Auge um Auge - Jenny Han - E-Book

Auge um Auge E-Book

Jenny Han

4,7

Beschreibung

Große Mädchen weinen nicht, sie nehmen ihr Schicksal in die Hand. Das ist das Credo von Mary, Kat und Lillia. Als sie in der Schule aufeinandertreffen, sind sie sich einig: Sie wollen es ihren falschen Freunden heimzahlen. Mary ist bereit, sich gegen Reeve aufzulehnen, der sie wegen ihres Übergewichts gemobbt hat. Kat will mit der verlogenen Rennie abrechnen. Und Lillia will Alex zur Rechenschaft ziehen, der eine Partynacht mit ihrer kleinen Schwester verbracht hat. Doch wie weit können die drei bei ihrem Rachefeldzug gehen? Ein packendes Jugendbuch, das Fragen stellt: zu wahrer Freundschaft, Loyalität und Liebe.

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JENNY HAN & SIOBHAN VIVIAN

AUGE UM AUGE

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann • Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Burn for Burn bei Simon & Schuster BFYR, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York.

Published by Arrangement with Jenny Han und Siobhan Vivian.

ISBN 978-3-446-24559-4

Text © Jenny Han und Siobhan Vivian 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Stefanie Schelleis, München © Anna Wolf

Gestaltung: Cornelia Rothenaicher

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

FÜR UNSERE GROSSMÜTTER

KYONG HUI HAN UND BARBARA VIVIAN

KEINE TRÄNEN MEHR,

ICH WILL AUF RACHE SINNEN.

Maria Stuart, Königin von Schottland

MARY Der Morgennebel hat alles in weiße Farbe getaucht. Es ist genau wie in meinen Träumen, wenn ich mich in einem Kaninchenloch gefangen fühle oder auf einer Wolke dahinschwebe und es mir einfach nicht gelingen will, wach zu werden.

Auf einmal ertönt dröhnend das Nebelhorn, die dichten Schwaden reißen auf und werden zu feiner durchbrochener Spitze.

In diesem Moment weiß ich es sicher: Ich hab’s gepackt. Ich bin tatsächlich zurückgekommen.

Einer der Arbeiter macht mit einem dicken Seil die Fähre an der Anlegestelle fest, ein anderer lässt die Rampe herunter. Über Lautsprecher ertönt die Stimme des Kapitäns: »Guten Morgen, verehrte Fahrgäste, willkommen auf Jar Island. Bitte vergewissern Sie sich, ob Sie auch nichts an Bord zurückgelassen haben.«

Fast hatte ich vergessen, wie schön es hier ist. Die Sonne steht jetzt über dem Wasser und taucht alles in leuchtend gelbes Licht. Im Fenster erkenne ich schwach mein Spiegelbild – helle Augen, leicht geöffnete Lippen, windzerzaustes Haar.

Ich bin nicht mehr die, die ich war, als ich von hier wegging, damals, in der Siebten. Klar, ich bin älter, aber das allein ist es nicht. Ich habe mich verändert. Wenn ich mich jetzt sehe, empfinde ich mich als stark. Vielleicht sogar als hübsch.

Ob er mich wiedererkennt?

Bloß nicht, hofft ein Teil von mir. Doch der andere Teil, der, der die Familie verlassen hat, um hierher zurückzukehren, der hofft darauf. Er muss mich erkennen. Falls nicht – wozu dann das Ganze?

Auf dem Autodeck lassen die Fahrer schon mal den Motor an. Vor uns am Ufer, in einer langen Schlange, die bis zum Parkplatz reicht, warten noch viel mehr Autos auf die Rückreise aufs Festland.

Noch eine letzte Woche Sommerferien.

Ich trete vom Fenster zurück, streiche mein Sommerkleid aus Seersucker glatt und gehe zurück an meinen Platz, um meine Sachen zu holen. Der Platz neben mir ist frei. Ich strecke die Hand aus und taste unter dem Sitz. Ich weiß, dass sie da sind: Seine Initialen, RT. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er sie mit seinem Schweizermesser hineingeschnitzt hat, einfach so, weil ihm gerade danach war.

Ich frage mich, ob sich auf der Insel irgendetwas verändert hat. Ob es bei Milky Morning noch immer die besten Blaubeermuffins gibt? Und ob das Kino in der Hauptstraße wohl immer noch diese klumpigen grünen Samtsitze hat? Wie groß mag der Flieder in unserem Garten inzwischen sein?

Ich komme mir vor wie eine Touristin, und das ist ein eigenartiges Gefühl, schließlich hat meine Familie im Grunde schon immer auf dieser Insel gelebt. Mein Urururgroßvater hat die öffentliche Bibliothek selbst entworfen und gebaut. Eine der Tanten meiner Mom wurde als erste Frau in Middlebury zur Gemeinderätin gewählt. Die Gräber unserer Familie liegen alle mitten auf dem Friedhof, der wiederum mitten auf der Insel liegt. Einige der Grabsteine sind so alt und moosbewachsen, dass man nicht einmal mehr lesen kann, wer genau dort ruht.

Jar Island besteht aus vier kleinen Städten: Thomastown, Middlebury (wo ich herkomme), White Haven und Canobie Bluffs. Jeder Ort hat seine eigene Mittelschule, doch anschließend gehen alle Jugendlichen gemeinsam auf die Jar Island High School. Wegen der vielen tausend Besucher schwillt im Sommer die Bevölkerung rasant an, doch nur an die Tausend Menschen leben das ganze Jahr über hier.

Jar Island ändert sich nie, sagt meine Mutter immer. Es ist ein eigenes kleines Universum. Irgendetwas an dieser Insel macht die Menschen glauben, die Welt habe aufgehört, sich zu drehen.

Vermutlich macht genau das einen Teil des Zaubers aus, und vermutlich kommen genau deshalb so viele immer wieder her. Genau deshalb nehmen wohl auch einige Unerschrockene geduldig die Mühen in Kauf, die es bedeutet, das ganze Jahr über hier zu leben. So wie meine Familie früher.

Hier auf Jar Island findet man keine einzige Filiale von Kettenläden, kein Einkaufszentrum und auch keine Fast-Food-Restaurants, und gerade das gefällt den Leuten. Laut Dad gibt es an die zweihundert Gesetze und Bestimmungen, nach denen all das hier illegal wäre. Hier kauft man Lebensmittel auf dem Wochenmarkt, Medikamente gibt’s in der Apotheke mit angeschlossenem Getränkeausschank, und die passende Strandlektüre findet man in kleinen, unabhängigen Buchhandlungen.

Was Jar Island noch so besonders macht, ist die Tatsache, dass es eine richtige Insel ist. Sie ist nicht durch Brücken oder Tunnel mit dem Festland verbunden. Es gibt einen kleinen Flughafen mit einer einzigen Piste, doch den nutzen nur reiche Leute mit Privatflugzeugen. Ansonsten kommt nichts und niemand auf die Insel oder von ihr weg ohne diese Fähre.

Ich nehme meine Koffer und gehe hinter den übrigen Passagieren her an Land. Vom Anleger aus kommt man direkt ins Begrüßungszentrum. Ein alter Schulbus aus den 40er Jahren mit der Aufschrift »Jar Island Tours« steht davor und wird gerade gewaschen. Gleich hinter dem Zentrum verläuft die Hauptstraße – eine idyllische Ansammlung von Souvenirläden und kleinen Restaurants. Und über allem erhebt sich der große Hügel von Middlebury.

Ich finde nicht sofort, was ich suche, erst muss ich zum Schutz vor der Sonne eine Hand über die Augen legen, doch dann entdecke ich weit oben das schräge rote Dach unseres alten Hauses.

In dem Haus ist meine Mutter aufgewachsen, zusammen mit Tante Bette. Mein Zimmer war früher das von Tante Bette; das Fenster geht zum Meer. Ob sie wohl wieder dort schläft, seit sie zurück ist?

Ich bin ihre einzige Nichte, und eigene Kinder hat sie nicht. Sie wusste nie richtig, wie sie mit Kindern umgehen sollte, also hat sie sie einfach wie Erwachsene behandelt. Mir gefiel das, ich fühlte mich dann gleich so viel größer. Sie fragte mich oft nach meiner Meinung zu ihren Bildern und hörte mir auch tatsächlich zu. Sie war nie eine dieser Tanten, die mit mir Kekse backen wollten oder sich zu mir auf den Boden hockten, um mir bei einem Puzzle zu helfen. Aber das fand ich auch nicht weiter schlimm – dafür hatte ich ja schon meine Eltern.

Es wird bestimmt toll, bei Tante Bette zu wohnen, jetzt, wo ich älter bin. Meine Eltern behandeln mich beide noch wie ein kleines Kind. Zum Beispiel muss ich noch immer um zehn zu Hause sein, obwohl ich inzwischen siebzehn bin. Andererseits – nach allem, was passiert ist, liegt es wohl auf der Hand, dass sie mich seitdem so überbehüten.

Der Weg zum Haus dauert länger, als ich ihn in Erinnerung habe. Vielleicht liegt das aber auch nur an meinen Koffern, dadurch gehe ich einfach langsamer. Von Zeit zu Zeit, wenn Autos die Steigung hinauftuckern, strecke ich den Daumen raus. Unter den Einheimischen auf Jar Island ist es durchaus normal, per Anhalter zu fahren; jemanden mitzunehmen gilt als Nachbarschaftshilfe.

Mir war Trampen immer verboten, aber heute haben mich ja keine Mom und kein Dad im Blick – zum ersten Mal. Allerdings hält niemand an, so ein Mist, aber irgendwann klappt auch das. Ich habe alle Zeit der Welt, um zu trampen und auch sonst zu tun, was ich will.

Ohne es zu merken, bin ich an unserer Einfahrt vorbeigelaufen und muss wieder kehrtmachen. Die Büsche sind so groß und dicht geworden, dass man das Haus dahinter gar nicht mehr sieht. Aber das überrascht mich nicht, um den Garten hat sich schließlich immer meine Mutter gekümmert, Tante Bettes Ding war das nicht.

Ich schleife die Koffer über die letzten Meter, während ich den Blick übers Haus schweifen lasse. Es ist im Kolonialstil gebaut, dreistöckig, mit weißen Fensterläden und einer Steinmauer rings um den Garten. In der Einfahrt steht Tante Bettes alter brauner Volvo, übersät mit winzigen lila Blüten. Der Flieder! Er ist noch größer, als ich es für möglich gehalten hätte. Und obwohl schon so viele Blüten abgefallen sind, biegen sich die Äste noch immer unter dem Gewicht von Millionen anderer. Ich atme so tief durch, wie ich kann.

Es ist gut, nach Hause zu kommen.

LILLIA Es ist wieder so weit: Ende August, nur noch eine Woche, dann geht die Schule wieder los. Der Strand ist voller Leute, aber nicht so überfüllt wie am Nationalfeiertag im Juli.

Ich liege mit Rennie und Alex auf einer großen Decke. Reeve und PJ spielen Frisbee, Ashlin und Derek schwimmen im Meer. Das ist meine Clique, schon seit der Neunten. Ich kann’s kaum glauben, dass wir jetzt endlich Seniors sind.

Die Sonne ist so intensiv heute, ich spüre richtig, wie meine Haut immer mehr diesen goldbraunen Ton annimmt. Wohlig wühle ich mich in den Sand. Ich liebe die Sonne.

Alex neben mir cremt schon wieder seine Schultern ein.

Rennie blickt von ihrer Zeitschrift auf. »Mann, Alex, kannst du vielleicht mal deine eigene Sonnenmilch mitbringen? Meine ist schon halb leer. Nächstes Mal lass ich dich einfach Krebs kriegen.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragt Alex. »Die Flasche hier hast du bei mir zu Hause mitgehen lassen. Sag, dass ich recht hab, Lil.«

Ich stütze mich auf einen Ellbogen und richte mich auf. »Eine Stelle auf deiner Schulter hast du noch vergessen. Dreh dich mal um.« Ich hocke mich hinter ihn und verreibe einen Klecks Sonnenmilch auf seiner Haut.

Alex dreht sich um. »Was ist das für ein Parfum, Lil?«

Ich lache. »Wieso? Willst du’s ausleihen?« Alex Lind aufzuziehen macht mir wahnsinnigen Spaß. Es geht so leicht.

Er lacht auch. »Das nicht. Ich wüsste es einfach nur gern.«

Ich tätschle ihm den Rücken. »Das ist ein Geheimnis.«

Mädchen brauchen einfach ihren ganz speziellen Duft, finde ich. Einen Duft, an dem jeder sie sofort erkennt. Wenn du in der Schule durch den Flur gehst, wissen alle sofort, dass du es bist, und drehen sich nach dir um; das ist so eine Art Pawlowscher Reflex. Und wenn sie irgendwo diesen Duft riechen, denken sie an dich. Karamellisierter Zucker und Glockenblume, das ist der Lillia-Duft.

Ich lasse mich zurück auf die Decke sinken und rolle auf den Bauch. »Ich hab Durst«, verkünde ich. »Gibst du mir mal meine Cola rüber, Lindy?«

Alex beugt sich vor und kramt in der Kühlbox. »Außer Wasser und Bier ist nichts mehr da.«

Mit saurer Miene sehe ich zu Reeve hinüber. In der einen Hand hält er eine Frisbeescheibe, in der anderen meine Cola. »Ree-ve!« brülle ich. »Das war meine!«

»Sorry«, ruft er zurück, aber es hört sich kein bisschen so an, als täte es ihm leid. Sein Frisbee beschreibt einen vollkommenen Bogen und landet neben ein paar niedlichen Mädels in Liegestühlen. Genau, wie er es geplant hat, da bin ich mir sicher.

Ich sehe Rennie an, die die Augen zusammenkneift.

Alex steht auf und klopft sich den Sand von den Shorts. »Ich hol dir ’ne neue.«

»Das musst du nicht«, sage ich schnell. Aber natürlich meine ich das nicht ernst, ich hab wirklich Durst.

»Du wirst mich noch vermissen, wenn ich nicht mehr da bin, um dir was zu trinken zu holen«, sagt er und grinst mich an. Alex, Reeve und PJ brechen morgen zum Hochseefischen auf. Eine ganze Woche bleiben sie weg. Sonst sind die Jungs immer da, wir sehen sie im Grunde täglich. Es wird ein merkwürdiges Gefühl sein, den Sommer ohne sie zu beenden.

Ich strecke ihm die Zunge raus. »Kein bisschen werde ich dich vermissen!«

Alex joggt zu Reeve hinüber, und zusammen ziehen sie los zum Hotdog-Stand weiter unten am Strand.

»Danke, Lindy!«, rufe ich ihm hinterher. Er ist immer so lieb zu mir.

Ich sehe wieder Rennie an, die süffisant lächelt. »Der würde alles für dich tun, Lil.«

»Hör schon auf.«

»Findest du ihn süß – ja oder nein? Sei ehrlich.«

Darüber musste ich nicht einmal nachdenken. »Klar ist der süß. Und ich bin garantiert nicht die Einzige, die das findet.«

Rennie hat es sich in den Kopf gesetzt, Alex und mich zu verkuppeln, und wenn dann noch Reeve und sie zusammenkommen, könnten wir uns zu Double Dates treffen oder an Wochenenden zusammen wegfahren. Als ob meine Eltern mich mit Jungs verreisen ließen! Aber soll Rennie sich ruhig einen Tripper oder sonst was bei Reeve holen, wenn sie das will – das mit Alex und mir wird jedenfalls nichts. Ich sehe ihn nicht so, und er mich auch nicht. Wir sind einfach Freunde, fertig.

Rennie sieht mich skeptisch an, nervt aber zum Glück nicht weiter. Sie hält mir ihre Zeitschrift unter die Nase und fragt: »Wie fändest du diese Frisur für mich an Homecoming?« Das Mädchen auf dem Foto trägt ein silbern glitzerndes Kleid, und ihre blonden Haare liegen wie ein Cape um ihre Schultern.

Ich muss lachen. »Ren, Homecoming ist erst im Oktober!«

»Genau! Bloß noch sechs Wochen.« Sie wedelt mit der Zeitschrift. »Also, was meinst du?«

Vermutlich hat sie recht. Vermutlich sollten wir uns wirklich langsam Gedanken wegen unserer Kleider machen. Auf keinen Fall werde ich meins hier auf der Insel kaufen; die Chance, dass dann eine andere im gleichen Kleid auftaucht, liegt bei neunzig Prozent.

Ich sehe mir das Foto genauer an. »Sieht gut aus! Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass sie beim Ball extra für dich eine Windmaschine aufstellen.«

Rennie schnippt mit den Fingern. »Genau – eine Windmaschine! Tolle Idee, Lil.«

Ich muss lachen. Wenn sie das will, kriegt sie es auch. Keiner würde Rennie Holtz etwas abschlagen.

Wir reden noch immer über den Homecoming-Ball und verschiedene Stylings, als zwei Typen zu uns herüberkommen: ein großer mit kurz geschorenen Haaren und ein etwas stämmiger mit auffallend kräftigem Bizeps. Sie wirken beide ganz nett, vor allem der Kleinere. Auf jeden Fall sind sie älter als wir – definitiv nicht mehr in der High School.

Auf einmal bin ich froh, dass ich meinen neuen schwarzen Bikini anhabe und nicht den rosa-weiß getupften.

»Habt ihr mal ’nen Flaschenöffner?«, fragt der Große.

Ich schüttele den Kopf. »Aber am Getränkestand drüben leihen sie euch bestimmt einen.«

»Wie alt seid ihr eigentlich, Mädels?«, fragt mich der Stämmigere.

So wie Rennie die Haare zur Seite schleudert, ist mir sofort klar, dass sie an ihm interessiert ist.

»Wieso willst du das wissen?«, fragt sie.

»Ich will nur sicher sein, dass es okay ist, wenn wir mit euch reden«, antwortet der Typ und grinst. Jetzt sieht er Rennie an. »Ob’s legal ist, meine ich.«

Sie kichert, aber auf eine Weise, die sie älter wirken lässt, nicht wie ein junges Mädchen. »Wir sind volljährig, gerade eben geworden. Und ihr – wie alt seid ihr?«

»Einundzwanzig«, sagt der Größere und sieht zu mir herunter. »Wir studieren im letzten Jahr in Amherst und sind nur diese Woche hier.«

Ich zupfe mein Bikini-Oberteil zurecht, damit es etwas mehr Haut bedeckt. Rennie ist tatsächlich vor Kurzem achtzehn geworden, aber ich bin noch siebzehn.

»Wir haben ein Haus in Canobie Bluffs gemietet, unten an der Uferstraße. Ihr könnt ja mal vorbeikommen«, sagt der Stämmige und setzt sich neben Rennie. »Gib mir doch deine Nummer.«

»Wenn du lieb fragst, überlege ich’s mir«, flötet Rennie zuckersüß.

Der Große setzt sich neben mich, an den Rand der Decke. »Ich bin Mike.«

»Lillia«, sage ich. Über seine Schulter sehe ich die Jungs zurückkommen. Alex hält eine Cola für mich in der Hand. Sie schauen herüber und fragen sich bestimmt, wer die beiden Typen sein mögen. Unsere Freunde können ausgesprochene Glucken sein, sobald jemand auftaucht, der nicht von der Insel ist.

Alex runzelt die Stirn und sagt was zu Reeve. Jetzt hat Rennie sie auch entdeckt. Sie kichert betont laut und wirft wieder die Haare herum.

Der Große, also Mike, fragt mich: »Sind das da drüben eure Freunde?«

»Nein«, sage ich. Er sieht mich so intensiv an, dass ich rot werde.

»Gut«, sagt er und lächelt.

Schöne Zähne hat er.

KAT So fängt eine vollkommene Sommernacht an, eine von denen, in denen alle Sterne am Himmel stehen und man nicht einmal unten am Wasser ein Sweatshirt braucht. Was ein Glück ist, denn ich habe meins zu Hause vergessen. Nach der Arbeit war ich so platt, dass ich mich aufs Bett geknallt und sogar das Essen verschlafen habe. Als ich aufwachte, blieben mir gefühlte fünf Sekunden, um die nächste Fähre aufs Festland zu erwischen; also habe ich einfach irgendwelche Klamotten in eine Tasche gestopft, meinem Dad noch schnell im Vorbeigehen Tschüss gesagt und bin den ganzen Weg von T-Town bis zum Hafen in Middlebury gerannt. Irgendwas habe ich vergessen, das weiß ich, aber ich darf mich bestimmt an Kims Kleiderschrank bedienen, also was soll’s.

Die Hauptstraße ist gestopft voll. Um diese Zeit hat zwar kaum noch ein Laden geöffnet, aber das macht nichts. Die Touristen schlendern ziellos umher und betrachten hier und da die Auslagen der Schaufenster mit ihren Sweatshirts oder Sonnenblenden, die alle dieses alberne Jar-Island-Logo haben.

Ich hasse den August.

Stöhnend zwänge ich mich zwischen den Leuten durch und mache noch einen Abstecher zu Java Jones. Wenn ich bei den Zugaben von Puppy Ciao noch wach sein will, brauche ich jetzt erst mal Koffein.

Puppy Ciao treten in Paul’s Boutique auf, dem Plattenladen auf dem Festland, in dem Kim arbeitet. Zu dem Laden gehört eine große Garage, in der gelegentlich Konzerte stattfinden. Wenn Gruppen auftreten, die ich hören will, lässt Kim mich bei ihr schlafen. Sie wohnt direkt über dem Plattengeschäft. Meistens übernachten die Bands auch bei ihr, und das ist dann richtig cool.

Der Sänger von Puppy Ciao sieht auf dem Album-Cover ziemlich heiß aus. Zwar nicht ganz so heiß wie der Schlagzeuger, aber Kim meint, von Schlagzeugern soll man die Finger lassen, mit denen hat man nur Stress.

Auf dem Weg ins Java Jones nehme ich immer zwei Stufen auf einmal, aber als ich gerade die Tür aufdrücken will, dreht einer der Angestellten den Schlüssel im Schloss um.

Ich klopfe an die Scheibe. »Ich weiß, ihr wollt zumachen, aber kann ich noch ganz schnell einen dreifachen Espresso kriegen, zum Mitnehmen?«

Der Typ beachtet mich gar nicht, er zieht sich die Schürze aus und schaltet die Neonreklame ab. Hinter dem Fenster zur Straße wird es dunkel. Mir wird klar, dass ich mich vermutlich wie eine dieser dämlichen Touristinnen anhöre, die sich einbilden, für sie und ihr Geld würden Ladenöffnungszeiten nicht gelten. Dass ich wirke wie eine von diesen Snobs, die sich für was Besseres halten. Mit denen habe ich jeden Tag auf der Marina zu tun. Also werfe ich meine erst halb gerauchte Zigarette auf den Bürgersteig, schiebe meine Hände tief in die Taschen, damit meine Shorts aus abgeschnittenen Jeans mir auf die Hüften rutschen, und rufe verzweifelt: »Bitte! Ich bin von hier!«

Er dreht sich um und sieht mich sauer an, so als wäre ich eine furchtbare Nervensäge, doch auf einmal entspannen sich seine Gesichtszüge. »Kat DeBrassio?«

»Ja?« Ich kneife die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, wo ich ihn hinstecken soll.

Der Typ dreht den Schlüssel wieder um und macht die Tür auf. »Ich bin früher immer mit deinem Bruder Dirt Bike gefahren.« Er hält mir die Tür auf. »Vorsicht, der Boden ist nass. Und sag Pat einen schönen Gruß.«

Ich nicke und gehe in meinen Motorradstiefeln auf Zehenspitzen an einem anderen Angestellten vorbei, der einen Wischmopp auf und ab bewegt. Ich wuchte meine Tasche auf den Tresen, während der andere Typ mir meinen Kaffee macht. In dem Moment merke ich, dass das Java Jones nicht komplett leer ist. Wenigstens ein weiterer Gast ist noch da: An einem der Tische ganz hinten sitzt ganz allein Alex Lind und beugt sich über ein kleines Notizbuch. Vermutlich sein Tagebuch oder so. Ich hab schon öfter beobachtet, dass er heimlich was schreibt, wenn er denkt, keiner kriegt’s mit. Gezeigt hat er es mir noch nie. Wahrscheinlich denkt er, ich würde mich drüber lustig machen.

Würde ich vermutlich ja auch. Selbst wenn wir in den letzten Wochen viel zusammen waren, heißt das ja nicht, dass wir echte Freunde sind.

Ich hab nicht vor, ihn zu stören. Ich will einfach nur meinen Kaffee trinken und schnell wieder gehen. Doch dann stockt sein Stift mitten auf der Seite. Alex beißt sich auf die Unterlippe, schließt die Augen und denkt kurz nach. Wie ein kleiner Junge, der sich auf sein Abendgebet konzentriert, sieht er aus, so süß und verletzlich.

Ich werd’ ihn vermissen, den Kerl.

Schnell fahre ich mir mit den Fingern durch den Pony und rufe: »Yo, Lind.«

Überrascht schlägt er die Augen auf. Dann schiebt er schnell sein Notizbuch in die hintere Hosentasche und kommt langsam zu mir rüber. »Hey, Kat. Was hast du vor?«

Ich verdrehe die Augen und sage: »Ich will zu Kim, mir diese Gruppe anhören. Schon vergessen?« Es ist noch nicht mal fünf Stunden her, seit ich ihm das erzählt habe – als er während meiner Mittagspause auf der Marina vorbeikam.

So hatte es auch angefangen, dass wir uns öfter trafen: Wir hatten uns im Juni im Yachtclub kennengelernt. Das heißt, ich wusste schon vorher, wer er war, logisch, unsere High School ist ja nicht so groß. Aber geredet hatten wir nie miteinander, höchstens ein- oder zweimal in Kunst letztes Schuljahr. Wir gehören zu völlig verschiedenen Cliquen.

Eines Tages kam Alex mit einem neuen Rennboot vorbei. Als er wieder loswollte, würgte er den Motor ab. Ich sagte ihm, er solle mich mal ranlassen, und gab ihm vom Fahrersitz aus eine kurze Einführung. Alex war beeindruckt, wie gut ich sein Boot im Griff hatte. Wenn ich richtig auf die Tube drückte, krallte er sich so fest an den Sitz, dass seine Knöchel weiß wurden. Irgendwie niedlich.

Ich hatte gehofft, er würde heute dableiben, solange ich noch Schicht hatte, weil mir dann nicht so langweilig gewesen wäre. Und weil ich wusste, dass er am nächsten Tag zum Fischen aufbrechen würde. Aber er ist wieder gegangen, weil er mit seinen Freunden am Strand verabredet war. Seinen richtigen Freunden.

»Ach ja«, sagt Alex, »stimmt.« Er beugt sich vor und stützt den Ellbogen auf den Tresen. »Hey – sag Kim noch mal schönen Dank von mir, dass sie mich neulich hat übernachten lassen, ja?«

Im Juli hatte ich Alex mitgenommen, als Army of None im Plattenladen auftraten. Er hatte noch nie von denen gehört, bevor wir uns näher kennenlernten, und jetzt sind sie seine Lieblingsgruppe.

Alex kam in Cargo-Shorts, einem Polohemd mit dem Logo vom Jar Island Country Club und mit Flipflops an den Füßen – das war mir echt unangenehm.

Als wir hereinkamen, musterte Kim seinen unmöglichen Aufzug und warf mir dann einen fragenden Blick zu. Alex kaufte sich ein Fan-T-Shirt der Gruppe und zog es gleich an. Leute, die in solchen Hemden zu einem Konzert kommen, finde ich, ehrlich gesagt, extrem peinlich – aber besser als dieses Polohemd war es allemal.

Als das Konzert dann anfing, ging Alex aber zum Glück richtig gut mit und wippte mit dem Kopf zur Musik, im Takt mit allen anderen. Und später, in Kims Wohnung, war er superhöflich. Statt gleich in seinen Schlafsack zu kriechen, hat er erst noch die leeren Bierflaschen eingesammelt und zum Glascontainer auf der Straße gebracht.

»Magst du mitkommen? Das Konzert ist zwar ausverkauft, aber ich kann dich mit reinnehmen.«

»Geht nicht«, sagte er mit einem tiefen Seufzer, »Onkel Tim will schon im Morgengrauen die Segel setzen.«

Alex’ Onkel Tim ist ein Dauerjunggeselle, der langsam kahl wird. Er hat keine Familie und auch sonst keine wirklichen Verpflichtungen, deshalb steckt er sein Geld in Spielsachen – so wie diese neue Yacht, auf der er morgen mit Alex und den Jungs zum Hochseefischen rausfährt. Natürlich exklusiv für Kerle.

Ich zucke mit den Schultern. »Na gut, dann müssen wir jetzt wohl endgültig Tschüss sagen.« Ich salutiere wie ein Marineoffizier. »Gute Reise«, sage ich ironisch, denn ich meine es nicht wirklich ernst. Ich wünschte, er würde nicht mitfahren. Ohne Alex, der mich bei der Arbeit besuchen kommt, wird diese letzte Woche total öde.

Er richtet sich auf. »Ich bring dich zur Fähre.«

»Nicht nötig.«

Ich gehe los, doch er greift nach dem Gurt meiner Tasche und zieht ihn mir von der Schulter. »Ich möchte aber gern, Kat.«

»Na schön, meinetwegen.«

Auf der Fahrt zur Anlegestelle sieht Alex mich ständig aus dem Augenwinkel an. Ich weiß nicht, wieso ich mich dabei so seltsam fühle, kann aber nichts dagegen tun. Ich drehe mich zum Fenster, damit er mein Gesicht nicht sehen kann, und frage: »Was ist los mit dir?«

Er stößt einen langen Seufzer aus. »Ich kann es nicht glauben, dass der Sommer schon vorbei ist. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte ich die ganze Zeit vergeudet.«

»Vergeudet hast du sie vielleicht mit deinen Freunden, diesen Losern. Mit mir bestimmt nicht.« Es rutscht mir einfach heraus; bevor ich mir auf die Zunge beißen kann.

Normalerweise verteidigt Alex seine Freunde, wenn ich mich über sie lustig mache, doch dieses Mal sagt er nichts.

Während der restlichen Fahrt denke ich darüber nach, wie es wohl sein wird, wenn die Schule wieder losgeht. Ob Alex und ich dann noch Freunde sind? Sicher, wir waren diesen Sommer viel zusammen, aber ob ich in der Schule mit ihm gesehen werden will, weiß ich nicht.

Alex und ich ... wir funktionieren am besten so wie jetzt. Nur er und ich.

Alex biegt auf den Platz vor der Fähre ein. Bevor er parken kann, treffe ich blitzschnell eine Entscheidung. »Ich kann das Konzert auch sausen lassen, wenn du Lust hast, noch was zu machen heute Abend.« Ich bin schließlich kein Puppy-Ciao-Groupie, und außerdem spielen die sicher mal wieder. Aber Alex und ich? Das könnte das letzte Mal sein. Unser letzter Abend. Und auf irgendeiner Ebene wissen wir das wohl beide.

Alex grinst. »Im Ernst? Würdest du hierbleiben, bei mir?«

Ich rolle das Fenster runter und zünde mir eine Zigarette an, damit er nicht sieht, dass ich auch lächle. »Klar, wieso nicht? Diese Superreichen-Yacht würde ich mir schon mal gerne selbst angucken.«

Und dahin nimmt Alex mich dann auch mit.

Wir parken vor dem Landhaus seines Onkels, wo das Ding festgemacht ist. Schon als wir darauf zulaufen, fange ich an, mich darüber lustig zu machen, wie protzig es ist. Aber im Stillen denke ich: Das ist ja der Hammer – diese Yacht ist größer als unser ganzes verdammtes Haus. Es ist definitiv das schönste Boot, das ich je gesehen habe. Schöner als alle auf der Marina.

Alex geht vor, und ich folge ihm. Er führt mich kurz herum. Innen ist es noch schicker: italienischer Marmor und jede Menge Flachbildschirme, außerdem ein Weinkeller mit Flaschen aus Italien, Frankreich und Südafrika.

Ich muss an Rennie denken. Die würde tot umfallen, wenn sie das hier sähe.

Aber genauso schnell dränge ich sie wieder aus meinem Kopf. Es passiert mir nur noch ganz selten, dass ich an sie denke, aber ich hasse es, dass es überhaupt passiert.

Gerade als ich versuche dahinterzukommen, wie man die Stereoanlage bedient, steht Alex plötzlich neben mir. Ganz nah. Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht. »Kat?«

Ich erstarre.

Seine Lippen streifen meinen Hals. Dann fasst er mich um die Hüften und zieht mich an sich.

Er ist nicht mein Typ. Nicht annähernd.

Deswegen ist es auch so verrückt. Denn sobald ich ihm den Kopf zuwende, küssen wir uns.

Und auf einmal kommt es mir so vor, als hätte ich den ganzen Sommer darauf gewartet, dass es passiert.

1 WOCHE SPÄTER

01 LILLIA Ich sitze im Bad auf dem Waschtisch und versuche mich zu erinnern, was die Frau in der Kosmetikabteilung bei Saks in New York dazu gesagt hat, wie man bei asiatischen Augen Eyeliner am besten aufträgt. Aber irgendwie kann ich heute keinen klaren Gedanken fassen.

Ich meine, sie hat gesagt, ich soll den Lidstrich nach oben hin ganz leicht verlängern. Ich schminke erst mal das rechte Auge, und es sieht tatsächlich ganz okay aus.

Als ich mit dem linken fast fertig bin, hämmert Nadia, meine kleine Schwester, so laut an die Tür, dass ich zusammenfahre.

»Lil! Ich muss duschen!«, brüllt sie. »Lilliiiii!«

Ich greife nach meiner Haarbürste, strecke einen Arm aus und schließe auf.

Nadia stürmt herein und stellt das Wasser an. In ihrem weiten Fußballhemd, die glänzend schwarzen Haare lässig im Nacken zusammengebunden, sitzt sie dann auf dem Wannenrand und sieht mir zu, wie ich mir die Haare bürste. »Du siehst hübsch aus«, sagt sie. Ihre Stimme ist noch ganz rau vom Schlaf.

Hübsch? Wirklich? Wenigstens äußerlich bin ich unverändert.

Ich bürste immer weiter. Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig, fertig. Jeden Morgen bürste ich mir fünfundzwanzig Mal die Haare. Das habe ich schon als kleines Mädchen so gemacht.

Dieser Tag wird nicht anders sein als andere.

»Hey, ich dachte, man soll nach dem Labor Day nichts Weißes mehr tragen«, sagt Nadia dann noch.

Ich sehe an meinem neuen Pullover hinunter. Er ist aus weißem Kaschmir, ganz weich und kuschelig. Dazu trage ich knappe weiße Shorts. »Kein Mensch hält sich mehr an die Regel«, erkläre ich ihr, während ich vom Waschtisch hüpfe. »Abgesehen davon ist das kein normales Weiß, sondern Winterweiß.« Ich schlage ihr leicht mit dem Bürstenstiel auf den Po. »Und jetzt beeil dich und geh duschen.«

»Muss ich mir noch Locken machen, bevor Rennie kommt?«

»Nein«, sage ich und schließe die Tür hinter mir. »Fünf Minuten.«

In meinem Zimmer packe ich wie auf Autopilot meine Schulsachen in die braune Umhängetasche: meinen neuen Stift und den Terminplaner aus echtem Leder, den Mom mir zum Schulanfang geschenkt hat. Lollies. Und meinen Labello Kirsche. Ich überlege, ob ich irgendwas vergessen haben könnte, doch mir fällt nichts ein, also schnappe ich mir meine weißen Espandrillos und laufe nach unten.

Mom steht im Morgenmantel in der Küche und trinkt einen Espresso. Dad hat ihr zu Weihnachten eine dieser schicken Espressomaschinen geschenkt, und sie achtet darauf, sie wenigstens einmal die Woche zu benutzen, auch wenn sie lieber Tee trinkt und auch wenn Dad so selten zu Hause ist, dass er kaum mitbekommt, ob sie das Ding benutzt oder nicht. Er ist Arzt, arbeitet aber in der Forschung. So lange ich zurückdenken kann, arbeitet er schon an einem Medikament, mit dem man Krebs heilen kann. Einen Teil des Monats arbeitet er in einem Labor in Boston, außerdem hält er in der ganzen Welt Vorträge, um seine Ergebnisse zu präsentieren. Diesen Sommer war er sogar auf dem Titel einer Wissenschaftszeitschrift – wie sie hieß, weiß ich aber nicht mehr.

Mom zeigt auf einen Teller mit Muffins. »Setz dich und iss, bevor du gehst, Lilli. Ich hab extra die mit Zucker besorgt, die du so magst.«

»Rennie muss jeden Moment hier sein«, sage ich. Als ich ihre enttäuschte Miene sehe, nehme ich einen Muffin und wickle ihn in eine Papierserviette. »Ich ess ihn im Auto.«

Sie streicht mir übers Haar. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass jetzt dein Senior-Jahr an der High School beginnt. Nur noch ein Jahr, dann ziehst du aus und gehst aufs College. Mein hübsches Töchterchen ist erwachsen geworden.«

Ich weiche ihrem Blick aus. Vermutlich bin ich das jetzt wirklich – erwachsen.

»Wenigstens habe ich mein Baby noch. Ist Nadia auch gleich so weit?«

Ich nicke.

»Pass ein bisschen auf Nadi auf, jetzt, wo ihr an derselben Schule seid. Du weißt, wie sehr sie zu dir aufsieht, Lilli.«

Mom drückt mir den Arm, und ich schlucke heftig. Ich werde besser auf Nadia aufpassen müssen, wirklich, nicht so wie Samstagabend, als ich sie auf Alex’ Party einfach allein gelassen habe. Sicher, ihre Freundinnen waren da – aber trotzdem.

Ich hätte bleiben sollen.

Rennies Hupe ertönt vor dem Haus, und ich stehe auf. »Nadia!«, brülle ich. »Rennie ist da!«

»Nur noch eine Minute«, schreit Nadia zurück.

Ich umarme Mom und gehe zur Garagentür.

»Nimm für Rennie auch einen Muffin mit«, ruft sie mir nach, aber ich schließe schon die Tür hinter mir. Rennie würde ihn sowieso nicht essen. Sobald die Cheerleader-Saison losgeht, meidet sie Kohlehydrate. Allerdings hält sie das immer nur einen Monat durch.

In der Garage streife ich mir meine Espandrillos über, dann laufe ich die Einfahrt hinunter zu Rennies Jeep.

»Nadia kommt sofort«, sage ich und steige ein.

Rennie lehnt sich herüber und umarmt mich zur Begrüßung.

Los, umarm sie auch, sage ich mir.

Und dann tu ich’s.

»Deine Haut sieht toll aus zu den weißen Sachen«, sagt sie und mustert mich von Kopf bis Fuß. »Ich wünschte, ich würde auch so braun.«

Rennie trägt enge Jeans und ein noch engeres Spitzentop mit U-Ausschnitt über einem hautfarbenen Hemdchen. Sie ist so mager, dass ich ihre Rippen erkennen kann. Einen BH hat sie nicht an, so weit ich sehe. Muss sie auch nicht. Sie hat die Figur einer Turnerin.

»Du bist doch auch ziemlich braun«, sage ich, während ich mich anschnalle.

»Selbstbräuner, Süße.« Sie setzt ihre Sonnenbrille auf und redet mit Wasserfallgeschwindigkeit auf mich ein. »Also, pass auf, ich hab ’ne Idee für die nächste Party. Ist mir heute Nacht im Traum eingefallen. Das Thema wird sein ... Halt dich fest! Die Goldenen Zwanziger! Die Mädels könnten im Flapper-Look kommen, du weißt schon, Charlestonkleid, Stirnband mit Feder, lange Perlenketten. Und die Jungs kommen im Zoot Suit – wattierte Schultern, und dazu diese Hosen, die an den Knöcheln eng geschnitten sind. Und natürlich ein Fedora. Heiß, oder?«

»Ich weiß nicht«, sage ich und schaue aus dem Fenster.

Rennie redet so viel und so schnell, mir dröhnt schon der Kopf. »Ob die Jungs das so toll fänden? Wo sollen sie das Zeug bei uns auf der Insel herkriegen?«

»Hallo – schon mal was vom Internet gehört?« Rennie trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. »Was macht Nadia denn noch so lange? Ich will vor allen anderen da sein, damit ich meinen Parkplatz für dieses Schuljahr mit Beschlag belegen kann.« Sie drückt auf die Hupe – einmal, zweimal.

»Hör auf«, sage ich, »du weckst noch die Nachbarn.«

»Ich bitte dich! Das nächste Haus ist doch gut und gerne eine halbe Meile entfernt.«

Unsere Haustür fliegt auf, und Nadia kommt die Stufen heruntergerannt. Vor unserem großen weißen Haus sieht sie so winzig aus.

Unser Haus ist anders als die meisten Häuser auf der Insel – moderne Architektur mit viel Glas. Mom war am Entwurf beteiligt. Ursprünglich war es unser Sommerhaus, aber kurz bevor ich auf die High School kam, sind wir ganz nach Jar Island gezogen. Ich selbst hatte immer gebettelt, dass wir herziehen sollten, weil ich mit Rennie und meinen Sommerfreundinnen zusammen sein wollte.

»Also was ist jetzt mit der Zwanziger-Jahre-Party – Daumen hoch oder Daumen runter?«, fragt Rennie.

Ehrlich gesagt ist es mir völlig egal, aber ich weiß, dass ihr meine Meinung wichtig ist – also eher Daumen runter.

Doch bevor ich dazu komme, meinen Kommentar abzugeben, steht Nadia vor dem Auto, die Haare triefnass. Sie hat ihre neue Jeans an und das schwarze Top, das sie gekauft hat, als wir drei im Juli zusammen shoppen waren. Es kommt mir vor, als wäre das schon Ewigkeiten her.

Sie klettert auf den Rücksitz.

Ich drehe mich um. »Du hättest dir die Haare fönen müssen, Nadi. Du weißt doch, dass du dich immer erkältest, wenn du mit nassen Haaren herumläufst.«

Noch ganz außer Atem sagt sie: »Ich hatte Angst, ihr würdet ohne mich fahren.«

»Das würden wir doch nie tun!«, ruft Rennie und fährt los. »Wir sind deine großen Schwestern. Wir werden immer auf dich aufpassen, Zuckerpüppchen.«

Mir liegt eine gemeine Bemerkung auf der Zunge, und ich habe große Mühe, sie runterzuschlucken. Wenn ich das jetzt sage, dann ist es aus mit der Freundschaft. Dann ist es schlimmer als jetzt.

Wir verlassen unsere ringförmige Einfahrt und biegen in die Straße ein.

»Um vier ist Cheerleader-Training«, erinnert mich Rennie und wippt im Takt zur Musik. »Komm ja nicht zu spät. Wir müssen das Frischfleisch begutachten. Sehen, womit wir in der neuen Saison arbeiten können. Hast du daran gedacht, deinen Mini-Camcorder mitzubringen, damit wir die Mädchen filmen können?«

Ich mache meine Tasche auf und sehe nach, auch wenn ich schon weiß, dass er nicht da ist. »Vergessen.«

»Mensch, Lil! Ich wollte sie mir doch heute Abend in HD genau ansehen.« Rennie stößt einen mürrischen Seufzer aus, so als wäre sie enttäuscht von mir.

Ich zucke mit den Schultern und sage: »Wir kommen schon irgendwie zurecht.« Und denke: Tun wir das jetzt gerade nicht auch? Aber Rennie ist eindeutig besser darin als ich.

»Nadi, wer ist die hübscheste von deinen Freundinnen?«, fragt sie jetzt.

»Patrice«, antwortet Nadia.

Rennie biegt links ab, und wir fahren an einer Reihe kleiner Ferienhäuser vorbei, von denen es in Canobie Bluffs so viele gibt. Ich konzentriere mich vor allem auf eins. Ein Hausmeister macht das Haus gerade winterdicht, nachdem die letzten Gäste abgereist sind. Ich glaube, es ist Reeves Vater. Er verriegelt die Läden an den Fenstern im Erdgeschoss. Bis zum großen Schlafzimmer ist er noch nicht gekommen, da stehen sie noch offen.

Ich drehe den Kopf weg und sehe aus dem Augenwinkel zu Rennie hinüber. Nur um zu sehen, ob sie es auch gemerkt hat. Aber ich kann nichts feststellen – kein Wiedererkennen, keine Nervosität, nichts.

»Nadi, du bist so viel hübscher als Patrice. Nur als kleine Info: Für unsere Truppe nehme ich nur die Crème de la Crème«, sagt Rennie. »Wenn es jemand Speziellen gibt, den du anfeuern willst, dann sag’s mir, und ich bring euch zusammen.«

Sofort sagt Nadia: »Alex. Kann ich Alex anfeuern?«

Rennie schnappt nach Luft. »Oho! Da solltest du lieber deine Schwester fragen. Der ist nämlich ihr Toy Boy.«

»Lass das, Rennie.« Das kam jetzt bissiger raus als beabsichtigt, und Rennie sieht Nadia im Rückspiegel an und zieht eine Grimasse. Ich hole tief Luft. »Nadia, die Mädels stehen schon Schlange für Alex, sowohl Juniors als auch Seniors. Wir können dich da nicht so bevorzugen. Ich meine, wie sähe das aus, wenn ein Mädchen, das gerade mal Freshman ist, einen Senior als Partner bekommt? Außerdem musst du ja erst mal sehen, ob du überhaupt genommen wirst. Du bist ja noch gar nicht im Team.«

Rennie nickt. »Lil hat recht. Ich meine, im Grunde bist du schon drin, aber wir müssen dich natürlich genauso behandeln wie alle anderen. Auch wenn du eindeutig was Besonderes bist.«

Nadia zappelt aufgeregt wie ein Welpe.

»Und noch was: Sag deinen Freundinnen unbedingt, dass sie gleich wieder nach Hause gehen können, wenn sie auch nur eine Minute zu spät kommen. Schluss, aus. Als Captain des Teams bestimme ich von Anfang an, wo’s langgeht.«

»Verstanden«, sagt Nadia.

»Braves Mädchen. Du wirst unser Freshman-Star.«

Ich komme mir vor, als würde ich über mir selbst schweben. Ich sage: »Aber sie muss an ihrem Flickflack arbeiten. Der ist noch schwach.«

Es wird ganz still im Auto.

Ich klappe meine Sonnenblende herunter, um Nadia ansehen zu können. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten, die dunklen Augen sehen verletzt aus.

Warum habe ich das gesagt?

Ich weiß doch, dass es ihr größter Wunsch ist, ins Team zu kommen. Den ganzen Sommer über haben wir trainiert, Flickflacks und andere Bodenübungen, die Hebefiguren und den Ablauf unserer Auftritte. Ich habe Nadia gesagt, dass sie, wenn Rennie mit der High School fertig ist, ganz oben auf der Pyramide stehen wird. Sie wird jemand sein an der Jar Island High School, das habe ich ihr gesagt. Genau wie ihre große Schwester.

Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob ich überhaupt will, dass sie so wird wie Rennie oder ich.

Jetzt nicht mehr.

02 KAT Ich steige über den Drahtzaun, der den Parkplatz der Jar Island High School umgibt. Alex’ SUV steht in der Nähe des Footballfeldes und glänzt wie frisch gewaschen für den ersten Schultag. Ich versuche, nicht darauf zu achten, dass mein Herz mit dreifacher Geschwindigkeit schlägt und mir ganz heiß wird.

Am Samstag bin ich achtzehn geworden. Den Abend habe ich an unserem Küchentisch verbracht, mit meinem Vater und mit Pat, meinem Bruder. Wir haben Whiskey gebechert und dazu den tiefgekühlten Schokoladenkuchen gegessen, den Dad im Supermarkt besorgt hat.

»Oh, Judy«, sagte Dad nach jedem Glas, so als säße Mom mit am Tisch und würde einen mit uns zwitschern. »Jetzt guck dir doch nur unser kleines Mädchen an.«

»Ich bin jetzt eine Frau«, verbesserte ich ihn.

»Und was für eine!«, sagte er und schob sein Glas zum Nachfüllen über den Tisch.

»Mann, Dad, sei nicht peinlich«, sagte Pat und schenkte uns allen noch einmal ein.

Alex sollte an dem Tag zurückkommen, aber ich wusste weder, wann genau, noch, ob er sich melden würde. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken. Ich hatte ohnehin schon zuviel Hirnenergie auf ihn verschwendet.

Den Großteil der Woche, die Alex weg gewesen war, hatte ich damit verbracht, immer wieder in Gedanken durchzugehen, was an unserem letzten Abend gewesen war. Anders als bei den Typen aus den Bands, die ich bei Kim kennengelernt hatte, musste ich mir bei Alex keine Sorgen machen, dass er zu weit gehen würde – und trotzdem war es wirklich scharf gewesen, wie er die Regie übernommen hatte. Und es war natürlich total tabu, er und ich zusammen. Es war nie vorgesehen, dass wir Freunde würden, geschweige denn auf der Millionen-Dollar-Yacht seines Onkels rummachen würden.

Wenn Rennie davon wüsste, würde sie Alex die Hölle heiß machen. Und ich würde mein Fett auch wegkriegen, von Rennie, von Reeve, von allen. Keiner von uns beiden hat auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, als wir übereinander herfielen. Doch so wie mir später der Gedanke kam, musste er auch ihm irgendwann gekommen sein.

Und dann kam eine SMS von ihm.

WILLKOMMENSPARTY BEI MIR.

KOMM VORBEI, WENN DU NICHTS

VORHAST.

Ich stieß meinen Stuhl zurück.

»Was strahlst du auf einmal so?«, wollte Pat wissen.

Ich hörte ihn kaum, weil ich an mein schwarzes Spitzentop zu den Jeans-Shorts dachte, aber dann fiel mir ein, dass seine Eltern ja vielleicht auch da sein würden, weshalb ich wohl doch lieber etwas Dezenteres anziehen sollte.

Ich setzte mich wieder. Wieso machte ich mich eigentlich so verrückt? Ich sollte mich mal am Riemen reißen.

Also machte ich mein Handy aus und sagte meinem Bruder, er solle mir noch einen Whiskey eingießen.

Gegen ein Uhr morgens war ich definitiv blau. Dad war ins Bett gegangen, Pat lag völlig hinüber im Wohnzimmer auf dem Boden. Unser Hund, Shep, kratzte an der Haustür, und so nahm ich seine Leine und ging mit ihm spazieren.

Natürlich landeten wir irgendwann bei Alex’ Haus. Auch wenn White Haven gute sechs Meilen von T-Town entfernt lag.

Die Party war längst vorbei, hatte aber unübersehbar stattgefunden: Plastikbecher und Müll lagen wild verstreut auf dem Weg in den Garten. Von irgendwoher kam noch Musik, sehr leise, grässliche Discomusik, wie sie immer im Radio läuft. Die Lichter rund um den Pool waren aus. Das Essen stand noch draußen, Schüsseln mit Chips, ein Teller Hamburger, Guacamole, das sich schon braun verfärbt hatte, dazwischen Becher mit Papierschirmchen und geschmolzenen pinken Drinks. Fischernetze, Gartenfackeln und Trompetenmuscheln waren die Deko. Über einem Zaunpfosten hing eine zerknitterte Kapitänsmütze.

Ich hörte, wie Shep an irgendetwas kaute, das er am Boden gefunden hatte, und musste es ihm mühsam aus dem Maul zerren. Es war eine Augenklappe, wie Piraten sie haben, aus Plastik.

Ich ging hinüber zum Gartenhaus, in dem Alex wohnt, und spähte durch ein Fenster, um zu sehen, ob er noch wach war.

Er schlief in seinem Bett, auf der Seite lag er, auf der Bettdecke. Der Kupferton seiner Haare war etwas heller geworden, fast sandfarben. Und er war braun geworden. Braun mit Sommersprossen.

Er sah so süß aus, dass ich einen Moment brauchte, bis ich die kleine Gestalt bemerkte, die zusammengerollt neben ihm in den Laken lag.

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