechnungen. Sullivan, Eddie und ich gingen rüber zu den beiden handgemachten Gartenstühlen, die ich im Schatten eines Spitzahorns aufgestellt hatte. Eddie warf sich ins Gras, Sullivan und ich zogen die Stühle vor.

Ich mochte alle Jahreszeiten in dieser Ecke der Little Peconic Bay, nur die sommerlichen oder winterlichen Extreme waren etwas weniger angenehm. Im tiefsten Winter pfiff der heulende, salzige Wind durch sämtliche Ritzen in den Hauswänden und jede wetterfeste Regenkleidung. Im Hochsommer hingegen stand die Luft oft förmlich still. Die unbarmherzige, ölige Hitze brachte den Kreislauf zum Stolpern und alle mentalen Fähigkeiten schrumpften auf ein Minimum.

„Wie geht’s deinem Hintern?“, fragte Sullivan.

„Wie bitte?“

„Hab gehört, die haben dir über hundert Glassplitter aus’m Hintern gezogen.“

„Nicht mal fünfzig. Und aus dem Rücken, nicht dem Allerwertesten.“

„Also keine große Sache.“

„Die kleinen Schnitte auf dem Rücken verheilen langsam, aber ich schlafe immer noch auf dem Bauch, auf dem rechten Ohr kann ich wieder zu 70% hören und auf dem linken zu 80%. Bei Jackie ist das Gehör auf dem rechten Ohr wieder da, aber auf dem linken ist es für immer hinüber. Merkwürdiges Glück.“

Sullivans Grinsen verrutschte etwas.

„Ja, mit dem Glück ist es so eine Sache. Hast Glück, dass du noch am Leben bist.“

„Werd bloß nicht tiefsinnig.“

„Keine Sorge. Ist nicht meine Art.“

Ganz nebenbei versuchte ich immer noch den Zuschnitt der Sparren zu berechnen, aber das klappte einfach nicht. Ich starrte hoch zu dem stümperhaft eingepassten Firstbalken und wartete auf eine Erleuchtung.

„Hast du dich mal gefragt, warum das passiert ist?“, fragte Sullivan.

„Die ganze Zeit.“

Er nickte, als hätte er gerade eine Wette gewonnen.

Ein Windsurfer schob sich in unser Blickfeld. Er war groß und muskulös, trug einen ärmellosen blauen Surfanzug und hielt den Gabelbaum mit lässigem Selbstvertrauen. Sein langes Haar klebte nass zwischen seinen Schulterblättern. Es gab kaum genug Wind, um ihn ordentlich voranzubringen. Ich fragte mich, was mein Vater wohl vom Windsurfen, den Jet Skis, dem Parasailing und all den anderen modernen Freizeitaktivitäten halten würde, die es heute in der Bucht gab. Nicht, dass er dem Salzwasser vor seiner Haustür jemals viel Beachtung geschenkt hätte. Bis auf gelegentliche Trips raus aufs Meer, um Blaufische fürs Abendessen zu fangen, war er eher der Landtyp gewesen – nur Schmieröl, Erde und Staub.

„Die haben keine heiße Spur“, sagte Sullivan.

„Dachte ich mir.“

„Die geben es natürlich nicht zu, reden von laufenden Ermittlungen, haben aber absolut nichts. Bin zufällig drüben im Bobby Van’s dem Chefermittler begegnet. Er war dort zum Abendessen mit seiner Frau. Die wollte zwar nicht, dass er über die Arbeit redet, aber man sah ihm an, dass er die Nase voll hat. Er dachte, das wäre sein Ticket nach Hollywood – ein aufsehenerregender Fall, viel Presse. Jetzt, zwei Monate später, ist es nur noch peinlich. Sogar mir ist es peinlich.“

„Du bist ein mitfühlender Kerl, Joe.“

„Peinlich berührt oder mitfühlend, ist doch alles der gleiche Mist. Nullnummer für den Staatsanwalt, Nullnummer für die Presse. Nullnummer für die trauernde Witwe, darauf läuft es hinaus.“

„Nullnummer für die unbeteiligten Opfer.“

„Genau“, sagte er, „auch das. Stimmt einen nicht gerade froh.“

Er wirkte nachdenklich. Fast philosophisch. Sogar mitfühlend.

„Gibt’s eine Deadline für das Ding da?“, fragte Sullivan und studierte den Anbau.

„Was meinst du?“

„Du arbeitest jeden Tag dran?“

„Wenn ich nicht grade für Frank arbeite.“

„Ganz schön viel Arbeit, so ein Anbau. Vor allem, wenn man alles allein macht. Ein riesiger Haufen Arbeit.“

„Jup.“

„Ich weiß, wovon ich rede. Hab ich alles schon hinter mir. Ist ’ne harte Nummer.“

„Definitiv.“

„Richtig harte Arbeit.“

„Stimmt.“

Eine Weile saßen wir schweigend da, seufzten dann, um die Stille zu füllen.

„Natürlich bin ich der Einzige, der hier offiziell im Dienst ist“, sagte er.

„Und im Dienst trinkt.“

„Solange uns das Bier nicht ausgeht.“

Damit hievte er sich aus dem Adirondack-Sessel und stapfte ins Haus. Während seiner Abwesenheit dachte ich weiter über die Gesetze der Geometrie und die Lastverteilung auf den Dachsparren nach. Und über das Kinn meiner Highschool-Flamme Sylvia Granata – meiner Meinung nach ein Musterbeispiel für göttliche Perfektion auf dem Gebiet der Architektur. Sullivan walzte zurück über den Rasen und plumpste in den Stuhl, was meinen Tagtraum unsanft zerplatzen ließ. Er reichte mir ein Samuel Adams Bier rüber und behielt für sich selbst die exklusive Flasche einer Mikrobrauerei, die mir mein Freund Burton Lewis letztes Mal mitgebracht hatte. Sullivan ließ sich seinen guten Geschmack nicht von seiner Arbeiterklassenherkunft vermiesen. Schon gar nicht, wenn ich bezahlte.

„Was weißt du über den Typen, der da in die Luft geflogen ist?“, fragte er.

„Die Zeitungen behaupten, er war so ’ne Art Wertpapierhändler, aus Long Island.“

„Nah dran.“

Aus seiner Gesäßtasche zog er einen kleinen Notizblock, der über und über mit einer engen, aber regelmäßigen Schrift bedeckt war.

„Anlageberater. Mit Broker-Lizenz. Hatte ein Büro in Riverhead. Verbrachte einen kleinen Teil seiner Zeit dort, den Rest war er unterwegs. War spezialisiert auf Hightech. IPOs, LBOs, dieser ganze Scheiß.“ Er sah zu mir rüber. „Ein typisches smartes junges Arschloch, wie wir sie hier wie Sand am Meer haben.“

„Neben all den alten smarten Arschlöchern.“

„BMWs und Zigarren. Meistens in Kombination mit irgendeinem hirnlosen Model oder einer geldgeilen Tussi samt Schönheits-OPs.“

„Manchmal beides gleichzeitig.“

„Aber dieser Typ war verheiratet. Und quasi von hier, genau genommen“, sagte Sullivan.

„Riverhead. Nah genug.“

„Ja, stimmt.“

Sullivan rutschte nach vorn, wollte seine Geschichte noch dramatischer machen.

„Mehr gibt es nicht über diesen Typen. Hatte ein beschissenes, kleines Büro und fuhr durch die verdammte Gegend, um Hightech-Unternehmen und Start-ups zu checken. Arbeitete nur über Handy, Fax und E-Mail – quasi eine Ein-Mann-Geldmaschine mit null Kosten und null Kontakt zum Rest der Menschheit.“

„Der Technologiesektor hatte seine Höhen und Tiefen.“

„Nicht für diesen Kerl, falls stimmt, was man mir erzählt hat. Hoch, tief, Mittelmaß – spielte für ihn alles keine Rolle. Er hat immer Kohle gemacht, so oder so.“

„Keine Freunde oder Familie?“

„Keine Freunde, von denen man wüsste. Die Mutter ist in einem Heim in Riverhead. Hat nicht mehr alle Nadeln an der Tanne, ist schon eine Ewigkeit dort. Und einen Bruder in Southampton. So eine Art Hippie-Künstler. Den Vater konnte ich nicht ausfindig machen, wahrscheinlich tot. Keine weiteren Verwandten. Keine Vorstrafen, keine Festnahmen, nichts in der Presse. Absolut null. Total unauffällig.“

„Ziemlich interessant.“

„Findest du?“, fragte er.

„Na ja, schon. Ein unauffälliger Typ, den irgendwer aber interessant genug fand, um ihn in Gehacktes zu verwandeln.“

„Ja, aber so richtig. Ist nichts übriggeblieben von ihm. Das Auto war offensichtlich mit mehr Sprengstoff vollgestopft als bei diesem Selbstmordattentat in D.C. Damals sind … wie viele draufgegangen? Dreißig? Hat einen tiefen Krater hinterlassen.“

„Die Hamptons müssen immer noch einen draufsetzen.“

„Hat’s in die Abendnachrichten geschafft.“

Der Windsurfer kippte über eine Welle, die eine große Sportyacht hinter sich herzog, und landete mitsamt Segel im Wasser. Ich schaute dem Geschehen zu, bis der Typ wieder auf dem Board stand, die Hand am Gabelbaum. Der Wind füllte das Segel und trug ihn in die entgegengesetzte Richtung – in sichere Entfernung zur Yacht.“

„Tja, wer weiß“, sagte ich und blickt wieder Sullivan an. „Der falsche Rat eines Brokers oder Anlageberaters kann einen teuer zu stehen kommen. So was macht Leute ziemlich sauer.“

„Von welcher Größenordnung sprechen wir hier? Ich meine, wie viel kann man verlieren?“

„Puh, keine Ahnung. Millionen, Trillionen.“

„Genau das sag ich den Typen in East Hampton immer wieder. Die schnallen die Dimensionen dieser Geschichte nicht.“

„Sind nicht auch Staats- und Bundesbehörden damit beschäftigt?“, fragte ich.

„Waren sie – vor zwei Monaten, als die Sache noch frisch war. Ich glaube, das FBI hat seine Kunden befragt. Ist aber nichts rausgekommen, was ihnen weitergeholfen hätte. Die lokale Polizei war für den ganzen forensischen Kram zuständig, aber letztendlich sind die viel zu beschäftigt damit, Radarfallen aufzubauen und ihre Holster zu polieren.“

„Klingt ganz nach dem üblichen Gezacker zwischen lokalen Bullen und FBI.“

Das zweite Bier ließ alle Zimmermannsambitionen, die mir die Sonne noch nicht ausgetrieben hatte, endgültig verpuffen. Ich nahm einen ordentlichen Schluck, lehnte mich zurück, schloss die Augen und versuchte, mich an Sylvias Kinn zu erinnern.

„Wenigstens ist es nicht dein Problem“, sagte ich.

„Genau genommen ist es das Problem von niemandem. Es ist unser Job.“

„Oder der von den Typen in East Hampton.“

„Na ja, nicht wirklich. Jetzt, wo der Fall total verbockt ist, darf jeder mal ran.“

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich, wie Sullivan den Hals seiner Bierflasche anstarrte. Er war nicht der Typ, den man leicht durchschauen konnte. Wahrscheinlich, weil er oft verbarg, was er tatsächlich dachte. Falls er selbst wusste, was er dachte.

„Es gibt einen Grund, warum die ganze Geschichte so vor sich hindümpelt“, sagte Sullivan. „Trotz all der Sommergäste und ihren üblichen verrückten Spinnereien hat uns Ross heute Morgen zusammengerufen und uns Kopien von den Akten ausgehändigt – inklusive Zeugenvernehmungen, auch deiner, und den Namen der Staats- und lokalen Polizeibeamten, die offiziell noch zuständig sind. Und die sich glücklich schätzen werden, wenn sie jemand anderem dieses Kuckucksei unterschieben können.“

„Du solltest dich da raushalten“, sagte ich und hob mein Bier.

Die Flasche in meiner rechten Hand fühlte sich kühl an und für einen Moment schien eine frische Brise von der Bucht hereinzuwehen. Ich rutschte etwas tiefer in meinen Stuhl, lehnte den Kopf an eine der Latten der Rücklehne und versuchte einen Moment der perfekten Entspannung zu erreichen.

Der Windsurfer machte in der aufkommenden Brise eine scharfe Wende nach links und sauste geradewegs auf die große graugrüne Boje zu, deren Schaukeln auf dem Wasser ich schon seit fünfzig Jahre kannte. Hoffentlich kannte sie auch der Surfer. Er wäre nicht der erste elegante Sportler, der gegen ihren stahlverkleideten Rumpf geklatscht wäre, ein Rumpf, der jedem Schlachtschiff zur Ehre gereicht.

„Hör mal, Sam, wie beschäftigt bist du mit diesem Ding?“, fragte Sullivan. „Hast du dafür ’ne Deadline oder so was?“

„Welches Ding?“

Er zeigte auf den Anbau.

„Das, was du da baust.“

„Keine Ahnung. Bis zum Winter sollte es besser fertig sein.“

„Ja, das stimmt.“

„Das Dach.“

„Ja, klar.“

„Fenster, Seitenwände.“

„Da bleibt doch genug Zeit, dass du mal mit der Ehefrau von dem Kerl redest“, sagte er beiläufig.

„Die Frau von welchem Kerl?“

„Na, von dem Toten. Der Kerl, der in die Luft geflogen ist.“

„Ich soll mit seiner Frau reden?“

„Na ja, irgendwer muss es ja tun. Die haben ihre Aussage aufgenommen, falls man das so nennen kann. Aber die haben nicht das Geringste aus ihr rausgeholt. Sie hat einen Doktortitel, aber keinen medizinischen, mehr so was wie einen Dr. phil. Der Chefermittler drüben in East Hampton, Ed Lotane, hat gesagt, sie wäre ein bisschen durchgeknallt, könnte das Haus nicht verlassen. Akraphobie oder so was. Hat Angst vor der ganzen Scheißwelt.“

„Agoraphobie.“

„Genau das. Dazu kommt, dass sie ziemlich dünn und kränklich ist und in ’nem riesigen Haus wohnt. Also denken die Cops natürlich, dass sie was zu verbergen hat. Aber selbst, wenn sie in Riverhead gelebt hat, war sie doch mit einem Einheimischen verheiratet, und, verdammt noch mal, das sollte diese Trampel aus East Hampton nicht an ihrer Arbeit hindern. Aber aus irgendeinem Grund ist die Aussage der Schnalle gerade mal einen halben Absatz lang und total nutzlos.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Na ja.“

Er machte eine wegwerfende Bewegung und stand auf. Seine blaue Polyesteruniform war an der Taille etwas knapp und legte den Blick auf seinen Bauchnabel, ein T-Shirt, Hemd und ein Pistolenhalfter frei, genau das richtige im Juli.

„Was ist so schwer daran?“, fragte er. „Du fährst einfach hin und redest mit ihr. Ich sag dir, was ich von ihr wissen muss. Keine große Sache.“

„Wovon redest du? Das ist wahrscheinlich nicht mal legal, selbst wenn ich es tun wollte, was nicht der Fall ist.“

„Ist es dir egal, ob die Typen, die Jackies Gesicht so zugerichtet haben, davonkommen? Du hast gesagt, du wärst neugierig.“

„Sullivan, du bist hier der Cop. Das ist dein Job. Ich bin nur ein einfacher Bürger. Was ist so schwierig daran, mit der Frau zu reden?“

Ich musste beim Sprechen immer lauter werden, damit er mich noch hören konnte, während er in Richtung Little Peconic davonstapfte. „Teufel, auch“, sagte ich zu mir selbst, als ich mich hochwuchtete, um ihm zu folgen.

Eddie und ich holten ihn an der Grenze meines Gartens ein. Dahinter kamen nur noch knapp zehn Meter Kieselstrand und danach die blaugrüne Little Peconic Bay. Ein zwölf Meter langes Segelboot glitt ziemlich knapp außen an der grünen Boje vorbei, die den Oak Point Kanal markierte. Reflexartig checkte ich die Gezeiten. Das Wasser stand niedrig. Wäre es innen an der Boje vorbeigefahren, hätte es eine nette Furche in den Meeresgrund gegraben.

„Was ist los?“, fragte ich.

„Vergiss es.“

Eddie sprang von der Mole, die die Grenze zwischen meinem Garten und dem Strand markiert. Er kontrollierte gern, ob am Ufer alles mit rechten Dingen zuging, immer ein wachsames Auge auf maritime Bedrohungen wie Wasserbälle und Bojen von Hummerfangkörben.

„Was meinst du, würde Ross sagen, wenn er mitbekommt, dass ich deine Zeugen befrage?“

„Sie ist keine Zeugin. Sie ist nur seine Frau. Du findest raus, was es rauszufinden gibt, danach gehe ich zu ihr, stelle ihr die gleichen Fragen und das war’s. Hat dich beim letzten Mal auch nicht davon abgehalten.“

„Das war was anderes. Da war ich persönlich betroffen.“

„Und hier bist du nicht persönlich betroffen? Dir wurde der Arsch mit Glassplittern tätowiert, die Ohren wurden dir weggeblasen und deine Freundin hat nur noch ein halbes Gesicht.“ Sullivans Stimme war unmerklich lauter geworden, aber er fing sich wieder.

„Wie auch immer“, meinte er. „Du bist ein neugieriger Mistkerl, das weiß jeder. Es gibt kein Gesetz, dass dir verbietet, jemandem einen Besuch abzustatten. Dies ist ein freies Land.“

„Einmischung in eine laufende Ermittlung.“

„Was für eine Einmischung? Du redest nur mit ihr.“

„Ich kapier’s nicht, Joe. Wo liegt das Problem?“

Sullivan fand einen kleinen Stein im Gras und warf ihn ins Meer.

„Ich habe nur zwei Jahre“, sagte er.

„Zwei Jahre?“

„College. Zwei Jahre an einem Community College. Hab hauptsächlich Bier studiert.“

„Das Fach hatten wir am MIT auch.“

„Genau das meine ich doch. Du bist ans MIT gegangen. Du bist rumgekommen, du hast Sachen erlebt. Du bist gebildet. Das Problem mit den Jungs in East Hampton ist, dass die nicht mal wissen, welche Fragen sie stellen müssen. Verkackte Geisteswissenschaftler mit Doktortiteln, Finanzanalysten, so’n Scheiß, das schüchtert die doch alle ein.“

„Aber doch nicht dich.“

Er legte eine fleischige Faust auf seine Hüfte direkt hinter das schwarze Lederholster, in dem seine .38er steckte.

„Stimmt. Ich rede mit jedem. Aber ich brauche was, wo ich ansetzen kann“, sagte er. „Etwas, woran die noch nicht gedacht haben. Eine Spur, der ich nachgehen kann. Du könntest so etwas finden. Oder auch nicht. Außerdem wäre ich dir dann was schuldig. Das muss dich doch reizen, oder?“

Ich brachte ihn dazu, mich direkt anzusehen.

„Ich kann’s mir nicht leisten, etwas Aufsehenerregenderes zu tun als die Luft hier in Southampton zu atmen. Der Blick des Chiefs verfinstert sich jedes Mal, wenn er mich sieht.“

„Das ist typisch Ross. Der verdächtigt sogar seine eigene Mutter. Falls er eine hat.“

„Seine Mutter war keine Verdächtige in einem Mordfall.“

„Dieser Fall ist geschlossen“, stellte Sullivan klar. „Vorbei und abgehakt.“

„Ich muss unterm Radar bleiben.“

„Genau“, meinte er, „und du musst mit dieser Lady reden und mir sagen, was du erfahren hast.“

Er drehte sich von der Bucht weg und gab mir einen Klaps auf die Schulter, wanderte zurück zu seinem Auto.

„Das ist doch abgefuckt“, rief ich ihm nach.

„Lass mich wissen, wie’s gelaufen ist.“

„Ich weiß nicht mal, wer sie ist.“

Er drehte sich um und ging rückwärts weiter.

„Ich habe ihren Namen und ihre Adresse auf deinem Küchentisch hinterlassen. Und die Telefonnummer. Und eine Liste mit Fragen. Und eine Zusammenfassung des Falls, die ich aus East Hampton habe. Verbrenn das alles, sobald du kannst. Wenn Ross rausfindet, dass ich dir das gegeben habe, feuert er mich schneller als ein New Yorker Taxifahrer hupen kann, wenn die Ampel auf Grün schaltet.“

Nachdem er gegangen war, kletterte ich die Leiter hoch und passte die beiden Sparren ein, die den Südgiebel des Anbaus bilden sollten. Zuerst maß ich alles mit meinem Zollstock aus. Dann schnitt ich die Winkel am Dachfirst und an der Sattelplatte zu, damit diese den soeben gemachten Abmessungen entsprachen, anstatt wie zuvor die Mathematik zu bemühen. Die Sparren passten sich perfekt ein. Ich überprüfte alles noch mal mit dem Winkelmaß, dann kontrollierte ich die Richthöhen erneut mit einem Theodoliten. Zur Sicherheit brachte ich ein paar Verstärkungen an den Verbindungsstücken an und verankerte die Stützen der 5-m-Kanthölzer in der Bodenplatte.

Danach ging ich ins Haus und holte mir noch ein Bier, das ich im Garten trank, während ich auf die ersten Boten des Sonnenuntergangs über der Spitze von North Fork wartete. Gleichzeitig hielt ich Ausschau nach verirrten Seglern und Windsurfern, die auf meinen Strand krachen und diesen Entwurf eines Lebens, das mit gesundem Augenmaß so viel besser funktionierte als mit technischen Berechnungen, ordentlich durchschütteln könnten – mal wieder.

3

Ich bin hierhergezogen, nachdem ich die letzten 30 Jahre meines Lebens in einem Akt der Selbstzerstörung so gut wie ausgelöscht hatte. Meine Eltern waren tot und hatten mir das Haus hinterlassen, in dem ich aufgewachsen war. Es steht an der Spitze von Oak Point, einer kargen Halbinsel, die furchtlos in die Little Peconic hineinragt und an Southampton, Long Island, grenzt. Mein Vater war ein Mechaniker der alten Schule gewesen. Es ist also nicht verwunderlich, dass sein Haus den Charakter und die Raffinesse eines ’55er Chevy hatte: robust, verlässlich und schlicht. Nach seinem Tod hatte meine Mutter versucht, etwas Eleganz reinzubringen, aber dieser Plan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Seit meinem Einzug hatte ich nicht viel getan, um diese Situation zu verbessern. Ich hatte wenige Freunde, kaum Familie, weder einen Job noch andere sinnvolle Interessen außer Wodka zu trinken und dem Sonnenuntergang hinter den grünen Hügeln von North Fork zuzuschauen. Arbeiten am Haus erschienen mir wenig sinnvoll.

Keine Ahnung, warum ich nun trotzdem mit dem Anbau begonnen hatte. Wahrscheinlich neu entdeckter Tatendrang. Jeder Halbstarke, der im Osten von Long Island aufgewachsen ist, hat auf Baustellen gearbeitet, auch wenn es nur für eine kurze Zeit war. Obwohl die wirtschaftlichen Aufschwünge und Krisen dem Rhythmus der Wall Street folgten, hatte ich immer einen Job, auch in schwierigen Zeiten. Die Witterung nagte pausenlos am Holz der großen Villen und es gab immer einen Haufen reicher Leute, die – egal welche Kapriolen die Wirtschaft grade schlug – noch reicher waren als die anderen und hier draußen ein Haus hatten. Für diese Leute arbeitete ich – oder vielmehr für die Schreiner und Handwerker, die die Aufträge für sie ausführten.

Am liebsten arbeitete ich für Frank Entwhistle, der mich vor 35 Jahren angeheuert hatte. Inzwischen schmiss sein Sohn, Frank jr., den Laden. Er brauchte einen Zimmermann und einen Möbelschreiner. Nicht einfach, so jemanden zu finden, wenn mittlerweile nahezu alle Händler und mit ihnen auch alle Kellnerinnen, Verkäufer und Barkeeper aus Nassau oder West Suffolk kamen.

Der rare noch bezahlbare Wohnraum vor Ort wurde wie ein Familienerbstück von einem Traumtänzer an den nächsten weitergereicht. Ich war mit diesen Leuten aufgewachsen und erkannte sie in der Stadt wieder, wie sie in Eisenwarenläden ein- und ausgingen oder an der Supermarktkasse standen. Aber so richtig kannte ich eigentlich keinen mehr von ihnen.

Ich arbeitete für Frank, wann immer ich Lust hatte, und half ihm gelegentlich bei der Instandhaltung seiner Flotte aus Pickups und leichten Baggerfahrzeugen. Zum Glück hatte er mich bisher nicht gebeten, Dächer für ihn zu bauen. Das Haus meines Vaters hatte eine große, von Fliegengittern umrahmte Veranda mit Blick aufs Wasser, ein Wohnzimmer mit einem riesigen Holzofen, eine Küche, ein Badezimmer und zwei 10 m2 große Schlafzimmer. Den größten Teil des Jahres lebte ich auf der Veranda, weil ich ein Auge auf die Little Peconic haben wollte. Die Wachsamkeit schien sich auszuzahlen, denn nach fünf Jahren war die bay. Ein runder Tisch, ein paar Stühle und eine Liege standen ständig dort, so dass ich draußen essen und schlafen und einige wenige Gäste bewirten konnte, Leute wie z. B. Jackie Swaitkowski und Joe Sullivan. Ab und zu vielleicht auch mal einen versprengten Zeugen Jehovas oder einen Hund aus der Nachbarschaft, den Eddie mitbrachte, um mit ihm Wasser und Futter zu teilen. Ein wenig Gastfreundschaft, um Gott zu beweisen, dass ich nicht vollkommen mit seiner Schöpfung gebrochen hatte.

Unser Haus war nie Zentrum des sozialen Lebens in Oak Point gewesen. Zumindest nicht, wenn mein Vater in der Nähe war. Die Menschen gingen ihm aus dem Weg und meine Mutter zog sich mit ihrem Strickzeug in eine Ecke des Wohnzimmers zurück, wenn sie nicht gerade den aussichtslosen Kampf gegen den Sand und die salzige Feuchtigkeit kämpfte, die sich in den Wänden festsetzte und Müslipackungen und Bettwäsche aufweichte. Mein Vater konnte nicht so gut mit Menschen, vor allem nicht mit denen, die mit im Haus lebten.

Sein Treibstoff im Leben waren Impulsivität und unkontrollierbare Wut. Ich hab nie rausbekommen, warum er so war, wie er war, oder auch nur einen Gedanken daran verschwendet, solange er lebte. Aber ich weiß, wie er starb. Totgeprügelt auf dem stinkenden Männerklo in einer düsteren, runtergekommenen Bar in der Bronx. Nur die Straße entfernt von der Wohnung, in der er unter der Woche lebte. Die Bullen fanden nie heraus, wer es getan hatte. Sie haben es auch nie wirklich versucht. Es gab keine Zeugen, obwohl sich ein halbes Dutzend Stammgäste und der Barkeeper in der Bar aufhielten. Die Polizei ging davon aus, dass es ein paar Halbstarke waren, die, überzeugt von ihrer Unverwundbarkeit, durch das Viertel zogen. Die Polizei vermutete, dass er es darauf angelegt hatte. Sie kannten meinen Vater.

Während meiner Kindheit verbrachte er die meiste Zeit in New York, reparierte Autos und Ölbrenner. Meine Mutter, meine Schwester und ich lebten derweil in Southampton in dem Haus in Oak Point. Damals war die Halbinsel noch eine klassische Arbeitergegend, voll mit Typen aus der Bronx wie meinem Vater, dazu den Alteingesessenen in ihren unbeheizten, selbst gebauten Häuschen, die im Sommer als Rückzugsort vor der Hitze dienten. Aber die Gegend war bewaldet und von dem magischen Licht des East End beschienen. Neben diesen Wohltaten der Little Peconic war ich dort auch die meiste Zeit frei von dem alles zerfressenden Zorn meines Vaters.

Wie jeder Mensch hatte ich mir im Laufe meines Lebens diverse gute und schlechte Marotten an- und später wieder abgewöhnt. Ich beschloss, meine bereits existierenden Eigenarten zu vertiefen, egal, welche Konsequenzen das haben mochte. Eine dieser Gewohnheiten war das Joggen auf den sandigen Wegen, die sich entlang der Küste bis zu den nördlichen Wohngegenden schlängelten. Am Tag nach Sullivans Besuch waren Eddie und ich früh auf den Beinen und liefen in flottem Tempo Richtung Westen. Das ging im Sommer nur morgens früh, später wurde es einfach zu heiß. Zumindest für einen 53-Jährigen, der mit dem Laufen eine ganze Reihe schlechter Angewohnheiten auszugleichen versuchte. Eddie hätte es vermutlich geschafft, aber besonders glücklich wäre er dabei nicht gewesen.

Ein feiner Nebel umgab die struppigen Kiefern und Eichen, über den Baumspitzen hingen zarte Wolken, doch in wenigen Stunden würde die Sonne sie einfach wegbrennen. Bis dahin blieb mir noch genug Zeit, um bis zum Hawk Pond Yachthafen zu laufen, wo mein Freund Paul Hodges auf seinem Boot lebte. Mein T-Shirt war langsam schweißnass und von Zeit zu Zeit musste ich mir auch unter dem Frotteeband den Schweiß von der Stirn wischen. Die zirpenden Insekten aus den Feuchtgebieten hatten sich in der Nacht vollkommen verausgabt und schwiegen nun, aber ihre tagesaktiven Verwandten summten im Wald umher und landeten auf meinen Armen und Beinen. Eddie musste sogar ein paar Mal anhalten, um ein oder zwei Viecher aus seinem Fell zu pflücken. Wir teilten uns eine Flasche Wasser, die ich mit Klettband an meiner Hüfte befestigt hatte, und kämpften uns tapfer weiter vorwärts.

„Brennst du da auch was für mich an?“, fragte ich Hodges, als wir an dem schmalen schaukelnden Dock ankamen.

„Hab ich mir doch gedacht, dass der Essensgeruch dich anlockt“, sagte er aus der Rauchwolke des alten Weber Grills heraus, den er direkt neben dem Landungssteg aus Mahagoni aufgestellt hatte. Rauch sammelte sich unter dem großen Sonnenschirm, der Schatten spendete für einen weißen Plastiktisch und zwei Regiestühle. Hodges war etwa Mitte sechzig, hatte einen dicken Bauch, breite Schultern und kurze, knorrige Beine. Seine Arme sahen aus wie dicke, ineinander verdrehte Kabelbündel. Er hatte vierzig Jahre auf Fischerbooten und Baustellen verbracht, und seine Haut war wie die Innenseite eines Baseballhandschuhs. Selbst unter günstigsten Bedingungen hätte ihn niemand als einen gutaussehenden Mann empfunden Er sah eher wie ein uralter, faltiger Frosch aus. Das grauweiße Haar, das in strubbligen Büscheln an seinem Kopf und Kinn wuchs, verstärkte den Eindruck noch.

Hodges hatte von seiner Frau zwei Shih Tzus geerbt. Sie umschwärmten Eddie wie einen Rockstar und jagten ihm mit lautem Gebell und wedelndem Fell entgegen. Eddie zeigte sich von seiner wohlwollenden Seite.

„Auf dem Grill liegt kanadischer Speck, in der Pfanne gebraten; schmeckt wie verschrumpelte Unterwäsche. Würz ihn, wie du ihn gern magst. Ein Bier dazu?“

„Kaffee wäre fein.“

„Nicht, wenn ich ihn koche.“

Er lud unser Frühstück auf zwei Pappteller und ging dann unter Deck, um Getränke und ein paar Sesambagel zu holen. Das Schwanenpaar, das sich im Yachthafen durchschnorrte, glitt – in der Hoffnung etwas abzustauben – am Boot vorbei, was Eddie und die Shih Tzus kurzfristig zu Berserkern werden ließ. Die Schwäne entschieden, dass es die Mühe nicht wert war, und glitten weiter.

„Und kommt ja nicht wieder!“, schrie Hodges ihnen nach, als er die Treppe wieder rauf kam.

„Ich dachte, du magst Vögel.“

„Nur am Himmel oder auf dem Grill.“

Wir frühstückten unter dem großen Sonnenschirm und sahen zu, wie sich der farblose Himmel über unseren Köpfen langsam blau färbte.

Hodges betrieb eine Bar samt Grill, ein einfaches Restaurant, in einem baufälligen Bootshaus auf dem Hafengelände oben in Sag Harbor. Die Gäste waren meist Fischer oder Crewmitglieder, die während des Sommers auf den Charterschiffen anheuerten. Die Bar hieß Pequot und besaß nach hinten raus eine klapprige Veranda, auf der Hodges und seine Tochter Dotty meistens ihre Mahlzeiten zu sich nahmen. Zumindest bis zu jenem Nachmittag, an dem die Veranda unter Hodges zusammenbrach, als er gerade die Spezialität des Hauses verdrückte: gebackener, gefüllter Kabeljau unbekannter Herkunft.

„Wie geht’s den Rippen?“, fragte ich.

„Fast verheilt. Da bekommt ‚Befreites Atmen‘ eine ganz neue Bedeutung.“

„Und der Nacken?“

„Besser wird’s nicht werden.“

„Kannst immer noch Frühstück machen.“

„Die wollen, dass ich in Reha gehe.“

„Manche Menschen brauchen so was nicht mehr.“

„Das sage ich auch immer. Wie geht’s deinem Hintern?“

„Meinem Rücken. Es war mein Rücken.“

„Wir zwei sind ganz schön abgerockte alte Säcke, was? Noch mehr Ei?“

Ich war immer noch verschwitzt vom Laufen, aber die von der Bucht her wehende Brise kühlte mich langsam ab. Hodges’ Frühstück löste ausgesprochen wohlige Gefühle in meinem Magen aus und ich verspürte keinerlei Verlangen, zurückzulaufen. Hodges lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fixierte mich über seinen Kaffee hinweg. So etwas machte er nur selten.

„Was ist?“

„Ich habe gestern deine Freundin in der Stadt gesehen, Jackie wie-heißt-sie-noch-schnell?“

„Swaitkowski“, antwortete ich.

„Sah ziemlich scheiße aus.“

„Ich weiß.“

„Sie hat erzählt, du wärest bei ihr gewesen.“

„Ich hab sie gesehen, kurz bevor die nächste Operation anstand.“

„Sie wird’s dir nicht sagen“, meinte Hodges.

„Was wird sie mir nicht sagen?“

„Es geht ihr nicht so besonders, aber das wird sie dir nicht anvertrauen.“

Jackies Stimmungen waren schon immer flatterhaft wie ein betrunkener Spatz, aber seit dieser Sache hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt in die Gänge zu kommen.

„Da kann ich nichts machen“, seufzte ich.

Hodges grunzte und blickte zum Himmel. Die Sonne hatte die Wolken aufgelöst. Das Wasser in der Bucht reflektierte die Farbe des Himmels und zugleich die träge Stimmung dieses Mittsommertags.

„Ross Semple hat die Polizei von Southampton auf den Fall angesetzt“, sagte ich.

„Joe Sullivan, der Retter in der Not.“

„Kann sein. Ist vielleicht eine Nummer zu groß für ihn.“

„Wenigstens wird er rausholen, was es rauszuholen gibt“, vermutete Hodges.

„Er will, dass ich mit der Frau von dem Typen spreche, der in die Luft geflogen ist.“

Hodges schien der Gedanke zu gefallen.

„Großartig. Das alte Team wieder in Aktion.“

„Sullivan und ich sind kein Team. Nicht im Entferntesten.“

Hodges kratzte ein paar Löffel undefinierbares Frittiertes zusammen und hielt die Pfanne über meinen Teller.

„Noch ein bisschen?“, fragte er.

„Nee, ich will mein Glück nicht überstrapazieren.“

Er zuckte die Achseln und packte es sich selbst auf den Teller.

„Du bist ein totaler Scheißkerl, weißt du“, stöhnte Hodges.

„Nur total satt, danke.“

„Du würdest deinen linken Arm dafür geben, diesen Fall aufzuklären.“

„Nein, würde ich nicht. Wirklich nicht. Ich will an meinem Anbau arbeiten, ein paar Kranzprofile anbringen, ein paar Schränke für Frank Entwhistle bauen und jedem Ärger aus dem Weg gehen. Ungefähr eine Million Meilen weit weg sein von allem, was im Entferntesten nach Ärger aussieht, klingt oder riecht. Für den Rest meines verdammten Lebens.“

„Genau das würde Jackie von dir wollen. Dass du dich von jedem Ärger fernhältst.“

„Sie ist am Leben.“

„Stimmt.“

„Ach, verdammt.“

„Du sollst doch nur mit der Frau von dem Typen quatschen“, wiederholte er und verschränkte die Arme.

Eddie und die Shih Tzus rasten über das Dock, sprangen auf Hodges’ Boot und sahen uns an, als wären wir für ihr nächstes Abenteuer zuständig.

„Eine Sache könnte ich tun“, sagte ich zu Hodges.

„Und die wäre?“

„Noch einen Schluck von diesem Kaffee trinken.“

Hodges holte die fast leere antike Kanne und goss uns beiden noch eine Tasse ein. Ich nahm einen Schluck und sah den Möwen über der Bucht zu.

„Verdammte Scheiße“, sagte ich zu Hodges, und versuchte, den Bodensatz aus seiner miesen alten Kaffeemaschine runterzuschlucken.

4

Der nächste Morgen war wieder grau. Feuchtwarme Luft zwängte sich in die kleinsten Ritzen und an meiner Haut blieb alles kleben, was sie berührte.

Ich fuhr einen 1967er Pontiac Grand Prix mit aufgemotztem V8 Motor und Viergangschaltung, den mein Vater und ich auf Kosten der häuslichen Harmonie unseres ohnehin schon disharmonischen Hauses zusammengebaut hatten. Ein Auto, das so alt ist und unter so erschwerten Bedingungen gebaut wurde, am Laufen zu halten, ist sehr arbeitsintensiv. Aber es einfach zu ersetzen, fand ich genauso sinnlos. Die Karosserie war rostfrei und auch frei von jeglicher Spachtelmasse, ich hatte lediglich eine neue Schicht Lack auf dem graubraunen Grundierlack auftragen müssen. Der Innenraum roch noch immer nach Leder oder zumindest bildete ich es mir ein. Vielleicht war es auch modriges Leder.

An diesem Morgen brühte ich mir einen extragroßen Becher Kaffee in der Geschmacksrichtung Belgian Chocolate Nut aus frischen Bohnen auf, die ich in einem Café im Village gekauft hatte. Diese Sorte war mir sogar etwas lieber als meine beiden Favoriten, French Vanilla und Caramel Classic. Ich goss den Kaffee in einen riesigen Thermo-Becher mit einem New York Yankees Logo.

Mein cremefarbener Leinenanzug war vor einem halben Jahrzehnt das letzte Mal gewaschen und gebügelt worden. Er war noch immer faltenlos, roch aber etwas modrig. Ich vertraute darauf, dass die Kräfte der Natur ihn für mich lüften würden. Dazu passte eine gestreifte Krawatte und ein Hemd aus ägyptischer Baumwolle, für das meine Ex-Frau Abby vor zwanzig Jahren hundert Dollar bezahlt hatte. Der Stoff fühlte sich an wie flüssige Seide.

Es war zu heiß, um Eddie im Auto zu lassen, also blieb er zuhause. Ich kam mir vor eine Ratte, hätte mich aber nicht konzentrieren können, wenn ich mir die ganze Zeit Sorgen machen musste, ob er womöglich auf dem Rücksitz des Autos erstickte.

Ich ließ ihm zuliebe das Radio an. Morgen-Jazz auf WLU. Außerdem eine Schale frisches Wasser und ein paar Hundekuchen für große Hunde, obwohl er offiziell nur ein mittelgroßer Hund ist. Ich kam mir immer noch schäbig vor.

Der Leinenanzug, der Yankee Thermobecher und ich stiegen ins Auto und brausten die Auffahrt herunter. Der Grand Prix war ein extremes Beispiel für eine absurde Ära im Autobau. Schwer wie ein Bulldozer, Antrieb wie ein Kampfjet und geräumig wie eine Penthouse-Suite im Waldorf Astoria. Der Inbegriff der durchgeknallten Technologie, die Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war. Das perfekte Auto für meinen Vater. Die Leute in den Hamptons schauten einfach weg.

Keine Ahnung, warum mein Vater dieses Auto überhaupt gekauft hat. Er hatte nicht viel Geld und war kein Spaßvogel. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je laut gelacht oder sich etwas leidenschaftlich gewünscht hätte, egal ob mechanischer oder anderer Natur). Er fuhr einfach eines Tages mit diesem Ding vor, fast neu und fleckenlos und offiziell angemeldet. Meine Mutter war misstrauisch.

Früher als Chef der Forschungs- und Entwicklungsabteilung bei einem großen Ölkonzern, fuhr ich eine Reihe formvollendeter europäischer Limousinen, ausnahmslos bessere Autos als der Grand Prix. Aber keine von denen hatte eine Mittelkonsole mit ausreichend Platz für einen großen Becher Belgian Chocolate Nut Kaffee.

Ich zog einen Zettel mit der Wegbeschreibung aus meiner Hemdtasche, den Sullivan mir gegeben hatte, und breitete ihn auf dem Beifahrersitz aus. Bis nach Riverhead, der verschlafenen alten Mühlenstadt dort, wo der nördliche und der südliche Ausläufer von Eastern Long Island aufeinandertreffen, würde ich den Plan nicht brauchen. Früher konnten die Ortsansässigen dort günstig einkaufen, aber die neuen Einkaufsmeilen in West Suffolk und der wachsende Wohlstand hatten dafür gesorgt, dass das Stück für Stück verloren ging. Jetzt war der Ort nur noch ein kleiner urbaner Kahn auf einem Meer von Reichtum und Sehnsucht. Eigentlich nicht der ideale Ort für Anlagenberater.

Um nach Riverhead zu kommen, musste man von Southampton nach Westen fahren, über den Shinecock Kanal, dann der 24 folgen, vorbei an einer riesigen Ente aus Gips und durch Flanders hindurch, noch so einer runtergekommenen alten Stadt, die auch im ländlichen Alabama hätte liegen können. Auf der Zufahrtsstraße zur Stadt brachten mich die Schilder zur überdimensionierten vierspurigen Highway Richtung Long Island Sound. Als ich den Fluss überquerte, nach dem die Stadt benannt ist, blickte ich nach Osten Richtung Southampton, sah aber nur diesiges Grau, das die Great Peconic einhüllte.

Weite offene Felder erstreckten sich links und rechts. Riesige Bewässerungsanlagen versprengten Fontänen über frisches Grün. Zerbeulte Pickups zogen Staubwolken hinter sich her. Als ich den Highway verließ, wurde mir klar, dass es sich hier um Felder für Rollrasen handelte. Einfach ausschneiden, rüberfahren zu Bill und Mary, ausrollen und den Rest erledigt der automatische Sprenkler. Ob hier wohl irgendwo auch Cappuccinos und BMW-Cabrios geerntet wurden?