Auricher Abschiede - Andreas Scheepker - E-Book

Auricher Abschiede E-Book

Andreas Scheepker

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Beschreibung

"Sein Tod scheint friedlicher gewesen zu sein als sein Leben", stellt die Ärztin fest. Der streitbare Heimatforscher Folkert Saathoff ist überraschend verstorben. Für einige bedeutet das Ableben dieses Querulanten sogar eine Erleichterung, denn Saathoff hat seinen Mitmenschen das Leben schwer gemacht. Vor seinem plötzlichen Tod hat er sogar Drohbriefe erhalten. Darum soll Hauptkommissar Roolfs den Fall noch einmal unter die Lupe nehmen. Schon bald kommen ihm Bedenken. Johannes Fabricius, der Saathoffs wertvolle Bibliothek für den Nachlass ordnen soll, stößt auf rätselhafte Recherchen, die der Verstorbene betrieben hat. Aber darum kann sich Hauptkommissar Roolfs nicht kümmern. Er hat es plötzlich mit einem richtigen Mord zu tun …

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Andreas Scheepker

Auricher Abschiede

Kriminalroman

Zum Autor

Andreas Scheepker ist gebürtiger Ostfriese. 1963 wurde er in Hage geboren. Nach dem Abitur am Ulrichsgymnasium in Norden studierte er Evangelische Theologie und später noch Literatur­wissenschaft, Geschichte und Pädagogik. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Aurich, wo er als Schulpastor am Gymnasium Ulricianum unterrichtet. Außerdem arbeitet er als Studienleiter in der Arbeitsstelle für Ev. Religionspädagogik und ist dort vor allem für Fortbildungen zuständig. Scheepker hat mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten verfasst, die in Ostfriesland spielen. Dabei stehen oft Themen der ostfriesischen Geschichte im Hintergrund. Sein Kriminalroman »Tote brauchen keine Bücher« wurde für den Literaturpreis »Das neue Buch« 2004 nominiert.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2019)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © André Franke/adobe.stock.com

ISBN 978-3-8392-6536-9

Vorbemerkung

Alles frei erfunden!

Wenn ein Ostfriese in Ostfriesland einen Ostfriesland-Krimi schreibt, dann bleibt es nicht aus, dass ostfriesische Orte, Personennamen und Bezüge auftauchen. Hier leben nun einmal Menschen, die z. B. mit Vornamen Gerrit, Theda, Folkert und Gesine und mit Nachnamen Uphoff, Janssen, Osterloh oder Luitjens heißen. Und es gibt auch im realen Ostfriesland die Stadt Aurich mit ihren Baudenkmälern und historischen Erinnerungsstätten und andere von mir genannte Orte.

Aber: den Ort Reentshusen, alle Personen und die Handlung in diesem Buch habe ich frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Personenverzeichnis

Die Hauptpersonen, bei denen man irgendwann nicht mehr nachblättern muss:

Johannes Fabricius, Buchhändler

Gerrit Roolfs, Kriminalhauptkommissar

Habbo Janssen, Kriminalkommissar

Theda van Immen, Kriminalkommissarin

Lothar Uphoff, Erster Kriminalhauptkommissar

Der Querulant:

Folkert Saathoff, Uhrmachermeister und Heimatforscher

Die Clique:

Konstanze Jelten, Juristin

Reno Ennen, Erster Stadtrat

Hilko Rademacher, Ingenieur und Inhaber eines Planungsbüros

Karin Friesenborg, Politikerin und zurzeit Land­schafts­direktorin

Thorsten Westerkamp, Chef und Inhaber eines Bau­unternehmens für Straßen-, Tief- und Hochbau

Stefanie de Beer, Katzenliebhaberin

Die üblichen Verdächtigen, aus deren Kreis nicht selten die Täter kommen:

Helmut Siebelts, Vorsitzender des Heimatvereins Reentshusen

Margret Weermann, macht eine Fortbildung zur Gästeführerin

Katharina Willms, Pastorin im Sommerurlaub

Uwe Osterloh, Pastor und Urlaubsvertretung

Aiko Redenius, Leiter der Grundschule Reentshusen

Irmgard Eschen, Exfrau eines Querulanten

Gesine Ufen, Leiterin einer Behörde

Jan Groninga, Professor für Geschichte

Rosemarie Fischer, Dozentin für entlegene Themen

Talea Enninga, Landschaftspräsidentin

Lutz Wimmer, Exmann

Lisa Wimmer, jetzige Ehefrau des Exmannes

Die weniger Verdächtigen oder nebensächlicheren Personen, die man trotzdem nie so ganz aus dem Blick verlieren sollte:

Norena, Schülerin und Mobbingtäterin

Laura, Schülerin und Mobbingopfer

Traute Sassen, Nachbarin und Fan alter Fernsehsendungen

Hinrika Garrelts, Empfangsdame im Unruhestand

Volker Michels, Seniorchef einer Rechtsanwaltskanzlei

Wilhelmine Vienna, pensionierte Lateinlehrerin

Ewald Vienna, Ehemann einer pensionierten Latein­lehrerin

Günther Sahland, ehemaliger Jugendlicher

Gesa Luitjens, verschwundene Studentin

Wim Luitjens, Gesas Vater

Moni Luitjens, Gesas Mutter

Edith Campen, frühere Lehrerin und jetzt pflegende Tochter

Horst Baltrusch, Familienforscher

Ein paar Wochen vorher …

Norena wusste gar nicht mehr genau, wann die Sache mit Laura angefangen hatte. Oder besser gesagt: wann sie die Sache mit Laura angefangen hatte.

Im achten Jahrgang waren die Klassen neu zusammengesetzt worden. Norena und Laura saßen nebeneinander. Laura war schnell eines der beliebtesten Mädchen in der Klasse geworden. Die beiden hätten durchaus Freundinnen werden können. Aber Norena hatte anderes mit Laura im Sinn.

Sie hatte vorsichtig angefangen. Sehr vorsichtig. In ihrer Grundschulzeit hatte sie gute Erfahrungen gemacht. Ihre Eltern hatten ihr immer den Rücken gestärkt, hatten sie für ihre Durchsetzungskraft gelobt. Und Norena hatte sich gleich die richtigen Verbündeten gesucht. Niemand hatte sie gestoppt. Auch die Lehrerin hatte irgendwann resigniert weggeschaut und lieber den Opfern geholfen, die Klasse zu wechseln.

Auf der neuen Schule war das mit einem Schlag anders gewesen. Die Klassenlehrerin schien Norena sofort zu durchschauen, und eine Gruppe selbstbewusster Mitschülerinnen hielt sie in Schach.

Aber nach Abschluss der siebten Klasse waren die Klassen neu gemischt worden. Die neue Klassenlehrerin war drei Wochen nach Schuljahresbeginn erkrankt. Nun war niemand da, der ein Auge auf Norena hatte. Die Mitschüler, die sie in den letzten drei Jahren gebremst hatten, waren jetzt auf andere Klassen verteilt.

Und nun saß Laura neben ihr. Mit ihren großen braunen Augen und ihren langen Beinen sah sie aus wie ein Reh. Und ohne es zu wissen, saß sie neben einem Wolf, der auf Beute aus war.

Mit ihrem untrüglichen Jagdinstinkt hatte Norena Lauras verletzliche Seite erkannt: ihre Vertrauensseligkeit, ihr Bedürfnis nach Zuwendung und dann die Sache mit Lauras Mutter, die schon so lange krank war. Alles war perfekt.

Norena ließ es langsam angehen. Sie agierte immer aus der zweiten Reihe: Unter den Mädchen der Klasse wurde getuschelt, wenn Laura gerade nicht da war. Es gab besorgte Erkundigungen, ob mit Laura wirklich alles in Ordnung sei. Es fielen ein paar abfällige Bemerkungen über Lauras Kleidung. Es kam zu vertraulichen Vier-Augen-Gesprächen mit Lauras Freundinnen. Bei Geburtstagseinladungen wurde vorsorglich gefragt, ob Laura etwa auch eingeladen sei. Wer das Handy-Foto von Laura beim Umkleiden in der Schwimmhalle gemacht und ins Internet eingestellt hatte, ließ sich nicht nachverfolgen. Immer häufiger drehten sich Mädchen, die bei Laura standen oder saßen, demonstrativ weg.

Es hatte funktioniert. Besser, als Norena zu glauben gewagt hatte. Sie war erstaunt, dass die neuen Mitschülerinnen sich von ihr gegen die vorher so beliebte Laura vereinnahmen ließen. Laura war in nur einem Vierteljahr von einem der beliebtesten Mädchen zu einer Außenseiterin geworden, tollpatschig, von den meisten anderen abgelehnt oder spürbar erduldet. Laura beteiligte sich kaum noch am Unterricht. Sie fehlte häufig in der Schule. Ihre Noten wurden schlechter.

Norena wusste, dass sie dadurch bei anderen nicht unbedingt beliebter wurde, aber sie hatte so etwas wie Macht. Das war ein richtig gutes Gefühl.

Die Erdkundelehrerin betrat den Klassenraum. Norena zwinkerte ihren Freundinnen fast unmerklich zu, und sie wussten Bescheid. Norena lehnte sich gelassen zurück. Laura kramte in ihrer Tasche. Sie suchte vermutlich ihren Füller, den Norena in der Pause heimlich aus ihrem Rucksack genommen hatte.

Norena war gespannt, als die Lehrerin das Smartboard einschaltete, um einen Kurzfilm über den Regenwald zu zeigen. Jemand hatte die DVDs ausgetauscht, und nun waren Bilder des Tagesausflugs zu sehen. Als die Lehrerin die DVD auswechseln wollte, protestierten die Jugendlichen natürlich, und sie lenkte ein.

Zwei Jungs aus der Klasse hatten die Sammlung zusammengestellt, und Norena hatte dafür gesorgt, dass unter den über hundert Fotos einige Aufnahmen waren, deren Herkunft nicht mehr bestimmt werden konnte. Sie präsentierten Laura in unvorteilhaften Situationen. Gleich dreimal war zu sehen, dass ihr T-Shirt einen gewaltigen Cola-Fleck aufwies, für den Norenas Freundinnen mit Hilfe eines geschickten Missgeschicks gesorgt hatten. Andere Bilder zeigten, wie Laura Grimassen schnitt. Und zweimal war ihr Po in Großaufnahme zu sehen. Keine Aufnahme war wirklich schlimm. Aber jede Darstellung zeigte Laura so, wie sicherlich niemand aus der Klasse öffentlich dargestellt werden wollte.

Ein paarmal spähte Norena zu Laura hin, die nur nach unten auf ihr Heft sah und so tat, als überhörte sie die spöttischen Bemerkungen. Die Freundinnen nickten Norena zu, aber so, dass es niemand mitbekam.

Wirklich niemand? Für einen Moment erstarrte Norena. Sie musste auf einmal wieder an die Sache mit dem Kaninchen denken.

Vor über einem Monat hatte Norena nach der Schule einen Briefumschlag in ihrem Fahrradkorb gefunden. Auf einem weißen Blatt war gedruckt: Wir wissen, was Du tust. Du musst damit aufhören. Sofort.

Obwohl dort keine weiteren Erklärungen standen, hatte sie sofort gewusst, dass die Sache mit Laura gemeint war. Zum ersten Mal hatte Norena so etwas wie Angst verspürt. Sie hatte ihren Eltern nichts erzählt und den Brief zu Hause verbrannt. Und sie hatte Laura in den nächsten Tagen in Ruhe gelassen. Aber dann war ihr die Idee gekommen, dass vielleicht Laura selbst oder jemand aus der Klasse den Brief geschrieben hätte. Sie begann wieder, ihre Mitschülerin zu drangsalieren.

Dann hatte ein zweiter Briefumschlag in ihrem Fahrradkorb gelegen. Diesmal hatte Norena nur ein Foto ihres Kaninchens im Umschlag gefunden. Sonst nichts.

Voller Angst war Norena nach Hause gefahren und sofort in den Garten gelaufen, um nach ihrem Kaninchen zu sehen. Die Tür im Auslauf stand offen. Das Kaninchen war weg. Die Eltern hatten Norena getröstet und ihrer kleinen Schwester Nikki die Schuld gegeben, die vermutlich wieder die Tür offengelassen hatte. Am nächsten Morgen war ihr Kaninchen wieder da gewesen.

Das war nun über einen Monat her. Sie hatte keinen neuen Brief bekommen. Je öfter sie sich die Geschichte durch den Kopf gehen ließ, umso stärker kam Norena zu der Überzeugung, dass es ein Zufall gewesen sein musste.

Nun agierte sie trotzdem noch vorsichtiger. Sie hatte es hinbekommen, dass auch die letzte Freundin Laura nicht mehr zur Geburtstagsparty einlud. Und die Aktion mit den Bildern heute im Erdkundeunterricht war auch gut gelaufen. Sie hatte alles im Griff.

Und doch befiel Norena wieder ein mulmiges Gefühl. Als es zum Ende des Unterrichts klingelte, packte sie schnell ihre Tasche.

»He, was ist?«, fragte eine ihrer beiden Freundinnen.

»Ich muss schnell nach Hause«, stieß Norena hervor. Sie schnappte ihre Tasche und eilte über den Schulhof zum Fahrradständer. Kein Briefumschlag.

Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen, aber die Angst saß tief in ihr wie ein gefährliches Tier, das sich in ihrem Bauch eingenistet hatte.

»Norena?« Jan-Erik stand auf einmal neben ihr. Jan-Erik aus ihrer alten Klasse. Jan-Erik, der ewige Klassensprecher. Er hielt ihr einen Brief hin. »Das ist für dich. Dein Onkel hat es mir in der Pause geben. Er konnte dich nicht finden.«

Norenas Herz blieb beinahe stehen. Sie wusste sofort, was das für ein Brief war. Sie hatte nur einen Onkel, und der lebte in München.

»Ja, besten Dank, Jan-Erik«, sagte sie so freundlich wie möglich und nahm den Brief. Sie konnte den Umschlag unmöglich hier öffnen. Ihr Herz flatterte. »Ich fahr dann mal. Tschüss.«

Norena steckte den Brief in ihre Jackentasche. Sie radelte in die Bahnhofstraße und fuhr auf den Parkplatz des Diakonie-Pflegedienstes. Hinter dem Gebäude war sie für die anderen nicht zu sehen.

Mit zittrigen Händen öffnete sie den Brief. Ein Bild fiel auf die Erde. Ihre Hände zitterten so, dass sie das Foto fast nicht vom Boden aufheben konnte. Es war das gleiche Bild wie neulich. Ihr Kaninchen. Das Foto war zwischen Kopf und Körper geknickt worden. Norena starrte auf das Bild. Es war, als ob eiskalte Wellen über ihr zusammenschlugen.

Sie stopfte den Brief in ihre Tasche und radelte so schnell, wie es im Gewimmel von mehreren hundert Kindern und Jugendlichen ging, die jetzt alle schulfrei hatten. Im Slalom um Fußgänger, Radfahrer und Autos herum durch die Bahnhofstraße, vorbei am weißgetünchten Auricher Schloss und dann durch die Stadt in die Neubausiedlung.

Vor ihr bog der schneeweiße Rover ihrer Mutter, die Nikki von der Grundschule abgeholt hatte, in die Einfahrt.

»Hallo, Mum!« Norena stellte ihr Fahrrad ab.

»Hallo, Schatz. Hilfst du mir, den Einkauf reinzubringen?« Ihre Mutter nahm Nikkis Schultasche, während die Kleine ausstieg und zum Haus ging.

Norena wollte auf keinen Fall, dass ihre Mutter etwas merkte. »Klar«, antwortete sie mit angestrengtem Lächeln. Sie versuchte, sich zu beruhigen und hievte eine Kiste Mineralwasser aus dem Kofferraum. Panik befiel sie, als sie sah, wie Nikki durch die Gartentür hinter das Haus lief. Das Kaninchen. Das war immer Nikkis erster Weg. Zu ihrem bevorstehenden Geburtstag wünschte sich Nikki ein eigenes, aber bis dahin galt ihre ganze Tierliebe Norenas Kaninchen. Die Wasserkiste rutschte Norena aus der Hand zurück in den Kofferraum.

»Was ist mir dir?«, fragte ihre Mutter.

»Alles okay, Mum.« Norena bemühte sich, so locker wie nur möglich auszusehen. »War ein bisschen Stress heute in der Schule.« Sie griff wieder nach der Kiste und drehte sich zu ihrer Mutter um. Aber die war schon verschwunden.

In diesem Moment kamen die Schreie aus dem Garten. Nikki. Norena wuchtete die Kiste wieder ins Auto und rannte in den Garten. Sie sah, wie ihre Mutter die schreiende Nikki umarmte und sie so an sich drückte, dass sie nicht mehr in den Kaninchenstall sehen konnte. Und dann sah Norena ihr Kaninchen.

Teil 1: Dwarsbüngel

Querulant:

Dwarsboom, Dwarsbüngel, Dwarsdriever:

He is ’n lepen D.

Er ist ein Qu. Wenn ’t regent, will he in ’t Hei (heuen). He hett alltied ’n anner Kopp as anner Minsken.

Otto Buurman: Hochdeutsch-plattdeutsches Wörterbuch.

Kurz vor Beginn der Sommerferien 1

»Folli Saathoff mal wieder?« Helmut Siebelts seufzte tief, als die Postbotin ihm den dicken Umschlag überreichte. »Das ist doch bestimmt ein Einschreiben, oder?«

Die Zustellerin nickte und hielt ihm das Display hin.

»Was auch sonst.« Er unterschrieb.

»Schönes Wochenende, Helmut«, flötete sie und setzte sich wieder in ihr gelbes Auto.

Der große, schlanke Mann, dem man sein Ruhestands­alter kaum ansah, winkte ihr noch einmal zu und schloss dann die Tür.

»Schönes Wochenende …«, knurrte er.

Es war sein erstes Wochenende im Ruhestand. Eigentlich hatte er sich viel vorgenommen. Seine Frau war gestern für eine paar Tage zu ihrer Schwester gereist, um nach der Beerdigung ihrer Mutter noch das eine und andere zu regeln. Helmut Siebelts war lieber zu Hause geblieben. Im Abstellraum standen acht große Kartons mit der umfangreichen Langspielplattensammlung seiner verstorbenen Schwiegermutter, die er mit seinem Nachbarn durchsortieren wollte. Auf dem Schreibtisch lag das neue Buch mit den historischen Ostfrieslandkarten, für das er sich extra eine Lupe mit Leuchtfunktion gekauft hatte. Das Buch hatte er vorgestern zur Verabschiedung von seinen Kollegen bekommen.

»Schönes Wochenende!«, brummte er noch einmal. Er warf den Umschlag auf den Schreibtisch.

Helmut Siebelts schaute einen Moment versonnen aus dem Fenster in seinen Garten. Die Staudenbeete blühten vom Frühjahr bis zum Herbst immer wieder anders in leuchtend bunten Farben. Die Buchsbäume waren zu Kugeln und Kegeln getrimmt. In diesem Frühjahr hatte er sogar einen in die Form eines Gartenzwerges geschnitten, und es war ihm nicht schlecht gelungen.

So wie den Garten hatte Siebelts sein ganzes Leben angelegt. Seine Ehe, seine drei Töchter, sein beruflicher Weg in der Auricher Stadtverwaltung bis zum Amtsrat, seine ehrenamtliche Tätigkeit in den Vereinen. All das war wie ein gut angelegter Garten: Lebendig, aber auch geordnet. Das war bis auf kleine Ausnahmen immer so gewesen, in seinem Garten und auch in seinem Leben. Seit einem Jahr war Siebelts nun auch Vorsitzender im Heimatverein seines Dorfes. So, wie man einen Garten auf die jeweils neue Jahreszeit vorbereiten musste, so hatte er sich rechtzeitig auf seinen neuen Lebensabschnitt im Ruhestand vorbereitet. Nicht, dass es ihn zum Posten des Vereinsvorsitzenden gedrängt hätte. Aber Wim Luitjens hatte dieses Amt freiwillig abgegeben. Da war die traurige Sache mit seiner Tochter Gesa gewesen.

Siebelts hatte sich dafür eingesetzt, Luitjens wenigstens den zweiten Vorsitz zu geben, damit er eine Aufgabe und den Kontakt zu den anderen behielt. Und damit hatte irgendwie alles angefangen.

Folkert Saathoff war als zweiter Vorsitzender schon lange nicht mehr tragbar gewesen. Saathoffs Streitigkeiten mit vielen Menschen im Dorf belasteten das Vereinsleben. Die Vorstandssitzungen wurden immer länger, und der Ton wurde immer aggressiver, weil Saat­hoff eine Fülle von Tagesordnungspunkten einbrachte und bis zum Abwinken diskutierte und stritt.

Bei der letzten Vorstandswahl hatte es Saathoff schließlich aus der Kurve getragen. Er erhielt nur wenige Stimmen und musste aus dem Vorstand ausscheiden. Saathoff setzte den Streit mit Anrufen und Briefen fort. Immer ging es um die Einhaltung der Vereinssatzung, um Grundsatzfragen und darum, anderen Vorstandsmitgliedern Fehler nachzuweisen. Inzwischen ging Sie­belts nicht mehr ans Telefon, wenn Saathoffs Nummer im Display erschien. Saathoff verfasste immer umfangreichere Schriftsätze und drohte, einen Anwalt einzuschalten.

»Nützt ja nix«, murmelte Siebelts und setzte sich auf den Kapitänsstuhl an seinem Schreibtisch. Er öffnete den DIN-A4-Umschlag mit dem unübersehbar großen Adressstempel von Folkert Saathoff. Er wusste schon, was ihn erwartete: ein mehrseitiges Anschreiben in gestelzter Sprache mit befremdlich anmutenden Verwendungen von Fachworten. Saathoff hatte ganze Absätze unterstrichen, kursiv oder fett gedruckt und mit farbigen Textmarkierungen, handschriftlichen Zusätzen und fast endlosen Wiederholungen von Ausrufezeichen versehen. Dem Brief war als Anlage wie immer ein Konvolut aus Fotokopien von Zeitungsausschnitten, Buchauszügen und Protokollen von Vorstandssitzungen beigeheftet. Außerdem sandte er penetrant immer eine Kopie der Vereinssatzung mit, in der er ebenfalls Sätze unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen hatte.

Siebelts überflog die erste Seite des Briefes und brummte: »Folli Saathoff, du bist ein Querulant.« Dann las er genauer, sein Gesicht wurde weiß, und seine Hand ballte sich zu einer zornigen und zitternden Faust.

Folli Saathoff? Sie sah noch einmal genau hin, wer dort in der letzten Bankreihe in der Lambertikirche saß. Margret Weermann stockte der Atem. Tatsächlich. Er war es, in seinem gestreiften Hemd, wie immer korrekt gebügelt, die kurzen grauen Haare nach allen Seiten abstehend und mit der Brille, die mit ihrer schwarzen Fassung seinen Augen einen noch durchdringenderen Blick gab.

Bis jetzt hatte alles gut geklappt mit ihrer ersten Gästeführung. Ganz rechts saß die Dozentin der Ostfriesischen Landschaft, die das Seminar für die Gästeführer leitete. Die hatte ihr auch schon einmal ermutigend zugenickt. Alles lief wie am Schnürchen.

Eigentlich war es ein Heimspiel für Margret Weermann. Und ihre erste Gruppe, die sie führte, war ein dankbares Publikum: ihre Landfrauen aus Reents­husen und Umgebung. Margret Weermann und ihr Mann waren vor einem Jahr von Aurich in sein Heimatdorf gezogen. Bald war sie in den Landfrauenverein eingetreten und hatte nach einer Chance gesucht, sich bestmöglich in die dörfliche Gesellschaft einzuführen. Eine bessere Vorlage als diese Stadtführung konnte es dafür eigentlich gar nicht geben, und wenn ihr am Ende der Veranstaltung die Kursleiterin das Zertifikat als Gästeführerin überreichen würde, dann hatte sie es geschafft.

Selbstbewusst hatte Margret Weermann ihre Frauen und ein paar versprengte Ehemänner beim Schloss in Empfang genommen und war mit ihnen durch die Burgstraße zum Marktplatz gegangen, wobei sie anhand historischer Gebäude aus der Geschichte der Stadt erzählte. Auf dem Markplatz machte sie angesichts des Sous-Turms, einer fünfundzwanzig Meter hohen Skulptur aus Stahlrohren, die unvermeidlichen Bemerkungen über moderne Kunst. Sie war nicht wirklich an Kunst oder Geschichte interessiert. Margret Weermann interessierte mehr die Aufgabe an sich: eine Gruppe führen, etwas zeigen und erklären und ein dankbares Publikum haben.

Über die Kirchstraße ging es dann weiter. Das Synagogen­denkmal ließ sie lieber aus, das war ihr dann doch zu heikel. Sie schauten kurz in die reformierte Kirche­, die von innen gleichzeitig rund und achteckig war.

Nun waren sie an der letzten Station der Führung, in der Lambertikirche, angekommen. Margret Weermann kannte sich hier nicht gut aus. Vielleicht hätte sie die Seminarstunde in der Lambertikirche besser nicht versäumen sollen. Aber sie hatte den Einkaufsbummel, den sie stattdessen mit einer Freundin in Oldenburg gemacht hatte, genossen, als hätten sie eine Schulstunde geschwänzt. In den letzten Tagen hatte sie im Internet einige Informationen zur Kirche überflogen. Das musste genügen.

Erwartungsvoll hatten alle Platz genommen. Folli Saathoff blieb hinten in der Kirche sitzen. Was hatte er hier zu suchen? Ein ungutes Gefühl beschlich sie.

Margret Weermann wollte diese Sache jetzt durchziehen. Sie begann, etwas über die Kirche zu erzählen. Folkert Saathoff sah ihr mit gütigem Lächeln und offenem Blick zu, wie ein Vater seiner Tochter bei einer Schulaufführung zusieht.

Das Unglück geschah, als nach ihren Erklärungen eine Frage aus der Gruppe kam. »War diese Kirche hier früher auch katholisch?«, fragte einer der wenigen mitgekommenen Ehemänner, ein Mann in kariertem Hemd mit Freizeitweste, der auch in der Kirche seine Basecap auf dem Kopf behielt.

»Ja, natürlich«, zwitscherte Margret Weermann. »Das waren früher ja irgendwie alle.«

»Nein, natürlich nicht«, brummte es von hinten. Folli Saathoff. »Als diese Kirche gebaut wurde, da war Ostfriesland schon dreihundert Jahre lang evangelisch. Diese Kirche ist als evangelische Kirche gebaut worden.«

»Ja, besten Dank für den Hinweis, Herr Saathoff.« Margret Weermann lächelte angestrengt. »Wir machen dann weiter.«

Der Mann in der Freizeitweste meldete sich noch einmal zu Wort. »Aber hier muss dann ja vorher bestimmt eine alte Kirche gestanden haben. Hat man die einfach abgerissen?«

»Na ja«, sagte Margret Weermann. »Die Leute wollten eben eine moderne Kirche. Wir wohnen ja auch lieber in einem schönen, modernen Haus.«

»Baufällig«, tönte es von hinten. »Die alte Lambertikirche war baufällig. Eine Renovierung war nicht möglich.«

Der Mann in der Freizeitweste nickte, aber seine Frau hakte nun nach. »Wer war denn eigentlich Lamberti?«

»Machen wir hier eine Stadtführung oder ein Plauderstündchen?«, fragte Margret Weermann zurück und bemerkte an den Blicken der Gäste, dass ihr genervter Tonfall unpassend war. Mit angestrengter Freundlichkeit fuhr sie fort. »Dann machen wir jetzt weiter mit dem Ihlower Altar. Der ist das Prunkstück unserer Kirche und heißt so, weil er im berühmten Kloster Ihlow stand. Als der Graf das abreißen ließ, hat er den wertvollen Altar einfach mitgenommen und hier aufgestellt.«

»Er hat ihn in seiner Kapelle im Schloss aufstellen lassen«, berichtigte Saathoff. »Erst hundert Jahre später kam der Altar …«

»Kommen Sie einfach nach vorn«, schnitt Margret Weermann ihm das Wort ab. »Hier können Sie alles sehen.« Als die Gruppe im Halbkreis um sie stand, begann sie mit ihrer Erklärung. Saathoff blieb hinten sitzen. Sie gewann langsam wieder Boden unter den Füßen. Dankbar lauschte die Gruppe ihren Erklärungen.

»Fehlt da eine Figur?«, fragte die Freizeitweste mit Basecap und zeigte auf ein Feld im unteren Bereich des Altarbildes. Raunen kam aus der Gruppe, und einige zeigten mit dem Finger auf das Feld, damit andere die Leerstelle entdecken konnten.

»Die ist in Reparatur«, antwortete Margret Weermann schnippisch.

»Ich bin erleichtert«, ließ Saathoff laut vernehmen. »Diese Figur wird seit gut hundert Jahren vermisst, aber nun wissen wir ja endlich, wo sie ist. Unsere Stadtführerin hat sicherlich nur den Abholschein verlegt.«

Verhaltenes Gelächter in der Gruppe war die Antwort.

Die Gäste hatten jetzt noch etwas Zeit, sich in der Kirche umzusehen.

Saathoff blieb in seiner Bank sitzen. Er blätterte in einem Gemeindebrief. Margret Weermann ging geradewegs zu ihm. »Folli Saathoff«, zischte sie. »Du bist ein Querulant.«

»Ich weiß.« Er lehnte sich zurück.

»Du hast mir meine Führung kaputt gemacht.«

»Wer keine Ahnung hat, sollte gar nicht erst eine Führung machen.«

»Wenn du noch ein Wort sagst, bringe ich dich um!« Margret Weermanns Stimme bebte vor Zorn, und sie musste an sich halten, um nicht laut zu werden. »Ich bringe dich um, das schwöre ich!«

Erst jetzt bemerkte sie, dass die Dozentin hinter ihr stand.

»Folli Saathoff!« Katharina Willms schlug mit ihrer kleinen Faust so heftig auf den Schreibtisch, dass ein Schluck Tee aus dem randvoll gefüllten Becher schwappte. Sie strich ihre langen braunen Haare zurück und setzte ihre Lesebrille auf, um sich die Mail noch einmal anzusehen.

Eigentlich hatte die Pastorin am Abend ihres letzten Arbeitstages vor dem Urlaub nur noch rasch eine Mail verschicken wollen. Nun las sie, was Folkert Saathoff ihr mitteilte. Es waren nur wenige Sätze, statt der üblichen überlangen und verschachtelten Erörterungen, in die er alle Mails des bisherigen Mailwechsels hineinkopierte.

»Folli Saathoff«, grummelte sie noch einmal. Nun würde sie den Zorn in den Urlaub mitnehmen wie ein unhandliches, schweres Gepäckstück, das für die Reise völlig unbrauchbar war. Morgen wollte Katharina Willms packen, und übermorgen sollte es losgehen. Sie würde nach Helsinki fliegen, um eine Studienfreundin zu besuchen. Ihr Mann und ihre Tochter wollten ein paar Tage später nachkommen. Vorweg hatte sie ein bisschen Zeit allein mit ihrer Freundin, das würde ihr gut tun.

»Ist alles in Ordnung?« Pastor Uwe Osterloh, ihr Kollege, stand in der Tür. Sie hatten verabredet, sich für die Dienstübergabe zu treffen, da er ab morgen ihre Urlaubsvertretung übernehmen würde.

»Nichts ist in Ordnung«, antwortete Katharina. »Saat­hoff hat gemailt.«

»Und?«

»Nichts ›und‹. Er zieht sein Einverständnis wieder zurück. Er will jetzt doch nicht verkaufen. Er gehört zur Erbengemeinschaft von Meyerhoffs Land. Jetzt können wir die ganze Sache abblasen.«

Uwe Osterloh lächelte. »Und du hattest alles so schön eingefädelt.«

»Mach dich nicht auch noch lustig über mich.«

Uwe sah, dass seine Kollegin wütend war. »Sei nicht sauer.«

»Doch, das bin ich. Richtig sauer.«

»Und was wird nun aus Meyerhoffs Land?«

»Ich weiß es nicht. Der alte Meyerhoff hat kein richtiges Testament hinterlassen. Er dachte, er würde mindestens hundert. Und nun ist er plötzlich und unerwartet schon mit 97 Jahren verstorben. Er hat sich leider nicht dazu geäußert, wer der Erbe sein soll.«

»Schade«, sagte Uwe. »Es liegt so zentral im Dorf. Da könnten viele neue Bauplätze entstehen, und ›Meyerhoffs Land‹ wäre dann der Name einer langweiligen Neubausiedlung mit den ewig gleich aussehenden Häusern: strahlend weiße Klinker wie aus der Zahnpastawerbung und dazu pink oder türkis glasierte Dachziegel, am besten gleich mit schwarzem Geländewagen in der Einfahrt für den wöchentlichen Supermarkteinkauf.«

»Hör auf zu lästern«, ermahnte Katharina ihren Kollegen. »Ich finde das überhaupt nicht lustig. Der Anwalt der Erbengemeinschaft versucht, einen Käufer zu finden. Wir brauchen dringend ein größeres Außengelände für unseren Kindergarten. Und den anderen Teil des Landes mit den alten Bäumen würden wir an die politische Gemeinde verpachten. Der Heimatverein macht ja schon jetzt die Pflege von Meyerhoffs Tuun. Der Bürgermeister ist auch einverstanden.« Sie seufzte. »Der Bürgermeister und ich haben alle zehn Erben besucht und mit ihnen über den Plan gesprochen. Es wäre für alle die beste Lösung gewesen. Die Kindergartenkinder hätten mehr Platz zum Spielen, und Meyerhoffs Tuun bliebe weiterhin ein wunderschöner öffentlicher Garten mit herrlichen alten Bäumen für uns alle. Das wäre einfach zu schön gewesen.«

»Und du wärst wieder mal die Pastorin der Herzen gewesen.«

»Mach dich nur lustig über mich. Das alles war ganz schön stressig.« Katharina lächelte. »Es war nicht meine schlechteste Idee. Fast perfekt.«

»Die Betonung liegt auf ›fast‹«, wandte ihr Kollege ein.

»Ich bin wirklich enttäuscht.« Ihre Augen waren feucht. »Ich bin die Sache mehrere Male mit ihm durchgegangen. Ich habe jeden seiner Briefe geduldig beantwortet. Das ist einfach nicht fair.«

»Folli Saathoff ist Folli Saathoff. De is een Dwarsbüngel. Du wirst ihn nicht ändern.«

Katharina zuckte die Schultern. »Vielleicht ist er nur deshalb so geworden, weil ihm niemand eine Grenze gesetzt hat. Es wird Zeit, dass das mal jemand macht.«

Folkert Saathoff lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Er legte eine CD in den Player auf der Fensterbank. Heute war ein anstrengender Tag gewesen. Aber er war mit sich im Reinen. Nichts von dem, was er heute gesagt oder geschrieben hatte, bereute er. Wann hatte er zuletzt etwas bereut? Er konnte sich nicht erinnern.

Er drückte die Fernbedienung. Nur Musik konnte in ihm noch das auslösen, was kein Fernsehen, keine Lektüre, keine Gartenarbeit, kein Sport oder sonst etwas vermochte. Er konnte die Anspannung loslassen. Er spürte, wie er sich entkrampfte, als die Musik begann.

Schostakowitsch. Das achte Streichquartett. Merkwürdig, dass diese schroffe und abgründige Musik eine solche Wirkung auf ihn hatte.

Saathoff musste an seinen Schwager denken. Ein Leistungssportler. Immer unter Druck. Immer in Bewegung. Nur wenn im Fernsehen eine Sportübertragung gesendet wurde, schlief er im Sessel ein. Andere liefen und spielten, und er konnte abschalten. Vielleicht war es bei Saathoff und der Musik genauso. Jemand anders brachte die innere Spannung zum Ausdruck, und in diesen Momenten konnte er sie loslassen.

Es klingelte. Saathoff zog sein Notebook heran und tippte einen Code ein. Nun zeigte der Bildschirm, wer draußen stand. Schwerfällig erhob er sich aus seinem Sessel und schlurfte zur Tür. Sollte sein Gast wirklich mitgebracht haben, worüber sie in den letzten Wochen immer wieder gestritten hatten?

Er öffnete die Tür und trat beiseite. Wortlos bat er seinen Gast mit einer angedeuteten Handbewegung ins Haus. Als er ins Wohnzimmer kam, hatte sein Gast schon Platz genommen, eine schwere Aktentasche auf dem Schoß.

»Und?«, fragte Saathoff. Er blieb stehen.

»Sie geben niemals auf, was?«, fragte der Gast und griff in seine Tasche.

»Niemals«, antwortete Saathoff. »Sie wissen doch, ich bin ein Querulant.«

2

Anni Post war spät dran. Aber nicht zu spät. Schwungvoll fuhr sie die Einfahrt hoch und hielt auf dem Parkplatz, der neben der Einfahrt extra für Besucher gepflastert war.

Sie sah auf die Uhr. Eine Minute vor neun. Und fünfzehn Sekunden. Auf dem Weg zur Haustür fingerte sie den Schlüssel aus der Handtasche. Um dreißig Sekunden vor neun klingelte sie. Dreimal, wie immer. Sie wartete einen Moment, dann noch einen und dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte um. Um zehn Sekunden vor neun stand sie in der Eingangsdiele. Geschafft.

Folkert Saathoff nahm es genau mit der Pünktlichkeit. Dreimal war Anni Post in den acht Jahren, in denen sie für ihn arbeitete, zu spät gekommen. Jedes Mal war es ausgerechnet einer der wenigen Tage gewesen, an denen er zu Hause war. Und jedes Mal hatte es eine ausführliche Diskussion gegeben. Das musste sie nicht haben, und Unpünktlichkeit war auch eigentlich nicht ihre Sache. Dreimal in acht Jahren. Einmal war das Auto nicht angesprungen, und zweimal hatte sie mit ihrem Mann wegen plötzlicher Herzbeschwerden zum Arzt gemusst.

»Moin, Herr Saathoff«, rief sie. Meistens war er montags nicht da, wenn sie kam. Und mittwochs auch nicht. Nur am Freitag wartete er immer auf sie. Dann zählte er das Geld für drei Vormittage mit je vier Stunden Hausarbeit auf Euro und Cent genau vor und ließ sie die Quittung unterschreiben. Ohne Trinkgeld, ohne Aufrundung nach oben. Dafür zahlte er großzügig. Und er überwies für sie die Sozialversicherungsbeiträge an die Knappschaft, so dass sie selber nichts versteuern musste und versichert war.

Mit diesem Geld konnte Anni Post die bescheidene Frührente ihres Mannes aufbessern. Und so putzte, wusch, bügelte und kochte sie in anderen Haushalten, während ihr Mann den Hund ausführte oder sich durch einen der kostenpflichtigen Fernsehsender mit Sportprogrammen zappte.

»Moin, Herr Saathoff. Ik bün hier«, rief sie noch einmal mit lauter Stimme.

Keine Antwort. Meistens war er um diese Zeit im De Baalje zum Schwimmen und machte danach seine Einkäufe. Mittwochs ging er häufig in die Landschaftsbibliothek. Anni Post hatte es lieber, wenn Saathoff nicht da war. Auch wenn er sich während ihrer Anwesenheit konsequent in seinem Arbeitszimmer aufhielt, wusste sie, dass er sich durch sie in seinem häuslichen Frieden gestört fühlte. Und das wiederum störte sie bei ihrer Arbeit.

Anni Post hängte ihre Jacke an die Garderobe, die dringend einmal wieder festgeschraubt werden musste. Das konnte sie nachher machen. Als Ehefrau eines Mannes mit zwei linken Händen war sie handwerklich geschickt. Sie stellte ihre Tasche mit der Thermoskanne und dem Brötchen für die kurze Pause in die Küche. Hier musste dringend mal gelüftet werden.

Auf dem Küchentisch standen zwei benutzte Kaffeebecher. Das war eigentlich nicht Saathoffs Art. Er war ein überaus ordentlicher Mensch. ›Akkurat‹ nannte er das. Sie stellte die Becher in die Spülmaschine, aus der ihr ein durchdringender Geruch nach schmutzigem Geschirr entgegenkam. Dann legte sie einen blau-weiß-roten Tab mit etwa einem Dutzend verschiedenster Reinigungsfunktionen in die Maschine und drückte den Start-Knopf. Jetzt würde sie sich als erstes Folkert Saathoffs Arbeitszimmer vornehmen, bevor er zurückkam.

Sie klopfte einmal kurz an die Tür und wuchtete dann den Staubsauger in das Arbeitszimmer. Hier roch es sauer und muffig. Der Geruch alter Männer. Anni Post öffnete das Fenster. Sie schaltete den Staubsauger ein. Das teure Gerät gab ein sonores und selbstzufriedenes Brummen von sich.

Erst als sie sich umdrehte, sah sie, dass sie nicht alleine war. Folkert Saathoff war hier. Er war die ganze Zeit hier gewesen.

Kriminalhauptkommissar Gerrit Roolfs stand auf dem Deich. Sein Blick schweifte über die die ostfriesische Ansichtskartenlandschaft in der Westermarsch. Wiesen, Weiden und vereinzelte Bäume waren in farblich aufeinander abgestimmte Grüntöne gekleidet, gelbe Rapsfelder strahlten aufdringlich, und sonnenbeschienene Bauern­häuser leuchteten in kitschigem Backsteinrot, als wollten sie an einem Fotowettbewerb für einen Ostfriesland­kalender teilnehmen. Und trotzdem war es schön. Hier fühlte er sich zu Hause.

Roolfs spürte den frischen Wind, der hier auch im Sommer immer wehte. Er zog den Leinen-Blazer wieder an, zu dessen Kauf ihn seine Lebensgefährtin Ilona überredet hatte. Auf einmal hatte er Lust, den Weg hier oben auf dem Deich immer weiterzugehen. Die ganze Küste entlang. Immer weiter. Trotz seiner dreiundfünfzig Jahre mit leichtem Bauchansatz fühlte er sich körperlich fit. Die wöchentlichen Trainingseinheiten, die er zuerst nur Ilona zuliebe absolvierte hatte, machten inzwischen richtig Spaß. Nur in der letzten Zeit war er kaum dazu gekommen.

Er hatte es geschafft. Gemeinsam mit seinem langjährigen Kollegen Habbo Janssen hatte er die Einbruchsserie aufgeklärt, die seit Monaten die Auricher Bevölkerung und ihre Tageszeitung in Atem gehalten hatte. Brutal waren die Einbrecher vorgegangen. Einen Wachmann und einen Hausmeister hatten sie zusammengeschlagen. Der Hausmeister lag immer noch in der Klinik.

Wieder einmal war es Roolfs’ Instinkt gewesen, der ihn über einen kleinen Hinweis stolpern ließ. Nur einer von so vielen, die sie sorgfältig durchgegangen waren. Die Kollegen hatten ihn übersehen, und auch er wäre beinahe darüber hinweggegangen. Aber da war etwas gewesen, eine winzige Unstimmigkeit, die ihm erst später wieder in den Sinn kam. Gerrit hatte erneut Befragungen durchgeführt. Härter. Gezielter. Habbo Janssen hatte noch einmal alle Unterlagen Seite für Seite sorgfältig gelesen. Fast gleichzeitig waren sie auf den Antiquitätenhändler gestoßen, der im Vorfeld nur als Sachverständiger befragt worden war.

Heute früh war der Antiquitätenhändler mit seinen Komplizen dem Haftrichter vorgeführt worden. In den von seiner Schwester angemieteten Garagen hatte man das Lager gefunden. Alles andere war jetzt eine Frage der Zeit. Einer der Verdächtigen würde spätestens morgen alles zugeben. Roolfs war sicher, dass der Mann dem Druck nicht weiter standhalten konnte.

Eigentlich könnte er nun ganz zufrieden sein, getragen von seinem Erfolg und von dem Respekt der Kollegen. Das wusste er alles. Aber er wusste auch, wieviel Kraft ihn die Arbeit kostete und dass gleich wieder die nächste Baustelle auf ihn warten würde. Eigentlich brauchte er jetzt Ferien, mindestens zwei Wochen. Am besten gleich drei oder vier.

Ein paar hundert Meter weiter unten am Deich stand sein Auto auf dem Parkplatz. Er drehte sich noch einmal um und sah auf die Wellen, die bei eintretender Ebbe im Watt langsam ausliefen. Sein Handy klingelte. Er hörte gespannt zu, schüttelte den Kopf und murmelte: »Folli Saathoff …«

»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum wir hier sind«, murmelte Kriminalkommissar Habbo Janssen, als sein Kollege Roolfs das Haus betrat. »Die Haushaltshilfe hat Herrn Saathoff tot aufgefunden. Sie hat gleich den Hausarzt und die Polizei verständigt.«

»Und warum die Polizei?«, fragte Roolfs.

»Sie sagt, Saathoff hätte so etwas angedeutet.«

»Was heißt das?«

»Dass da etwas gegen ihn im Gange wäre. Und dass sie die Polizei rufen sollte, wenn man ihn mal tot auffinden würde«, erklärte Habbo Janssen.

»Das ist bei Saathoff durchaus denkbar«, erwiderte Roolfs. »Wahrscheinlich könnten alle potentiellen Mörder eine Warteschlange bilden, die länger ist als im Combi-Markt am Sonnabendmittag.«

»Das sagt der Chef auch, und darum sollen wir alles gründlich unter die Lupe nehmen.«

»Und was sagt der Arzt?«

»Sie. Es ist seine Hausärztin. Sie sagt … Ach, da kommt sie ja.«

Eine sportlich aussehende, große Frau um die sechzig stand vor ihnen. »Alles ist gut«, sagte sie lächelnd.

»Alles ist gut?«, fragte Janssen verwundert.

»Alles ist gut« bestätigte die Ärztin. »Ich habe nichts finden können, was auf eine unnatürliche Todesursache schließen lässt. Keine Spuren von Gewalteinwirkung. Ich habe ihn gründlich untersucht, nachdem Ihre Kriminaltechnik das Okay gegeben hat. Herr Saathoff saß ganz friedlich in seinem Sessel, vor sich ein schönes Buch, im CD-Player lief Musik. Sein Tod scheint friedlicher gewesen zu sein als sein Leben.«

»Und woran …«, wollte der Kommissar wissen.

»Vermutlich das Herz. Das kann ich natürlich nicht so schnell feststellen. Aber er war schwer herzkrank. In zwei Wochen hätte er einen Termin in Bad Oeynhausen gehabt.«

»Also eine natürliche Todesursache?«, fragte Janssen nach.

»Ich gehe davon aus. Aber Ihr Chef will ihn in der Gerichtsmedizin haben. Dort erfahren Sie dann Genaueres, wenn es das überhaupt gibt.«

»Gerichtsmedizin?« Jetzt war es an Gerrit Roolfs, verwundert zu fragen.

Ein Handy klingelte, und die Ärztin griff in ihre Tasche. Sie sah auf das Display. »Meine Damen in der Praxis rufen mich. Ich muss los. Schönen Tag noch, die Herren.«

3

»Beruhige dich, Gerrit.« Der Erste Kriminal­haupt­kommissar Lothar Uphoff bemühte sich, Gelassenheit zu bewahren. Das allein schon war für ihn anstrengend genug. Aber seinen fähigsten Hauptkommissar ebenfalls ruhigzustellen, das brachte ihn an seine Grenzen.

»Lothar, ich weiß nicht, was das soll«, erklärte Roolfs ungehalten. »Die Ärztin hat keine Spuren von Gewalt festgestellt. Sie hat klar geäußert, was höchstwahrscheinlich die Todesursache ist. Und Doktor Stürenburg wird das auch so bestätigen. Unsere Leute haben nichts gefunden in Saathoffs Haus. Keine Einbruchsspuren, keine Hinweise auf eine gewaltsame Auseinandersetzung. Nichts. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum Leute wie Folli Saathoff uns auch noch nach ihrem Ableben so viel Arbeit für nichts und wieder nichts machen. Das hat er in den letzten Jahren vor seinem Tod schon reichlich getan.«

»Saathoff hat in den letzten Wochen ein paarmal hier angerufen. Er hatte Angst. Er hat hier zwei anonyme Schreiben vorgelegt, in denen ihm jemand gedroht hat, ihn umzubringen.«

»Wahrscheinlich sind das nur zwei Briefe aus einer Sammlung von über hundert.«

»Gestern hat ihm vor Zeugen eine Frau damit gedroht, ihn zu töten.«

»Lothar, diese Frau hat ausgesprochen, was mindestens zehn Leute denken«, erwiderte Roolfs. Er bemerkte, dass Uphoff ruhig wurde. Das war ein sicherer Hinweis darauf, dass ein Vulkanausbruch bevorstand. Ganz dicht.

Lothar Uphoff war gefürchtet für seine Zornausbrüche. Er selber bezeichnete sie als reinigende Gewitter, die zur Klärung von Beziehungen und Sachfragen beitragen könnten. Auch Freunde und nahe stehende Personen wussten, dass es eine Grenze gab, die sie nicht überschreiten durften, wie bei einem elektrischen Zaun, der seine Schläge schließlich auch ohne Ansehen der Personen austeilte.

»Du willst auf Nummer sicher gehen. Damit uns später niemand etwas nachsagt«, lenkte Roolfs ein.

»Ich habe einen Anruf vom Chef bekommen. Saathoff hat sich mit einigen Leuten angelegt. Man will absolut sicher sein, dass da nichts ist«, erklärte Uphoff.

»Ich kümmere mich darum.«

»Gut. In ein paar Tagen ist die Beerdigung. Ich möchte, dass du dich bis dahin umhörst und umsiehst.«

Roolfs wollte etwas erwidern, doch der Erste Kriminal­hauptkommissar unterbrach ihn. »Ich möchte nicht, dass es nachher Gemecker gibt. Du schreibst einen kurzen Abschlussbericht über deine Erkundigungen im Todesfall Saathoff. Am Tag nach seiner Beerdigung legst du mir den morgens auf den Schreibtisch, und dann kann Folkert Saathoff in Frieden ruhen. Bitte!«

Gerrit Roolfs tat erstaunt. »Wie lautete das letzte Wort? Habe ich das richtig gehört?«

Roolfs nahm die Schlüssel für Saathoffs Haus und fuhr los. Genauso wie die Vordertür war auch der Hintereingang mit drei Schlössern gesichert. Er ging noch einmal um das ganze Haus herum. Er würde nach etwas suchen, von dem er noch gar nicht genau wusste, was es eigentlich war und ob es das überhaupt gab.

Die Auffahrt war mit Betonsteinen gepflastert, der Vordergarten zweckmäßig angelegt. Die Sträucher waren inzwischen zu einem undurchdringlichen Dickicht verwachsen. Erst als Roolfs einige Schritte in das Gebüsch machte, bemerkte er den engmaschigen, gut zwei Meter hohen grünen Metallzaun, der das Grundstück umgab.

Das Einfahrtstor war ebenfalls gut gesichert. Mit einer Anlage im Haus und der entsprechenden Fernbedienung ließ es sich öffnen und schließen. Roolfs’ Kollegen hatten das Tor offen stehen gelassen, um unkompliziert auf das Grundstück gelangen zu können.

Jetzt wusste Roolfs, wonach er Ausschau hielt. Jemand wie Saathoff musste eine Überwachungskamera für den Hauseingang haben. Das gehörte einfach zum Vorurteil über solche Menschen dazu, und Roolfs lag mit seinen Vorurteilen meistens richtig.

Er musterte die Hauswand, das Dach, die Garage. Nichts. Auch an der Gartenbeleuchtung, vor der sich eine Gruppe von Gartenzwergen herumflegelte, ließ sich nichts finden. Fehlanzeige? Roolfs ging zur Hintertür. Die Gehplatten aus Waschbeton waren halb von Gras überwuchert, der Weg teilweise mit Gebüsch zugewachsen. Auch hier war keine Überwachungskamera zu entdecken.

Auf dem Rasenstück hinter dem Haus standen ebenfalls Gartenzwerge. Einer stützte sich auf einen Spaten, ein anderer stemmte einen Bierkrug, während ein dritter seine Pfeife hielt und ein vierter mit einem Fotoapparat das Haus knipste. Auch hier war keine Überwachungskamera zu entdecken.

Bevor er die Haustür öffnete, drehte sich Roolfs zum Nachbarhaus rechts um. Hatte sich die Gardine bewegt?

Traute Sassen zog die Gardine wieder vor. Sie wollte nicht, dass der Mann vor Saathoffs Haustür sie bemerkte. Sie nahm das Schulheft, das auf der Fensterbank bereit lag, und schrieb sauber mit ihrem Bleistift den Tag und die Uhrzeit hinein. Sie überlegte einen Moment. Hatte sie den Mann nicht heute Morgen in der Zeitung gesehen? Zur Sicherheit schlug sie die Tageszeitung noch einmal auf. Auf Seite drei war das Foto. Der Mann saß bei der Pressekonferenz in der Gruppe der Kripobeamten, die eine Einbruchsserie aufgeklärt hatten. Also schrieb sie den Namen ›Roolfs‹ in ihr Heft. Sie ließ es aufgeschlagen liegen, denn nachher wollte sie notieren, wann der Beamte das Haus verließ.

Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu. Auf ihrem Lieblingskanal wurde eine Sendung der Quizshow Dalli Dalli wiederholt. Gerade trat das Medium-Terzett auf. Das musste so in den siebziger Jahren gewesen sein, dachte sie. Vor gut vierzig Jahren. Sie seufzte leise und stellte den Ton lauter.

Mit einem Ruck öffnete Roolfs die Haustür. Folkert Saathoffs Eigenheim war mit dem Charme einer hastig möblierten Ferienwohnung eingerichtet.

In den meisten Wohnungen, die Roolfs aufsuchte, waren Regale und Schränke innen wie außen, Fensterbänke und sämtliche sonstigen Stellflächen bedeckt mit Vasen, Figuren, Gläsern, Puppen und anderem Deko-Material: Munition im aussichtslosen Kampf gegen das Gefühl der Leere. Hier, in Saathoffs Haus, fand Roolfs nichts dergleichen, nur ein paar billige Kunstdrucke an den Wänden. Vermutlich sähe seine eigene Wohnung nicht anders aus, wenn er allein lebte.

Roolfs sah in alle Räume hinein: Einbauküche in Eiche rustikal, Wohnzimmer in konventioneller Katalogware, das große Badezimmer unten in Weiß gekachelt.

Roolfs ging nach oben und betrat Saathoffs Arbeitszimmer. Ein Schreibtisch war vor die Fenstergaube gerückt, ein zweiter Tisch stand gleich hinter der Tür unter dem kleinen Dachfenster. Hier war Saathoff im Sessel gefunden worden. Auf dem Tisch lagen Bücher, fotokopierte Aufsätze und Buchauszüge. Daneben ein aufgeschlagener Aktenordner, in dem Saathoff Blätter mit handschriftlichen Notizen abgeheftet hatte. Roolfs warf einen Blick darauf und blätterte. Es ging um die Geschichte seines Heimatdorfes Reentshusen. Vielleicht hatte Saathoff vor, eine Art Dorfchronik zu schreiben.

Auf dem größeren Schreibtisch vor der Gaube stand ein PC, auf dem Fensterbrett Aktenordner in einer ordentlichen Reihe. Einige trugen die Aufschrift Heimat­verein, andere waren mit Leserbriefe beschriftet. Auf den weiteren standen Namen. Die Ordner verrieten, mit wem Saathoff sich auseinandersetzte oder wer das Unglück hatte, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Roolfs nahm sich einige vor und fand, was er vermutet hatte: Hier hatte Saathoff seine umfangreichen Schriftwechsel gesammelt. Roolfs verspürte wenig Lust, darin zu lesen.

In den Regalen waren Bücher und weitere Ordner sorgfältig aufgestellt. Roolfs überflog die Buchrücken. Romane, Sachbücher, vor allem Bücher zu geschichtlichen Themen über Ostfriesland und Norddeutschland.

Er warf noch einen Blick in ein winziges orange-braun gefliestes Badezimmer und ging dann wieder die Treppe hinunter. Warum war er überhaupt hergekommen?

Als letzten Raum nahm er sich die Werkstatt vor. Roolfs wusste, dass Folkert Saathoff Uhrmachermeister gewesen war. Er betrat einen großen Raum mit großen Fenstern, an denen drei Arbeitstische standen. Auf jedem befand sich eine Uhr zur Reparatur. Alle Teile der Uhrwerke waren ordentlich in Kästchen abgelegt, alle Werkzeuge sorgfältig aufgereiht. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch, über dem Lampen und Scheinwerfer installiert waren.

An den Wänden standen mehrere Schränke. Hier waren unendliche viele Kistchen und Kästen aufgestellt, alle ordentlich beschriftet und gefüllt mit Tausenden winziger Ersatzteile. Zwischen den Schränken hingen Saathoffs Gesellen- und der Meisterbrief sowie verschiedene Urkunden, die erfolgreiche Teilnahme an Lehrgängen und Fortbildungen dokumentierten.

Roolfs sah auf die Uhr. Eine dreiviertel Stunde hatte er jetzt in Saathoffs Haus verbracht. Reichte das aus, um seinem Chef guten Gewissens mitteilen zu können, man habe alles getan?

Er verließ das Haus durch die Hintertür, schloss ab und schlenderte zum Auto.

Sorgfältig notierte Traute Sassen die Uhrzeit in Klammern hinter dem Eintrag von vorhin in ihr Heft.

Es klingelte an der Tür. Gerade begann in der Wiederholung von Dalli Dalli die Runde mit dem Publikumskandidaten, der während seines Einsatzes von Schnellzeichner Oskar porträtiert wurde. Noch bevor sie den Fernseher ausschalten konnte, klingelte es zum zweiten Mal.

Mit einem aufmunternden Knurren erhob sie sich und ging zur Tür, wo es jetzt schon zum dritten Mal klingelte. Einem so ungeduldigen und aufdringlichen Besucher würde sie gleich erst einmal ordentlich Bescheid geben. Sie öffnete.

Vor der Tür stand Roolfs.

»Herrijeget!«, entfuhr es Traute Sassen. »Herr Kommissar. Ik hebb Hör vandag all in’t Bladd sehn.«

»Frau Sassen?«, fragte Roolfs. »Sie sind doch bestimmt eine Nachbarin, die Anteil nimmt an dem, was um Sie herum geschieht. Darf ich einen Moment reinkommen?«

»Aber neugierig bin ich nicht!«, betonte sie. »Soll ich uns eine Tasse Tee machen?«

Als sie mit dem Beamten in die Wohnküche kam, sah sie mit Schreck, dass das Schreibheft noch aufgeschlagen auf der Fensterbank lag. Dummerweise hatte sie auch das Fernglas nicht weggeräumt.

Roolfs hatte es ebenfalls bemerkt. »Tasse Tee? Ja, danke«, brummte er. »Ich guck mir so lange Ihre Notizen an, wenn ich darf.«

Traute Sassen wurde verlegen. »Nicht, dass Sie jetzt denken …«

»Ich denke gar nichts«, erwiderte Roolfs. »Sie glauben ja gar nicht, wie vielen Menschen es heutzutage gleichgültig ist, was um sie herum geschieht. Man hat doch auch eine gewisse Mitverantwortung in der Nachbarschaft. Man kann doch nicht immer nur so für sich leben.«

»Sag ich ja immer.«

»Darf ich?« Roolfs deutete auf das Schreibheft.

Sie deutete ein Nicken an und ging in die Küche.

Er nahm sich das Schreibheft vor. Als er nach der zweiten Tasse Tee die Aufzeichnungen der letzten Woche durchgelesen und sich Notizen gemacht hatte, gab Brigitte Xander die Gewinnsumme der Dalli-Dalli-Sendung bekannt. Mady Riehl rechnete das Ergebnis in österreichische Schilling um.

4

Vier Namen standen auf Roolfs’ Liste. Er hatte von unterwegs auf der Dienststelle angerufen und die Kollegen gebeten, ihm die Adressen herauszusuchen. Oben auf der Liste stand der Name der Pastorin. Die Nachbarin hatte ihm erklärt, dass Pastorin Willms am Sonnabend einen heftigen Wortwechsel mit Saathoff vor dessen Haustür gehabt hatte. Nachdem Saathoff wieder in sein Haus zurückgegangen war und die Haustür lautstark zugeschlagen hatte, war die Pastorin – so hatte die Nachbarin es zufällig gesehen – in ihr Auto gestiegen und wieder losgefahren.

Die Reentshusener Kirche stand auf einer hohen Friedhofswarft. Das sonnenbeschienene Gebäude mit seinem gedrungenen Glockenhaus war von hohen Bäumen umgeben wie in einem Urlaubsprospekt.

In der Einfahrt des Pfarrhauses stand ein Auto mit geöffneter Heckklappe. Ein Mann wuchtete eine Reise­tasche in den Kofferraum, während drei Mädchen Gummitwist spielten. Gummitwist. Roolfs erinnerte sich, dass seine Schwester das früher mit ihren Freundinnen gespielt hatte.

»Meine Frau hat Urlaub«, sagte der Mann, der noch zwei Sporttaschen im Kofferraum verstaute und dann die Heckklappe schloss. »Pastor Osterloh aus Aurich macht für sie Vertretung. Soll ich Ihnen seine Nummer geben?«

»Besten Dank, ich bin Hauptkommissar Roolfs. Ich habe ein paar Fragen an Ihre Frau. Kann ich sie sprechen?«

»Die ist schon abgereist. Nach Helsinki. Wir fahren ihr hinterher. Ein paar Tage bei meinen Eltern, und dann fliegen wir auch.«

»Wir möchten Ihre Frau befragen«, erklärte Roolfs. »Es geht um einen Todesfall in ihrer Gemeinde. Es sind nur ein paar Routinefragen.«

»Folli Saathoff?«

Roolfs antwortete nicht und sah den Mann nur an.

»Folli Saathoff also«, bejahte der Mann seine eigene Frage. »Es wird geredet im Dorf. Dass da vielleicht jemand seine Finger im Spiel hatte. Stimmt das?«

»Ihre Frau ist eine der letzten, die ihn lebend gesehen haben.«

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Er hat sie nicht mal ins Haus gelassen. Meine Frau war ziemlich sauer. Sie hatte mit Saathoff eine Absprache über den Verkauf eines Grundstückes getroffen. Er gehört zu der Erbengemeinschaft. Alles war unter Dach und Fach. Dann hat er sein Einverständnis plötzlich wieder zurückgezogen.«

»Und dann ist sie zu ihm gefahren.«

»Ja«, antwortete der Mann. »Sie hat gesagt, dass sie mit diesem schlechten Gefühl nicht in den Urlaub fahren wollte. Sie wollte noch mal mit ihm reden, aber er hat ihr einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen.«

»Und dann?«

»Und dann?«, fragte der Mann zurück. »Glauben Sie, meine Frau hätte ihn erschossen? Sie hat einen Moment vor der Tür gewartet, ob er es sich noch anders überlegt, und dann ist sie wieder nach Hause gekommen.«

»Hat sie mit jemandem darüber geredet?«, wollte Roolfs wissen.

»Mir hat sie es natürlich erzählt. Und Uwe Osterloh. Ihr Kollege, der sie in den nächsten drei Wochen vertritt. Und den Bürgermeister hat sie noch angerufen. Danach hat sie sich in die Badewanne gesetzt, ein Schaumbad genommen, und das war’s. Ich gebe Ihnen die Handynummer meiner Frau. Warten Sie.«

Der Mann öffnete die Beifahrertür, angelte sich einen Notizzettel aus dem Handschuhfach und notierte die Nummer. Er reichte Roolfs den Zettel. »Hier, bitte. Sie können sie gern anrufen. Folli Saathoff hatte noch nicht mal den Mumm, es ihr persönlich zu sagen. Er hatte nur eine Mail geschickt. Dieser …«

»Ja?«, fragte Roolfs.

»Sie wissen doch«, antwortete der Mann. »De mortuis nil nisi bene.«

»Meine letzte Lateinstunde liegt Jahrzehnte zurück«, sagte Roolfs.

»Meine nicht, ich bin Lateinlehrer. Über die Toten soll man nichts als Gutes sagen«, erklärte der Mann. »Vielleicht müssen manche erst tot sein, damit man Gutes über sie sagt.«

Eine halbe Stunde später verließ Roolfs Reentshusen Richtung Aurich. Er hatte die Pastorin auf ihrem Handy erreicht, und ihre Angaben stimmten mit den Angaben ihres Mannes und den Notizen der Nachbarin von Saathoff überein.

Das Gespräch mit Helmut Siebelts, dem Vorsitzenden des Heimatvereins, hatte kaum Anhaltspunkte gebracht. Siebelts hatte kurz von den Streitereien mit Saathoff im Vorstand berichtet. Er hatte am Nachmittag bei Saathoff geklingelt, um über den Brief zu sprechen, in dem dieser seine erneute Kandidatur für den Vorstand angekündigt hatte. Aber es hatte niemand geöffnet. So hatte es auch die Nachbarin in ihrem Schreibheft notiert. Danach hatte Siebelts bis in die späte Nacht mit seinem eigenen Nachbarn die vielen Schallplatten aus dem Nachlass seiner Schwiegereltern sortiert. Einige wenige hatten er und sein Nachbar behalten, und die anderen hatten sie bei Ebay eingestellt.

Ein Detail hatte Roolfs sich notiert: Laut Siebelts hatte Saathoff ihm am Sonnabendmorgen auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er hätte mitgeteilt, dass er einen Umschlag mit hundert Euro für Fotokopien in Siebelts’ Fach im Büro des Heimatvereins gelegt hätte. Wie alle Vereinsmitglieder hatte auch Saathoff einen Schlüssel und durfte den Fotokopierer nutzen. Warum Saathoff eine solche Menge an Kopien angefertigt hatte, wusste Siebelts aber nicht.

Drei Namen standen noch auf Roolfs’ Liste. Aiko Redenius, den Leiter der dörflichen Grundschule, hatte er nicht angetroffen. Roolfs hatte ihm einen Notizzettel mit der Bitte um Rückruf in den Briefkasten gesteckt. Die Inhaberin des Uhrmacher- und Juweliergeschäftes in Aurich, für das Saathoff gearbeitet hatte, war am Sonnabend auch bei ihm zu Hause gewesen. Er würde sie nachher in ihrem Geschäft aufsuchen. Zuerst wollte er jetzt zu Margret Weermann, der angehenden Gästeführerin, die mit Saathoff bei der Kirchenführung aneinandergeraten war.

Der Weg zu Margret Weermanns Haustür war ein Kreuzweg der guten Laune. Flankiert wurde der Garten­eingang durch zwei mannshohe rot-weiße Leucht­türme. In die Gehwegplatten waren lachende Gesichter eingelassen, der Weg wurde gerahmt von bemalten Garten-Accessoires: heiter gestimmte Blumen­kübel, gut gelaunte bepflanzte Schubkarren, glückliche Gießkannen und fröhliche Fahrräder. Bunt bemalte Gartenfiguren, die ebenfalls vorn und hinten bepflanzt waren, reckten ihm Schilder entgegen, auf denen er mit Moin – Moin und Kumm rin begrüßt wurde. Statt der Zwerge, die er bei Folkert Saathoff gesehen hatte, tummelten sich hier andere kleine Figuren. Als Köpfe hatten sie Blumentöpfe, aus denen die Pflanzen wie Haare wuchsen. Dazwischen saßen Kunststeinfiguren mit heiteren Gesichtern, fröhlich bunte Windräder drehten sich, ein Brunnen plätscherte vergnügt vor sich hin.

Besonders geliebt wurden wohl die Erdmännchen aus Steinharz. Jedenfalls hatte eine ganze Zivilisation dieser auf putzig getrimmten Figuren in Margret Weermanns Garten ein Zuhause gefunden. Vier von ihnen standen dann auch neben bemalten Milchkannen vor der Haustür und präsentierten ein großes Schild mit der Aufschrift Willkommen.

Roolfs’ Laune war auf dem Tiefpunkt angekommen. Er atmete einmal tief. Bevor er klingeln konnte, wurde die Haustür schon aufgerissen.

»Hallo, moin!« Margret Weermann begrüßte ihn mit schriller Fröhlichkeit. »Tut mir leid, ist leider schon weg«, kicherte sie.

Roolfs sah sie ratlos an.

»Sie wollen doch sicher auch das Wohnmobil angucken, das mein Mann in den Kleinanzeigen inseriert hat. Das ist vor ’ner halben Stunde weggegangen. Telefon und Haustür stehen den ganzen Tag nicht still. Oder kommen Sie nicht deshalb?«

»Ich bin Hauptkommissar Roolfs. Ich habe ein paar Fragen und denke, dass Sie mir da weiterhelfen können.«

Sofort verschwand die aufgesetzte Fröhlichkeit aus Weermanns Gesicht. »Folli Saathoff? Hat er mich angezeigt? Wegen Sonnabend in der Kirche? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«

»Tut mir leid«, antwortete Roolfs, »gleich wird es noch ernster. Herr Saathoff wurde heute Morgen tot in seinem Haus aufgefunden. Und zu den letzten Personen, die ihn lebend gesehen haben, gehören Sie.«

Roolfs merkte, dass das Entsetzen in ihrem Gesicht echt war. Sie trat einen Schritt zurück und suchte nach Fassung.

»Tot? Folli Saathoff?« Weermann schluckte. Dann war ihre Fassung wieder da. »Soll das heißen, dass Sie mich verdächtigen? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.«

Auf einmal stand ein Mann im grauen Jogginganzug wie ein kampfbereiter Pitbull-Terrier vor Roolfs. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Wir müssen Sie hier nicht reinlassen. Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«

»›Durchsuchungsbeschluss‹ heißt das«, erwiderte Roolfs trocken. »Ich will Ihr Haus gar nicht betreten. Ich denke, Ihre Nachbarn können besser mithören, wenn wir hier draußen weiterreden.«

Margret Weermann sah ihren Mann fragend an. Der schnaubte und trat dann zur Seite. »Okay, Sie können reinkommen. Aber ich warne Sie: Wir haben eine Rechtsschutzversicherung!«

Traute Sassen schaltete den Fernseher aus. Seit der Sender sich auf Fernsehserien und Shows aus den 70er und 80er Jahren spezialisiert hatte, schaltete sie diesen Programmplatz besonders gern ein. Gerade war eine Folge von Percy Stuart gesendet worden. Aber jetzt kam eine Wiederholung von Disco mit Ilja Richter, und das musste ja nicht sein. Das hatte sie früher schon nicht gern gesehen. Zu den Cliquen, die diese Musik mochten, hatte sie nie gehört. Aber für heute Abend war Der Blaue Bock angekündigt. Das würde ein guter Abend werden.

Das Telefon klingelte. Der Anrufer war schlecht zu verstehen. »Hallo, Frau Sassen. Wir möchten Ihnen etwas Gutes tun. In Ihrem Briefkasten finden Sie einen Umschlag mit hundert Euro. Warum fahren Sie nicht für eine Stunde nach Aurich und machen etwas Schönes?«

Sie erstarrte. »Wollen Sie in mein Haus einbrechen? Glauben Sie, dass ich auf so etwas hereinfalle? Ich bin doch nicht …«

Der Anrufer unterbrach sie. »Keine Sorge. Wir werden weder Ihr Haus noch Ihr Grundstück betreten. Versprochen. In dem Umschlag mit dem Geld finden Sie auch ein Foto. Schauen Sie sich das einfach in Ruhe an, und dann fahren Sie mal für eine Stunde weg. Weder Ihnen noch Ihrem Haus wird etwas passieren.« Der Anrufer legte auf.

Mit Herzklopfen ging Traute Sassen vor die Haustür. Im Briefkasten steckte ein brauner Umschlag. Sie ging wieder ins Haus. Nervös öffnete sie den Umschlag und schüttete den Inhalt auf den Küchentisch. Zwei Fünfzig-Euro-Scheine fielen heraus. Sie fasste noch einmal nach und zog ein Foto aus dem Umschlag. Ilona. Ihre Tochter, die bei anderen Eltern aufgewachsen war. Ihre Tochter, die ihre richtige Mutter nicht kannte, und von der hier auch niemand etwas wusste.

Sie griff mit zittrigen Fingern nach ihrem Autoschlüssel.

5

Roolfs schaltete das Autoradio ein, als er wieder anfuhr. Max Raabe. Am Ende kommt immer der Schluss. Das Gespräch mit Margret Weermann hatte nichts Neues erbracht. Folkert Saathoff sei vor und nach ihrem kurzen Besuch bei bester Gesundheit gewesen, hatte sie erklärt. Nachdem sie ihn im Hausflur wegen seines Benehmens in der Kirche beschimpft hatte, war er ganz ruhig geblieben und hatte sie darauf hingewiesen, dass ihr Besuch von mehreren Kameras drinnen und draußen aufgenommen wurde und er diese Szenen ins Internet stellen würde, wenn sie nicht augenblicklich sein Haus verlasse. Das hatte sie dann auch wutentbrannt getan.

Hätte Roolfs sie in die Zange nehmen sollen? Ihr Mann hatte die ganze Zeit mit dem Handy wie mit einem schussbereiten Revolver auf der Sofakante gesessen. Vermutlich hatte er die Nummern der Rechtsschutzversicherung und des Anwalts eingespeichert. Aber die Aussage seiner Frau hörte sich realistisch an, und es gab ja keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen. Bisher. Zur Sicherheit wollte Roolfs später noch einmal nach den Kameras bei Saathoff suchen.

Als er auf dem Weg nach Aurich wieder an der Grundschule vorbeifuhr, sah er auf dem Parkplatz einen dunkelgrünen Volvo. Die Buchstaben AR standen vermutlich für Aiko Redenius. Es war einen Versuch wert. Roolfs parkte daneben und ging an Fahrradständer und Turnhalle vorüber. Beide hatten schon bessere Tage gesehen. Der Haupteingang war verschlossen. Roolfs ging um das Hauptgebäude herum auf den Schulhof.

Ein Mann stand vor den beiden Tischtennisplatten aus Beton und machte mit seinem Handy Fotos. Eine war kaputtgeschlagen. »Suchen Sie mich?«

»Ich kann nur im Filetstück der Sommerferien Urlaub machen«, sagte Aiko Redenius, als Roolfs in dem kleinen Büro des Schulleiters Platz genommen hatte. »Die ersten und die letzten anderthalb Wochen muss ich hier immer die Welt retten. Oder zumindest unsere kleine Welt hier. Kaffee?«

Roolfs nickte, obwohl er eigentlich keinen wollte.

»Ist ganz frisch.« Redenius setzte dem Kommissar einen Kaffeebecher vor und schob ihm eine geöffnete Milchtüte und einen Zuckerbehälter in Form eines Bienen­korbes aus ockerglasierter Keramik zu. Sogar Bienen waren am Deckel und an den Seiten darauf modelliert.

»Mein Schwiegervater ist Imker. Da kriegt man so etwas geschenkt. Aber Sie kommen sicher wegen Folli Saathoff. Ich habe schon gehört, dass er verstorben ist.«

»Sie sind gut informiert«, stellte Roolfs fest.