Aura 3: Aura – Der Fluch - Clara Benedict - E-Book

Aura 3: Aura – Der Fluch E-Book

Clara Benedict

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Romantasy über die Macht der Gedanken – für Mädchen ab 13 Jahren.

Enttarnt! Die Akademie weiß, wer Hannah wirklich ist. Was bleibt, ist die Flucht vor Dr. Levander und seinen Handlangern. Während Hannah und ihre Freunde einen riskanten Plan schmieden, um den bösen Machenschaften endlich ein Ende zu setzen, kommen sich Hannah und Valentin näher. Dabei gehört ihr Herz doch Raphael, oder? Mitten in diesem Gefühlschaos muss sich Hannah eingestehen, dass die dunkle Seite ihrer Gabe mehr als gefährlich ist. Nicht nur für sie selbst, sondern für alle, die sie liebt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Enttarnt! Die Akademie weiß, wer Hannah wirklich ist. Was bleibt, ist die Flucht vor Dr.

Die Autorin

© Bea Rietz

Clara Benedict, Jahrgang 1981, ist Deutsch- und Musiklehrerin und Sängerin in einer Rockband. Sie lebt mit einem Mann, zwei Katern, drei Kindern und zwölf Musikinstrumenten an der Weinstraße und hat ständig zu viele Pläne und zu wenig Zeit. Wenn sie nicht als Revuegirl oder Nashorn auf der Bühne steht oder sich für irgendein anderes verrücktes Projekt ködern lässt, spielt sie Videogames, geht geocachen und gibt unfassbare Summen für Bücher und Chucks aus.

Mehr über Clara Benedict: www.clara-benedict.com

Clara Benedict auf Facebook: https://www.facebook.com/clara.autorin

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren auf: www.thienemann.de

Thienemann auf Facebook: www.facebook.com/thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Für Darian Raphael

1 erwacht

Als Erstes kehren die Geräusche zurück. Das leise Ächzen des Holzes, das Rauschen der Blätter, das Zwitschern der Vögel. Anschließend die Gerüche. Das herbe Aroma feuchter Tannennadeln vermischt mit dem Duft frischer Erde. Der würzige Nachhall eines Lagerfeuers.

Mein Kopf schmerzt, als wäre ich in vollem Tempo an eine Steinmauer geprallt. Außerdem ist mir kalt. So kalt, dass ich nur mit Mühe ein Zähneklappern unterdrücken kann.

Abrupt öffne ich die Augen und schaue auf eine dunkle Oberfläche. Bevor ich meinen Blick scharf stellen kann, steigt Übelkeit in mir auf, sodass ich schnell die Lider senke.

Wo bin ich? Was ist passiert?

Zögerlich rufe ich mir die letzten Stunden ins Gedächtnis und zucke zusammen, als der Ansturm der Erinnerungen schonungslos über mich hereinbricht. Mein Magen verkrampft sich, und erneut muss ich höchste Konzentration aufbringen, um mich nicht zu übergeben.

Unsere gemeinsame Nacht. Der Verlust der Flagge. Der Streit mit Lea. Ihr unbedachtes Weglaufen. Die anschließende Suchaktion. Ich atme tief durch. Raphael bewusstlos am Feuer. Raphael unter Wahrheitszwang, gegen den ich nicht das Geringste unternehmen konnte. Ravin, der mich mühelos kontrollierte. Der sich als natürlicher Former all die Jahre an der Akademie versteckt hielt. Er führte seine Fokussierung so meisterhaft aus, dass ich nicht einmal auf die Idee kam, mich zur Wehr zu setzen. Raphaels Versuche, mich aus der Manipulation zu befreien. Sein Streitgespräch mit Ravin, bei dem er versuchte, mich zu retten. Grenzenlose Angst. Alles verschlingende Wut. Die Erinnerung an eine nie stattgefundene Vergewaltigung. Wie konnte ich das glauben? Raphael leblos am Boden. Das unvorstellbare Entsetzen, das mich in die Realität zurückholte. Dem es gelang, mich für einige Sekunden aus Ravins Kontrolle zu reißen. Die doppelte Fokussierung. Ravins Verjüngung. Der letzte, verzweifelte Versuch, Raphaels Leben zu retten, das ich zuvor ausgelöscht hatte.

Meine Kehle wird eng, und ich dränge die aufsteigenden Tränen zurück. Ich muss wissen, was mit Raphael geschehen ist. Ich brauche Klarheit. Vorsichtig öffne ich die Augen und stöhne, als eine gesamte Steinlawine von meinem Herzen fällt. Raphael. Seine Anwesenheit erfüllt mich mit heftiger Dankbarkeit. Er lebt. Ich habe ihn nicht umgebracht. Zumindest nicht dauerhaft.

Überwältigt von den Empfindungen, die er in mir auslöst, betrachte ich sein Gesicht. Neben intensiver Zuneigung erkenne ich vor allem Erleichterung, aber auch tief empfundene Sorge. Für einen Moment versinke ich in seinem stahlblauen Blick. Das Gefühlschaos in meinem Innern ist so groß, dass es mich für einige Sekunden sogar von meinem desolaten Zustand ablenkt.

»Hannah«, flüstert er rau und atmet tief durch. »Dem Himmel sei Dank.«

»Hey«, krächze ich dumpf und lasse mich angestrengt zurücksinken. Die minimale Bewegung schickt einen erneuten Brechreiz durch meine Eingeweide. Magensäure steigt mir in die Speiseröhre, und ich schlucke widerstrebend.

»Was ist geschehen?«, würge ich hervor, während ich unter halb geschlossenen Lidern die Umgebung prüfe. Ich liege an der erkalteten Feuerstelle in der Mitte unseres Lagers, den Kopf in Raphaels Schoß gebettet.

»Du warst etwa zwei Stunden bewusstlos«, entgegnet dieser sanft. »Dorian und Norwin haben uns durch den halben Wald geschleppt.«

Liebevoll streicht er mir eine meiner kurzen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Sie ist wach«, ruft er gedämpft jemandem außerhalb meines Sichtfeldes zu. Unter Aufbietung sämtlicher Kraft kämpfe ich mich in eine sitzende Position hoch. Das Hämmern in meinem Kopf steigert sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Mein Magen krampft sich zusammen, doch ich versuche, der Qual nicht nachzugeben. Erschöpfung, Übelkeit und Schmerz liefern sich einen heftigen Kampf um die Vorherrschaft in meiner Wahrnehmung. Mein Gesichtsfeld verschwimmt. Verzweifelt konzentriere ich mich auf meine Atmung und warte, dass das Inferno in meinem Innern abflaut.

Erst nach einigen Minuten wage ich es, mich umzusehen. Direkt neben Raphael sitzt Dorian und beobachtet mich aufmerksam. Die restlichen Mitglieder unseres Teams sind damit beschäftigt, das Lager abzubauen. Finn und Isabelle legen eine Zeltplane zusammen, während Lea ihren Schlafsack einrollt. Ich bin froh, sie wohlbehalten zu sehen, obwohl sie tut, als wäre ich gar nicht da. Die Stimmung wirkt äußerst angespannt. Keiner spricht, und ständig treffen mich finstere Seitenblicke. Norwin läuft mit mehreren Zeltstangen auf den Armen vorbei und lächelt mir aufmunternd zu.

»Wieso benehmen sich die anderen so merkwürdig?«, frage ich heiser.

»Raph hat das Team eingeweiht. Sie wissen über alles Bescheid«, erwidert Dorian.

»Komplett alles?«, vergewissere ich mich beklommen.

»Elias. Deine Einschleusung an der Akademie. Deine wahre Identität«, zählt Dorian auf. »Der Wahrheitszwang. Ravins und Levanders natürliche Formergabe. Deine natürliche Formergabe.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Das erklärt die ungemütliche Atmosphäre. »Und Raphaels … Unfall?«, erkundige ich mich vorsichtig. Früher oder später müssen wir ohnehin darüber sprechen.

»Haben wir verschwiegen. Lediglich Dorian und Norwin wissen Bescheid«, antwortet Raphael leise. »Zumal ich selbst nicht weiß, was genau passiert ist und weshalb ich …«

Er verstummt, als er meine gequälte Miene sieht. Die Erinnerung an seinen Tod ist zu frisch, selbst wenn er nicht von Dauer war. Ich schlucke krampfhaft die aufsteigenden Tränen hinunter und wappne mich dafür, das Unvermeidliche auszusprechen.

»Ich habe dich an den Baum geschmettert«, gestehe ich erstickt. »Ich war wütend und fast wahnsinnig vor Angst. Letzte Nacht. Ich dachte, du hättest mich vergewaltigt. Alles wirkte so echt. Ich wollte dich umbringen.«

Raphael streichelt beruhigend über meine Wange. »Ravin hat dich kontrolliert«, erinnert er mich behutsam, woraufhin Schweigen einkehrt.

»Wie hast du mich …«, fängt Raphael zögerlich an.

»Doppelte Fokussierung«, entgegne ich. »Als ich dich leblos am Boden liegen sah, wurde mir klar, was ich getan hatte. Das Entsetzen muss mich für den Bruchteil einer Sekunde aus Ravins Kontrolle befreit haben. Das reichte aus, um einen Heilimpuls zu formulieren, den ich neben Ravins Verjüngungsbefehl aufrechterhalten konnte.«

»Du hast mich gerettet«, stellt Raphael fest.

Ich lache bitter auf. »Wenn du das so ausdrücken willst. Ich vermute eher, dass es das Auftauchen unserer Freunde war, das uns gerettet hat. Richtig?«, wende ich mich an Dorian.

»Als wir nach einer knappen halben Stunde weder von Raphael noch von dir gehört hatten, konnten wir nicht untätig bleiben«, berichtet dieser. »Wir sind sofort Richtung Valentins Gebiet aufgebrochen. Als wir an der Feuerstelle ankamen, sahen wir gleich, dass etwas nicht stimmte. Du und Ravin. Das war extrem unheimlich. Ihr habt euch regungslos gegenübergestanden und einander angestarrt. Mit solcher Konzentration, dass ihr einen Blitzeinschlag neben euch nicht bemerkt hättet. Du warst unnatürlich blass. Dein Atem ging derart flach, dass wir dachten, du würdest jeden Moment umkippen.« Er zieht schaudernd die Schultern hoch. »Wir hatten keine Ahnung, was bei euch läuft. Wir wussten nur, dass wir dich aus diesem hypnoseartigen Zustand befreien mussten. Ich habe Ravin mit dem Knauf meines Messers bewusstlos geschlagen. Im selben Augenblick bist du zusammengeklappt.«

»Und Raphael?«, dränge ich.

»Norwin hat ihn am Rand der Lichtung gefunden. Zwar bewusstlos, aber unverletzt«, erklärt er.

»Unser Leader ist schwerer, als er aussieht«, stichelt Norwin grinsend im Vorbeigehen.

»Und was ist hier los?«, frage ich mit einem zaghaften Nicken auf Finn, Isabelle und Lea, die mich misstrauisch beäugen.

Dorians Miene verdüstert sich. »Wir stecken in verdammt großen Schwierigkeiten«, eröffnet er. »Mittlerweile ist Ravin sicherlich aufgewacht und –«

»Aufgewacht? Ihr habt ihn nicht –«

Ich verstumme, als mir auffällt, wie eiskalt und gefühllos meine Worte klingen. Gleichzeitig meldet sich mein schlechtes Gewissen, eine solche Tat überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Klar, Ravin hätte mich erledigt, ohne mit der Wimper zu zucken, und sein Tod würde zumindest die akute Bedrohung schmälern. Trotzdem sind wir keine Mörder. Keiner von uns.

»Vergiss die Frage«, schiebe ich hinterher. »Sie war blöd und total unnötig. Tut mir leid. Ich hätte es ebenfalls nicht getan.«

»Zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht, dass er ein natürlicher Former ist«, rechtfertigt sich Dorian ungeachtet meiner Entschuldigung. »Wir hatten nur Sekunden, um die Situation einzuschätzen. Du warst in Gefahr, wir haben gehandelt.«

»Und unser Leben gerettet«, ergänze ich. »Ich verstehe, dass ihr Ravin nicht einfach umbringen konntet.«

»Ehrlich gesagt haben wir darüber nachgedacht. Allerdings war weder Norwin noch ich in der Lage, einem Bewusstlosen die Kehle durchzuschneiden. Selbst wenn es sich um Ravin handelt.«

»Ja, natürlich«, bekräftige ich schnell und schiebe den Gedanken, dass Ravins Tod einiges einfacher gemacht hätte, weit weg.

»Könnt ihr mal zum Ende kommen mit eurem Kaffeekränzchen?«, unterbricht Finn, der neben der Feuerstelle die Wasserflaschen einsammelt. »Wir haben dringendere Probleme.«

»Wie fühlst du dich?«, fragt Raphael und ignoriert Finns schlecht getarnten Vorwurf.

Dieser ächzt genervt und widmet sich wieder seiner Aufgabe. Seine Reaktion macht mir klar, dass sich das Gefüge innerhalb des Teams verschoben hat. Eine derart geringschätzige Kritik hätte Raphael heute Morgen nicht geduldet.

»Ganz gut«, lüge ich. In Wirklichkeit habe ich noch immer bohrende Kopfschmerzen, meine Glieder fühlen sich taub an, und mir ist fürchterlich schlecht.

Raphael durchschaut meinen lahmen Versuch sofort und runzelt unmerklich die Stirn. »Eigentlich bräuchtest du Ruhe, um dich zu erholen. Aber wir haben keine Zeit.« Er prüft ungeduldig seine Armbanduhr. »Ravin ist mit Sicherheit schon wach. Wir sollten zusehen, dass wir wegkommen.«

»Er wird verdammt wütend sein«, vermutet Dorian. »Sein größtes Geheimnis wurde aufgedeckt.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Levander von allem erfährt«, wirft Norwin ein und stellt seinen fertig gepackten Rucksack neben dem Feuerplatz ab.

»Wenn er informiert wird, dann wahrscheinlich von Ravin selbst«, überlegt Raphael. »Einzig die Ausbilder wissen, wie sie ihn erreichen können. Wir Leader erhalten seine Kontaktdaten erst, wenn wir mit unserem Team den eigentlichen Außendienst beginnen. Davor läuft die komplette Kommunikation über Umwege ab. Levander will sich nicht mit Belanglosigkeiten aufhalten.«

»Wir wissen nicht, ob Ravin den Kontakt suchen wird. Weshalb sollte er das tun?«, wende ich ein. »Außer ihm weiß kein Ausbilder Bescheid.«

»Keine Ahnung, auf welche Ideen Ravin kommt«, erwidert Norwin. »Nachvollziehbar war sein Verhalten noch nie.«

»Vielleicht weiht er Levander nur teilweise ein. Er könnte verschweigen, dass er selbst auch ein natürlicher Former ist«, ergänzt Dorian düster.

»Valentin und seine Leute sind verschwunden, bevor Ravin seine wahren Beweggründe preisgegeben hat«, fällt mir ein. »Sie könnten glauben, er hätte in Levanders Auftrag gehandelt.«

Dorian reibt sich die Schläfe. »Wir können sie nicht einfach ins offene Messer laufen lassen«, bemerkt er unglücklich.

Norwin starrt ihn entgeistert an. »Ist das dein Ernst? Valentin und seine bescheuerte Mobbing-Gruppe haben die ganze Katastrophe erst ausgelöst. Du denkst wirklich darüber nach, sie zu warnen?«

Dorian weicht seinem Blick aus und senkt den Kopf. »Sie haben keine Ahnung, mit welch brisantem Geheimnis sie zu tun haben …«

»Dorian!«, faucht Norwin verärgert. »Du bist viel zu gutmütig! An seiner Stelle –«

Ich richte mich schlagartig auf, als mir beim Gedanken an Valentin ein bisher nicht erwähnter Aspekt in den Sinn kommt. »Habt ihr das Handy mitgenommen?«

»Wessen Handy?«, hakt Raphael alarmiert nach.

»Bevor der Wahrheitszwang ausgeführt wurde, hat Valentin auf seinem Telefon herumgetippt und es auf einen Baumstamm neben sich gelegt«, erinnere ich mich.

»Hervorragend«, murmelt Norwin. »Mit Sicherheit hat er eine Sprachaufnahme gestartet, um sämtliche Geständnisse mitzuschneiden.«

»Ihr hättet erzählt, wenn euch das Handy aufgefallen wäre, richtig?«, vergewissert sich Raphael.

Dorian nickt verlegen. »Stimmt. Das haben wir übersehen. Tut mir echt leid.«

»Blödsinn«, wehrt Raphael ab. »Ohne euch wäre weder Hannah noch ich am Leben. Ich bin euch mehr als dankbar. Zudem ist es gut möglich, dass Ravin das Handy ebenfalls nicht entdeckt hat. In diesem Fall verschafft die Aufnahme Valentin eine realistische Chance. Er weiß vermutlich schon über alle Geschehnisse Bescheid. Es liegt also in seiner Hand, ob er mit seinem Team flüchtet oder ob er auf Ravin vertraut.«

»Vielleicht hat Ravin sie auch in Empfang genommen, als sie ins Lager zurückkehrten«, wirft Norwin ein, woraufhin Raphael mit Mühe ein Seufzen unterdrückt und kurz die Augen schließt.

»Aber dann …«, beginnt Dorian wieder.

»Willst du für Valentins Gruppe unser ganzes Team in Gefahr bringen? Wir müssen so schnell wie möglich weg. Wir können nichts für sie tun. Deine Menschlichkeit in Ehren, Dorian, aber hier ist Schluss«, beendet Raphael die Diskussion und wendet sich mir zu. »Du bleibst bis zum Aufbruch hier sitzen und rührst dich nicht«, ordnet er an. »Versprich mir, keine leichtsinnigen Aktionen zu unternehmen. Du bist völlig ausgebrannt. Wenn Dorian und Norwin wenige Minuten später aufgetaucht wären, hättest du nicht überlebt.«

Ich senke die Lider und murmle etwas Unverständliches.

Raphael schnaubt unwillig und steht auf. »An der Feuerstelle sammeln«, befiehlt er laut. »Abmarsch in fünf Minuten.«

2 aufgespürt

Kurze Zeit später hat sich das Team in der Lagermitte versammelt. Trotz der spontanen Planänderung haben es die anderen geschafft, die Zelte abzubauen und alles Nötige in die Rucksäcke zu stopfen. Eine nähere Betrachtung des Ausrüstungsbergs zeigt, dass meine Sachen ebenfalls dabei sind. Vermutlich wurden sie von Norwin gepackt, da Dorian offenbar die Aufgabe hatte, mich zu bewachen, damit ich keine leichtsinnigen Aktionen unternehme. Zudem befürchte ich, dass momentan niemand sonst einen Finger für mich rühren würde. Aus nachvollziehbaren Gründen.

Unsicher mustere ich die Gesichter der anderen. Dorian und Norwin zwinkern mir aufmunternd zu. Lea behandelt mich wie Luft, während mich Finn und Isabelle argwöhnisch beäugen. Kein Wunder. Schließlich bin ich verantwortlich für die kopflose Flucht. Durch meine Anwesenheit könnte das gesamte Team mit in den Abgrund gerissen werden.

Raphael fängt meinen Blick auf und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln. Als er sich an unsere Gruppe wendet, wird seine Miene ernst. »Wir müssen uns beeilen«, beginnt er ohne Einleitung. »Wichtigstes Ziel ist es, so schnell wie möglich aus dem Wald herauszukommen. Das nächste Dorf befindet sich etwa zehn Kilometer entfernt. Wenn wir uns nach Nordwesten orientieren, müssten wir gegen Mitternacht darauf stoßen. Wir nehmen einen Umweg, damit wir uns nicht in der Nähe der Zufahrtsstraße zum Gelände aufhalten. Vielleicht ist Ravin noch in der Gegend.«

»Das ist deutlich länger als die Strecke, die wir auf dem Hinweg zurückgelegt haben.« Finn stöhnt. »Da waren wir von der langen Busfahrt ausgeruht und nicht völlig fertig, weil du uns die ganze Zeit durchs Lager gescheucht hast.«

Lea und Isabelle murren zustimmend. Unauffällig schaue ich auf die Uhr und bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Raphael schätzt unsere Ankunft auf Mitternacht? Es ist erst kurz nach halb sieben! Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, knappe sechs Stunden durch den Wald zu hetzen. »Kannst du laufen?«, wendet sich Raphael an mich, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Jetzt bloß keine Schwäche zeigen. Die anderen sind schon genervt, ohne dass sie auf mich Rücksicht nehmen müssen. Mein zuversichtliches Nicken bezahle ich umgehend mit einem bohrenden Schmerz hinter der Stirn. Trotzdem kämpfe ich mich in den Stand. Leider knicken meine Beine weg, bevor ich nur einen Schritt tun kann. Dorian fängt mich auf.

»Offensichtlich nicht«, bemerkt Finn spöttisch.

»Na toll«, stöhnt Isabelle. »Zuerst sorgt sie dafür, dass wir alle in Lebensgefahr schweben, und jetzt hält sie uns auf.«

»Schluss damit«, verfügt Raphael hart. »Es war meine Idee, Hannah an der Akademie zu verbergen. Wenn du ein Problem hast, solltest du es mit mir klären. Aber nicht jetzt.«

Seine Idee? Verwirrt massiere ich mir die Schläfen.

»Schon okay«, versichert Isabelle kleinlaut und duckt sich unter dem unerbittlichen Blick des Leaders.

»Hast du einen Plan?«, erkundigt sich Norwin übergangslos.

Raphael hebt unschlüssig die Schultern. »Am wichtigsten ist es, möglichst schnell viel Abstand zwischen uns und die anderen Teams zu bringen.«

»Was passiert, wenn wir das Dorf erreicht haben? Willst du dort ein Versteck suchen?«, fragt Isabelle.

»Das wäre extrem riskant wegen der Nähe zum Akademiegelände«, wehrt Raphael ab. »Wir müssen ein Auto klauen.«

»Wohl eine Limousine«, spottet Finn. »Ansonsten wird es unbequem. Sieben Personen!«

»Du kannst es dir ja im Kofferraum gemütlich machen, dann haben wir mehr Platz«, erwidert Raphael ungerührt.

»Verdammt ärgerlich, dass wir Elric nicht erreichen konnten«, murmelt Dorian.

»Elric weiß nichts von den Vorgängen?«, vergewissere ich mich beunruhigt.

»Ich habe es vor unserem Aufbruch unzählige Male bei ihm versucht«, sagt Raphael düster. »Anscheinend hat er sein Telefon ausgeschaltet. Wenn ich wenigstens wüsste, ob er seinen Besuch für heute oder für morgen geplant hat!«

»Weshalb probieren wir es nicht weiter?«, erkundigt sich Lea.

»Sobald wir das Lager verlassen haben, darf niemand mehr wissen, wo wir uns befinden. Wir müssen vom schlimmsten Fall ausgehen. Levander könnte bereits informiert sein. Für ihn wäre es ein Leichtes, Raphael über das eingeschaltete Handy zu orten«, erläutert Norwin, woraufhin der Leader zustimmend nickt.

Dorian atmet scharf ein und dreht sich zu Raphael, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen.

»Später«, entgegnet dieser eindringlich, als wüsste er, was Dorian besprechen wollte.

»Können wir nicht am Parkplatz auf Elric warten?«, schlägt Finn vor, dem der knappe Austausch völlig entgangen ist.

»Die Gefahr, einem anderen Team oder Ausbilder zu begegnen, ist viel zu groß«, erklärt Raphael geduldig. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu Fuß zu flüchten«, fügt er mit einem besorgten Seitenblick auf mich hinzu.

»Ich kann laufen«, beharre ich stur. »Ich bin eben nur zu schnell aufgestanden. Bitte lass mich los«, wende ich mich an Dorian.

Er runzelt skeptisch die Stirn, löst aber den Griff um meine Oberarme. Unter Aufwendung aller verfügbarer Kraft schaffe ich es, mich einige Schritte vom Feuer zu entfernen und nur unmerklich zu schwanken.

Raphael beobachtet mich aufmerksam. Ich verschränke die Arme und funkle ihn herausfordernd an. Zum Glück verliere ich dabei nicht das Gleichgewicht.

»Sturkopf«, knurrt er resigniert. Ohne auf mein empörtes Schnauben zu achten, ergreift er mein Gepäck und lädt es sich zusätzlich zu seinem auf.

»Moment.« Während die anderen loslaufen, berührt Dorian unseren Leader am Ellbogen. »Was ist mit den Peilsendern?«, raunt er so leise, dass ich es bloß verstehe, weil ich neben ihm stehe. Das also war sein Gedanke von vorhin.

Raphael schüttelt leicht den Kopf. »Es würde zu lange dauern, sie jetzt zu entfernen. Zudem weiß ich nicht, wie das Team auf diese neue Schwierigkeit reagieren würde. Die Stimmung ist ohnehin kurz vorm Kippen. Wir kümmern uns darum, sobald wir einige Kilometer Abstand zu den Lagern gewonnen haben. Außerdem werden in Kürze weitere Probleme auf uns zukommen.«

Dorian kneift irritiert die Augen zusammen, als sich Raphael ohne Erklärung umwendet. Gleichzeitig ertönt hinter uns eine Stimme, die meine Übelkeit schlagartig zurückkehren lässt.

»Da seid ihr ja«, begrüßt uns Valentin zufrieden. Mit einem Stöhnen registriere ich, dass er nicht alleine ist. Bei ihm befinden sich Kira, Henry, Schnepfie und Dominik.

Raphael stößt ungehalten die Luft aus, wirkt aber nicht im Mindesten so überrascht wie wir anderen. Offensichtlich hat er die Auren des näher kommenden Teams bereits gespürt.

»Ihr habt uns gerade noch gefehlt«, stellt er aufgebracht fest.

»Wir müssen genauso aus diesem Wald raus wie ihr«, gibt Valentin nicht minder aggressiv zurück. »Wenn ihr Idioten –«

»Beleidigungen helfen uns nicht weiter«, unterbricht ihn Raphael und verschränkt verärgert die Arme. »Verschwindet!«

Für einige Sekunden starren sich die beiden wütend an.

»Ich hatte mein Handy …«, beginnt Valentin schließlich, woraufhin Raphael abwehrend die Hand hebt.

»Ich weiß. Du hast alles aufgenommen. Hast du es dabei?«

Valentin nickt.

»Ravin?«, erkundigt sich Raphael knapp.

»Das Lager war leer«, antwortet Valentin.

»Und was wollt ihr von uns?«, fragt Raphael kühl. »Ihr könnt den Wald auch alleine verlassen. Oder zu Ravin zurückrennen. Eure Entscheidung.«

»Zu riskant«, erwidert Valentin schulterzuckend. »Wir wissen zu viel.«

»Wo ist der Rest deines Teams?«, hakt Raphael nach.

»Keine Ahnung, wo die beiden stecken«, entgegnet Valentin gleichgültig.

Raphael runzelt die Stirn.

»Geh mir nicht mit deinem Pflichtgefühl auf die Nerven, Raphael! Ich bin nicht ihr Babysitter. Nachdem uns Gw… Hannah den Befehl gegeben hatte, eine Offensive auf Carolins Lager zu unternehmen, teilten wir uns auf, um aus verschiedenen Richtungen anzugreifen. Du erwartest nicht im Ernst, dass ich den Wald auf der Suche nach meinen verlorenen Schäfchen durchkämme, oder?«

Raphael blinzelt missbilligend, bleibt jedoch stumm.

»Wie auch immer. Wir begleiten euch«, schließt Valentin unbeeindruckt, was von unserer Gruppe mit einem verdrossenen Stöhnen quittiert wird.

»Auf keinen Fall«, widerspricht Raphael entschieden.

»Wie willst du uns daran hindern? Indem du deine Geheimwaffe auf uns loslässt?«, höhnt Valentin und deutet auf mich.

Überrascht stelle ich fest, dass die frischen Brandwunden an seiner Hand zu fast unsichtbaren Narben verblasst sind. Sie wirken, als seien sie schon vor langer Zeit verheilt. Vermutlich hat sich sein Team darum gekümmert.

»Bedauerlicherweise ist deine Liebste dermaßen fertig, dass sie kaum aus eigener Kraft stehen kann. Oder willst du uns deine beiden Superformer auf den Hals hetzen?«, stichelt er weiter, woraufhin ihn Lea und Finn hilflos anfunkeln.

Die Mitglieder unseres Teams wechseln unbehagliche Blicke.

»Valentin hat starke Former«, bemerkt Dorian. »Wir sollten eine Konfrontation unbedingt vermeiden.«

Raphael nickt scheinbar ungerührt, doch ich sehe, dass er vor unterdrückter Wut zittert. »Wir haben keine Wahl«, sagt er gepresst und richtet sich auf.

Wenig später setzt sich unsere unverhofft gewachsene Gruppe in Bewegung. In feindseliger Stille stapfen wir durch den Wald. Ich benötige meine gesamte Konzentration, um mich auf den Beinen zu halten. Weil ich häufig strauchle, sind immer Dorian, Norwin oder Raphael an meiner Seite, um mich aufzufangen und zu stützen. Trotzdem bezweifle ich, dass ich den Gewaltmarsch lange durchhalte.

»Wie ich das sehe, sitzen wir im selben Boot«, lenkt Valentin nach einigen Minuten versöhnlich ein.

Raphael starrt ihn wortlos an.

»Beeindruckender Konter«, wirft Kira gehässig ein.

»Halt die Klappe«, fertigt sie Valentin leidenschaftslos ab und wendet sich wieder Raphael zu. »Wir alle wissen, dass Ravin ein natürlicher Former ist, der sich vor Dr.Levander versteckt hielt. Das wird er keinesfalls billigen.« Er deutet auf seine vernarbte Hand. »Es spielt keine Rolle, dass er mich als Leader erwählt hat. Du kennst ihn. Er würde uns niemals verschonen.«

»Das ist nicht unser Problem«, informiert Raphael kalt.

»Du irrst dich«, erwidert Valentin mit einem zynischen Lächeln. »Ihr habt uns in diese beschissene Lage gebracht, also helft ihr uns gefälligst auch raus.«

»Wir sind uns einig, dass keiner von uns in dieser beschissenen Lage wäre, wenn du dein verdammtes Ego besser unter Kontrolle hättest. Richtig?«, erkundigt sich Raphael.

Valentin verengt die Augen zu Schlitzen. »Du suchst die Verantwortung bei mir? Interessant. Bist du nicht derjenige, der gemeinsam mit Elric alles verraten hat, wofür wir die letzten Jahre gearbeitet haben?« Ich erschauere, als mich sein harter Blick trifft. »Bist du nicht derjenige, der einen natürlichen Former an der Akademie versteckt hat und uns damit alle in Gefahr bringt?«

Deprimiert nehme ich wahr, dass nicht nur Valentins Former, sondern auch Lea, Isabelle und Finn zustimmend nicken. Obwohl sie mir nichts schuldig sind, tut diese Reaktion weh.

Raphael beißt sich auf die Unterlippe und schließt für einen Moment die Augen. »Wir sollten zumindest für die Dauer der Flucht einen Waffenstillstand schließen«, schlägt er nach einer kurzen Pause vor. »Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Was geschehen ist, ist geschehen.«

»Jetzt sind ihm wohl die Argumente ausgegangen«, flüstert Kira absichtlich so laut, dass es gut hörbar ist.

Raphael hebt lediglich abschätzig die Augenbrauen.

»Klar, dass er keinen Streit will, wenn ihn seine Freundin nicht beschützen kann«, ergänzt Henry grinsend.

Anders als Raphael gelingt es mir nicht, die Provokation zu ignorieren. Ich balle die Fäuste in ohnmächtiger Wut, weil ich ganz genau weiß, dass er recht hat. Der kleinste Zugriff auf meine Gabe würde eine sofortige Ohnmacht oder Schlimmeres nach sich ziehen. Krampfhaft versuche ich, mich zu entspannen. Im Gegensatz zu ihrem Leader sind die Mitglieder von Valentins Team eindeutig auf der Suche nach Streit. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und warte darauf, dass sich Ärger und Zorn legen. Wieder kehrt Schweigen ein.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit passieren wir den Metallzaun, der das Akademiegelände eingrenzt.

»Hey, Raphael.« Erneut ist es Valentin, der die Stille durchbricht. »Habt ihr eure Peilsender schon entfernt?«

Raphael bleibt abrupt stehen und unterdrückt einen Fluch.

»Peilsender?«, echot Lea mit einem hysterischen Unterton, während Finn und Isabelle unseren Leader alarmiert fixieren.

»Du hast es ihnen noch nicht gesagt?«, vergewissert sich Valentin verwundert.

»Nein«, knurrt Raphael. »Das wollte ich ihnen schonend beibringen.«

»Tut mir leid«, entschuldigt sich Valentin, aber das schlecht verborgene Grinsen straft seine Worte Lügen.

»Peilsender?«, stammelt Lea fassungslos und den Tränen nahe. »Die haben uns Peilsender eingesetzt?«

»Gleich nach eurer Ankunft an der Akademie. Dr.Levander weiß gerne, wo sich seine Lemminge befinden«, eröffnet Valentin spöttisch.

»Kann man sie irgendwie ausschalten?«, fragt Lea unsicher, woraufhin Valentin ungläubig schnaubt.

»Ausschalten?«, wiederholt er amüsiert. »So kann man es auch nennen. Wir müssen sie herausschneiden.«

Lea starrt den Leader entsetzt an.

»Blutige Angelegenheit. Könnte ziemlich wehtun«, bestätigt er mit einem ernsten Nicken, doch seine Augen blitzen verräterisch.

Leas Lippen zittern, und sie wird blass.

»Die Sender befinden sich fast unmittelbar unter der Haut knapp oberhalb des linken Schlüsselbeins«, beruhigt Raphael sie und streicht ihr über den Arm. »Außerdem haben wir Eisspray. Ihr werdet kaum etwas spüren.«

Ich ertappe mich dabei, wie ich die Hand schützend an meinen Hals lege. Schnell entspanne ich mich wieder und hoffe, dass niemand meine Geste beobachtet hat.

»Ich hatte vor, die Teile erst im Dorf zu entfernen«, erklärt Raphael. »Es reicht, wenn wir sie dort loswerden. Beim Bekanntwerden unserer Flucht wird sowieso jedem klar sein, wohin wir uns zuerst wenden. Andererseits wissen jetzt ohnehin alle Bescheid. Gehen wir die Sache sofort an.«

Mit gemischten Gefühlen schaue ich zu, wie Raphael seinen Rucksack durchsucht und ein Messer sowie zwei kleine Spraydosen hervorholt. Er wirkt fast erleichtert, dass ihm durch Valentins Eingreifen eine unangenehme Entscheidung erspart wurde. Möglicherweise ist es tatsächlich besser, die Prozedur nicht länger aufzuschieben. Jeder Meter, den wir mit den Peilsendern zurücklegen, bedeutet ein unnötiges Risiko.

3 getrennt

Raphaels Beschluss wird mit argwöhnischem Schweigen aufgenommen. Die Aussicht auf die bevorstehende Mini-Operation hat sogar die Mobbing-Gruppe mundtot gemacht.

»Soll ich deinen Sender entfernen?«, bietet Valentin großzügig an. »Wäre mir eine Freude, dich wieder aufzuschlitzen, obwohl das letzte Mal nicht lange her ist.«

»Ich verzichte«, lehnt Raphael ab. »Bei deiner Zielsicherheit würde es mich nicht wundern, wenn du das Messer statt in meiner Schulter aus Versehen in der Herzgegend versenkst.«

Er ignoriert Valentins leises Lachen und schaut sich nach Dorian um, der sofort neben ihn tritt.

»Würdest du?«, bittet Raphael. Mit dem Griff zuerst hält er ihm das Messer entgegen und zieht den Ausschnitt seines Shirts zur Seite.

Dorian mustert den Bereich um Raphaels linkes Schlüsselbein und zögert. »Bist du sicher? Völlig ohne Betäubung?«

Raphael hebt die Schultern. »Das Eisspray aus dem Erste-Hilfe-Kasten wird nicht für alle reichen. Zudem muss der Schnitt nicht besonders tief sein. Schiebe einfach die Messerspitze unter den Sender, dann kannst du ihn heraushebeln.«

Dorian wirkt noch immer unschlüssig.

Raphael lächelt ihn aufmunternd an. »Du schaffst das.«

Insgeheim bewundere ich seine Selbstbeherrschung. Der Gedanke an den bevorstehenden Eingriff macht mich dermaßen nervös, dass ich am liebsten flüchten würde. Raphael hingegen scheint nicht nur gelassen, sondern schafft es auch, diese Ruhe auf die Teammitglieder zu übertragen.

Dorian nickt mit aufeinandergepressten Lippen. Er greift das Messer und setzt die Spitze oberhalb von Raphaels Schlüsselbein an. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hat, übt er gerade so viel Druck aus, dass die Klinge leicht in Raphaels Haut dringt. Unser Leader schließt kurz die Augen, gibt jedoch keinen Laut von sich. Der Rest beobachtet die Prozedur mit einer Mischung aus Bewunderung und Widerwillen. Lediglich Valentin hat ein abschätziges Grinsen aufgesetzt.

Mit einer Drehung seines Handgelenks bewegt Dorian die Klinge. Konzentriert starrt er auf Raphaels Schulter. Er positioniert die Spitze, drückt den Knauf des Messers nach unten und entfernt den Sender. Mit einem erleichterten Keuchen geht er einen Schritt zurück.

Raphael würdigt seine Verletzung keines Blickes. Stattdessen zieht er ein Tuch aus der Tasche und gibt Dorian ein Zeichen, den Sender daraufzulegen.

»Danke«, sagt er ohne das geringste Zittern in der Stimme. »Wer jetzt?«

»Wir können den Schnitt mithilfe der Gabe heilen«, bietet Norwin an, doch Raphael schüttelt den Kopf. »Spart eure Kräfte. Wir wissen nicht, was heute Nacht noch auf uns zukommt.«

Nacheinander befreit Dorian die Mitglieder beider Teams von der Überwachung der Akademie. Die Entfernung der kleinen Metallkapseln verläuft erfreulich schnell und unkompliziert. Bald erinnert lediglich das schmerzhafte Pochen in meiner Schulter an die unangenehme Mini-OP.

Einzig Lea bildet eine Ausnahme. Sie schlägt so hysterisch um sich, dass sie von Norwin, Finn und Raphael fixiert werden muss. Durch ihr Gezappel braucht Dorian mehrere Anläufe, bis er erfolgreich ist.

Heftig atmend tritt er zurück und legt den Peilsender auf das Tuch, das ihm Valentin entgegenhält. Lea drückt weinend ihre Hand auf die Wunde.

Isabelle hat den erzwungenen Eingriff stirnrunzelnd verfolgt und legt ihr mitfühlend eine Hand auf den Oberarm.

»Alles okay«, versichert sie beruhigend. »Du hast es geschafft.«

»Die sind ja vollkommen verrückt«, schluchzt Lea und betrachtet das Blut an ihren Fingerspitzen.

Valentin schnaubt genervt. »Ein solches Spektakel wegen eines kleinen Schnittes«, murmelt er irritiert und verstaut das Tuch mit den Implantaten in seiner Hosentasche. »Du hattest echt keine gute Hand bei der Zusammenstellung deines Teams, Raphael.«

»Als ob deine liebenswerte Truppe eine bessere Wahl gewesen wäre«, kontert dieser und mustert Valentin misstrauisch. »Ich denke nicht, dass es vernünftig ist, ausgerechnet dir die Peilsender zu überlassen. Gib sie mir«, fordert er.

Valentin verschränkt die Arme. »Ganz bestimmt nicht«, erwidert er. »Du wirst mir wohl vertrauen müssen.«

Raphael stöhnt verärgert und erteilt das Signal zum Aufbruch, ohne Valentin eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich nehme all meine Kraft zusammen und setze mich in Bewegung. Schon nach wenigen Schritten ist klar, dass mir dieser zweite Teil der Wanderung das Letzte abverlangen wird. Die Erschöpfung hält mich erbarmungslos in ihren Klauen, aber ich habe keine Alternativen. Es ist meine Schuld, dass wir überstürzt fliehen müssen. Ich will nicht zusätzlich die Verantwortung dafür tragen, dass wir gefangen werden. Also laufe ich mechanisch den anderen hinterher und konzentriere mich darauf, langsam und gleichmäßig im Takt meiner Schritte zu atmen. Die Zeit verschwimmt.

Als ich das nächste Mal aufblicke, ist es merklich dunkler geworden. Ich drehe den Kopf und sehe Raphael an meiner Seite. Wie lange läuft er schon neben mir? Um Kraft zu sparen, beschränke ich mich darauf, ihm zuzunicken, dann fixiere ich wieder den Boden. Bereits diese dürftige Geste lässt die Übelkeit erneut hervorbrechen.

Raphael legt kurz die Hand auf meine Schulter. »Du schaffst das«, spricht er mir leise Mut zu. »Ich bin bei dir.«

Unmittelbar darauf spüre ich, dass Raphael einen Impuls fokussiert, der mir Stärke und Trost spendet. Ich reagiere nicht und bemühe mich, meinen Rhythmus wiederzufinden. Schweigend setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Mitglieder unseres Teams unterhalten sich, doch ich kann den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. Ich fühle mich, als läge die ganze Welt unter einer schweren Decke aus Nebel.

Eine Ewigkeit später reißt mich Dorians Stimme aus dem tranceähnlichen Zustand. »Wir sind da.«

Ich hebe mühsam den Kopf und erkenne vereinzelte Lichter unmittelbar vor uns. In der Dunkelheit kann ich die Häuser nur schemenhaft ausmachen.

»Zwanzig Minuten vor Mitternacht«, stellt Raphael nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest. »Wir waren etwas schneller als erwartet.«

»Wir wären noch schneller gewesen, wenn Hannah nicht so getrödelt hätte«, stichelt Schnepfie, verstummt jedoch sofort, als Raphael sie warnend anfunkelt.

Wachsam nähern wir uns dem Ortseingang. Vor dem ersten Haus steht ein alter Fiat auf der Straße. Hinter den Fenstern des Gebäudes herrscht Dunkelheit. Anscheinend schlafen die Bewohner schon.

»Raphael«, spricht Norwin leise unseren Leader an, »was hast du jetzt vor?«

»Das Auto nehmen«, fängt Raphael widerstrebend an. »Zum nächstgelegenen Bahnhof, dort weiter mit dem Zug, damit unsere Spuren nicht zu offensichtlich sind. Elric anrufen. Ohne ihn zu erreichen, können wir nicht komplett untertauchen.«

»Es ist viel zu riskant, auf Elric zu warten«, wirft Isabelle unvermittelt ein, woraufhin sich alle in ihre Richtung drehen. »Ich werde nicht mitkommen.«

»Ich auch nicht«, pflichtet ihr Finn bei, der seit Beginn der Flucht für seine Verhältnisse verdächtig still war. »Es ist besser, den Kontakt zur Akademie vollständig abzubrechen und abzuhauen.«

»Na, was ist, Raphael?«, fragt Isabelle tonlos. »Lässt du uns gehen?«

Raphael hat dem Gespräch still gelauscht. »Ich werde euch nicht aufhalten«, verspricht er nach einer kurzen Pause.

Isabelle und Finn starren ihn überrascht an.

»Ich hatte nie etwas anderes im Sinn, als mein Team bestmöglich zu schützen«, fügt er leise hinzu. »Die Vorgänge der letzten Stunden haben gezeigt, dass mir dies nicht gelungen ist.« Er sieht mich an. »Ihr habt recht. Ich denke auch, dass ihr ohne mich besser dran seid.«

»Meine Definition von bestmöglichem Schutz sieht nicht vor, wissentlich einen natürlichen Former ins Team zu wählen und damit alle zu gefährden«, bemerkt Valentin spitz. »Aber wie könnte ich mit meiner liebenswerten Truppe deine Entscheidungen infragestellen.«

»Worauf warten wir?«, drängt Finn und ignoriert Valentins unverhohlene Kritik an unserem Leader. »Wenn wir uns ins Ausland absetzen, ist es unwahrscheinlich, dass Dr.Levander oder Ravin uns jemals finden werden. Je weiter wir uns von ihnen entfernen, desto besser.«

»Aber Familie und Freunde lassen wir ebenso zurück«, wendet Isabelle ein, die mittlerweile Tränen in den Augen hat. »Wir müssen zwischen zwei Katastrophen wählen. Eine ist nicht besser als die andere.«

»Unser komplettes Team könnte ins Ausland fliehen«, schlägt Finn vor, und ich registriere dankbar, dass er mich in seinen Plan miteinbezieht. »Es wäre bestimmt nützlich, einen natürlichen Former an unserer Seite zu haben. Selbst wenn Hannah momentan keinen Zugriff auf ihre Fähigkeit hat«, fügt er mit einem Stirnrunzeln hinzu.

Raphael neigt bestätigend den Kopf. »Ihr solltet gemeinsam flüchten. Das würde eure Chancen beträchtlich erhöhen.«

»Ihr?«, krächze ich und bin selbst erschrocken über den Klang meiner Stimme, die ich seit Stunden zum ersten Mal wieder nutze.

Raphael weicht meinem Blick aus. »Elric. Er hat keine Ahnung von den Vorgängen«, erklärt er hilflos. »Ich kann nicht weg, ohne zu wissen, dass er in Sicherheit ist. Ich muss zumindest versuchen, ihn zu warnen.«

»Elric?«, hakt Isabelle nach. »Okay. Wenn er für dich so wichtig ist … Erwartest du etwa von uns, dass wir für einen Ausbilder unser Leben aufs Spiel setzen? Was hat Elric jemals für uns getan?«

Die anderen nicken zustimmend.

»Was machen wir?«, wendet sich Schnepfie an Valentin.

»Wir?«, wiederholt er gedehnt und setzt ein halbseitiges Grinsen auf. »Ich habe euch aus dem Wald rausgebracht. Die Akademie hat sich für uns erledigt. Die Teams haben sich erledigt. Ebenso hat sich unsere Zusammengehörigkeit erledigt. Es gibt kein Wir.«

Für einen Moment sehe ich in seinen Augen Bedauern durchschimmern. Dann setzt er seine übliche spöttische Miene wieder auf.

»Was sollen wir jetzt tun?«, stammelt Schnepfie völlig überfordert.

Valentin dreht die Handflächen nach oben. »Das ist mir ziemlich egal. Haut mit der Auslandsgruppe ab, grabt euch eine Erdhöhle, gründet eine Zaubershow. Ich bin nicht mehr für euch zuständig.«

Schnepfie schaut Valentin enttäuscht an, während er sich betont lässig an eine Straßenlaterne lehnt. Kira, Henry und Dominik scheinen in eifrige Diskussionen verstrickt zu sein und reden heftig flüsternd aufeinander ein.

Raphael räuspert sich und deutet auf den parkenden Fiat. »Kann jemand von euch Auto fahren?«, erkundigt er sich. »Den Motor zum Laufen zu bringen, ist als Former kein Problem.«

Isabelle nickt. »Ich habe den Führerschein.«

»Macht euch auf den Weg«, gibt unser Leader seine letzte Anweisung. »Versucht, so schnell wie möglich ins Ausland zu gelangen. Achtet auf andere Formerauren. In der Gruppe dürftet ihr einigermaßen geschützt sein.« Er sieht mir direkt in die Augen. »Bringt euch in Sicherheit.«

Das ist nicht sein Ernst. Erwartet er tatsächlich, dass ich mich der Auslandsgruppe anschließe und ihn verlasse? Nach allem, was wir miteinander durchgemacht haben? Nachdem er sein Leben für mich gegeben hat?

Finn breitet auffordernd die Arme aus. »Wer kommt mit?«

Isabelle stellt sich, ohne zu zögern, neben ihn. Ebenso Schnepfie, die durch Valentins Ablehnung gründlich aus dem Konzept gebracht wurde.

»Dorian? Norwin?«, wendet sich Finn verwundert an meine beiden Freunde. »Was ist mit euch?«

»Wir bleiben«, beschließt Dorian. Norwin nickt bestätigend.

»Und du, Lea?«, drängt Finn.

»Ich auch«, erwidert Lea und fixiert den Boden.

»Wie du meinst.« Finn zuckt mit den Schultern und dreht sich um.

»Hannah …«, setzt Raphael an.

»Du spinnst, wenn du glaubst, ich würde gehen«, fahre ich ihn an.

Er unterdrückt ein Seufzen. »Du kannst momentan nicht auf deine Gabe zugreifen. Du bist in einem erbärmlichen Zustand. Das ist zu gefährlich. Du kannst ja kaum geradeaus laufen.«

Ich balle die Hände zu Fäusten. »Das darfst du nicht von mir verlangen!«

Raphael stößt gereizt die Luft aus. »Es geht nicht um mich, sondern um deine –«

»Kriegt euch mal wieder ein«, beendet Valentin unsere Auseinandersetzung. »Es ist ihre Entscheidung.«

Raphael schießt einen bösen Blick in seine Richtung ab, wendet sich wieder mir zu und fixiert mich ärgerlich. Er hat absolut recht. Ich sollte mit den anderen gehen und nicht derart uneinsichtig sein. Es wäre das Beste für alle. Ich kann Kontakt zu ihm aufnehmen, sobald ich mich erholt habe. Am wichtigsten ist, dass ich mich in Sicherheit bringe. Mir darf nichts geschehen.

Gerade will ich nachgeben und mich Finn anschließen, da höre ich Valentins Lachen.

»Raphael«, sagt er belustigt und gibt diesem einen kräftigen Stoß, sodass er taumelt. »Führst du eine Fokussierung durch? Nicht sehr fair angesichts der Tatsache, dass sie sich nicht wehren kann.«

Raphael rammt Valentin einen Ellbogen in den Magen. Der blonde Leader krümmt sich schmerzerfüllt, grinst jedoch noch immer.

Schlagartig erlischt der Wunsch, mich selbst zu retten.

»Valentin. Du bist ein –« Raphael verstummt, bevor ich herausfinde, welches kreative Schimpfwort er gewählt hätte. Dann dämmert mir, was eben passiert ist. Heißer Zorn steigt in mir auf.

»Du setzt mich unter mentalen Zwang?«, vergewissere ich mich ungläubig.

Raphael versucht nicht einmal, das Offensichtliche zu leugnen. »Zu deinem eigenen Schutz«, verteidigt er sich. »Du bist so stur! Du willst nicht wahrhaben, dass du in Gefahr bist.«

Ich balle die Hände zu Fäusten. Aufgebracht blitzen wir uns an.

»Trotzdem ist es meine Entscheidung!«, beharre ich und bemerke kaum, dass es ausgerechnet Valentins Worte sind, die ich wiederhole.

»Aber –«, beginnt Raphael.

»Tu das nie wieder!«, unterbreche ich ihn wutentbrannt.

»Was ist jetzt?«, fragt Schnepfie ungeduldig. »Seid ihr fertig mit eurem Drama? Ich bin sowieso dagegen, sie mitzunehmen. Das stellt bloß ein unnötiges Risiko dar. Gwen … Hannah … egal, wie du heißt«, sagt sie direkt zu mir, »von Anfang an gab es in deiner Nähe Ärger. Du hast nicht nur Dr.Levander, sondern auch Ravin gegen dich aufgebracht. Ich sehe nicht ein, dass wir mit dir untergehen.«

Henry und Kira schauen sich an und grinsen. Unbehaglich reibe ich mir über die Oberarme. Welchen Grund zum Bleiben haben sie? Gerade bei diesen beiden wird es sich nicht um plötzliche Sympathie oder reine Willkür handeln.

»Zeit zum Aufbruch«, bemerkt Raphael mit einem letzten hoffnungsvollen Blick in meine Richtung, den ich mit einem kategorischen Kopfschütteln abwehre. Erneut melden sich die bohrenden Schmerzen gepaart mit einem unterschwelligen Brechreiz, sodass ich die unbedachte Geste sofort bereue.

Während ich versuche, mir meinen erneuten Schwächeanfall nicht anmerken zu lassen und den Eindruck zu erwecken, ich sei sicher auf den Beinen, ergreifen Finn, Isabelle und Schnepfie ihre Rucksäcke.

Beklommen nicken wir uns zu. Bis auf einen Abschiedsgruß wird nicht gesprochen. Die richtigen Worte fehlen. Uns ist allen klar, dass wir einander nicht wiedersehen werden.

Wenig später sind die Rücklichter des Fiats in der Dunkelheit verschwunden. Raphael dreht sich abrupt um. Als ich ihn zögerlich am Arm berühre, reißt er sich mit einem Knurren los.

»Gib mir fünf Minuten, damit ich dir nicht den Hals umdrehe«, fährt er mich an. »Ich besorge uns einen Fluchtwagen. Bleibt hier.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, läuft er mit großen Schritten die Straße entlang.

Unser Team wurde gespalten, in mir tobt die Übelkeit, und Raphael ist sauer auf mich. Unerfreuliche Situation. Als ich in die gehässigen Mienen von Valentins verbleibenden Formern blicke, wird mir klar, dass ein wütender Raphael und körperliches Unwohlsein meine geringsten Probleme sind.

4 unberechenbar

Nachdem Raphael um eine Straßenbiegung verschwunden ist, schaue ich argwöhnisch in die Runde. Acht Former sind zurückgeblieben. Dorian, Norwin, Lea und ich. Vom anderen Team Kira, Henry, Dominik und Valentin. Schaudernd ziehe ich die Schultern hoch. Wenn es jetzt zu einer Konfrontation käme, wären sie uns deutlich überlegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mobbing-Gruppe ohne Hintergedanken bei uns bleibt.

»Wisst ihr«, beginnt Henry gedehnt, als habe er mein Unbehagen gespürt, »es gibt eine Möglichkeit, die wir bisher nicht in Betracht gezogen haben.« Sein scheinbar zufälliger Blick in meine Richtung erzeugt eine Gänsehaut auf meinen Armen. Dabei kann nichts Anständiges herauskommen.

Valentin mustert ihn interessiert. »Lass hören.«

»Ravin ist ein natürlicher Former, der sich an der Akademie versteckt hielt«, erklärt Henry. »Wir können davon ausgehen, dass Dr. Levander nichts vom wahren Ausmaß seiner Gabe ahnt.«

Valentin nickt nachdenklich. »Weiter.«

»Im Grunde war es nur Ravin, der Dr. Levander hintergangen hat. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Was spricht dagegen, an die Akademie zurückzukehren? Das wäre der beste Schutz vor Ravin.«

Oh oh. Ich ahne, welches Fazit am Ende dieser Überlegung steht. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen.

»Und was ist mit Hannah?«, liefert Valentin wie auf Kommando das passende Stichwort.

»Das ist das Problem«, erwidert Henry betrübt. Verdammter Heuchler! »Sie müssten wir natürlich an Dr. Levander übergeben. Damit könnten wir unsere Loyalität zur Akademie beweisen.«

Dorian verschränkt die Arme. »Auf keinen Fall!«

Gleichzeitig macht Norwin einen Schritt nach vorne und fixiert Henry wütend. »Bist du völlig bescheuert, so etwas vorzuschlagen? Du willst Hannah opfern, um dich bei Levander anzubiedern? Ist dir klar, was er mit ihr machen wird? Er wird sie töten!«

»Du kannst nicht leugnen, dass Henrys Gedanke naheliegend ist«, schaltet sich Kira ein. »Die Sicherheit von sieben Personen gegen die Auslieferung einer einzelnen. Welche Alternativen haben wir?«

»Ihr hättet zum Beispiel mit den anderen ins Ausland flüchten können«, schlägt Dorian bitter vor.

»Die Gelegenheit ist günstig«, übernimmt Henry wieder, als habe er Dorians Einwand nicht gehört. »So schwach und wehrlos wird sie kein weiteres Mal sein. Sie kann sich ja kaum auf den Beinen halten, geschweige denn einem Befehl widersetzen. Sie hat Raphaels Fokussierung nicht einmal erkannt!«

»Wir könnten sie bewusstlos schlagen«, bemerkt Dominik emotionslos. »Dadurch gehen wir kein Risiko ein.«

»Kannst du Kontakt zu Dr. Levander herstellen?«, wendet sich Henry an Valentin.

Dieser schüttelt den Kopf. »Lediglich die Ausbilder und die Leader im Außeneinsatz können ihn anrufen.«