Tod eines Häuptlings - Andreas Scheepker - E-Book

Tod eines Häuptlings E-Book

Andreas Scheepker

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Beschreibung

Ein Dorf voller Bücher - das ist der Traum von Fürst Carl Edzard von Ostfriesland. Im ostfriesischen Hillersum soll ein Bücherdorf entstehen: ein Dorf mit vielen Buchhandlungen, Antiquariaten und kulturellen Einrichtungen. Der Fürst hofft, Ostfriesland als Region für Kultur und Tourismus aufzuwerten. Als der Initiator des Bücherdorfes, Buchhändler Axel de Groot, ums Leben kommt, fürchtet Carl-Edzard um sein Lieblingsprojekt. Er schickt seinen Hofbuchhändler Johannes Fabricius nach Hillersum, um hinter den Kulissen zu ermitteln. Bald gibt es einen zweiten Toten. Hauptkommissar Gerrit Roolfs, privat von seinen älter werdenden Eltern und beruflich von seinem neuen Vorgesetzten gestresst, ist für die inoffizielle Hilfe nicht undankbar. Fabricius erforscht die Hintergründe und Abgründe des Bücherdorfes. Er findet heraus, dass es dort keineswegs nur um Bücher und Literatur geht, sondern um handfeste finanzielle Interessen. Durch seine Ermittlungen bringt er sich selbst in Gefahr.

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Andreas Scheepker

Tod eines Häuptlings

Ostfrieslandkrimi

Zum Autor

Andreas Scheepker ist gebürtiger Ostfriese. 1963 wurde er in Hage geboren. Nach dem Abitur am Ulrichsgymnasium in Norden studierte er Evangelische Theologie und später noch Literatur­wissenschaft, Geschichte und Pädagogik. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Aurich, wo er als Schulpastor am Gymnasium Ulricianum unterrichtet. Außerdem arbeitet er als Studienleiter in der Arbeitsstelle für Ev. Religionspädagogik und ist dort vor allem für Fortbildungen zuständig. Scheepker hat mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten verfasst, die in Ostfriesland spielen. Dabei stehen oft Themen der ostfriesischen Geschichte im Hintergrund. Sein Kriminalroman »Tote brauchen keine Bücher« wurde für den Literaturpreis »Das neue Buch« 2004 nominiert.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2009 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Dar1930/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6510-9

Widmung

Eine gute Buchhandlung ist mehr als ein Fachgeschäft für Bücher. Sie ist auch ein Ort für Begegnungen zwischen Menschen und Menschen und Büchern. Damit ist eine Buchhandlung ein wichtiger Teil unserer Kulturlandschaft. Buchhändlerinnen und Buchhändler gestalten durch ihr Engagement unser kulturelles Leben mit.

Ich widme diesen Roman Regina Babatz und Claudia Hoffmann in Jever. Für meine Frau, unseren Sohn und mich war ihre Buchhandlung während unserer Jahre in Wittmund-Asel nicht nur eine Buchhandlung, in der es Freude machte, neue gute Bücher kennenzulernen und zu kaufen, sondern wir sind dankbar für viele schöne Begegnungen und Gespräche über Bücher und darüber hinaus.

Vorwort

Nein, dies ist kein historischer Roman! Gibt es überhaupt historische Romane? Im besten Fall sind es immer Romane, die Menschen von heute für Menschen von heute schreiben.

Dies ist ein Kriminalroman, der in unserer heutigen Zeit spielt. Beinahe jedenfalls. Im Hintergrund nimmt dieses Buch eine kleine Kulissenschieberei vor. Es besteht allerdings kein Anlass zur Sorge: Ihr Einfluss auf die Handlung ist fast zu vernachlässigen.

»Fürstentum Ostfriesland« steht auf Aufklebern, die die Hecks nicht weniger Autos in Ostfriesland verzieren.

Natürlich wissen die historisch und ostfriesisch Informierten, dass der letzte ostfriesische Fürst Carl-Edzard 1744 kinderlos verstarb und sein Territorium von Preußen »übernommen« wurde. Hätte er Nachkommen gehabt, hätte das Fürstentum Ostfrieslands vermutlich bei einer der nächsten politischen Neuordnungen zu existieren aufgehört.

Aber was wäre, wenn durch historische Kuriositäten Ostfriesland heute tatsächlich noch ein eigenstaatliches Gebilde wäre, vielleicht eine Art Freistaat in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Fürsten als Repräsentanten und einem hohen Maß an Selbständigkeit? Wäre Ostfriesland dann eine Steueroase? Ein idealer Stoff für Märchenhochzeiten und für die Zeitschriften, die beim Friseur ausliegen?

Sicherlich hätten sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in unserer Region kaum anders entwickelt, als sie heute sind. Oder etwa doch?

Auf jeden Fall ist es für den Autor eine herrliche Kulisse für einen Kriminalroman, der sich ansonsten innerhalb der Konventionen eines Kriminalromans bewegt: die üblichen Verdächtigen und die üblichen Motive.

Dass Personen und Handlungen frei erfunden sind, ergibt sich schon daraus, dass dieses Buch ein Roman ist. Es macht so viel Freude, sich Personen und Handlungen auszudenken, dass es allein deshalb schon schade wäre, nur die Wirklichkeit zu kopieren. Lediglich an einer Stelle taucht für einen Moment eine real lebende Person auf, der ich auf diesem Wege einen Gruß in den neuen Lebensabschnitt als Ruheständler mitgeben möchte.

Herzlich danken möchte ich allen, die mir bei großen und kleinen Fragen geholfen haben, besonders bei Herrn Dr. Ekkehart Wolter aus Norden und Herrn Pastor Manfred Hurtig aus Nesse. Herzlich danke ich meiner Frau Angelika­ und meinem Sohn Menno für alle Unterstützung.

Lektorin Maeve Carels danke ich für die gute Zusammenarbeit und besonders für die hilfreiche Kritik und die Ratschläge, die dringend nötig waren und von denen ich eine Menge lernen konnte.

Ebenso gilt mein herzlicher Dank Heike und Peter Gerdes, die mich zu einer Fortsetzung dieser Reihe ermutigt und dieses Buch in ihr Verlagsprogramm aufgenommen haben.

Andreas Scheepker, 2009

Die Hauptpersonen und ihre derzeitige Lektüre

Die professionellen und unprofessionellen Ermittler

Gerrit Roolfs, Hauptkommissar

Deon Meyer: Der traurige Polizist

Johannes Fabricius, Buchhändler

Alan Bennett: Die souveräne Leserin

Lothar Uphoff, Kriminaldirektor

Siegfried Lenz: Die Auflehnung

Theda van Immen, Kommissarin

Laurie R. King: Die Gehilfin des Bienenzüchters

Chris Gronewold, Chef

Jürgen Lürsssen: Die heimlichen Spielregeln der Karriere

Habbo Janssen, Hauptkommissar

Heie Focken Erchinger und Martin Stromann: Sturmfluten

*

Mehr oder weniger hilfreiche Personen und die üblichen Verdächtigen:

Carl Edzard II. Cirksena, Fürst

John Röhl: Wilhelm II. – Der Weg in den Abgrund 1900–1941 

Ulli de Groot, Geschäftsmann

Stieg Larsson: Verdammnis

Sabine de Groot, Witwe

Ulla Hahn: Das verborgene Wort

Günther Neeland, Restaurator

Friederike Klemm (Hrsg.): Restauratoren-Handbuch 2008/2009 

Katja Tiedgen, Lebensgefährtin

Günther Willen: Niveau ist keine Hautcreme

Erich Oldewurtel, Oberstudienrat

Ubbo Emmius: Friesische Geschichte

Uwe Debelts, Installateur

Hugo Feurich: Taschenbuch für den Sanitärinstallateur

Karsten Rademacher, Praktikant

Richard und Georg Precht: Die Instrumente des Herrn Jørgensen

Hanna Siefkes, Buchhändlerin

Jane Austen: Emma

Helmuth Onninga, Buchhändler

Die Fliesenbibel

Krino van Westen, Geschäftsmann

Walter Kempowski: Echolot

Charlotte Schierenberg-Sassen, Dozentin

Klaus W. Vopel: Schreibwerkstatt

Insa Fuldner, Doktorandin

Christopher Hogwood: Händel

Uwe Osterloh, Pastor

Walter Moers: Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär

Teil 1: Im Oktober

1

27. Oktober

Okko tom Brok hob sein Schwert. Das war das Zeichen. Entschlossen schritten seine Männer auf die feindliche Streitmacht zu.

Focko Ukena gelang es erst im letzten Moment, seine Leute auf den Wilden Äckern zu einer Schlachtreihe zu ordnen; so überraschend war für sie der Angriff tom Broks aus dem befestigten Marienhafe. Die Brookmerländer kamen näher wie ein riesiges Tier mit vielen Füßen und todbringenden Stacheln.

Ukenas Männer wichen zurück, aber Fokko Ukena selbst und seine engsten Getreuen standen wie Felsen in der Brandung. Allmählich fassten auch ihre Männer wieder Mut und bildeten eine Verteidigungslinie. Die Angriffswelle der Brookmerländer wurde langsamer und langsamer und kam schließlich zum Stehen.

Okko tom Brook schlug wild auf die Schilde und Schwerter der Gegner ein. Vergeblich spornte er seine Leute an: »Wir müssen weiter, wir müssen weiter!«

»Wir müssen zurück«, rief einer seiner Gefährten, dann fiel er von einem Schwert getroffen zu Boden. Tom Broks Hauptleute befahlen den Rückzug, sie mussten ihren Häuptling gewaltsam mitzerren.

Nun begannen Fokko Ukenas Männer den Gegenangriff und trieben ihre Feinde vor sich her. Immer mehr Brookmerländer fielen oder ergaben sich. Tom Brok war der Rückzug abgeschnitten. Er formierte sich mit seinen Männern zu einem letzten Kampf. Für einen Moment verstummte der Gefechtslärm.

»Für ein einiges Friesland!«, rief Okko tom Brok und erhob noch einmal sein Schwert.

»Für ein freies Friesland!«, erwiderte Fokko Ukena.

In diesem Moment dudelte die Fanfare von Star Wars über das Schlachtfeld. Die Männer erstarrten und ließen die Waffen sinken.

Okko tom Brok griff in die Hosentasche und holte sein Handy hervor. »Hallo, Bine. Du, das passt jetzt irgend­wie gar nicht. Ich kämpfe jetzt gerade gegen meinen­ Endgegner­. Ich ruf dich nachher zurück. Tschüss!«

»Ich raste hier gleich aus«, rief ein Mann, der im rotweißen Trainingsanzug über Tote und Verwundete hinweg auf die feindlichen Häuptlinge zukam. Der Spielleiter baute sich vor Okko tom Brok auf. »Spinnst du jetzt total, oder was? Axel, das hier ist die Generalprobe! Wenn du meinst, dass du das hier nicht nötig hast, dann finde ich noch heute Abend einen Ersatzmann für dich. Ist das klar?«

Okko tom Brok steckte das Handy wieder ein. »Ich dachte, ich hätte das Ding ausgestellt. Tut mir echt leid. Sei nicht sauer.«

Der Spielleiter schluckte. Er ahnte wohl, dass ein Wutausbruch die ohnehin schon angespannte Stimmung völlig kaputtmachen würde. »Okay, die Schlussszene ab dem Gegenangriff noch mal.« Er warf Okko tom Brok einen grimmigen Blick zu und trottete wieder zur Zuschauertribüne. Die Dämmerung hatte eingesetzt.

Der Spielleiter gab das Handzeichen. Noch einmal bauten sich die Truppen auf dem zur Freilichtbühne umfunktionierten Sportplatz auf. Wieder wurden die Brookmerländer Angreifer zurückgeschlagen und man führte Okko tom Brok schließlich mit gefesselten Händen vor Fokko Ukena. Beide nahmen die heroische Pose ein, in der die Szene auf dem Historienbild von Tjarko Meyer Cramer dargestellt war: tom Brok mit auf dem Rücken gefesselten Händen, den trotzigen Blick nach unten gerichtet, während Ukena ihm mit großherziger Geste die Hand auf die Schulter legt.

Okko tom Brok hob den Kopf und rief pathetisch: »Nun bin ich euer Gefangener.«

Fokko Ukena antwortete nicht weniger lautstark und salbungsvoll: »Friesland nimmt euch gefangen, damit Friesland wieder frei ist. Frei sei Friesland – Eala freya Fresena!«

Okko tom Brok wurde von zwei Bewaffneten weggeführt.

»Frei sei Friesland«, wiederholten die Männer. »Eala freya Fresena!« Für einen Moment verharrten alle in ihrer Stellung, die Männer hielten ihre Waffen hoch, die Helden posierten noch heldenhafter, die Verwundeten schauten noch kläglicher drein, und die Toten wirkten noch toter. Dann löste sich die Spannung.

Der Spielleiter klatschte ein paarmal in die Hände und stand auf. »Der Schluss ist ein bisschen dick aufgetragen, aber so lieben es die Leute. Wunderbar«, sagte er. Er gab ein paar letzte Anweisungen und beantwortete geduldig die letzten Fragen. Nach der Generalprobe musste zügig Schluss gemacht werden, damit die Spannung bis zur morgigen Premiere weiterknisterte.

»In Ordnung, Leute. Das war’s. Halt. Eine Sache noch. Vielleicht kommt das Ganze noch besser, wenn Okko tom Brok nicht abgeführt wird, sondern bis zum Schluss hier vorn bleibt. Axel?« Der Spielleiter sah sich nach dem Schauspieler um, der Okko tom Brok spielte.

»De treckt sück all um«, antwortete einer der beiden Ritter, die den gefangenen Häuptling weggeführt hatten, und deutete auf das Sportlerheim.

Der Spielleiter rollte mit den Augen. Ein zweites Mal gelang es ihm mit Mühe, einen Wutausbruch zu unterdrücken. »Dann hole ich Axel hierher zurück. Die Generalprobe ist dann zu Ende, wenn ich sage, dass sie zu Ende ist. Nicht eine Minute eher.« Er sprach diese Worte leise vor sich hin, und alle wussten, dass dieser Tonfall eine größere Bedrohung darstellte als einer seiner Wutausbrüche.

Mit stierem Blick ging er auf das Vereinsheim zu. Der Schauspieler, der Focko Ukena darstellte, folgte ihm, um Schlimmeres zu verhindern. Die beiden Männer betraten den Umkleideraum.

»Axel«, rief der Spielleiter wütend. Niemand antwortete.

»Vielleicht duscht er im Keller«, sagte Ukena.

Die beiden Männer schauten die Treppe hinunter. Axel de Groot lag unten auf dem gefliesten Flurboden. Häuptling Okko II. tom Brok war tot.

2

Hauptkommissar Gerrit Roolfs saß mit seinem Team im Besprechungsraum. Auch der Kriminaldirektor war dabei. Die Abendsonne schien durch die Fenster und malte orangefarbene Streifen auf die Pinnwand mit den Dienstplänen, amtlichen Mitteilungen und dienstlichen Informationen.

Roolfs hatte den Ausführungen des Gerichtsmediziners konzentriert zugehört. Axel de Groot war die Treppe in den Duschkeller hinabgestürzt und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Geduscht hatte de Groot noch nicht. Shampoo und Handtuch hatten auf der Treppe gelegen. Ob der Sturz durch Fremdeinwirkung verursacht worden war, konnte der Mediziner nicht mit Sicherheit sagen.

Axel de Groot hatte Spuren von Gewalteinwirkung am ganzen Körper, die aber auch von der Generalprobe kommen konnten. De Groot machte alle Actionszenen selbst – genau so wie sein Kontrahent, der Focko Ukena spielte, und der ebenfalls blaue Flecken und Schürfungen­ von den Kämpfen und Stürzen während der Proben abbekommen hatte.

Der Gerichtsmediziner war sich sicher, dass der Genick­bruch vom Sturz herrührte und nicht auf eine andere Ursache schließen ließ. Morgen früh würde er das Ergebnis der Obduktion mitteilen.

Kriminaldirektor Uphoff nickte dem Kollegen von der kriminaltechnischen Untersuchung zu, der daraufhin mit seinem Bericht begann.

Etwa fünfzig Mitglieder der Theatergruppe hatten sich vor der Probe umgezogen, viele von ihnen hatten nach der Arbeit und vor Probenbeginn eine Dusche genommen­. Dazu kamen etwa dreißig Angehörige des Teams, das für Technik und Organisation zuständig war. Eine Reihe von Angehörigen hatte der Generalprobe ebenfalls zugeschaut.

Die meisten aus diesem Personenkreis hatten sich zwischendurch im Gebäude aufgehalten, dessen obere Räume als Cafeteria dienten, während sich im Erdgeschoss Umkleidekabinen, Büros, Abstellräume und die Turnhalle befanden. Der Keller war vor einem Jahr ausgebaut und mit Duschräumen und sanitären Anlagen eingerichtet worden. Besonders die Umkleideräume und das Kellergeschoss mit den Toilettenräumen waren übersät mit Spuren­, die auf gut achtzig Personen zurückgehen mussten.

Der Kollege ließ diese Informationen einen Moment auf das Team wirken und erklärte dann, dass bisher keine­ eindeutigen Spuren gefunden worden waren, die Fremdeinwirkung beim Tod Axel de Groots vermuten ließen.

Lothar Uphoff schnaufte. »Sind alle Namen der Mitwirkenden bei der Generalprobe festgehalten?«

»Alle, Chef«, antwortete Theda van Immen, die seit einem dreiviertel Jahr im Team dabei war und bei der Entlarvung des Mörders im Weihnachtsmannkostüm einen guten Einstand gegeben hatte. »Es gibt sogar ein paar gefilmte Szenen und Fotos. Das Material wird gleich morgen früh ausgewertet. Wir werden sehen, ob da etwas drauf ist, das uns weiterhilft.«

Hauptkommissar Habbo Janssen sah auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. »So, nu is’ Fierabend. Mörgen geih’t wieder!«

Kriminaldirektor Lothar Uphoff nickte.

 

3

28. Oktober

Als sich das Team am nächsten Morgen im Besprechungsraum traf, sah Kriminaldirektor Lothar Uphoff in die Runde. Er hatte ein gutes Gefühl. Seine Mannschaft war wie ein Uhrwerk, das immer funktionierte. Wenn ein Teil nicht einwandfrei arbeitete, übernahm jemand anders die Aufgabe. Wenn es an einer Stelle nicht weiterging, fand immer ein anderer einen Weg. Gerrit Roolfs mit seiner zielstrebigen und direkten Art, Habbo Janssen mit seiner Unermüdlichkeit, Theda van Immen mit ihrer unnachahmlichen Mischung aus Kreativität und Penetranz und die anderen, von denen Uphoff die meisten seit vielen Jahren kannte.

Jahre hatte es gedauert, dieses Team zu bilden. Inzwischen war es so stark, dass auch eine Neue wie Theda van Immen, die einen schwierigen Einstieg gehabt hatte­, inzwischen ein unverzichtbares Mitglied in Lothar Uphoffs Mannschaft war.

Uphoffs Frau hatte ihm den Genuss neonfarbiger Limonaden verboten, und so war er auf Tee umgestiegen. In ein Teeglas von der Größe eines Litermaßes goss er aus der Teekanne eine leuchtend rote, dampfende Flüssigkeit. Die anderen hatten Kaffeebecher mit den bunten Aufdrucken­ verschiedener Vereine und Firmen vor sich stehen.

Kriminaldirektor Uphoff nickte, die Besprechung konnte beginnen.

Die Kollegen von der Kriminaltechnik hatten sich schon früh am Morgen noch einmal den Tatort vorgenommen, ohne konkrete Anhaltspunkte für ein Verbrechen zu finden.

Theda van Immen hatte Informationen über Axel de Groot zusammengestellt. Sie begann ihren Bericht: »Axel de Groot war Inhaber eines Versandantiquariates und eines großen Antiquitätenhandels mit Geschäften in Hillersum, Bremen und Oldenburg. Das Stammhaus ist in Hillersum. Das Buchantiquariat hat sich auf Erstausgaben­ und besondere wertvolle Buchausgaben spezialisiert. Zwischen Hillersum und Norden hat er einen großen Bauernhof gekauft und zu Werkstatt und Lager umgebaut. De Groots Antiquitätenhof nennt sich das Ganze.«

Van Immen breitete ihre Papiere vor sich aus und sprach weiter: »Axel de Groot war als Buchhändler einer der Initiatoren für das Bücherdorf Hillersum. Er hat vor ein paar Jahren mit Investoren und anderen Interessierten Bücherdörfer in Großbritannien und in den Niederlanden besucht. Sein Traum war ein Bücherdorf in Norddeutschland.«

»Was ist das denn überhaupt, ein Bücherdorf?«, fragte Habbo Janssen.

»Besten Dank für die Vorlage, genau diese Infos kommen­ jetzt!«, sagte Theda von Immen. »Die Idee eines Bücherdorfes ist, in einem Dorf möglichst viele Buchhandlungen und Antiquariate anzusiedeln. Die Buchhandlungen sollen sich mit unterschiedlichen Angeboten ergänzen. Damit sollen Bücherliebhaber und Touristen angezogen werden. Hillersum ist durch die Nähe zur Autobahn gut erreichbar. Dadurch erhoffen sich die Investoren Zuspruch aus allen Richtungen: Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Niederlande. Und sie rechnen damit, dass Küsten­urlauber einen Abstecher nach Hillersum machen, wenn mal kein Badewetter ist.«

»Auch Loriot empfiehlt, bei Regenwetter eine Buchhandlung aufzusuchen«, bemerkte Habbo Janssen.

»Das Besondere am ostfriesischen Bücherdorf Hillersum ist«, setzte van Immen ihren Bericht fort, »dass man den Ort gleichzeitig zu einem kulturellen und touristischen Anziehungspunkt entwickeln will. Die alte Hillersumer Burg ist zu einer Ferienakademie umgebaut worden. Am Hillersumer Meer entsteht eine Ferienhaussiedlung. Aus der Klosterkirche soll ein gediegener Veranstaltungsort werden, so ähnlich wie die Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden, nur eine Nummer kleiner.«

»Gut«, lobte Kriminaldirektor Uphoff ihren Bericht.

»Es geht also um Bücher«, sagte Habbo Janssen lakonisch.

Theda Immen antwortete: »Ja, aber nicht nur.« Sie kramte ihre Papiere zusammen und erklärte weiter: »Verschiedene Interessen kommen zusammen, wenn ich die Infos richtig verstanden habe. Bücherfreunde wollen ein ganzes Dorf aus Antiquariaten und Buchhandlungen, in denen sie nach Herzenslust stöbern können, und die Buchhändler wollen natürlich verdienen. Kulturträger wollen sich darstellen und bei einem gut laufenden Projekt­ nicht außen vor bleiben. Dann gibt es in der zweiten Reihe Gastronomie, Kunstgewerbe, Boutiquen und andere Geschäftsleute. Und es gibt den ganzen Tourismusbetrieb, der sich in einem Bücherdorf natürlich­ stärker spezialisieren muss. Und dann sind da noch Investoren, die bestimmte Vorhaben finanzieren und einen guten Schnitt machen wollen: Ferienanlagen, ein Erlebnisbad, Events.«

»Es geht also um Geld«, resümierte Habbo Janssen.

»Ja«, antwortete van Immen, »Aber nicht nur!«

4

Die Witwe von Axel de Groot bewohnte eine liebevoll restaurierte Gründerzeit-Villa am Stadtrand von Norden­. Sabine de Groot war eine große, schlanke Frau mit dunklem­ Teint. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Kleid und rauchte einen Zigarillo.

Im Hintergrund klingelte leise Musik von Sally Oldfield. Das große Wohnzimmer war mit wenigen ausgesuchten Möbelstücken eingerichtet, die Wände mit einer cremefarbenen Tapete aus Rohseide bespannt.

»Mein Mann und ich haben unsere Ehe mehr freundschaftlich verstanden«, erklärte Sabine de Groot mit leiser, klarer Stimme. »Wir haben uns mit der Zeit auseinander entwickelt. Wir wollten uns nicht gegenseitig blockieren. Axel und ich haben beide mit unserer Buchhandlung angefangen. Dann kamen für Axel die Möbel und die Antiquitäten dazu. Ich habe mich stärker der Literatur zugewandt. Axel wurde mehr und mehr der Geschäftsmann. Wir haben gut zusammengearbeitet, und privat hatte jeder so seinen Lebenskreis.«

Theda van Immen hörte angespannt zu, Habbo Janssen ließ seine Blicke schweifen. Als Sabine de Groot Mineral­wasser für die beiden Kriminalbeamten holen ging, raunte er seiner Kollegin zu: »Hier ist noch nicht mal ein Fernseher. Wie ist so was bloß möglich?«

Bevor Theda van Immen antworten konnte, war ihre Gastgeberin zurück und fuhr fort: »Wir sind eine Art Zweier-WG. Jeder hat hier im Haus seinen Bereich. Ich wohne hier unten und Axel in der oberen Etage. Meistens wohnte er in Hillersum. Um es literarisch zu sagen: Die Liebe ist uns abhanden gekommen. Wir haben trotzdem viel Zeit gemeinsam verbracht.«

Es klingelte an der Tür. Sabine ging und öffnete.

»Das ist Günther Neeland, unser Meister«, stellte sie den beiden Kriminalbeamten den Mann vor, der nun mit ihr das Wohnzimmer betrat, ein großer, schwerer Mann mit einem Schnurrbart in seinem Jungengesicht. Sein Haar war sorgfältig gescheitelt, er trug eine graue Stoffhose, einen roten Pullunder und ein blaugestreiftes Hemd. In der Hand hielt er eine grau gebundene Mappe.

»Herr Neeland ist unser Restaurator«, erläuterte Sabine de Groot. »Er kümmert sich um alles, was mit alten Möbeln zu tun hat, und um noch viel mehr. Er ist unser Rettungsanker, denn in der nächsten Zeit wird alles in seinen Händen liegen.«

Günther Neeland lächelte verlegen.

»Aber nicht, dass Sie daraus ein Mordmotiv spinnen«, sagte Sabine de Groot spitz. »Günther ist weder an der Übernahme des Betriebes noch an der Übernahme von mir interessiert. Er liebt die alten Möbel mehr als das Geschäftliche, und seine Katja mehr als mich.«

Günther Neeland lächelte noch verlegener. Er wurde rot.

»Herr Neeland«, sagte Theda van Immen. »Wir würden uns gern auch noch einmal mit Ihnen unterhalten.«

»Ich kann Ihnen nicht viel sagen«, erwiderte Günther Neeland. »Ein schrecklicher Unfall, das Ganze.« Er sah auf die Uhr. »Du, Sabine, ich muss los. Katja kommt gleich nach Hause. Ich wollte dir nur die Unterlagen geben, die ich beim Bestatter für dich abgeholt habe.« Er reichte Sabine de Groot die graue Mappe.

»Können Sie uns aufschreiben, wo wir Sie erreichen können?«, fragte Habbo Janssen und hielt Neeland seinen Block und einen Stift hin.

Neeland kritzelte seine Handynummer auf den Block und verabschiedete sich. »Ich muss jetzt … Katja wird gleich da sein.«

Sabine de Groot brachte Neeland zur Tür und kam dann zurück, um ihre Erklärungen genau an der Stelle fortzusetzen, wo sie durch Neelands Kommen unterbrochen­ worden war. »Ich werde das Haus bekommen, für unsere Tochter ist Geld angelegt. Axels Geschäftsanteile gehen an mich. Die andere Hälfte gehört seinem Vetter Ulli de Groot. Falls Sie nicht an einen Unfall glauben, werden Sie mich sofort in den Kreis der üblichen Verdächtigen einreihen. Aber auch ohne Axels Erbe bin ich vermögend genug, um ein gutes Leben zu führen, Frau Kommissarin.«

Theda van Immen fühlte sich prüfend gemustert, von ihren ausgetretenen Schuhen bis zur zerzausten Frisur. Sie versuchte, Sabine de Groots wertendem Blick standzuhalten­, und wurde offensiv: »Frau de Groot, warum gehört die Hälfte Ihres Betriebes dem Vetter Ihres Mannes? Wie war noch mal der Name? Ulli?«

»Ulli de Groot. Richtig heißt er Ulrich. Axel und Ulli haben das Geschäft von ihrem Onkel geerbt. Der war kinderlos und hat den Betrieb den beiden Söhnen seiner beiden Brüder vermacht. Außer Axel und Ulli gibt es keine weiteren Erben. Sie sind beide Einzelkinder. Ulli hat meinem Mann die Geschäftsführung überlassen. Er verfolgte damals beruflich andere Ziele.«

»Wir werden ihn befragen«, stellte Habbo Janssen fest. »Und Sie …«, wollte er fragen.

Aber Sabine de Groot schnitt ihm das Wort ab. »Ich bin gestern Abend von einer Tagung im Bücherdorf Friedersdorf zurückgekommen. Ihr Kollege hat mich durch die Polizei in Friedersdorf verständigen lassen. Dafür gibt es ausreichend Zeugen.«

»Und der Vetter Ihres Mannes …«, wollte Habbo Janssen wieder ansetzen.

Sabine de Groot unterbrach ihn wieder. »Ulli hat sicher­ das beste Alibi. Er war gestern Abend bei einem Geschäftsessen. Nach der Pleite mit seinem Familienhotel ist er in die Nähe von Schwerin gezogen. Er wird erst zur Beerdigung anreisen. Glauben Sie im Ernst, dass es kein Unfall war? Glauben Sie, dass jemand meinen Mann die Treppe hinuntergestoßen hat? Wer könnte Axel so etwas antun?«

»Das wollten wir eigentlich Sie fragen«, antwortete Theda von Immen und sah nun ihrerseits die Gastgeberin prüfend an.

»Ich weiß zuwenig von Axels Geschäften. Aber er hat ja nicht mit Drogen oder Waffen gehandelt. Bestimmt gab es Leute, die ihn nicht mochten. Es gibt nichts Schlimmeres, als Erfolg zu haben. Aber dass ihn jemand gehasst hat oder sein Feind war, das kann ich mir absolut nicht vorstellen.«

Die Tür öffnete sich und ein dickes Mädchen im Alter von etwa zehn Jahren kam herein. »Mama, darf ich noch mit Mandy spielen? Ich bin auch zum Abendbrot wieder hier.«

Sabine de Groot warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu. »Ich möchte nicht, dass du mit Kindern spielst, die Mandy heißen. Verstehen wir uns?«

5

»Standby?« Kriminaldirektor Lothar Uphoff sah Habbo Janssen genau so ungläubig an, wie dieser ihm gutmütig zublinzelte.

»Ist doch ganz einfach«, begann Janssen in aller Ruhe seine Erklärung. »Wenn ich ein Gerät auf ›Standby‹ schalte­, ist es zwar nicht mehr in Betrieb, aber es ist auch nicht ganz ausgeschaltet.«

Uphoff grunzte: »Mag ja wohl sein. Aber ich weiß nicht, was das mit Axel de Groot zu tun haben soll. Der ist ja nun wohl endgültig ausgeschaltet. Oder?«

Hauptkommissar Gerrit Roolfs meldete sich zu Wort: »Habbo hat nicht ganz unrecht. Weder die Kriminaltechnik­ noch Gerichtsmedizin haben irgendwelche Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gefunden. Wir kommen hier nicht weiter, und wir haben nicht den kleinsten Anhaltspunkt, dass hier ein Verbrechen vorliegt.«

Die anderen nickten fast gleichzeitig.

»Wie geht es weiter?«, fragte Uphoff und lehnte sich zurück

Gerrit Roolfs berichtete: »Vorhin hat der Staatsanwalt mich angerufen und sich nach dem Stand der Ermittlungen­ erkundigt. Er konnte dich nicht erreichen, Lothar. Er sagt, dass das Bücherdorf-Projekt auf der Kippe­ steht. Da laufen noch Anträge und Verhandlungen. Der Fürst bittet inständig darum, dass wir den Ball flach halten. Solange es keine eindeutigen Hinweise gibt, soll nichts an die Öffentlichkeit. Axel de Groot war Geschäftsführer des Bücherdorfes. Der Fürst möchte verhindern, dass dieses Projekt gefährdet wird.«

»Das meine ich mit ›Standby‹«, erklärte Habbo Janssen. »Und wenn auch der Fürst möchte, dass wir unsere Ermittlungen …«

»Der Fürst kann möchten, was er will«, donnerte Kriminaldirektor Lothar Uphoff. Er erhob sich von seinem Stuhl. »Hier bin ich der Häuptling. Der Fürst hat hier gar nichts …« Er verstummte plötzlich und hielt sich dann an der Stuhllehne fest. »Ich glaube, mir würden auch mal ein paar Tage Standby ganz gut tun«, murmelte er.

Im nächsten Moment fiel er um wie ein Baum.

6

Am Abend des 28. Oktober, dem Jahrestag der Schlacht, wurde auf dem Sportgelände des TUS Hillersum das Freilichtspiel Wilde Äcker mit großem Erfolg aufgeführt. Zu Beginn der Vorstellung sagte der Spielleiter ein paar Worte zum Gedenken an Axel de Groot und dass es sicher nicht in Axels Sinne gewesen wäre, die Premiere ausfallen zu lassen. Es folgte eine Schweigeminute.

Dann konnten die Zuschauer die Rückkehr Okko tom Broks vom Königshof in Neapel nach Ostfriesland, seine Heirat mit Foelke aus Strackholt und all seine Unternehmungen bis zu seiner Ermordung bei der Belagerung der Auricher Burg verfolgen. Und sie erlebten den Aufstieg und Fall seines Enkels Okko II. bis zur Entscheidungsschlacht auf den Wilden Äckern.

Drei Tage später wurde Axel de Groot unter großer Anteilnahme beigesetzt. Die Pastorin vermied jegliche Parallelisierung von Leben und Tod Axel de Groots mit der Geschichte von Häuptling Okko tom Brok. Die Theatergruppe gab ihrem Hauptdarsteller auf dem Friedhof in historischen Kostümen das letzte Geleit, was in der Norder Bevölkerung nicht auf einhellige Zustimmung stieß.

Kriminaldirektor Uphoff verbrachte nach seinem Schlaganfall einige Wochen im Norder Krankenhaus, wo Gerrit Roolfs, Habbo Janssen und Theda van Immen ihn regelmäßig besuchten.

Schließlich trat er eine lange Reha an. Dass er dies ohne spürbaren Widerwillen tat, wertete man auf seiner­ Dienststelle als Anzeichen für den bedenklichen Gesundheitszustand des Chefs und für den eisernen Durchsetzungswillen seiner Frau. Chris Gronewold, ein früherer Kollege, wurde zum kommissarischen Leiter der Dienststelle ernannt. Ob Lothar Uphoff jemals wieder in den Dienst zurückkehren konnte, war ungewiss.

Die Kriminalpolizei stellte schließlich die Ermittlungen im Fall Axel de Groot ein, da es keinerlei Hinweise für ein Verbrechen gab und alles für einen Unfall sprach.

Im Dezember kündigte der Vetter des verunglückten Axel de Groot, der Schweriner Unternehmer Ulrich de Groot an, im kommenden Jahr in seinen Heimatort Hillersum zurückzukehren. Diese Mitteilung wurde in der Öffentlichkeit nicht überall mit Freude aufgenommen. Ulli de Groot hatte nach dem Bankrott seiner Firma vor gut vier Jahren Ostfriesland verlassen.

Wie in seiner Familie üblich, hatte Ulli de Groot ursprünglich den Beruf des Buchhändlers erlernt und danach in Rekordzeit Betriebswirtschaft studiert, um nach dem Studium eine kleine Bau- und Immobilienfirma zu übernehmen. Diese Firma hatte er beständig ausgebaut und vergrößert, bis er sich an dem Großprojekt einer Familienhotelanlage übernommen und den Konkurs angemeldet hatte.

Durch den immer noch ansehnlichen Rest seines Privat­vermögens und durch gute Verbindungen hatte er sich in Mecklenburg-Vorpommern in eine Großbäckerei einkaufen und wieder als Geschäftsmann etablieren können.

Im Frühling ließ Ulli de Groot seine Bau- und Immobilien­firma unter neuem Namen wieder aufleben und stellte ehemalige Mitarbeiter ein. Er kaufte drei kleine benachbarte Geschäftshäuser in Hillersum, die er zu einer großen Buchhandlung umbauen wollte. Gleichzeitig erklärte er öffentlich, die Arbeit seines Vetters fortsetzen und sich für den immer noch freien Posten des Geschäftsführers für das Bücherdorf Hillersum bewerben zu wollen. Mit der Eröffnung der Buchhandlung wollte er seinen Erstwohnsitz im Sommer wieder nach Hillersum verlegen.

Teil 2: Im Juni

 

7

»Ich will mit dieser Sache nichts zu tun haben. Außerdem bin ich kein Polizist!« Buchhändler Johannes Fabricius hievte einen Karton auf seinen Schreibtisch. Gerade war ein historischer Kriminalroman über Häuptling Okko tom Brok erschienen. Fabricius hatte gleich einhundert Exemplare bestellt, da er für den morgigen Samstag viele Käufer erhoffte.

Die Aufführung des Freilichtspieles über die Schlacht auf den Wilden Äckern im vergangenen Herbst war ein solcher Erfolg gewesen, dass man weitere Aufführungen im Sommer veranstalten wollte, um den Urlaubern etwas zu bieten. Schon Wochen vorher waren fast alle Karten verkauft gewesen. In ein paar Tagen sollte die erste Aufführung sein, und pünktlich erschien nun das passende Buch zum Ereignis. Es hatte den Titel Der letzte Häuptling.

»Außerdem gibt es keinerlei Anhaltspunkte für einen Mord«, fuhr Fabricius fort, »Gerrit Roolfs erzählte mir, dass es damals keinen Hinweis auf ein Verbrechen gab. Alles wurde akribisch untersucht. Ein ganz normaler schrecklicher Unfall.«

»Aha, du interessierst dich also doch für den Fall?«, fragte Fürst Carl Edzard, der nicht aus Zufall auf einen Besuch in der Hofbuchhandlung vorbeigekommen war.

»Wie sollte ich nicht dafür interessieren? Axel de Groot war der Mitbegründer des Projektes Bücherdorf Hillersum.«

»Axel de Groot stand im letzten Jahr vor Gericht«, bemerkte der Fürst, der sich eines der Bücher über Okko tom Brok genommen hatte. »Zusammen mit seinem Vetter Ulli. Beiden wurde vorgeworfen, die Pleite des Familienhotels absichtlich herbeigeführt und dabei gut verdient zu haben. Es gab einen Riesenskandal, der in allen Zeitungen stand.«

»Ja, aber er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen, und seine Verdienste für das erste ostfriesische Bücherdorf werden sogar von seinen Gegnern anerkannt. Er war eben ein Pionier. Weißt du, welchen Spitznamen er hatte?«, fragte Fabricius.

»Häuptling von Hillersum«, antwortete Carl Edzard.

»Wenn du so gut informiert bist, weißt du sicher auch, von welcher Seite aus die Kripo nach dem Tod von Axel de Groot die Anweisung bekam, die Ermittlungen mit äußerster Umsicht zu führen«, fragte der Buchhändler seinen fürstlichen Patenonkel. Ihr Verhältnis hatte in den vergangenen Jahren immer stärker den Charakter einer respektvollen Freundschaft bekommen, in der offene und klare Worte geredet werden konnten.

»Johannes, das ist ein Minenfeld. Es geht um viel Geld. Zurzeit laufen Förderungsanträge für das Kulturprojekt Hillersum. Da bewegen wir uns im Bereich von ein paar Millionen Euro. Wir verhandeln mit Brüssel und mit diversen Stiftungen. Gleichzeitig versuchen wir, die Uni Oldenburg davon zu überzeugen, hier eine Art Institut für niederdeutsche Literatur einzurichten. Die Kirche beteiligt sich an der Ferienakademie. Vielleicht eröffnet sie sogar ein Internatsgymnasium. Wenn unser Bücherdorf in ein falsches Licht gerät, dann geht hier alles den Bach hinunter. Solche Schlagzeilen können wir uns jetzt nicht erlauben.«

»Solche Schlagzeilen kannst du dir nie erlauben, und wenn es sie doch gibt, wirst du sie immer gut überstehen.«

»Johannes, du musst nach Hillersum«, sagte Fürst Carl Edzard entschlossen, »Ich habe ein komisches Gefühl bei der Sache. Der Vetter von Axel de Groot ist zurück. Ich brauche jemanden, der die Augen und Ohren offen hat. Wenn mit dem Tod von Axel de Groot etwas nicht stimmt, müssen wir das wissen. Und ich möchte auch wissen, was sein Vetter Ulli so treibt.«

»Lass das die Polizei machen. Carl Edzard, ich bin ein Hobby-Detektiv, der zweimal einen Zufallstreffer landete. Hier müssen Profis ran.«

»Noch nicht. Ich möchte, dass du dich mal umhörst. Ganz unverbindlich. Das Bücherdorf Hillersum darf auf keinen Fall gefährdet werden. Ich muss einfach auf allen Ebenen …«

»Nein!«

»Sieh es doch einfach als deinen Beitrag zur Förderung der kulturellen Infrastruktur.«

»Nein!«

»Johannes, ein ganzes Dorf mit Buchhandlungen. Ist das nicht wunderbar?«

»Auf keinen Fall!«, antwortete Fabricius.

8

Fürst Carl Edzard eröffnete die Sitzung des Kuratoriums für das Projekt Bücherdorf Hillersum. Alle acht Mitglieder waren anwesend. Offiziell hatte der Fürst den Vorsitz, aber er nahm nur selten an den Sitzungen teil.

Carl Edzard begann: »Mit besonderer Freude begrüße ich den neuen Fachberater für die Geschäftsführung unseres Kuratoriums: Herrn Johannes Fabricius.«

Der Genannte erhob sich mit leicht gequältem Lächeln, während die übrigen Anwesenden freundlich applaudierten.

Fürst Carl Edzard zwinkerte ihm zu und fuhr fort: »Herr Fabricius ist als Buchhändler und Germanist sicher eine gute Besetzung für diese Aufgabe. Die Regierung hat der Berufung inzwischen auch zugestimmt.«

Eine Welle freundlich geraunter Sympathie kam auf Fabricius zu, der wieder Platz nahm. Neben den Geschäften mit Büchern und Tourismus nahm sich das Interesse an Literatur wie eine dekorative Nebensache in diesem Projekt aus. Das wusste Fabricius. Dennoch hatte er sich nach anfänglichem Widerstreben mit dieser Aufgabe angefreundet. Sie bot ihm die Gelegenheit, für einen langen Sommer seinem Geschäft zu entkommen. Dass der Fürst ihn vor allem nach Hillersum schickte, um Ungereimtheiten beim Tod von Axel de Groot aufzuspüren. behagte ihm allerdings nicht.

Neben seiner Mitarbeit im Kuratorium und in der Geschäftsführung war er Kursleiter für Literatur bei der Ferienakademie, die in den Räumen des Schlosses entstand. Gleich im Anschluss würde er mit der Studienleiterin der Akademie sprechen, die ihm schräg gegenüber saß und ihn schon die ganze Zeit neugierig musterte.

9

»Was für Kurse wollen Sie denn geben, Herr Fabricius?«, fragte die Studienleiterin.

»Ich weiß auch nicht so genau, was hier passt. Was halten Sie vom Thema ›Lebensreisen‹? Wir lesen Seumes Spaziergang nach Syrakus. Ein studierter Abenteurer in der Zeit Napoleons arbeitet als braver Korrektor in einer Leipziger Buchdruckerei. Eines Tages bricht er zu einer Reise nach Italien auf. Er geht zu Fuß von Deutschland bis nach Sizilien und wird damit ein berühmter Autor. Was denken Sie?«

»Passt ja irgendwie zum Thema Urlaub, nicht wahr? Und Pilgern ist ja nun auch ein großer Hit geworden«, sagte die Studienleiterin mit spöttischem Unterton. »Vielleicht kann man so eine Aktion machen wie ›Promis auf dem Pilgerweg‹. Wir haben ja auch das Kloster Ihlow ganz in der Nähe. Da fehlt dann nur noch der Hinweis, dass der Weg das Ziel ist.«

»Wollen Sie mich veralbern?«

»Das würde sich schon noch etwas anders anhören. Ich bin mit dem Vorschlag einverstanden. Haben Sie noch ein etwas aktuelleres Thema?«

»Was halten Sie von einem Seminar über die Gefährlichkeit des Lesens? Als Lektüre nehme ich Die souveräne Leserin von Alan Bennett.«

»Herzlich willkommen an Bord«, sagte die Studienleiterin. »Als Mitarbeiter der Akademie können Sie ein Zimmer im Haus haben. Unsere Bibliothek ist gut, unserer Küche noch besser. Wie sieht es aus?«

Fabricius nahm das Angebot an. Die gut anderthalb Stunden Fahrtzeit hin und zurück waren dabei nicht das entscheidende Argument für ihn. Eine Auszeit würde ihm gut tun. An seinen letzten Urlaub konnte er sich kaum noch erinnern. In der Buchhandlung war alles geregelt. Während andere Geschäftsinhaber es sicher als Infragestellung der eigenen Bedeutsamkeit empfinden mochten, dass der Betrieb auch ohne sie gut lief, empfand Fabricius diese Tatsache als ungemein entlastend.

»Schön, Herr Fabricius. Ihr erstes Seminar werden Sie als zweiter Kursleiter begleiten. Da macht jemand anders das Thema und Sie müssen nur dabeisitzen, ein kluges Gesicht und hilfreiche Bemerkungen machen. Beginn ist in der ersten Juli-Woche. Dann haben Sie noch ein paar Tage Zeit für Ihre Recherchen.«

»Sie wissen, dass ich an einem Buch über Seume arbeite­?«, fragte Fabricius erstaunt.

»Ich dachte eher an den Tod von Axel de Groot. Ihr Einsatz im Bücherdorf hat doch sicher nicht nur literarische Aspekte. Ich hole uns einen Kaffee.«

»Vor fünf Jahren war Hillersum noch ein verschlafener Ort mit großer Vergangenheit«, erläuterte die Studienleiterin, während sie für sich und für Johannes Fabricius zwei Kaffeebecher auf den Tisch stellte.

»Und dann kam der Häuptling«, ergänzte Fabricius.

»Korrekt. Das war sein Spitzname. Axel de Groot wertete ihn übrigens als Ausdruck von Respekt. Heute ist Hillersum das erste ostfriesische Bücherdorf. Eigentlich ist Hillersum sogar das erste Bücherdorf in Norddeutschland.«

»Korrekt. Und Häuptling Axel ist tot. Was denken Sie über die Sache?«

»Sind wir schon bei der Vernehmung, Herr Fabricius?«

»So war das nicht gemeint«, entschuldigte sich der Buchhändler.

»Doch, genau so war es gemeint. Ist schon okay. Wissen Sie, es ist erstaunlich, wie ungebrochen sich die Häuptlingsherrschaft in Ostfriesland erhalten hat. Überall haben Sie diese Häuptlinge. Sie können mit Ihnen kooperieren, Sie können gegen sie kämpfen. Nur eines dürfen Sie auf keinen Fall: Sie dürfen Sie niemals ignorieren. Axel de Groot war der Häuptling von Hillersum: engagiert bis zum Äußersten und sehr großzügig, aber auch autokratisch und ehrgeizig. Mit ihm ist Hillersum wieder zu einer Herrlichkeit geworden.«

»Sie haben ihn bewundert«, stellte Fabricius fest.

»Vielleicht. Aber ich mochte ihn nicht besonders. Bücher­ waren für ihn Waren. Er verkaufte sie, las aber so gut wie nichts außer Prospekten. Vielleicht noch mal ein paar Rezensionen. Für mich ist es ein Rätsel, wie jemand, der sein Leben lang mit Büchern umging, so bildungsfern sein konnte.«

»Vielleicht war es das Geheimnis seines Erfolgs?«

»Das Bücherdorf Hillersum war nicht nur Kulturprojekt­«, erläuterte die Studienleiterin. »Es war auch ein Vorhaben, in das de Groot und ein paar andere sehr viel Geld investiert hatten und das nun die ersten Gewinne abzuwerfen beginnt. Die Organisationsstruktur ist noch nicht genau festgelegt. Soll das Ganze ein lockerer Zusammenschluss von Geschäftsleuten und Bildungseinrichtungen werden? Oder soll eine große einheitliche Firma mit klarer Leitung entstehen? Das war der große Traum von Axel de Groot.«

»Hat Okko tom Brok nicht auch so einen ähnlichen Traum für Ostfriesland gehabt?«, bemerkte Fabricius. »Axel de Groot hat in Wilde Äcker die Rolle seines Lebens­ gespielt

»Ausgespielt – meinen Sie wohl eher«, antwortete die Studienleiterin.

10

Fabricius’ Handy klingelte. Er erkannte die Nummer seines Freundes Gerrit Roolfs.

»Hallo, Johannes, hier ist Gerrit. Was machst du heute Abend?«

»Nichts Besonderes. Ich muss gegen sieben Uhr zu einer Geschäftseröffnung. In offizieller Funktion sozusagen. Als die Symbolfigur dafür, dass Bücher auch etwas mit Literatur zu tun haben können. Aber danach habe ich frei. Komm doch mit zur Eröffnung. Das ist eine öffentliche Sache und bestimmt nicht unspannend. Eine Buchhandlung für Menschen von heute – so wurde das angekündigt.«

»Ich bin dabei. Wo finde ich die Buchhandlung?«

»Gleich neben dem Rathaus in einer Seitenstraße. Eigentlich nicht zu verfehlen. Die neue Buchhandlung wird von Ulli de Groot eröffnet, dem Vetter von Axel de Groot. Er ist wieder nach Ostfriesland zurückgekommen und hat heute seinen ersten Auftritt.«

»Hört sich nicht unspannend an. In Ordnung, bis nachher«, sagte Roolfs und legte auf.

Johannes Fabricius streckte sich auf dem Bett in seinem Akademiezimmer aus.

In der Ecke stand sein Cello. Nachher fand eine Probe für das bevorstehende Geburtstagskonzert des Fürsten statt. Carl Edzard hatte sich in diesem Jahr die drei Tageszeiten-Sinfonien von Joseph Haydn gewünscht. In diesen Sinfonien hatte eine Reihe von Solisten die Gelegenheit, mit ihren Instrumenten zu brillieren. An einigen Stellen hatte sogar Fabricius einen Solopart zu spielen. Die Musik war zurzeit das Einzige, das ihn bei Laune hielt.

Die Arbeit in seiner Buchhandlung begann Fabricius zu langweilen. Seine Beschäftigung im Bücherdorf Hillersum würde ein bisschen frischen Wind in sein Leben bringen. Vielleicht.

11

Hillersum war eigentlich nur ein größeres Dorf mit gut zweitausend Einwohnern. Als ehemaliger Hauptort einer alten ostfriesischen Herrlichkeit hatte es sich in früheren Zeiten zu einer gewissen Blüte entwickeln können. Die Häuptlingsfamilie hatte die wehrhafte Wasserburg nach dem Dreißigjährigen Krieg in ein Schloss umbauen lassen.

Außerdem gab es die große mittelalterliche Kreuzkirche mit einem hoch aufragenden Turm, eine Klosterkirche sowie ein Kantorenhaus und ein Waisenhaus aus dem 18. Jahrhundert. Einer der Hillersumer Häuptlinge war seinerzeit ein so überzeugter Pietist und Anhänger August Herrmann Franckes gewesen, dass er dessen Beispiel gefolgt war und als Ausdruck seiner Frömmigkeit ein Waisenhaus nach dem Vorbild von Franckes Waisenhaus in Halle erbauen ließ, obwohl es in Hillersum seinerzeit überhaupt keine Waisen gegeben hatte.

Das 19. Jahrhundert hatte ebenfalls bauliche Spuren hinterlassen: ein burgähnliches Rathaus mit wilhelminischem Selbstbewusstsein, ein Progymnasium, ein inzwischen geschlossener Bahnhof, eine stillgelegte Molkerei und das etwas zu groß geratenes Postamt im neogotischen Stil.

Schon mit diesem historischen Gebäudebestand schien das Dorf dazu bestimmt, ein touristischer Anziehungspunkt zu werden. Dazu kam der glückliche Umstand, dass Hillersum in den sechziger und siebziger Jahren einen starken wirtschaftlichen Niedergang erlebt hatte, der mit einem Bevölkerungsschwund und einem entsprechend niedrigen Steueraufkommen verbunden war. Damals war die politische Gemeinde Hillersum eine der ärmsten Kommunen im Fürstentum Ostfriesland und in ganz Norddeutschland gewesen