Feuer und Flamme - Jenny Han - E-Book

Feuer und Flamme E-Book

Jenny Han

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Beschreibung

Lillia, Kat und Mary haben einen Pakt geschlossen: Gemeinsam wollen sie es denen heimzahlen, die ihnen früher einmal Unrecht angetan haben. Die erste Racheaktion der Mädchen ging leider ziemlich schief, aber Mary lässt der Verrat, mit dem Reeve sie vor vielen Jahren in die Verzweiflung trieb, einfach keine Ruhe. Ihr neuer Plan ist perfekt: Lillia macht sich an Reeve heran und dann bricht sie ihm das Herz. So wie er Mary damals das Herz gebrochen hat. So wird es vereinbart. Und so könnte es funktionieren – vorausgesetzt, es kommen keine Gefühle ins Spiel. Ein aufwühlendes Jugendbuch, das von Freundschaft und Liebe – aber auch von Mobbing, Verrat und Rache erzählt.

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JENNY HAN & SIOBHAN VIVIAN

FEUER

UND

FLAMME

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Fire with Fire

bei Simon & Schuster BFYR, an imprint of Simon & Schuster

Children’s Publishing Division, New York.

Published by Arrangement with Jenny Han and Siobhan Vivian.

ISBN 978-3-446-24702-4

Text © Jenny Han und Siobhan Vivian 2013

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlagfoto: © Anna Wolf

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

»Zum ersten Mal hatte ich die Süßigkeit der Rache empfunden; aromatischer Wein dünkte sie mich, der während des Trinkens süße und feurig ist; sein Nachgeschmack aber ist herbe und metallisch – so hatte ich das Gefühl, als ob ich vergiftet sei.«

CHARLOTTE BRONTË

LILLIA  Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich anziehen soll. Zuerst dachte ich, ich gehe ganz leger, also in Jeans und Hemdbluse. Dann dachte ich, nein, falls seine Eltern da sind, sollte ich lieber ein Kleid tragen, etwas Gesetzteres, wie mein graues Kleid mit dem U-Ausschnitt und dem schmalen Gürtel. Weil das aber zu sehr nach Beerdigung aussah, probierte ich ein ringelblumengelbes Shirtkleid aus Seide, aber das war wieder zu frühlingshaft, zu fröhlich.

Die Aufzugstüren öffnen sich mit einem Pling, ich trete in den Flur. Es ist früh am Montagmorgen, eine Stunde vor Schulbeginn. Ich habe einen Korb mit frisch gebackenen Schokokeksen dabei und eine Genesungskarte mit lauter roten und pinkfarbenen Kussmündern. Mein Outfit besteht aus einem dunkelblauen Rollkragenpulli und einem hellbraunen Minirock, beigen Strumpfhosen und braunen Wildleder-Booties mit Absatz. Ich habe mir die Haare halb hochgesteckt und dazu Locken in die losen Strähnen gedreht.

Hoffentlich, hoffentlich sieht man mir mein schlechtes Gewissen nicht an.

Immer wieder sage ich mir, es hätte ja noch viel schlimmer kommen können. Aber an dem Abend sah es schon verdammt übel aus. Schrecklich. Wie Reeve von der Bühne flog und völlig verdreht am Boden landete … das werde ich bestimmt niemals vergessen. Aber mit seinem Rücken war nichts, er hat nur ein paar blaue Flecken und Prellungen abbekommen. Und eine Wadenbeinfraktur. Was auch nicht so toll ist.

Er hätte schon früher entlassen werden können, aber die im Krankenhaus wollten noch ein paar Tests mit ihm machen, um sicherzugehen, dass er keinen Schlaganfall hatte. Soweit ich weiß, haben sie ihn nicht auf Drogen getestet. Ich war ganz sicher, dass sie das tun würden, aber Kat meinte, bei einem Sportler wie Reeve würden sie sich bestimmt nicht die Mühe machen. Darum weiß niemand, dass ich ihm Ecstasy ins Glas getan habe. Reeve wird nicht von der Schule fliegen, und ich muss nicht ins Gefängnis. Heute kommt er wieder aus dem Krankenhaus.

Da sind wir beide wohl noch mal ganz gut davongekommen.

Jetzt kann das normale Leben wieder weitergehen, bei ihm und bei mir. Was immer das sein soll. Nach allem, was in diesem Jahr passiert ist, weiß ich nicht, ob ich mich jemals wieder »normal« fühlen werde oder ob ich das überhaupt will. Es ist, als hätte es eine Davor-Lillia gegeben, und jetzt gibt es die Danach-Lillia. Die Davor-Lillia kannte keine Sorgen; sie hatte einfach keinen Durchblick. Die Davor-Lillia wäre mit alldem niemals klargekommen. Mittlerweile bin ich viel tougher, nicht mehr so weich und lilienweiß. Ich hab einiges durchgemacht, einiges erlebt. Ich bin nicht mehr das Mädchen vom Strand. Das alles hat sich in dem Moment verändert, als wir diese Typen kennenlernten.

Früher hatte ich immer Angst davor, Jar Island zu verlassen und weit weg von meiner Familie und meinen Freunden zu sein. Aber jetzt denke ich, wenn ich nächstes Jahr ins College gehe, kennt dort niemand die Davor- oder die Danach-Lillia. Da kann ich einfach nur Lillia sein.

Die Frau am Empfang lächelt mich an und fragt: »Möchtest du unseren berühmten Footballspieler besuchen?«

Ich lächele zurück und nicke.

»Er liegt am Ende des Gangs.«

»Danke«, sage ich. Dann frage ich: »Ist jemand bei ihm?«

»So eine Hübsche mit braunen Haaren«, sagt die Frau und zwinkert mir zu.

Rennie. Bestimmt ist sie ihm seit Samstagabend nicht von der Seite gewichen. Ich habe sie zweimal angerufen, aber sie hat nicht zurückgerufen. Wahrscheinlich ist sie immer noch sauer auf mich, weil ich Homecoming-Queen wurde und nicht sie.

Ich gehe den Gang entlang, Korb und Karte fest umklammert in der Hand. Ich hasse Krankenhäuser, schon immer. Dieses grelle Licht, die Gerüche … Als ich klein war, habe ich immer versucht, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. Mittlerweile bin ich da ziemlich gut drin, aber dieses Spiel spiele ich schon längst nicht mehr.

Mein Herz klopft immer schneller, je näher ich dem Zimmer komme. Ich höre nur noch dieses Herzklopfen und das Klappern meiner Absätze auf dem Linoleum.

Jetzt bin ich vor seinem Krankenzimmer. Sein Name steht an der Tür. Sie ist einen winzigen Spaltbreit geöffnet. Ich stelle den Korb ab, damit ich klopfen kann, da höre ich Reeves trotzige, heisere Stimme. »Mir doch egal, was die Ärzte sagen. Ich werde auf keinen Fall so lange aussetzen. Ich bin absolut in Topform. Demnächst steh ich wieder auf dem Platz!«

Sie schnieft. »Wir werden’s ihnen zeigen, Reevie.«

Jemand schiebt sich an mir vorbei. Eine Krankenschwester. »Entschuldige, Liebes«, zirpt sie und reißt die Tür auf. Sie schiebt sich durch den Vorhang, der das Zimmer teilt, und verschwindet auf der anderen Seite.

Und da liegt Reeve in einem verblichenen Krankenhauskittel. Er ist nicht rasiert, hat Stoppeln am Kinn und große schwarze Ringe unter den Augen. An einem Arm hängt ein Tropf, und sein Bein steckt vom Fuß hoch bis zum Schenkel in einem riesigen Gips und ruht in einer Schlaufe, die von der Decke hängt. Die Zehen, die aus dem Gips herausragen, sind knallrot und geschwollen. An seinen Armen sind lauter verschorfte Schnittwunden, vermutlich wegen der Glassplitter, die an diesem Abend auf alle Leute herabregneten. Ein paar größere Wunden sind mit schwarzem Faden genäht worden. Er wirkt merkwürdig klein in diesem Krankenhausbett. Ganz anders als sonst.

Rennies Augen sind rot gerändert. Sie werden schmal, als sie mich sieht. »Hi.«

Ich schlucke und halte die Karte hoch. »Die ist von den Mädchen aus dem Cheerleader-Team. Sie … sie wünschen dir alle gute Besserung.« Dann fallen mir die Kekse wieder ein. Ich gehe einen Schritt vor, um sie ihm zu geben, stelle sie dann aber doch lieber auf den Stuhl neben der Tür. »Ich hab dir Kekse mitgebracht, Schokokekse. Die haben dir doch letztes Jahr so gut geschmeckt, als ich sie für den Kuchenverkauf des Kiwanis-Clubs gemacht habe …« Warum plappere ich eigentlich die ganze Zeit?

Reeve wischt sich schnell mit dem Laken über die Augen. Mürrisch sagt er: »Danke, aber in der Football-Saison esse ich keinen Süßkram.«

Ich kann nicht anders, ich muss seinen Gips anstarren. »Klar. Entschuldige.«

»Der Arzt kann jeden Moment kommen, um ihn zu entlassen«, sagt Rennie. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst.«

Ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft. »Oh. Natürlich. Gute Besserung, Reeve.«

Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber als er mich über Rennies Schulter hinweg ansieht, meine ich, Hass in seinen Augen zu sehen. Dann macht er sie zu. »Ciao«, sagt er.

Ich bin schon den halben Gang zurückgegangen, bevor ich stehen bleibe und endlich ausatme. Meine Hände halten immer noch die Karte umklammert. Meine Knie zittern.

KAT  »Tot«, sage ich und lasse den Kopf auf das Lenkrad sinken. »Mausetot.«

Mein großer Bruder Pat wischt sich die Hände an einem schmutzigen Tuch ab. »Ach, führ dich nicht so auf, Kat, und dreh den Scheiß-Schüssel noch mal.«

Ich tue, was er sagt. Ich drehe den Schlüssel im Anlasser unseres Cabrios. Nichts passiert, kein Geräusch, kein Brummen, gar nichts. »Das bringt doch nichts«, sage ich. Die Schrottkarre ist nicht mehr zu retten, auch wenn Pat sich mit Motoren bestens auskennt. Unsere Familie braucht ein neues Auto – oder wenigstens eins, das in diesem verdammten Jahrzehnt gebaut wurde. Ich steige aus und schlage die Tür so hart zu, dass das ganze Auto wackelt. Ich habe keinen Bock, im Winter zur Schule zu laufen und mir den Arsch abzufrieren. Oder, noch schlimmer, den Bus zu nehmen. Hallo? Schließlich bin ich jetzt ein Senior.

Pat wirft mir einen bösen Blick zu und macht sich dann wieder an dem Motor zu schaffen. Die Motorhaube steht offen, und er hängt zwischen den Scheinwerfern. Ein paar Kumpels von ihm sind da, pfeifen sich Dads Bier rein und schauen ihm zu. Ihre Lieblingsbeschäftigung an einem Montagnachmittag. Pat bittet Skeeter um einen Schraubenschlüssel und klopft damit an etwas Metallischem herum.

Ich gehe um meinen Bruder herum. »Vielleicht ist es ja die Batterie«, sage ich. »Ich hatte das Gefühl, das Radio wäre abgekackt, bevor der Wagen gestreikt hat.« Das ist heute Nachmittag gewesen. Ich hatte beschlossen, die letzte Stunde zu schwänzen und zu Mary zu fahren. Ich wollte nach ihr sehen, weil ich ihr heute nicht begegnet bin. Bestimmt war sie immer noch so geschockt von dem, was beim Ball passiert ist, dass sie gar nicht in der Schule war. Sie hatte Riesenschiss, Reeve könnte verletzt sein. Armes Mädchen. Leider bin ich nicht weit gekommen. Schon auf dem Schulparkplatz ist die Karre liegen geblieben.

Mein erster Gedanke war: Ist das Karma?

Hoffentlich nicht, Mann.

Pat streckt die Hand nach einem anderen Werkzeug aus und stößt mich dabei fast um. »Jetzt mach dich mal locker. Geh eine rauchen.«

Die letzten Tage war ich ein bisschen, na ja, angespannt. Ich meine, wem würde es nicht so gehen, nach allem, was beim Schulball passiert ist? Nie, in einer Million Jahre nicht, hätte ich gedacht, dass Reeve am Ende auf einer Krankenbahre rausgefahren würde. Wir wollten, dass er auf Drogen erwischt wird und aus dem Footballteam fliegt. Wir wollten ihn nicht ins Krankenhaus bringen.

Immer wieder sag ich mir, dass es nicht unsere Schuld war, was da passiert ist. Das Feuer wurde ganz klar durch ein defektes elektrisches Gerät ausgelöst. Das stand heute sogar in der Zeitung. Und Reeve ist deshalb von der Bühne gefallen, weil ihn die Explosionen so erschreckt haben. Nicht wegen dem Ecstasy, das Lillia ihm heimlich in sein Getränk getan hat. Fakt ist Fakt.

Ehrlich gesagt war dieses Feuer der reinste Segen für uns. Natürlich ist es bedauerlich, dass Leute verletzt wurden. Ein paar Kids mussten wegen der vielen Glasscherben genäht werden, ein Fünftklässler hatte eine Verbrennung am Arm von einem Funken, und einer der älteren Lehrer wurde wegen einer Rauchvergiftung behandelt. Aber das Feuer hat uns buchstäblich den Arsch gerettet. Reeves Verletzung war einfach nur ein weiteres Unglück in dem ganzen Chaos. Und ganz sicher erinnert er sich nach alldem jetzt nicht mehr daran, dass Lillia ihm das Glas mit dem Drogen-Cocktail gegeben hat.

Wenigstens erzähle ich Lillia das immer.

Pat zeigt seinen Kumpels den silbernen Messstab, und alle schütteln den Kopf wie in einer schlechten Comedy. »Mannometer, Kat! Wann hast du das letzte Mal nach dem Öl geschaut?«

»Ich dachte, das ist dein Job.«

»Das ist elementare Autopflege.«

Ich verdrehe die Augen. »Sag mal, Pat. Hast du meine Kippen geklaut?«

»Höchstens eine oder zwei«, sagt er kleinlaut und zeigt auf die Werkbank. Ich geh rüber und hol sie mir, und natürlich ist die ganz neue Schachtel schon leer.

»Soll ich dich zur Tankstelle fahren?«, fragt Ricky, den Helm in der Hand. »Ich muss meine Maschine sowieso auftanken.«

»Ja. Danke, Ricky.«

Wir gehen aus der Garage, und Ricky legt mir die Hand hinten ins Kreuz. Sofort muss ich an Alex Lind denken und wie ritterlich er Lillia aus dem Chaos hinaus in Sicherheit gebracht hat. Ich wünschte, ich hätte das nicht gesehen. Nicht, weil ich eifersüchtig bin oder so. Nee. Es war nur so kitschig, dass ich Bauchweh bekommen habe. Ich frage mich, ob er nur nett war oder ob er tatsächlich auf sie steht. Eigentlich ist mir das scheißegal. Ich klettere hinten auf Rickys Motorrad und schmiege mich ganz eng an ihn.

Er dreht den Kopf zu mir und sagt leise: »Du machst mich fertig. Weißt du das?«, bevor er sein Visier runterklappt.

Ich kann mein Spiegelbild darin sehen und finde, ich sehe verdammt sexy aus. Ich zwinkere ihm zu und tue unschuldig. »Fahr los«, befehle ich. Und er lässt den Motor für mich aufheulen.

Die Wahrheit ist: Wenn ich einen Kerl will, kriege ich ihn auch. Sogar Alex Lind.

Der Himmel ist grau, die Sonne geht unter, und die Straßen sind fast leer. Wie immer im Herbst auf Jar Island. Dann leben hier nur noch halb so viele Leute wie im Sommer. Ein paar wenige Touristen kommen noch und sind ganz aus dem Häuschen, wegen dem bunten Laub und so, aber sonst ist es ziemlich tot. Viele Restaurants und Geschäfte sind schon geschlossen. Deprimierend. Ich kann es kaum erwarten, bis das nächste Jahr kommt und ich woanders lebe. Hoffentlich in Ohio, hoffentlich in einem hübschen Wohnheim am Oberlin-College. Aber eigentlich ist mir egal, wo ich lande, Hauptsache ich kann weg von Jar Island.

Während Ricky sein Motorrad auftankt, kaufe ich eine neue Schachtel Zigaretten im Laden. Rauchen ist teuer. Ich sollte aufhören und das Geld fürs College sparen. Auf dem Weg raus zu Ricky sehe ich den langen Hügel, der nach Middlebury führt. Zu Marys Haus.

»Hey, Ricky, hast du’s eilig?«

Er grinst mich an. »Wohin fahren wir?«

Ich zeige ihm den Weg zu Mary. Niemand öffnet die Tür, nicht mal ihre gruselige Tante. Aus dem Briefkasten quillt die Post, und der Rasen ist noch verfilzter als Sheps Fell. Ich gehe um das Haus herum und suche einen Stein, um ihn an das Fenster im zweiten Stock zu werfen. In Marys Zimmer brennt kein Licht, die Vorhänge sind zugezogen. Ich schaue, ob sich in einem der anderen Fenster was regt. Alles stockdunkel. Das Haus sieht irgendwie … na ja, gespenstisch aus. Ich lasse den Stein fallen.

Ich wünschte, ich könnte nur eine Sekunde lang mit Mary reden und sie beruhigen. Sie braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie braucht sich nicht schlecht zu fühlen wegen dem, was passiert ist. Dieser Arsch hat schlicht und ergreifend das bekommen, was er verdient hat. Und jetzt, wo unser Rachefeldzug vorbei und erledigt ist, kann Mary hoffentlich endlich mit ihrem Leben weitermachen und muss keinen Gedanken mehr an Reeve Tabatsky verschwenden.

MARY  Seit zwei Tagen weine ich ununterbrochen. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Ich kann gar nichts tun.

Ich höre Tante Bette im Bad, wie sie sich das Gesicht wäscht und die Zähne putzt. Ihr abendliches Ritual. Auf dem Weg ins Bett schaut sie bei mir rein. Sie hat den Bademantel ganz eng um sich gezogen und eine Zeitung unter dem Arm.

Ich liege schlaff auf meinem Bett und starre an die Decke. Ich kann mich nicht mal aufraffen, ihr Gute Nacht zu sagen.

Tante Bette steht da und beobachtet mich eine Weile. Dann sagt sie: »Da war heute ein Bericht in der Zeitung.« Sie hält sie hoch, damit ich es sehen kann. Der Artikel oben auf der Seite handelt von dem Schulball und dem Feuer. Man sieht ein Foto von der Turnhalle. Schwarzer Rauch quillt aus den Fenstern, jede Menge Schüler strömen aus der Tür. »Sie glauben, der Brand wurde von einem defekten Gerät ausgelöst.«

Ich drehe mich zur Wand, weil ich nicht über den Homecoming-Ball reden will. Ich will nicht mal daran denken. Ich habe es mir schon Millionen Mal durch den Kopf gehen lassen. Wie alles so furchtbar schiefgehen konnte.

An diesem Abend war ich endlich bereit, mich ihm zu zeigen, in meinem wunderschönen Kleid, stolz und stark und völlig verwandelt. Ich hatte eine genaue Vorstellung, wie es ablaufen würde. Wie Reeve mich immer wieder in der Menge erblicken würde, völlig zugedröhnt von den Drogen, die wir ihm heimlich ins Glas getan haben. Etwas an mir kommt ihm vertraut vor. Er fühlt sich zu mir hingezogen. Er findet mich wunderschön.

Jedes Mal wenn sich unsere Blicke begegnen, berühre ich die Kette mit dem Gänseblümchenanhänger, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat, lächele und warte, bis ihm einfällt, wer ich bin. In der Zwischenzeit haben die Lehrer längst bemerkt, wie sonderbar sich Reeve verhält. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Und wenn er dann endlich begreift, wer ich bin, bringen sie ihn schon in das Büro des Schulleiters, wo er seine verdiente Strafe bekommt.

Nur ist es nicht so passiert. Nicht mal ansatzweise.

Sobald Reeves Blick auf mich fiel, wusste er, wer ich bin. Obwohl ich mich seit der siebten Klasse so verändert habe, sah er nur das fette Mädchen, das so dumm war zu glauben, er sei ihr Freund. Reeve sah Big Easy. Als ich hörte, wie er diesen Namen sagte, blieb mir die Luft weg, so wie damals, als er mich in das dunkle, kalte Wasser am Hafen geschubst hat. Immer bin ich nur die dumme Dicke für ihn gewesen. Nur das und nichts anderes. Und auf einmal war ich so wütend. Und dann sind mir irgendwie die Sicherungen durchgebrannt.

»Einer der Schüler, die verletzt wurden, ist anscheinend ein bekannter Footballspieler von der Highschool.«

»Er heißt Reeve«, sage ich leise. »Reeve Tabatsky.«

»Ich weiß.« Ich höre Tante Bette zu meinem Bett kommen. »Das war der Junge, der dich früher immer geärgert hat, Mary.«

Statt zu antworten, presse ich die Lippen fest zusammen.

»Wir haben uns doch mal bei einem Kakao lange darüber unterhalten, als ich Weihnachten bei euch war. Erinnerst du dich?«

Ich erinnere mich gut. Ich hatte gehofft, Tante Bette könnte mir einen Rat geben, wie ich Reeve dazu bringen könnte, auch in Gegenwart anderer Leute nett zu mir zu sein, so wie bei unseren Fahrten mit der Fähre. Ich dachte, sie würde mich verstehen. Aber Tante Bette sagte nur, ich solle zu einem Lehrer gehen und petzen, wenn Reeve mich wieder vor anderen Schülern piesacken würde. »Das wird ihn lehren, dich in Ruhe zu lassen«, meinte sie.

Mich in Ruhe lassen? Aber genau das wollte ich ja gar nicht.

In dem Moment wusste ich, Erwachsene würden mich nicht verstehen. Niemand würde die Beziehung zwischen Reeve und mir begreifen.

Ich kann Tante Bettes flache Atemzüge neben dem Bett hören. »Hast du …«

Ich drehe mich zu ihr. »Habe ich was?« Ich weiß, ich klinge gemein, aber ich kann nicht anders. Spürt sie nicht, dass ich jetzt nicht reden will?

Tante Bettes Augen sind groß. »Nichts«, sagt sie und verlässt das Zimmer.

Mir ist das alles zu viel. Ich stehe auf, ziehe einen Sweater über mein Nachthemd, schlüpfe in meine Turnschuhe und schleiche aus der Hintertür.

Ich laufe zur Hauptstraße in Richtung Klippen. Dort gibt es einen ganz großen Felsen, von dem aus ich früher immer aufs Meer schaute, weil man meilenweit sehen konnte.

Aber heute ist jenseits der Klippen nur Dunkelheit. Dunkelheit und Stille, wie am Rand der Welt. Ich taste mich vor, bis meine Schuhspitzen über die Felskante hinausragen. Geröll rutscht über die Kante, aber ich kann die Steinchen nicht ins Wasser plumpsen hören. Es geht ewig tief runter.

Stattdessen höre ich Reeve, wie er mir beim Homecoming-Ball zuflüstert. Big Easy. Wie ein Echo, immer und immer wieder.

Ich balle die Fäuste und kämpfe, um die Erinnerung an diesen Abend aus meinem Kopf zu verdrängen. Doch es klappt nicht. Nie klappt es.

Ich erinnere mich an andere Vorfälle. An Rennie, die von der Cheerleader-Pyramide stürzte. Und die Schließfachtüren, die alle auf einmal zugefallen sind. Etwas stimmt nicht mit mir. Etwas an mir ist … eigenartig.

Eine Wolke zieht am Mond vorbei, wie ein Vorhang in einem Theaterstück. Das Licht spiegelt sich auf den nassen Felsen und lässt sie glänzen.

Da ist ein Pfad, der wie eine schiefe Treppe die Felswand hinunterführt. Ich klettere hinab, bis es nicht mehr weitergeht. Ich spähe über die Kante. Weit unter mir tosen die Wellen. Sie schlagen gegen die Felsen und sprühen Gischt in die Luft.

Ein Schritt … nur ein Schritt noch, und alles ist vorbei. Alles, was ich getan habe, alles, was mir angetan wurde – von den Wellen weggespült.

Auf einmal kommt Wind auf, und Wasser spritzt hoch. Die Böe weht mich fast vom Felsen. Ich sinke auf die Knie und krabbele zu dem Pfad zurück.

Es gibt etwas, das ich nicht aufgeben kann.

Reeve.

Ich liebe ihn, trotz allem, was er mir angetan hat. Ich liebe ihn, obwohl ich ihn hasse. Und ich weiß nicht, wie ich damit aufhören soll.

Das Schlimmste ist: Ich weiß nicht einmal, ob ich das überhaupt will.

1 WOCHE

SPÄTER

01 MARY  Am Montagmorgen scheint die Sonne durch mein Fenster, und eine Stimme in mir befiehlt, ich soll aufstehen und mich nicht wie die ganze letzte Woche über zur Wand drehen und liegen bleiben. Mir war schon seit einer Weile klar, dass ich wieder zur Schule gehen sollte, aber ich hatte einfach nicht die Kraft, es tatsächlich zu tun. Deshalb bin ich lieber im Bett geblieben.

Aber heute fühlt sich alles anders an. Keine Ahnung, warum. Es ist einfach so ein Gefühl. Dass ich dort sein sollte.

Ich flechte mir das Haar und ziehe einen Cordrock mit Trägern, eine Bluse und eine Strickjacke an. Ich bin etwas nervös, weil ich Reeve sehen werde. Ich habe Angst, es könnte wieder etwas … Schlimmes passieren. Außerdem habe ich bestimmt total viel Unterrichtsstoff verpasst. Ich habe nicht mal versucht, bei den Schularbeiten auf dem Laufenden zu bleiben. Meine Bücher und alle Hefte liegen immer noch unberührt in meinem Rucksack in der Ecke. Ich nehme einen Riemen und schwinge ihn mir über die Schulter. Darüber, wie ich das alles aufholen soll, kann ich mir jetzt keine Gedanken machen. Mir wird schon was einfallen.

Aber als ich den Türknauf drehen will, rührt er sich nicht.

So was passiert in unserem Haus ständig. Vor allem im Sommer, wenn das Holz durch die Feuchtigkeit aufquillt. Die Türen und auch die Beschläge stammen noch aus der Entstehungszeit des Hauses. Es ist ein großer Glasknauf mit einer Messingplatte und einem riesigen Schlüsselloch. So was kann man heutzutage gar nicht mehr kaufen.

Normalerweise muss man nur ein bisschen rütteln, dann geht es schon auf, aber als ich das versuche, tut sich trotzdem nichts.

»Tante Bette?«, rufe ich. »Tante Bette?«

Ich versuch es noch mal mit der Tür. Diesmal zerre ich richtig daran. Und dann kriege ich Panik. »Tante Bette! Hilfe!«

Endlich höre ich sie die Treppe hochkommen.

»Da stimmt was mit der Tür nicht«, sage ich atemlos. »Sie geht nicht auf.« Zum Beweis rüttle ich noch mal daran. Und dann, als auf der anderen Seite nichts zu hören ist, sinke ich auf die Knie und spähe durch das Schlüsselloch, weil ich sehen will, ob sie immer noch vor der Tür steht. Sie ist da. Ich kann ihren langen, zerknitterten kastanienbraunen Rock erkennen. »Tante Bette! Bitte!«

Endlich regt sie sich. Kurz kämpft sie auf der anderen Seite mit dem Schloss, dann schwingt die Tür auf.

»Gott sei Dank«, sage ich erleichtert und will in den Flur treten. Da entdecke ich so ein Zeug auf dem Boden. Es sieht aus wie weißer Sand oder Kreide oder so. Links von der Tür kann man noch eine dünne, exakte Linie erkennen, doch an der Schwelle ist es von Tante Bettes Füßen völlig verwischt.

Was soll das?

Ich würde mich gerne bücken und das Zeug anfassen, aber irgendwie gruselt es mich auch.

Tante Bette hat sich immer schon für so merkwürdige Dinge interessiert wie Indianerkräuter und Kristalle und Energieübertragungen. Wenn sie früher im Ausland war, hat sie immer Schmuckanhänger und Glücksbringer mitgebracht. Obwohl ich weiß, dass das harmloses Zeug ist, zeige ich auf die Kreide und frage: »Was ist das?«

Tante Bette sieht mich schuldbewusst an. »Nichts, nichts. Ich … ich feg das gleich weg.«

Ich nicke, Ja, klar, und gehe an ihr vorbei. »Bis später.«

»Warte«, sagte sie hastig. »Wo willst du hin?«

Ich seufze. »In die Schule.«

Mit dünner, gereizter Stimme sagt sie: »Es wäre besser, wenn du zu Hause bleibst.«

Gut. Ich habe nicht die beste Woche hinter mir. Das weiß ich. Ich habe die ganze Zeit in meinem Zimmer gesessen und war mies drauf, hab viel geweint. Aber Tante Bette war auch nicht gerade eine Stimmungskanone. Sie hat wenig geschlafen. Nachts kann ich sie in ihrem Zimmer hören, wie sie herumkramt und seufzt. Sie geht fast gar nicht mehr raus. Und sie malt auch kaum noch, was ich besonders besorgniserregend finde. Wenn Tante Bette malt, ist sie glücklich – so einfach ist das. Es tut uns bestimmt gut, wenn wir uns heute mal aus dem Weg gehen. Dann können wir beide mal wieder richtig durchatmen.

»Ich kann doch nicht ewig hier im Haus hocken.« Ich muss meinem Bauchgefühl folgen. Etwas in mir sagt, ich soll gehen. »Ich gehe heute in die Schule«, wiederhole ich. Diesmal ohne zu lächeln. Und dann marschiere ich einfach die Treppe runter, ohne auf ihre Erlaubnis zu warten.

Bis ich an den Fahrradständern der Jar Island High ankomme, ist die Sonne verschwunden und hat einen kalten, trüben Himmel zurückgelassen. Außer ein paar Lehrern und den Kastenautos der Elektriker ist der Parkplatz leer. Unsere Schule bekommt wegen des Vorfalls beim Schulball völlig neue Leitungen. Sämtliche Elektriker der Insel sind jetzt offenbar hier versammelt und arbeiten rund um die Uhr.

Zum Glück bin ich früh dran, es sind noch kaum Schüler da. Ich muss mich erst langsam wieder in den Schulalltag hineinfinden.

Zu meiner Überraschung kommt Lillia auf mich zugerannt. Der Reißverschluss ihrer Jacke ist ganz hochgezogen, und sie hat die Kapuze über dem Kopf. Es wird jeden Tag kälter.

»Hi«, sage ich schüchtern und schließe mein Fahrrad ab. Das ist unsere erste Begegnung seit dem Homecoming-Ball. »Du bist früh dran.«

»Meine Güte, bin ich froh, dich zu sehen, Mary.« Weil ich nicht gleich antworte, runzelt sie die Stirn und sagt: »Bist du wegen irgendwas sauer auf mich? Du hast gar nicht angerufen oder sonstwie versucht, uns zu erreichen. Ich habe im Telefonbuch die Nummer deiner Tante nachgeschaut und angerufen, aber keiner ist rangegangen. Und Kat ist ein paarmal bei dir vorbeigefahren, aber es hat nie jemand aufgemacht.«

Wie dumm von mir zu glauben, Lillia und Kat hätten nicht gemerkt, dass ich ihnen aus dem Weg gehe. Aber ich wollte niemand aus der Schule sehen. Das hat nichts mit ihnen zu tun. »Tut mir leid«, sage ich. »Es war einfach … viel.«

»Schon gut. Ich weiß schon. Bei dem ganzen Chaos war es sicher gut, dass wir uns bedeckt gehalten haben.« Sie sagt das und klingt trotzdem traurig. »Hey, hast du schon gehört? Reeve kommt heute wieder in die Schule.«

Auf einmal fällt es mir schwer zu schlucken. Hatte ich deshalb diesen Drang, in die Schule zu gehen? Weil Reeve auch wieder kommt?

»Wie geht’s ihm? In der Zeitung stand, sein Bein ist gebrochen.«

Lillia presst die Lippen zusammen und sagt dann: »Es geht schon. Aber ich glaube, die Footballsaison ist für ihn gelaufen.« Offenbar sieht sie etwas in meinem Gesicht, denn sie schüttelt hastig den Kopf. »Keine Angst. Das wird schon wieder.« Sie geht rückwärts von mir weg. »Wir reden später, okay? Du hast mir gefehlt.«

Reeve ist erledigt. Ich habe ihn erledigt.

Ich habe gekriegt, was ich wollte.

Oder nicht?

Er wird bald da sein. Schnell laufe ich in die Schule. In fast jedem Klassenzimmer klaffen riesige Löcher in den Wänden, wo die neuen Leitungen verlegt werden. Ich muss aufpassen, damit ich nicht über die neuen Kabelstränge stolpere, die sich die Gänge entlangziehen.

Ich gehe in mein Klassenzimmer und setze mich neben die Heizung beim Fenster, den Cordstoff meines Trägerrocks unter den Schenkeln zusammengerafft. Auf meinem Schoß liegt ein Schulbuch, aber ich lese nicht darin. Ich schaue nicht mal auf die Seiten. Ich spähe hinter meinen Haaren hervor und beobachte, wie der Parkplatz sich mit Schülern füllt.

An diesem Wochenende ist die Temperatur zum ersten Mal unter den Gefrierpunkt gesunken, und die Hausmeister haben sofort den Brunnen im Schulhof abgestellt. Die Raucher und die Crossläufer sind die Einzigen, denen die Kälte nichts ausmacht. Alle anderen hasten ins Gebäude.

Durch das Fenster dringt das Wummern eines Basses. Alex’ SUV biegt in die Schuleinfahrt und parkt auf dem Behindertenparkplatz neben dem Weg. Alex steigt aus, geht vorne um das Auto und öffnet die Beifahrertür.

Alle auf dem Hof drehen sich um. Alle scheinen zu wissen, dass er heute wiederkommt.

Reeve stellt sein gesundes Bein auf den Boden. Er trägt Basketballshorts und einen Kapuzenpulli, auf dem JAR ISLAND FOOTBALL steht. Alex streckt die Hand aus, doch Reeve ignoriert sie, hält sich an der Tür fest und schwingt das andere Bein heraus. Ein weißer Gipsverband reicht von seinem Schenkel bis zu seinen Zehen.

Reeve balanciert auf einem Bein, während Alex die Krücken aus dem Kofferraum holt. Rennie hüpft hinten vom Rücksitz und zieht Reeves Rucksack aus dem Auto. Reeve winkt ihr, als wolle er sein Zeug selbst tragen, doch Rennie schüttelt mit schwingendem Pferdeschwanz den Kopf. Er gibt auf und humpelt so schnell wie möglich mit den Krücken zur Schule. Er kommt ganz schön schnell voran und wartet nicht auf seine Freunde, die hinter ihm gehen.

Ein paar Schüler rennen fröhlich auf ihn zu und begrüßen ihn, starren dabei aber alle auf sein Bein. Ein Junge will sich mit einem Stift hinknien und auf dem Gips unterschreiben. Reeve bleibt nicht mal stehen. Er senkt den Kopf, tut so, als merke er nichts, und geht weiter.

Alles so wie immer. Jeder will ein Stück von Reeve. Und die meisten werden nie was bekommen.

Früher gehörte ich auch mal zu den Glücklichen.

02 LILLIAMitten in der Mathestunde klopft es an der Tür. Es ist die Schulsekretärin, Mrs Gardner, in einem total unvorteilhaften marineblauen Blazer. Er ist viel zu lang und zu weit für sie, mit riesigen goldenen Knöpfen, und sieht aus, als hätte sie ihn ihrem Mann aus dem Kleiderschrank geklaut, und zwar schon 1980. Ich finde, kleine Frauen sollten keine Blazer tragen. Außer sie sind kurz geschnitten und enganliegend, so mit Dreiviertelarm.

Egal.

Ich widme mich wieder meinem Aufgabenblatt. Wir lösen gerade Gleichungsprobleme. Gar nicht so schwer. Dabei sagten letztes Jahr alle, Differentialrechnung wäre superschwierig. Ähm, echt jetzt?

Aber dann lässt Mrs Gardner einen gelben Zettel auf meinen Tisch flattern. Lillia Cho steht in der ersten Zeile. Dann steht da noch Bitte bei Beratungslehrer melden. Und darunter ist noch die Zeile für Datum und Uhrzeit, da steht Jetzt gleich.

In mir krampft sich alles zusammen. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und packe meinen Kram. Auf dem Weg zur Tür schaut Alex mich an. Ich lächele und zucke unbekümmert mit den Schultern, so wie: Seltsam. Was soll das denn?

Eilig gehe ich den Flur entlang. Wenn ich Ärger hätte, also, wenn jemand herausgefunden hätte, was ich Reeve bei dem Ball angetan habe, hätten sie mich sicher zum Schulleiter gerufen. Nicht zu meinem Beratungslehrer.

Mr Randolph ist schon seit meinem ersten Schuljahr hier mein Beratungslehrer. Er ist ziemlich jung. Sein Collegeabschluss ist erst zehn Jahre her, das habe ich mal überprüft. Ich wette, damals sah er ziemlich süß aus, aber jetzt verliert er langsam die Haare, was echt schade ist. Seinen Eltern gehört der Pferdehof, auf dem mein Pferd Phantom untergebracht ist. Dort hängen überall Reitmedaillen und Plaketten, noch aus der Zeit, als er bei Turnieren geritten ist.

Ich bleibe in der Tür stehen. Er telefoniert gerade, winkt mich aber rein.

Ich setze mich und überlege mir genau, was ich sage, falls er mich doch beschuldigt, mit den Ereignissen beim Homecoming-Ball etwas zu tun zu haben. Ich werde das Gesicht verziehen und etwas sagen wie: Wovon reden Sie da, Mr Randolph? Warum sollte ich so etwas tun? Reeve ist einer meiner besten Freunde! Das ist doch völlig absurd. Ich weiß gar nicht, was ich auf so eine Anschuldigung sagen soll. Dann werde ich die Arme verschränken und einen Anwalt verlangen und nichts mehr sagen.

Mr Randolph guckt wütend und reibt sich über seinen kahl werdenden Schädel. Ob ihm deshalb die Haare ausfallen, weil er so gestresst ist und sich ständig den Kopf rubbelt? »Ja, gut, ja, okay. Danke.« Tief seufzend legt er auf. »Warum schaust du denn so nervös, Lillia?«

Ich zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht. »Hallo, Mr Randolph.«

»Ich habe dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Stall gesehen. Du denkst doch nicht daran, das Pferd zu verkaufen?«

»Nein! Ich würde Phantom nie hergeben!«

Mr Randolph lacht. »Ich weiß, ich weiß. Aber wenn du es dir doch mal anders überlegt, dann weißt du ja, wen du zuerst anrufst, oder?«

Ich nicke, aber da kann er lange warten. Dieser Anruf wird niemals kommen. Phantom wird nicht verkauft, auf keinen Fall. »Klar.«

»Also … ich habe mir deine Noten angeschaut, Lillia. Sie sehen wirklich sehr, sehr gut aus. Es könnte gut sein, dass du als Zweitbeste abschneidest und beim Abschlussfest die Begrüßungsrede halten wirst.«

Erleichterung durchströmt mich. »Wow. Klasse. Das wird meinen Vater sehr freuen.«

Mr Randolph schlägt einen Ordner mit meinem Namen auf. Ich frage mich, ob er mir wohl verrät, auf welchem Notenplatz ich momentan stehe. Stattdessen sagt er: »Aber mir ist aufgefallen, dass du immer noch keine Schwimmprüfung abgelegt hast.«

»Oh.« Seit die Jar Island High eine eigene Schwimmhalle besitzt, müssen alle Schüler eine Schwimmprüfung machen. Das gehört zu den Voraussetzungen für einen Schulabschluss.

»Oder ist das ein Schreibfehler?«

Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. »Nein. Ich habe die Prüfung noch nicht gemacht.«

Tadelnd schüttelt er den Kopf. »Du weißt aber schon, dass das Bestehen der Schwimmprüfung für das Abschlusszeugnis nötig ist?«

»Es sei denn, ich habe ein Attest, oder?«

Überrascht sieht er mich an. Überrascht und enttäuscht. »Richtig. Es sei denn, du hättest ein Attest.« Er klappt den Ordner wieder zu. »Willst du nicht schwimmen lernen, Lillia?«

»Ich kann so gut schwimmen, dass ich nicht ertrinke, Mr Randolph«, versichere ich ihm. »Aber dieses Bahnenschwimmen ist nicht so mein Ding.«

Er schaut mich an, als hätte ich etwas völlig Lächerliches gesagt. »Schwimmen zählt zu den grundlegendsten Alltagsfertigkeiten, Lillia, vor allem für ein Mädchen, das auf einer Insel lebt. Es könnte dir eines Tages das Leben retten. Oder das von jemand anderem. Versprich mir, dass du zumindest mal darüber nachdenkst.«

Ich werde darüber nachdenken. Vor allem werde ich daran denken, meinen Dad zu bitten, mir ein Attest zu schreiben. Und wenn er es nicht tut, kann mir bestimmt Kat eins auf seinem Briefpapier fälschen.

Auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer komme ich am Schwarzen Brett vorbei, wo gerade ein Schüler Papierkürbisse um den Oktober-Kalender herum festpinnt. Es ist noch keine sechs Wochen her, dass Kat, Mary und ich uns zufällig im Mädchenklo begegnet sind. Keine Ahnung, ob es Glück war oder vielleicht sogar Schicksal, das uns zusammengeführt hat. Was es auch war – ich bin sehr froh darüber.

In der Mittagspause sitzen wir an unserem gewohnten Tisch, und ständig kommen Leute vorbei und wollen Reeves Gips signieren. Der alte Reeve, den ich kenne, hätte die ganze Aufmerksamkeit begierig aufgesogen; er hätte jede Sekunde genossen. Aber bei dem neuen Reeve ist das ganz anders. Dem ist das alles total schnuppe. Er sitzt nur da und unterhält sich mit Rennie über seinen Therapieplan. Sie kauern auf der anderen Seite des Tischs und stecken die Köpfe zusammen, sein Gips in ihrem Schoß.

»Solange ich den Gipsverband tragen muss, konzentriere ich mich ausschließlich auf meinen Oberkörper. Brust, Bizeps, Trizeps, Rücken, Rumpf- und Tiefenmuskulatur. In drei, vielleicht vier Wochen kriege ich die Orthese. Und dann, zack!, geht’s los mit Hydrotherapie.«

Gebannt schaue ich zu, wie er zwei gedämpfte Hühnerbrüste hinunterschlingt und dazu einen riesigen Plastikbeutel klein geschnittener Karotten und Spinat. Er saugt das Essen förmlich in sich hinein, als wäre er ein Staubsauger.

»Ich hab dir einen AquaJogger bestellt«, sagt Rennie. »Er müsste Ende der Woche kommen.«

Alex lehnt sich immer wieder zu ihnen rüber und versucht, Reeve zu überzeugen, bei dem Footballspiel am Freitag dabei zu sein, aber Reeve, der Egoist, will natürlich nicht. Alex sagt: »Komm schon, Reeve. Das wäre echt gut für die Moral. Die Jungs haben alle Riesenangst, weil Lee Freddington Quarterback ist.«

»Ja, weil Freddington ums Verrecken keinen Ball werfen kann«, sagt Derek, den Mund voll Pizza.

Das stimmt. Letzten Freitag spielten wir zum ersten Mal ohne Reeve, und es war die totale Katastrophe. Wir haben haushoch gegen ein Team verloren, das Vorletzter der Liga ist.

PJ mischt sich ein: »Mann, wir vermissen dich. Und vielleicht kannst du Freddington ja ’n paar Tipps geben oder so.«

»Genau«, sagt Alex. »Du musst auch kein Trikot anziehen. Nur an der Seitenlinie sitzen. Das würde uns schon total helfen.«

Reeve kippt seinen Proteindrink runter, wischt sich den Mund ab und sagt: »Da müsst ihr jetzt alleine durch. Ich kann euch nicht mehr mitziehen. Mein Bein ist jetzt wichtiger. Wenn ich den Scheiß jetzt nicht auf die Reihe kriege, kann ich nächsten Herbst nicht spielen.«

»Du bist immer noch unser Mannschaftskapitän«, erinnert Alex ihn.

»Ich muss mich darauf konzentrieren, dass mein Bein wieder in Ordnung kommt«, sagt Reeve. »Ich liege um neun im Bett und stehe um halb sechs wieder auf und trainiere. Glaubst du, da habe ich Zeit für ein Footballspiel?«

»Du kannst es dir ja noch überlegen«, meint Alex. »Du musst es nicht heute entscheiden. Schau einfach, wie’s dir am Freitag geht.« Ich bekomme richtig Bauchschmerzen, weil Alex Reeves miese Laune so geduldig erträgt. An seiner Stelle hätte ich längst genug gehabt.

Mit einem bedauernden Kopfschütteln sagt Derek: »Scheiße, Mann. Nicht zu fassen, dass dir das passiert ist. Ich hatte mich schon so auf deine Touchdowns nächsten Herbst im Sportkanal gefreut.«

Reeve stopft sich eine Gabel voll Salat in den Mund. Heftig kauend sagt er: »Ich komme trotzdem ins Sportfernsehen. Du brauchst mich noch nicht abzuschreiben.«

»Genau, Derek«, sagt Rennie und sieht ihn böse an. »Von jetzt an bitte keine so negativen Sprüche mehr. Wir denken nur noch positiv.«

Reeve hievt sich von seinem Stuhl hoch und auf seine Krücken.

»Wo gehst du hin?«, fragt Rennie.

»Klo.«

Er humpelt davon, und Rennie schaut ihm wie ein Habicht hinterher, bereit, sofort aufzuspringen, wenn er sie braucht. Sobald er weg ist, schaut sie sich um, ob auch niemand zuhört, und sagt dann zu Ash: »Er ist so stark. Neulich hat er fast in meinen Armen geweint, als er erfahren hat, dass Alabama vom Tisch ist. Dabei hat er fest geglaubt, dass er dahin gehen kann, wenn er nichts Besseres bekommt. Und da stand er und hat die Trainer angefleht, ihn für die erste Saison wenigstens probehalber am Training teilnehmen zu lassen.« Sie schließt die Augen und reibt sich die Schläfen. »Diese Deppen glauben nicht, dass er seine alte Form wiederfindet. Aber er wird denen schon zeigen, wie falsch sie damit liegen.« Rennie trinkt einen Schluck von ihrem Getränk. »Klar landet er vielleicht nicht in einer Erstliga-Uni, aber jedes Zweit- oder Drittliga-College könnte sich glücklich schätzen, ihn zu bekommen.«

»Hast du wieder bei ihm übernachtet?«, flüstert Ash.

Wieder? Übernachten sie jetzt etwa zusammen? Ms Stoltz würde Rennie ja jederzeit bei einem Jungen übernachten lassen, aber Reeves Eltern kamen mir immer eher konservativ vor. Sie gehen jeden Sonntag in die Kirche, und Reeve sagt zu seinem Vater immer »Sir«.

Rennie fährt sich mit den Händen durch die Haare und sagt: »Ich bin eigentlich so ziemlich das Einzige, was ihn gerade noch aufrecht hält.«

»Habt ihr endlich darüber geredet, ob ihr eine LB habt?«, fragt Ash.

»Was heißt denn LB jetzt schon wieder?«, überlege ich laut.

»Liebesbeziehung«, sagt Rennie und verdreht die Augen, als wäre ich bescheuert, weil ich so was nicht weiß. Aber sie sieht mich dabei nicht an. »Und nein, haben wir nicht. Noch nicht. Im Moment ist bei ihm zu viel los. Ich will einfach nur für ihn da sein. Mehr braucht er gerade nicht.« Rennie steht auf und nimmt ihre Sachen. »Ich seh mal nach ihm.« Sie beugt sich vor und gibt Ashlin einen kurzen Kuss auf die Wange. »Ciao, Ash. Ciao, PJ, ciao, Derek.«

Ohne mich auch nur anzusehen, geht sie weg. Keinem scheint aufzufallen, dass Rennie sich von allen verabschiedet hat, nur von mir nicht.

Das geht schon seit dem Schulball so, und jeden Tag wird es schlimmer. Rennie ist eindeutig sauer auf mich. Und zwar so richtig.

Sobald sie aus der Tür ist, frage ich Ash: »Hat Rennie was zu dir gesagt? Über mich?«

Ashlin rutscht auf ihrem Stuhl herum und meidet meinen Blick. »Wie meinst du das?«

»Seit dem Schulball ist sie total ätzend zu mir. Ist das, weil ich Ballkönigin wurde und nicht sie?« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Ich würde ihr die Krone sofort geben, wenn sie so scharf darauf ist.«

Endlich schaut Ash mich an. »Das ist es nicht, Lil. Sie ist sauer, weil du Reeve auf der Bühne geküsst hast.«

Mein Mund klappt auf. »Ich habe ihn nicht geküsst! Er hat mich geküsst!«

»Aber du hast ihn gelassen. Vor allen Leuten.«

Am liebsten würde ich weinen. »Ash, das wollte ich nicht! Er hat mich praktisch gezwungen. Du weißt doch, dass ich ihn gar nicht leiden kann. Und … warum ist sie dann auf mich sauer und nicht auf Reeve?«

Ash sieht mich mitleidig an und zuckt mit den Schultern. »Er ist nun mal ihre große Liebe. Er ist ihr Reevie. Sie würde ihm alles verzeihen.«

»Das ist so unfair«, flüstere ich.

»Sag ihr doch, dass es dir leidtut«, schlägt Ashlin vor. »Sag ihr, dass du keine solchen Gefühle für ihn hast.«

Ich kippele auf meinem Stuhl hin und her und überlege. Das könnte helfen, aber irgendwie glaube ich das nicht. »Das ist es ja«, sage ich. »Ich finde, das sollte eigentlich gar nicht nötig sein.«

03 MARY  Es ist Freitag, und ich verlasse die Schule. Unterwegs höre ich Kat auf dem Parkplatz kreischen. Es ist ein gespielter Schrei, nicht aus Angst oder so. Ich schaue mich um und entdecke sie ein paar Meter entfernt, wie sie mit einer Zigarette im Mund versucht, einem Kerl das Hemd auszuziehen.

Der Kerl kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich sehe ihn immer ziellos durch die Schule laufen. Ich glaube nicht, dass er überhaupt zum Unterricht geht. Und wenn, dann sind seine Lehrer ganz schön großzügig, was Fehlzeiten angeht.

Kat springt so flink und schnell um ihn herum, dass sie jederzeit der Ringermannschaft unserer Schule beitreten könnte. Sie steht keine Sekunde still, hüpft auf den Zehenspitzen und dreht sich hin und her, während sie dem Jungen das Hemd über den Kopf zerrt. Wetten, das hat sie von ihrem Bruder Pat gelernt?

Der Typ taumelt, außerdem scheint er nicht zu wissen, wie er sich gegen ein Mädchen wehren soll. Das nutzt Kat gnadenlos aus. Sie lässt nicht nach und zieht und zerrt und lenkt ihn ab, indem sie ihn in die Rippen piekt oder ihm das Haargummi aus dem schulterlangen Pferdeschwanz zieht, bis sie fast das ganze Hemd in den Händen hat. Nicht lange, und er hält nur noch ein winziges Stück Ärmel zwischen den Fingern.

Kat stemmt die Füße in den Boden wie beim Tauziehen. Sie warnt ihn: »Wenn du nicht loslässt, reißt es bestimmt, Dan.«

»Schon gut, schon gut«, gibt der Typ – Dan – endlich nach.

Unter Triumphgeheul wirbelt Kat im Kreis herum und schleudert das Hemd dabei wie ein Lasso über dem Kopf. »Das sollte dir eine Lehre sein, Dan. Wenn ich was will, kriege ich es auch. Basta.« Dans Gesicht läuft rot an. Ich muss laut lachen, weil sie so verrückt ist.

Das hört sie offenbar, denn sie sieht sofort zu mir rüber und nickt mir fast unmerklich zu. Ich lächele und will schon auf mein Rad steigen und wegfahren, da überrascht sie mich.

Sie hält die Hand hoch und bedeutet mir so, ich solle auf sie warten.

Das geht so schnell, dass ich fast meine, ich hätte es mir eingebildet. Das haben wir noch nie gemacht. In der Öffentlichkeit gezeigt, dass wir uns kennen. Aber jetzt, wo unser Racheplan vorbei ist, geht das wohl. Trotzdem ziehe ich das Buch raus, das ich für Englisch lesen muss, und blättere darin, damit es nicht so aussieht, als würde ich auf sie warten. Ich beobachte, wie sie ihre Zigarette austritt.

»Jetzt komm, Kat. Gib’s mir wieder.«

Kat zieht es über ihr Sweatshirt. »Ich will es aber tragen. Montag geb ich’s dir wieder, versprochen. Dann riecht es auch nach mir.«

Er tut so, als wäre er sauer, aber ich merke, dass er sie mag, weil er so schnell nachgibt. »Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nee. Ich laufe lieber. Aber kann ich noch ’ne Kippe von dir schnorren?« Sie wartet nicht, bis er eine Zigarette aus der Packung fummelt, sondern zieht sich einfach selbst eine raus und steckt sie sich hinters Ohr.

Dann geht sie zu den Fahrradständern.

Ich stecke mein Buch weg, laufe langsam los, mein Rad schiebend, und warte, bis sie mich einholt. Vermutlich sollten wir trotzdem noch vorsichtig sein.

»Alles klar, Mary?«, fragt sie, als sie fast bei mir ist.

»Ja«, sage ich seufzend. »So einigermaßen.«

»Hast du Reeve die Woche mal gesehen?«

»Nicht wirklich.« Ich stecke mir die Haare hinter die Ohren und halte den Blick auf den Boden gerichtet. »Hey. Ähm, ich habe zufällig ein paar Leute sagen hören, er wird wegen der Verletzung vielleicht seine ganzen Football-Stipendien verlieren.« Meine Lippen zittern, sobald die Worte draußen sind. »Stimmt das?«

Kat zuckt mit den Schultern. »Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht, weißt du? Schließlich hat er ja sein Bein nicht verloren. Nur gebrochen. Und es ist nicht mal ein schlimmer Bruch. Mein Bruder hat sich auch mal das Wadenbein gebrochen, bei einem Endurorennen. Und jetzt ist sein linkes Bein einen Zentimeter kürzer als das rechte.« Ihre Stimme klingt merkwürdig ernst. Ihre Augen ruhen auf mir, als ob sie darauf wartet, dass ich zusammenbreche. Ich hebe das Kinn und zwinge mich zu lächeln, obwohl ich Tränen in den Augen habe.

Dann schaut Kat weg. Sie macht ein paar Schritte zur Seite und rupft ein paar gelbe Blätter von einem Zweig. »Es wird alles wieder gut werden. Glaub mir. Reeve wird schon was einfallen. Das ist bei dem doch immer so.«

Ich nicke. Ja, klar. Was soll ich auch sonst sagen? Mir wird bestimmt auch was einfallen. Immerhin habe ich die Woche überstanden. Das ist ja schon mal was.

Ich beschließe, dass es besser ist, das Thema zu wechseln. »Wer war eigentlich der Typ, mit dem du geredet hast?«, frage ich. »Magst du ihn?«

»Oh bitte. Dan?« Kat verdreht die Augen. »Ich hab gerade echt keinen Nerv auf Jungs. Schließlich bin ich höchstens noch sieben Monate hier auf der Insel. Das ist nur gegen die Langeweile.«

Wenn es nur so einfach wäre. Ich meine, einen Jungen zu finden, den ich mag und der mich auch mag. Kat hat so viel Erfahrung mit Jungs, und ich habe noch nicht mal einen geküsst. Vermutlich, weil ich mich tief im Innern die ganze Zeit immer nur nach Reeve sehnte und hoffte, er würde mich endlich für seiner würdig erachten.

Typisch Mary. Da denke ich schon wieder an Reeve, obwohl ich die ganze Zeit versuche, es nicht zu tun. Das ist wie eine Krankheit.

»Was machst du heute Abend, Mary?« Ehe ich antworten kann, sagt Kat: »Ich fahre nämlich rüber aufs Festland zu einem Konzert im Plattenladen meiner Freundin. Da spielt eine Deathcore-Band, sie heißen Day of the Dogs und machen ständig so ein Frage-Antwort-Spiel mit dem Publikum, wo man sich die Lungen aus dem Leib schreien muss. Und ich weiß, dass du ziemlich krasse Stimmbänder hast.« Sie sagt das, als wäre es ein Witz, eine Anspielung darauf, wie ich beim Schulball geschrien habe, aber keine von uns beiden lacht. »Komm doch mit. Das würde dir guttun. Den ganzen Müll, der sich in dir angestaut hat, mal rauszulassen.«

Ich habe keine Ahnung, was Deathcore ist, und es ist nett, dass sie mich einlädt, aber mir ist gerade eher danach, alles etwas ruhiger angehen zu lassen. »Ich muss noch total viele Hausaufgaben nachholen. In der nächsten Zeit werde ich es sicher nicht schaffen, abends wegzugehen.«

Kat schaut mich an, und ich spüre, wie sie zwei und zwei zusammenzählt. Sie dreht sich vom Wind weg und versucht, ihre Zigarette anzuzünden. »Okay, Mary. Ich weiß, seit dem Schulball geht’s dir ziemlich mies. Es ist alles nicht so gelaufen, wie wir wollten, und das ist echt blöd. Als meine Mutter gestorben ist, habe ich mich auch sechs Monate lang geweigert zu sprechen.« Sie saugt an ihrer Zigarette und schaut sich dann das Ende an, um zu sehen, ob sie auch brennt. »Das mit meiner Mom weißt du, oder?«

Ich nicke. Ich glaube, Lillia hat es irgendwann erwähnt. Krebs. Aber Kat hat noch nie von ihr erzählt. Und ein kleiner Teil in mir freut sich darüber, dass sie es jetzt tut. Dass sie bereit ist, mir etwas so Persönliches anzuvertrauen.

»Ja, dachte ich mir, aber ich wollte nur sichergehen.« Sie zieht lange und ausgiebig an ihrer Zigarette und stößt den Rauch wieder aus. »Also, jedenfalls war das keine besonders gesunde Art, damit umzugehen. Ich meine, indem ich einfach so verstummt bin. Das tat mir nicht gut. Man kann nicht ewig traurig sein, weißt du? Es hat meine Mom nicht zurückgebracht, so viel steht fest. Und irgendwann muss man weitermachen mit dem Leben.«

Ich bleibe stehen. »Und wie soll ich weitermachen?«

Sie klemmt die Zigarette zwischen die Lippen und schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Du solltest … also, ich weiß nicht. Vielleicht an irgendwelchen AGs teilnehmen oder so. Dich mehr an so Schulkram beteiligen. Die Zeit nutzen, bis die Schule fertig ist.«

»Was für AGs meinst du?«

Sie verzieht das Gesicht. »Keine Ahnung! AGs sind nicht so mein Ding. Wofür du dich eben interessierst. Du musst ein bisschen mehr unter Leute kommen. Neue Freunde finden. Dich auf Dinge konzentrieren, die dich glücklich machen. Ich will ja nicht hochnäsig klingen, aber du solltest unbedingt mehr Kontakte finden, weil du noch ein ganzes Jahr hier sein musst, bis du mit der Schule fertig bist.« So, wie sie das sagt, klingt alles ganz einfach. Vielleicht ist es das ja auch. »Du hast recht, ich weiß«, sage ich. »Es ist nur so … schwer.«

»Das muss es aber nicht sein.« Kat lehnt sich an einen Baum. »Fang einfach mal an. Du musst nur aufpassen, dass dir deine Gefühle nicht in die Quere kommen.« Sie klopft sich auf die Brust. »Ich denke fast nie über meine Gefühle nach. Und weißt du, warum? Weil ich niemals aus dem Bett kommen würde, wenn ich die ganze Zeit nur dasitzen und über all das Miese, das passiert ist, heulen würde.« Ihre Augen finden meine und sehen mich ernst an. »Ich schwöre dir, es wird besser. Aber erst mal musst du da durch.«

Ich ziehe den Mantel enger um mich. Kat hat recht, das weiß ich. Ich sollte mich nicht so im Selbstmitleid suhlen. Nachdem ich mich wegen Reeve umbringen wollte, habe ich ein ganzes Jahr meines Lebens verloren. Das darf nicht noch mal passieren.

»Danke«, sage ich und meine es auch so, aus tiefstem Herzen. Einen großen Unterschied zu damals gibt es nämlich: Heute habe ich Freundinnen, die sich um mich kümmern.

Ich sitze an den Hausaufgaben, bis ich den Anblick meiner Schulbücher nicht mehr ertrage, dann mache ich einen Spaziergang runter zur Hauptstraße. Eine Fähre legt am Kai an, und das erste Fahrzeug, das von Bord fährt, ist ein Schulbus voller Footballspieler. Die Fenster sind mit verschiedenen Zahlen und dummen Sprüchen wie Schießt die Möwen ab bemalt.

Ach herrje.

Damit sind bestimmt die Gulls gemeint, die Footballmannschaft unserer Schule. Offenbar ist heute Abend ein Footballspiel.

Ich gehe rüber zum Spielfeld. Ich will nicht lange bleiben, aber es ist kein Problem, einen Platz auf der Tribüne zu bekommen. Es sind nicht mal halb so viele Zuschauer da wie beim Homecoming-Wochenende. So ist das eben, wenn der beste Spieler fehlt. Das erste Spiel nach dem Schulball und Reeves Verletzung haben wir verloren. Haushoch. Unser Ersatz-Quarterback Lee Freddington hat keinen einzigen Pass gespielt, der angekommen ist.

Eine Gruppe Cheerleader drängt sich zusammen und übt ihren »De-fense! De-fense! De-fense!«-Schlachtruf. Nachdem unser Team jetzt keine nennenswerte Offense mehr hat, werden wir diesen Gesang wohl öfter hören. Die übrigen Cheerleader tummeln sich lässig an den Seitenlinien, als wäre das ein Training und kein Spiel. Rennie sitzt im Schneidersitz im Gras und schaut auf ihr Handy. Lillia und Ashlin stehen bei der Spielerbank und unterhalten sich. Lillia sieht mich und strahlt. Ich lächele zurück.

Der Sprecher begrüßt die beiden Teams, dann reihen sich unsere Cheerleader auf und marschieren rüber zum Spielfeldeingang, um unser Team zu begrüßen, das nun aufs Feld kommt. Ich beobachte, wie sich Teresa Cruz durch die Gruppe nach vorne schiebt. Weil sie Lee Freddington zugeteilt ist, verdient sie jetzt wohl einen Platz weiter vorne.

Rennie sieht es auch und stellt sich direkt vor Teresa.

Reeve kommt als Erster aus der Sporthalle. Er trägt Trikot und Trainingshosen, genau wie in der Schule heute. Bei seinem Anblick stehen alle auf der Tribüne auf und jubeln ihm zu. Allerdings klingt es nicht so euphorisch wie zu Beginn der Saison. Der Applaus ist eher gedämpft. Respektvoll. Eine höfliche Geste.

Reeve versucht, so schnell wie möglich voranzukommen, aber der Boden ist noch weich von dem vielen Regen diese Woche, und seine Krücken bohren sich in den Rasen. Je schneller er gehen will, desto tiefer sinkt er ein, und das macht ihn noch langsamer.

Die anderen Spieler stürmen aus der Umkleide. Sie versuchen, hinter Reeve zu bleiben und ihn immer noch ihren Anführer sein zu lassen, aber Reeve ist so langsam, dass sich irgendwann alle hinter ihm stauen.

Da trabt Lee Freddington neben den anderen nach vorne, läuft einfach an Reeve vorbei, als wäre er gar nicht da, und übernimmt die Führung. Es ist, als hätte er damit allen anderen die Erlaubnis gegeben, denn jetzt rennen auch die übrigen Spieler los. Schließlich ist Reeve der Letzte der ganzen Meute, zusammen mit Alex, PJ, dem Coach und den Wasserjungs, die die Kühltaschen schleppen. Es ist deutlich zu sehen, wie sehr ihn das frustriert. Irgendwann bleibt der Zeh seines Gipsbeins im Rasen hängen, und Klumpen aus Erde und Gras dringen in die Lücke zwischen Zeh und Gips. Sein Gesicht läuft knallrot an, als würde er gleich überkochen.

Ich höre auf zu klatschen und setze mich auf meine Hände. Das ist albern. Ich weiß, es macht mich nur schwach. Es ist nur … Reeve war so gar nicht darauf vorbereitet. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll, dass er jetzt am Rand steht. Er ist so daran gewöhnt, immer der Mittelpunkt von allem zu sein, dass es fast wehtut, ihn so zu sehen. Es ist, als wären der Mond und die Sterne auf einmal vom Himmel verbannt worden und müssten nun als Sterbliche auf der Erde wandeln, so wie wir anderen auch.

Ich wollte, dass Reeve richtig Ärger kriegt, dass er verliert, was ihn so selbstsicher und allen anderen so überlegen macht. Und tief in mir drin weiß ich, dass er das auch verdient hat. Aber ein Teil von mir wünscht sich, es hätte niemals so weit kommen müssen. Dass wir ihn nicht hätten so fertig machen müssen, damit er seine Lektion lernt.

Im ersten Viertel des Spiels spielen wir so schlecht wie erwartet. Zu Beginn des zweiten Viertels erobert sich Lee Freddington dann den Ball zurück. Bei seiner ersten Möglichkeit, einen Pass zu spielen, wird er fast von der anderen Mannschaft getackelt. Unser Trainer nimmt ein Time-out und brüllt die Verteidiger an.

Ich beobachte, wie Reeve an der Seitenlinie zu Lee Freddington humpelt und ihm Ratschläge gibt. Das macht er schon das ganze Spiel über. Aber Lee schaut ihn kaum an. Er sieht ihm nicht mal richtig in die Augen. Und das nicht aus Verlegenheit. Sondern weil er denkt, er braucht keine Hilfe.

Kurz vor Ende des Time-out geht Lee Freddington zu Alex Lind, legt ihm den Arm um die Schulter und flüstert ihm was ins Ohr. Reeve schaut ihnen mit steinerner Miene zu.

Eine Sekunde später rennt unsere Mannschaft zurück aufs Spielfeld. Lee führt den Haufen an, und nach dem Snap tut er erst so, als wolle er volle Pulle losrennen. Weiter hinten im Spielfeld läuft Alex Lind währenddessen einem gegnerischen Spieler davon. Und da wirft Lee den Ball in einer engen Kurve, und er landet direkt in Alex’ Armen in der Endzone.

Touchdown.

Ich stehe auf und gehe, während PJ anschließend das Fieldgoal erzielt und den Extrapunkt macht. Als ich an der Seitenlinie vorbeikomme, reihen sich die Cheerleader auf, um ihre einzelnen Spielercheers für dieses Spiel vorzuführen. Teresa Cruz tritt vor, doch Rennie stürmt zu ihr und hält sie an ihrem Oberteil fest.

»Was machst du da?«

»Lee hat einen Touchdown geworfen. Ich zeige seinen Cheer.«

Rennie sieht sie an, als wäre sie bescheuert. »Alex hat einen Touchdown gefangen. Er ist derjenige, der die Punkte geholt hat.«

Teresa schnaubt. »Aber wir machen doch immer den Cheer für den Quarterback, wenn …«

»Reeve ist unser Quarterback. Lee ist nur der Hampelmann aus der zweiten Reihe.«

Rennie tritt vor und brüllt Reeves Cheer so laut, dass er ganz klein wird auf der Bank.

Rennie denkt, sie weiß, was Reeve braucht, dabei hat sie keine Ahnung. Er hat keine Lust, von allen angestarrt zu werden. Nicht mehr. Er will jetzt nur noch seine Ruhe.

Ich gehe nach Hause. Und nehme mir vor, genau das auch zu tun. Ich werde Reeve in Ruhe lassen. Und noch mehr. Ich werde mein Gehirn so neu verdrahten, dass ich nicht mehr an ihn denke und nichts mehr für ihn empfinde. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Zu Hause treffe ich Tante Bette im Wohnzimmer. Sie sitzt im Dunkeln auf dem Boden, und überall um sie herum brennen Kerzen. Wachs tropft auf den Holzfußboden. Mein Dad würde ausflippen, wenn er das sehen könnte. Er sagt immer, die Dielen wären für ihn das Schönste an unserem Haus. Sie sind aus Zedernholz und haben eine wunderschöne rotblonde Farbe.

»Bin wieder da«, sage ich und gehe hinein.

Tante Bette erschrickt. Beim Näherkommen sehe ich, dass sie ein Stück Leinenstoff vor sich ausgebreitet hat. Es ist mit verschiedenen Häufchen aus getrockneten Blättern und Kräutern bedeckt, aus denen sie kleine Bündel macht, die sie mit Zwirn zusammenbindet.

Sie knotet eines zusammen und sagt dann: »Ich wusste nicht, dass du weg warst.« Es klingt verärgert, als hätte ich sie bei etwas Wichtigem gestört.

»Ich bin eine Runde spazieren gegangen.« Und dann füge ich hinzu: »Entschuldige«, obwohl da nichts ist, für das ich mich entschuldigen müsste. Ich zeige auf die Bündel und frage: »Was ist das?«

Tante Bette nimmt ein Zweiglein in die Hand und zerreibt ein Blatt zwischen ihren Fingern. »Alte Kräuter.« Sieht aus wie Rosmarin. Oder vielleicht Thymian? Ich weiß es nicht.

»Oh-kay«, sage ich. »Also dann, gute Nacht.«

Am Fuß der Treppe entdecke ich eine Teetasse am Boden. In ihr liegt eines der Bündel und glimmt. Eine dünne Rauchspirale steigt zur Flurdecke auf.

Was soll das denn bedeuten?

Mein Kopf fängt an zu pochen.

Hustend rufe ich: »Ähm, Tante Bette? Ist es nicht gefährlich, dieses qualmende Zeug hier im Flur stehen zu lassen?« Ich habe Angst, wie ein blöder Spießer zu klingen, aber ehrlich. Irgendwie geht mir das an die Nerven. Und schlecht ist mir auch davon.

Tante Bette antwortet nicht. Egal. Ich gehe um die Tasse herum und passe auf, den Rauch nicht einzuatmen, und flüchte in mein Zimmer.

04 KAT  Nach meinem Gespräch mit Mary gehe ich nach Hause, schiebe für Dad ein Essen in die Mikrowelle und verdrücke eine Schüssel Müsli. Dann mache ich mich auf zur Fähre. Die Sonne ist untergegangen, der Wind eiskalt. Ich ziehe den Reißverschluss von meinem Sweatshirt hoch und stülpe mir die Kapuze über den Kopf. Eigentlich hätte ich schon vor Wochen anfangen sollen, eine Jacke zu tragen, aber ich hasse die von letztem Jahr. Es ist so eine Kapitänsjacke, dunkelgrau, ein echtes Marineteil. Ich habe sie in einem Second-Hand-Laden gefunden, aber sie war nicht gefüttert, und die Wolle hat schrecklich gekratzt. Wenn ich rechtzeitig auf dem Festland bin, kann ich nachher vielleicht noch beim Second Hand vorbeigehen und nach was anderem suchen.