Tote brauchen keine Bücher - Andreas Scheepker - E-Book

Tote brauchen keine Bücher E-Book

Andreas Scheepker

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Beschreibung

Weert Pohl war kein Mensch, dem man nachtrauert. Wer ihn allerdings mit dem Bierkrug, Aufschrift: »In Ostfreesland ist am besten«, erschlagen hat, möchte man trotzdem wissen in dem kleinen Dorf Westermarsch. Auch Fürst Carl Edzard II. hat daran Interesse, denn der Fall beschert seinem kleinen Freistaat Ostfriesland politische Verwicklungen, die er überhaupt nicht brauchen kann. Was wäre, wenn Ostfriesland immer noch ein Fürstentum wäre? Eigenständig, mit der Bundesrepublik nur lose verbunden und mit einem Cirksena als Regenten? Viel anders als die real existierende Gegenwart wäre es nicht, so zeigt es Andreas Scheepker seinen Lesern. Mit feinem Gespür und subtilem Witz vermittelt er die Eigenarten von Land und Leuten.

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Andreas Scheepker

Tote brauchen keine Bücher

Ostfrieslandkrimi

Zum Autor

Andreas Scheepker ist gebürtiger Ostfriese. 1963 wurde er in Hage geboren. Nach dem Abitur am Ulrichsgymnasium in Norden studierte er Evangelische Theologie und später noch Literatur­wissenschaft, Geschichte und Pädagogik. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Aurich, wo er als Schulpastor am Gymnasium Ulricianum unterrichtet. Außerdem arbeitet er als Studienleiter in der Arbeitsstelle für Ev. Religionspädagogik und ist dort vor allem für Fortbildungen zuständig. Scheepker hat mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten verfasst, die in Ostfriesland spielen. Dabei stehen oft Themen der ostfriesischen Geschichte im Hintergrund. Sein Kriminalroman »Tote brauchen keine Bücher« wurde für den Literaturpreis »Das neue Buch« 2004 nominiert.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2004 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © thrax.de/adobe.stock.com

ISBN 978-3-8392-6456-0

Vorbemerkung

Wäre ein Fürstentum Ostfriesland in unserer Zeit vorstellbar? Man müsste die Phantasie wohl ziemlich bemühen, um das zu konstruieren – so wie in diesem Buch. Vermutlich wäre das Leben in dieser Region gar nicht so viel anders als jetzt. Aber wer kann das wirklich genau sagen …?

Geschichtlich interessierte und gebildete Leserinnen und Leser mögen mir diese Kunstgriffe verzeihen und das Wort »Kriminalroman« besonders beachten.

Auch das meiste andere in diesem Buch ist Phantasie. Keine Person im Roman steht für eine reale Person. Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen wären wirklich rein zufällig, auch wenn es sicher viele Menschen gibt, die dieselben oder ähnliche Namen tragen wie die Personen im Buch. Ein Blick in die ostfriesischen Telefonbücher zeigt, dass das auch gar nicht anders möglich ist.

Dennoch kommen neben Phantasieorten wie Itzumersiel auch Orte vor, die es tatsächlich gibt, zum Beispiel die Stadt Norden, in der meine Frau und ich zehn Jahre zu Hause waren.

Herzlich danke ich Herrn Dr. Karl-Heinz Menßen aus Wittmund für seine Hilfe. Ebenso herzlich danke ich meiner Frau für viele kritische und hilfreiche Hinweise.

Widmen möchte ich dieses Buch Hilmar und Irene Menke, Kurt und Elfi Perrey, Wilhelm und Jutta Kokkelink, Fred und Hildegard Endler.

Andreas Scheepker, Januar 2004

Es suchen:

Carl Edzard II.

Fürst, braucht einen politisch korrekten Mörder

Johannes Fabricius

Buchhändler, hat die Lust am Lesen verloren.

Gerrit Roolfs

Kommissar, hat die Lust am Telefonieren verloren.

Habbo Janssen

Kriminal-Oberkommissar, hat die Liebe zu Ostfriesland nie verloren.

Uwe Osterloh

Sciencefiction-Fan, hat manchmal seine Zweifel, ob es intelligentes Leben auf diesem Planeten gibt.

Lothar Uphoff

Kriminaldirektor, muss sich auf das Dosenpfand einstellen.

Siebo Remmers

Ortsvorsteher, ist bis zur Deichlinie grundsätzlich für alles zuständig.

Christina de Boer

Rechtsanwältin, glaubt an die Gerechtigkeit.

Gesine Akkermann

Staatsanwältin, hat es wirklich nicht leicht.

Edmund Richardson

Wirtschaftsjurist, ist am Computer genau so virtuos wie auf der Flöte.

Es werden besucht:

Weert Pohl

hat im ersten Kapitel seinen letzten Auftritt.

Waldemar Klein

Vater, macht Fehler.

Alexander Klein

Sohn, macht Fehler.

Helena Klein

Ehefrau und Mutter, macht sich Sorgen.

Edeltraut Büscher

Zeugin, hat eine Vorliebe für Waschbeton und Plüschtiere.

Krino van Westen

Geschäftsmann und Politiker, hat eine Vorliebe für gute Geschäfte und schlechte Politik.

Beverly van Westen

Ehefrau, lacht gern.

Ilona Friesen

Freundin, fährt gern in den Urlaub.

Dr. Jörg Schatz

Hausarzt, würde gern in den Urlaub fahren.

Weert Pohl wird überrascht

Wütend schlug Weert Pohl die Haustür zu. Einen Augenblick sah er durch die bunten Glasscheiben seinem Gast nach. Sollte er noch einmal die Tür aufreißen und ein paar Beschimpfungen hinterherrufen?

Weert Pohl überlegte es sich anders. Der Rausschmiss war deutlich genug gewesen. Außerdem begann es zu regnen.

Er ging durch den kalten Flur wieder in seine unaufgeräumte Küche und setzte sich an seinen Tisch. Zwischen Prospekten, Fernbedienungen, einer geöffneten Dose Ölsardinen, einer Margarinepackung und einem aufgerissenen Paket mit Schwarzbrot lag der Umschlag mit sechzig Fünfhundert-Euro-Scheinen. Damit würde er sich nicht abspeisen lassen. Das war höchstens eine Anzahlung. Und das hatte er seinem Gast auch unmissverständlich zu verstehen gegeben.

Sein Herz schlug heftig, aber langsam wurde er ruhiger, als er die Geldscheine in seinen Händen fühlte. Er schaute sich um in seiner Küche, sah die schäbigen Möbel und das Durcheinander. Damit war jetzt endlich Schluss. Jetzt fing ein neues Leben an.

Er schaltete das Radio ein, und er zählte die Scheine noch einmal durch. Er rieb sie zwischen seinen Fingern und hörte das weiche und volle Rascheln.

Er bemerkte, dass sich am Fenster etwas bewegt hatte. Bekam er noch einmal Besuch, oder kehrte sein Gast von vorhin zurück?

Schnell stopfte er die Geldscheine zurück in den Umschlag und öffnete die Klappe des Backofens, der schon seit Ewigkeiten nicht mehr funktionierte. Er legte den Umschlag in seinen Karton, den er hier versteckte.

Und dann öffnete er mit einem Ruck die Küchentür.

Johannes Fabricius schläft

Johannes Fabricius lehnte sich entspannt zurück. Eine seltsame Fantasie überkam ihn seit einiger Zeit in solchen Momenten. Tief in seinem Inneren lag ein Mann unter einem dicken Federbett. Dunkle Nacht umgab ihn, nur ein paar verstreute Sterne blinkten zurückhaltend durch das kleine Fenster in die Kammer. Tief und fest schlief der Mann, und tief waren seine Atemzüge. Sie gingen sogar fast in ein Schnarchen über. In der Tiefe seines Atems war dieser Mann eins mit sich selbst und mit dem Kosmos.

Und wie jedes Mal, wenn ihn diese Fantasie überkam, wurden Johannes Fabricius’ Atemzüge auch immer regelmäßiger und tiefer. Er fühlte sich geborgen in einer Kammer – unsichtbar um ihn herum, wo er doch mitten unter Menschen war. Er achtete auf seinen Atem, ob er von einem regelmäßigen tiefen Luftholen langsam in ein schweres Schnaufen und schließlich sogar in ein sonores Schnarchen übergehen würde – so wie bei dem Mann, der tief in seinem Inneren schon seit vielen Wochen schlief, tief im Frieden mit sich selbst.

War das eine Todesfantasie? Eine Sehnsucht nach einem Ort auf der anderen Seite dieses Lebens? Oder wurde es langsam Zeit für ihn, einmal für längere Zeit auszuspannen und Urlaub zu machen? Johannes Fabricius entschied sich für die zweite Interpretation. Er wusste, dass das Leben manchmal banaler und weitaus weniger tiefsinnig war, als man hineindeutete.

»Herr Fabricius, der Mann vom Krimi-Verlag ist da!«

Johannes Fabricius schreckte auf. »Ja, äh, vielen Dank, Tanja, ich war etwas in Gedanken.«

Er erhob sich aus seinem bequemen Schreibtischsessel, um den Vertreter zu begrüßen, der für einen Verlag mit dem wenig­ aussagekräftigen Namen Maier und Meyer unterwegs war.

Johannes Fabricius gab ihm die Hand. »Was bringen Sie uns für Verbrechen?«

Der Vertreter legte ein Taschenbuch auf den Tisch. Auf dem Cover waren ein Blumenstrauß und eine Pralinenschachtel zu sehen. »Dies hier wird Ihnen bestimmt gefallen­, Herr Fabricius: Alles Schlechte zum Muttertag.«

Tanja packt aus

»Ach, äh, der Wagen war gerade da. Tanja, würden Sie bitte die Kartons übernehmen? Ich muss kurz nach nebenan ins Schuhgeschäft.« Buchhändler Johannes Fabricius sah seine Auszubildende freundlich über seine Brillengläser hinweg an. Es war ihm immer etwas unangenehm, seinen Angestellten Anweisungen zu erteilen.

»Klar, Chef!«, sagte sie. Sie wusste, dass Fabricius diese Anrede nicht besonders mochte, aber sie wusste auch, dass er heute gut gelaunt war, denn sonst hätte er sie nicht zu den Kartons geschickt.

Diese Aufgabe liebte Tanja Becker. Jeden Morgen kam um zehn Uhr der Bücherwagen mit den Bestellungen, und diesmal waren auch die meisten Neuerscheinungen für den März dabei. Sie liebte es, die neuen Bücher auszupacken und ein bisschen darin zu blättern. Überhaupt liebte sie Bücher. Darum hatte sie sich entschlossen, nach ihrem Abi zuerst eine Lehre als Buchhändlerin zu machen und dann zu studieren – am liebsten Deutsch und ein anderes Literaturfach dazu.

Sie staunte über die Bücher, die ihre Kunden sich bestellten­: Ein Kochbuch für isländische Spezialitäten, die Lebenserinnerungen eines vierundzwanzigjährigen Talkmoderators unter dem Titel »Ich hab’s weit gebracht!« und eine Monografie über den ostfriesischen Regionalhistoriker Heinrich Reimers waren dabei – alles andere waren die üblichen Romane und Taschenbücher.

Bevor sie sich über die Neuerscheinungen hermachen konnte, fiel ihr Blick auf ein Paket, das sie übersehen hatte, obwohl es eigentlich nicht zu übersehen war. Sechs schwere großformatige, gebundene Bücher holte sie aus dem Karton: Dr. Feldmanns Handbibliothek der Teichwirtschaft, 298 Euro. Die Bände waren in einem Schuber und in Folie eingeschweißt – leider. Zu gerne hätte Tanja gewusst, was man in sechs so dicken Büchern über Teichwirtschaft schreiben konnte.

Sie sortierte die Neuerscheinungen in ein eigenes Regal und notierte sich, was sie selbst kaufen wollte. Zum Glück gewährte Fabricius seinen Angestellten einen großzügigen Preisnachlass. Fabricius erwartete von seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, dass sie gern und viel lasen, nicht zuletzt, um Kunden gut beraten zu können. Vor allem ging es ihm um die kultivierte Atmosphäre in einer Buchhandlung. »Sie sind nicht Verkäufer, sondern Buchhändler. Buchhandel ist ein Bildungsberuf!«, ermahnte er sein Personal alle paar Wochen – eine Gewohnheit, die seine Angestellten wirklich nervte.

»Weert Pohl, Itzendorfer Schulweg 1, Westermarsch« las Tanja auf dem Bestellzettel, der an dem Bücherkarton klebte­. Sie erinnerte sich, dass der seltsame Mann aus der Nachbarschaft ihres Chefs vor ein paar Tagen vermutlich das erste Mal in seinem Leben die Buchhandlung betreten und sogleich verlangt hatte, den Chef persönlich zu sprechen. Wichtigtue­risch hatte er Fabricius ein abgerissenes Stück Zeitungsrand übergeben, auf dem der Buchtitel in einer krakeligen Handschrift notiert worden war.

Die Bücher waren so groß, dass sie nicht in das Regal hineinpassten. Gerade wollte sie Fabricius, der eben wieder hereinkam, mit ›Chef‹ titulieren und ihn fragen, wohin sie mit diesen Büchern sollte. Tanja merkte gerade noch rechtzeitig, dass seine Laune merklich umgeschlagen war. »Herr Fabricius, die Bücher für Ihren Nachbarn passen nicht in das Abholfach, soll ich sie hinten im Lager lassen?«

»Stellen Sie das Paket oben auf meinen Schreibtisch. Ach nein, stellen Sie die Bücher nach hinten in den Flur.«

Fabricius war nicht ganz bei der Sache. Er hatte gerade vom Inhaber des Schuhgeschäftes nebenan eine schlechte Neuigkeit erfahren. Sein Handy klingelte, aber er drückte den Knopf mit dem roten Hörer und steckte es in die Jacken­tasche. Schnellen Schrittes verließ er die unteren Verkaufsräume und ging nach oben in sein Reich.

Johannes Fabricius ist Buchhändler

Die Buchhandlung Fabricius, oder, wie sie richtig hieß, die »Fürstliche Hofbuchhandlung Hero Fabricius«, war in zwei Bereiche aufgeteilt. Unten waren großzügige Geschäftsräume­ mehr stilvoll als modern eingerichtet. Hier standen stapelweise Bestseller von Stephen King bis John Grisham, von Charlotte Link bis Barbara Wood, Regale mit Büchern für Freizeit und Hobby, Taschenbüchern, Krimis, Sachbüchern, Liebesromanen, Kinderbüchern, Reiseführern, Kochbüchern und Neuerscheinungen.

Im Stockwerk darüber hatte Fabricius so etwas wie eine zweite Buchhandlung aufgebaut. Die große und helle obere Etage war eingerichtet wie ein riesiges Arbeitszimmer – oder besser wie mehrere Arbeitszimmer und Privatbibliotheken, die man zusammengestellt hatte. In Bücherschränken und Regalen standen Romane, Gedichtbände, Gesamtausgaben, Biografien, Kunstbände, Bücher zu historischen und anderen geisteswissenschaftlichen Themen. In einem Nebenraum gab es sogar ein Antiquariat mit ausgewählten Büchern. Drei große Bücherschränke präsentierten CDs mit klassischer Musik, Jazz und Popmusik der siebziger Jahre.

Zwischen den Regalen und Schränken waren jeweils an den Fenstern Schreibtische oder Sitzgelegenheiten aufgestellt, damit seine Kunden sich hier in Ruhe die Bücher ansehen konnten, die sie interessierten. Hauptkommissar Gerrit Roolfs – Fabricius’ bester Freund – kam sogar manchmal hierher, um seine gefürchteten Spottgeschichten über Norden­ und dessen Einwohner zu schreiben.

Inzwischen machten Interessierte auch weitere Wege, um hier Bücher auszusuchen und zu kaufen. Im vergangenen Jahr hatten zwei Magazine sogar Bildberichte über die »Fürstliche Hofbuchhandlung« gebracht. Dass Gerrit Roolfs diese Räumlichkeiten als »Erlebnismuseum für pubertäre Bücherträume« bezeichnete, tat seiner Freundschaft mit Johannes Fabricius keinen Abbruch.

Im Stockwerk darüber hatte Fabricius zwei Wohnungen einbauen lassen, von denen er eine vermietet hatte und die andere ab und zu selbst nutzte oder Freunden zur Verfügung stellte.

Fabricius ist frustriert

Im Moment war Fabricius’ Freude über sein Bücherreich nicht ganz ungetrübt. Der Inhaber des benachbarten Schuh­geschäftes hatte ihm erzählt, dass der alte Ferdinand Popkes sein Geschäft an einen Buchhändler aus Westfalen übergeben­ hatte, der den Laden ganz neu aufziehen wollte. Der alte Popkes hatte ihm also doch einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Popkes war mit seiner kleinen Buchhandlung bisher nie ein ernsthafter Konkurrent gewesen. Aber das Geschäft war immerhin so gut gelaufen, dass er sich nun auf Gran Canaria zur Ruhe setzen konnte. Seit die Nachricht von Popkes’ Ruhestand durchgesickert war, hatte Johannes Fabricius sich mit der Idee angefreundet, in Norden eine Filiale zu eröffnen­. Dort wollte er vor allem Bestseller, Reiseführer, Kochbücher­, Modernes Antiquariat, Spiele, Computerzubehör und Pop-CDs verkaufen.

Fabricius war alles andere als ein gewiefter Geschäftsmann. Aber von diesem Projekt hatte er sich einen sicheren Erfolg versprochen. Er hasste Risiken. Inzwischen hatte er sogar sein Interesse angemeldet, Popkes’ Ladenlokal zu übernehmen. Nun hatte der Alte ihm diesen Plan gründlich verdorben.

Vermutlich sitzt Popkes jetzt auf Gran Canaria in seinem Haus am Strand und amüsiert sich über mich, dachte Fabricius. Da er ein bisschen zum Selbstmitleid neigte, kostete er diese Vorstellung noch etwas aus.

Er musste sich diese Sache noch einmal überlegen. Ein biss­chen frische Luft wäre ganz gut. Er würde sich ein paar Stunden freinehmen und nach Hause fahren. »Ich fahre nach Hause und nehme mir ein paar Unterlagen mit, ich bin heute­ Nachmittag wieder da«, rief er seinem leitenden Angestellten­ zu. Fast ein bisschen zu schnell und zu leise klang das, als müsste er sich entschuldigen.

Der Regen hatte gerade aufgehört. Fabricius klimperte mit seinen Schlüsseln und ging in den Innenhof, wo er seinen alten Golf geparkt hatte. Er hielt nichts von teuren Autos und gab sein Geld lieber für andere schöne Dinge aus. Sein Handy klingelte, aber er drückte den Knopf mit dem roten Hörer.

Gerade hatte er den Motor angelassen, da fiel ihm das Buchpaket ein. Die Bücher hatte Pohl bei ihm bestellt – vor einer knappen Woche. Da Fabricius in der Westermarsch ganz in seiner Nähe wohnte, kannten sie sich flüchtig.

Bei einem Mann wie Pohl war eine flüchtige Bekanntschaft schon das Äußerste, was erstrebenswert war. Aber wenn er schon einmal im Leben Bücher bestellt und das sogar für so viel Geld, dachte Fabricius, dann kann ich sie ihm ja auch auf dem Weg nach Hause vorbeibringen. Er stieg wieder aus und holte den Karton.

Fabricius klopft an

Fabricius fuhr auf der Alleestraße in die Westermarsch. Vereinzelte Höfe und ein paar kleine Straßensiedlungen bildeten­ den gleichnamigen Ortsteil, der von Nordens Stadtrand bis an die Küste reichte.

Fabricius hatte sich vor sechs Jahren entschieden, ein Landhaus in der Westermarsch zu kaufen und renovieren zu lassen­. Da er handwerklich völlig unbegabt war und alles durch Firmen gemacht werden musste, war das ein teures Vergnügen geworden, aber nun bewohnte er ein Landhaus, wie er es sich immer gewünscht hatte.

Vor sieben Jahren hatte er die Buchhandlung übernommen­. Es war ein traditionelles Familienunternehmen. Einer seiner­ Vorfahren, Hero Fabricius, hatte 1799 die Buchhandlung in Norden eröffnet. Er war Mitherausgeber einer der ersten Zeitungen Ostfrieslands gewesen und hatte eine gute Verbindung zum Fürstenhaus gehabt. 1824 hatte er den fürstlichen Titel für sein Geschäft bekommen. Seitdem hatte die Buchhandlung Fabricius das Vorrecht, diese traditionsreiche­ Bezeichnung im Titel zu führen und die fürstliche Bibliothek in Aurich sowie die Bibliotheken der Gymnasien zu beliefern, was je nach Bildungsinteresse der Regenten ein mehr oder weniger einträgliches Geschäft war. Bei dem jetzigen Fürsten war es ein gutes Geschäft.

Johannes Fabricius liebte die ostfriesische Landschaft in der Westermarsch, die grüne Weite mit dem Himmel, der nirgendwo so blau, aber nicht selten auch so grau und schwermütig sein konnte. Früher hatten am Straßenrand die Windlooper gestanden, hohe Bäume, die der Wind gebogen hatte – eine Art Wahrzeichen für die Westermarsch, bis die Straße ausgebaut und die Bäume gefällt worden waren.

Von der Hauptstraße aus führten Wirtschaftswege ins Land und Einfahrtswege zu den großen Höfen. Dazwischen standen Landarbeiterhäuschen und Bummerts – kleine Zweifamilienhäuser mit einem Schornstein in der Mitte. Die meisten dieser Häuser waren inzwischen zu Ferienhäusern umgebaut.

Plötzlich trat Fabricius auf die Bremse. Er war an Pohls Häuschen vorbeigefahren. Schnell drehte er auf der Straße um.

Auf dem Radweg kam ihm der Westermarscher Ortsvorsteher Siebo Remmers entgegen, der offensichtlich über Fabricius’ Wendemanöver lachte und ihm zuwinkte. Johannes Fabricius winkte zurück und bog dann in Pohls Einfahrt ein, wenn man dem holperigen Grasweg so eine Bezeichnung zubilligen konnte.

Er sah noch, wie der Ortsvorsteher sich auf seinem Rad umdrehte. Wahrscheinlich würde er während des ganzen Weges bis Norden darüber nachdenken, was Fabricius wohl ausgerechnet von Weert Pohl wollte.

Fabricius stellte das schwere Buchpaket vor der Haustür ab und klopfte. Eine Klingel gab es nicht. Die grüne Farbe an der Tür war stark abgeblättert, und auch die Fenster wurden anscheinend nur noch durch den sich auflösenden Anstrich zusammengehalten.

Ganz schön runtergekommen, genauso wie der Typ, der drin wohnt, dachte Fabricius. Und gleichzeitig bekam er ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass er so über den Mann urteilte. Aber Weert Pohl war in Westermarsch als streitsüchtiger Eigenbrötler bekannt, als einer, mit dem man am besten nichts zu tun haben sollte. Diese Gefahr bestand allerdings nicht, da Pohl mit niemandem näheren Kontakt pflegte. Es wurde auch erzählt, dass er einige krumme Geschäfte betrieb. Immerhin hatte er schon ein paar Mal für ein bis zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Womit Pohl seinen­ Lebensunterhalt bestritt, wusste Fabricius nicht.

Johannes Fabricius klopfte noch einmal. Nichts rührte sich. Der Wagen von Pohl stand im Schuppen, das konnte Fabricius sehen, und er wusste, dass Pohl keinen Weg, der weiter als die Entfernung zur Garage war, ohne sein Auto machte. Er stellte das Paket ab, ging einmal um das Haus und guckte durch die Fenster.

In der Westermarsch war es durchaus üblich, dass man als guter Bekannter oder Nachbar durch die Hintertür ins Haus kam, und dann vom Flur aus an die Küchen- oder Wohnzimmertür klopfte.

Aber Weert Pohls Haus hatte nur eine Vordertür. Also nahm Fabricius seinen Mut zusammen, probierte, ob sie offen war und trat – gewissermaßen als guter Nachbar – in das Haus ein.

»Hallo, Herr Pohl!«, rief er und ging den Flur hinunter bis zu der Tür, hinter der er das Wohnzimmer oder die Küche vermutete. Er hielt das schwere Paket in den Armen und klopfte mit den Knöcheln der rechten Hand gegen die angelehnte Tür. Schließlich drückte er sie auf, und das Bild, das er nun sah, sollte er nie im Leben wieder vergessen.

Weert Pohl lag mitten in seiner Küche auf dem Rücken, die Arme dicht beim Körper, das rechte Bein ausgestreckt, das linke angewinkelt. An der linken Schläfe hatte er eine große Wunde, auf dem Boden hatte sich eine dunkelrote Pfütze ausgebreitet. Daneben lag ein großer Bierkrug, dessen Boden blutverschmiert war – vermutlich das Mordinstrument, das noch einmal heil davongekommen war. Der Bierkrug war verziert mit einem aufgedruckten Ostfrieslandwappen, umgeben von dem Schriftzug: »In Ostfreesland is’ t am besten«.

Johannes Fabricius sah sofort, dass sein Nachbar tot war. Sein Herz klopfte, und trotzdem stellte er ruhig den Bücher­karton auf den Fußboden und beugte sich über Pohl. Kein Lebenszeichen. Er beschloss, nichts anzufassen, und griff in die Tasche. Hatte er sein Handy doch im Geschäft liegen lassen?

Fabricius ging nach nebenan, denn bis zu seinem Haus war es etwas weiter. Er bat die alte Frau, die das Nachbarhaus bewohnte, bei der Polizei anzurufen und Bescheid zu geben, dass Weert Pohl tot aufgefunden worden war. Dann ging er zurück in Pohls Küche. Schon nach wenigen Minuten hörte er aus der Ferne das Martinshorn. Er dachte darüber nach, was man ihn fragen würde, und legte sich schon die Antworten zurecht.

Lehnders verhaftet

Als Johannes Fabricius hörte, wie der Polizeiwagen vor dem Haus hielt und die Autotüren klappten, ging er nach draußen.

»Nanu, was machen Sie denn hier?«, fragte ihn ein junger Mann mit saurer Miene. Er hielt Fabricius seinen Dienstausweis vor – genauso wie im Fernsehen. Seine blonden Locken wehten im Wind, und er klopfte sein Sakko ab. Sah teuer aus. Zwei Beamte waren zusammen mit dem Arzt in Pohls Haus gegangen.

»Lutz Lehnders, Kriminalpolizei Norden«, stellte sich der junge Mann vor und sah Fabricius missbilligend an.

›Du aufgeblasener Wichtigtuer‹, dachte Fabricius, und er sagte: »Guten Tag, mein Name ist Johannes Fabricius.«

»Na, denn erklären Sie mir mal, was Sie hier zu suchen haben!«, wies Lehnders ihn an.

»Wie bitte?« Fabricius verstand nicht recht. Wurde er jetzt verhört?

»Was haben Sie denn von Pohl gewollt?«, fragte Lehnders.

Fabricius erzählte ihm von den Büchern, und Lehnders sah ihn dabei so skeptisch an, dass er sich wie ein schlechter Lügner vorkam.

»Na, wollen wir mal sehen«, sagte Lehnders und angelte mit zwei Fingern ein Brillenputztuch aus seiner Innentasche. Er begann seine rechteckigen Brillengläser umständlich zu putzen und wiederholte dabei Fabricius’ Geschichte so, als würde ein Vater seinem kleinen Kind mit einfachen Worten die Funktionsweise eines Fernsehers erklären.

»Sie sagen also, Sie haben Bücher bekommen. Und diese Bücher, so sagen Sie, wollten Sie Weert Pohl nun bringen. Und wann«, fragte Lehnders, als er am Ende seiner Zusammenfassung angekommen war, »sind Sie denn aus dem Geschäft losgefahren?«

»So etwa elf Uhr.«

»Aaah ja! Sie wissen, dass wir das sofort nachprüfen können!«,­ sagte Lehnders so deutlich, dass man beinahe das Aus­rufe­zeichen hören konnte. »Und angerufen hat uns eine Nach­barin um elf Uhr neunundzwanzig.«

»Ich habe unsere Nachbarin gebeten, bei Ihnen anzurufen­, weil ich mein Handy im Geschäft vergessen habe«, erklärte Fabricius.

Betont atmete Lehnders aus und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Kommen Sie mal mit!«

Vor Fabricius’ Golf zeigte er in das Innere des Wagens. »Und was liegt da auf dem Beifahrersitz?«

Johannes Fabricius errötete wie ein schlechter Lügner, den man ertappt hatte. »Mein Handy. Ich muss es in Gedanken da hingelegt haben, oder es ist mir aus der Tasche gerutscht, als ich das schwere Paket …«

»Natürlich, Herr Fabricius.« Lehnders lächelte ihn von oben herab an. »Von der Stadtmitte bis hierher braucht man doch wohl höchstens zehn Minuten. Was haben Sie die restliche Zeit gemacht?«

Lehnders ging in das Haus. Fabricius ging ihm hinterher und versuchte die letzte halbe Stunde zu rekonstruieren. Sie blieben im Flur stehen. »In der Stadt war viel Verkehr, dreimal musste ich an roten Ampeln warten. Dann habe ich noch ein paar Briefe eingeworfen und bin zweimal um den Markt gefahren, um einen Parkplatz bei der Post zu finden. Sieht ja schön aus, nach der Umgestaltung, mit den Bäumen, aber die Parkplätze fehlen doch.«

»Schweifen Sie bitte nicht ab!«, ermahnte ihn Lehnders. Dabei versuchte er, gleichzeitig seriös und genervt zu wirken­, und irgendwie hatte er das sehr professionell drauf.

»Und dann habe ich etwa drei oder vier Minuten hier vor dem Haus verbracht, habe geklopft und bin einmal rumgegangen.«

»Und wann sind Sie hier angekommen?«

»Na, das müsste so etwa zwanzig nach elf gewesen sein, wenige Minuten vor dem Anruf.«

Lehnders schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Also, das behaupten Sie, dass Sie erst dann hier angekommen sind. Das kann ja sicher niemand bezeugen. Ich sehe Blut an Ihrem Ärmel, und ich finde, Ihre Geschichte hört sich doch etwas hanebüchen an.«

Jetzt platzte Fabricius der Kragen. »Ich lasse mich hier von Ihnen nicht als Verbrecher hinstellen. Sie wissen wohl nicht, wer ich bin. Ich bin Mitglied des fürstlichen Hofrates, und Ihr schlechtes Benehmen kann sehr unvorteilhafte Konsequenzen für Sie haben! So geht das doch nicht!« Johannes Fabricius konnte einfach nicht richtig ausrasten.

Lehnders kniff seinen Mund zu. Er wartete einen Moment, und dann sah er Fabricius scharf an. »So, mein Freund, das Beste ist, wir machen hier Schluss, und Sie kommen erst mal mit.«

Remmers übernimmt

»Wat is hier los?« Die Bassstimme des Ortsvorstehers nahm genauso mächtig den kleinen Flur ein wie der große und schwergewichtige Körper des dazugehörigen Mannes. Mit seinem schwarzen Vollbart war er eine imponierende Erscheinung, und das wusste er auch. Siebo Remmers ließ durch sein Auftreten keinen Zweifel daran, dass alles zwischen dem Westermarscher Ortsschild und der Deichlinie grundsätzlich­ in seinen Zuständigkeitsbereich fiel.

Empört drehte sich Lehnders zu ihm um und taumelte angesichts dieses Riesen zurück. »Wer sind Sie überhaupt, und was fällt Ihnen ein, hier so einfach durch die Absperrung …«

Remmers übersah und überhörte ihn und dröhnte gleich weiter. »Is was mit Pohl los? Als ich die Polizei kommen sah, bin ich gleich mit meinem Rad umgedreht. Fabricius, nu sagen Sie doch mal, was hier überhaupt los is!«

Lehnders keifte gleich dazwischen: »Mein lieber Mann, hier ist gleich was bei Ihnen los, wenn Sie nicht sofort …«

Remmers unterbrach ihn mit seiner mächtigen Brummstimme: »Fabricius, wat ist dat hier för’n Keerl?«

Lehnders war sprachlos vor Ärger. Während er nach Luft und nach Worten rang und nicht wusste, was er von beidem jetzt am nötigsten brauchte, regte sich etwas vor dem Fenster­. Habbo Janssen kam und Lehnders gewann die Fassung zurück. »Also, Sie haben nicht das Recht, hier eine Ermittlung zu stören, und außerdem muss ich Sie ganz entschieden …«

Weiter kam Lehnders wieder nicht, denn für Remmers schien er einfach nicht zu existieren. »Moin, Herr Kommissar!«, sprach der Ortsvorsteher den Kriminalbeamten an. »Können Sie mal ein bisschen Licht in diese Sache bringen? Das hier scheint ja wohl ein bisschen durcheinander zu laufen, und der hier ist ja auch wohl ein bisschen van’t Pad of.« Dabei nickte er kurz in Lehnders’ Richtung. »Der verhaftet hier wild drauf los. Sückse Lü könn’ wi hier nich bruken in Westermarsch.«

Lehnders lief puterrot an. Er wandte sich an Oberkommissar Janssen: »Also, Herr Kollege Janssen, es ist gut, dass Sie kommen. Lassen Sie die beiden hier doch bitte gleich abführen!«

Gutmütig legte Habbo Janssen seine Hand auf Lehnders’ Oberarm. »Lassen Sie man gut sein, ich mach hier weiter. Kümmern Sie sich man um die Spurensicherung draußen.«

Lehnders sah, dass dies seine letzte Möglichkeit für einen einigermaßen würdigen Abgang war, und er verließ mit erhobenem Haupt wortlos das Haus.

Johannes Fabricius informierte Ortsvorsteher Remmers und Oberkommissar Janssen über das, was bisher geschehen­ war. Habbo Janssen stellte kurze, präzise Fragen und schrieb in mikroskopisch kleinen Buchstaben etwas auf den winzigsten Notizblock, den Fabricius jemals gesehen hatte. Schnell verschaffte er sich ein Bild von der Situation. Eben kamen Hauptkommissar Gerrit Roolfs und zwei weitere Polizeibeamte herein.

»So viel Volk passt hier nich rein«, murrte Remmers und schickte sich an, nach draußen zu gehen.

Fabricius hielt ihn kurz fest. »Danke.«

»Wir Westermarscher müssen zusammenhalten«, meinte Remmers mit einem Augenzwinkern. Er setzte sich auf die Treppe und drehte sich eine Zigarette.

Roolfs regt sich auf

Erstaunt begrüßte Hauptkommissar Gerrit Roolfs seinen Freund. »Was hast du denn hier zu tun? Hier soll ein Toter sein, aber du siehst ja noch einigermaßen lebendig aus!«

»Mir ist nicht nach Witzen zumute«, sagte Fabricius ein bisschen kleinlaut. »Ich habe Pohl tot hier gefunden. Und dein Hilfssheriff wollte mich am liebsten gleich da draußen an der Schuppenwand standrechtlich erschießen lassen – wegen Mord, Verdunklungsgefahr und Beamtenbeleidigung.«

Interessiert hörte sich Roolfs die Geschichte an, aber als Fabricius Lehnders’ Verhalten beschrieb, verdüsterte sich Gerrit Roolfs’ Miene. Im Nu war er draußen und die Worte, die er in ziemlicher Lautstärke an Lehnders richtete, klangen­ nicht freundlich.

Der Ortsvorsteher verschluckte sich vor Lachen fast am Rauch seiner Zigarette. »Völ better harr ik dat ok nich kunnt«­, sagte Remmers zu Kommissar Roolfs, als sie in die Küche gingen.

Der Arzt hatte inzwischen alles genau untersucht. »Schlag mit einem harten, stumpfen Gegenstand an die rechte Schläfe­. Sicherlich mit dem Krug hier. Der Mann muss sofort tot gewesen sein, oder fast sofort. Er muss so etwa anderthalb Stunden tot sein. Genauer kann ich es nachher noch sagen.«

»Auf jeden Fall habe ich dann ja wohl ein Alibi«, sagte Johannes Fabricius. »Außerdem hat Siebo Remmers genau gesehen, wann ich gekommen bin.«

»Jaja.«, sagte Roolfs. »Ist schon gut. Keiner verdächtigt dich. Immer locker bleiben.«

Remmers verhört

»Munter holl’n …«, brummte Ortsvorsteher Siebo Remmers und legte den Zeigefinger an seine Prinz-Heinrich-Mütze. »Ich will mich nu mal umhören und ein bisschen Amtshilfe leisten.«

Gerrit Roolfs rief ihm hinterher: »Das lassen Sie uns mal besser machen!« Aber Remmers schien ihn nicht mehr zu hören – oder hören zu wollen.

Obwohl Siebo Remmers – wie er selber immer wieder beteuerte – ›nicht von hier‹ stammte, sondern aus dem ein paar Kilometer entfernten Norddeich, zählte er zu den Originalen­ des Landstriches zwischen der Stadt Norden und dem Küstendeich. Und was bestimmte Informationen anging, war er eine Goldader – allerdings von der besonderen Art, dass er mit Informationen nur dann herausrückte, wenn es wirklich von außerordentlicher Wichtigkeit war. Und über den Grad der Wichtigkeit entschied im Falle des Zweifels er selbst.

Er würde in den nächsten Stunden mit dem Rad alle benachbarten Häuser abklappern und bis heute Abend etliche Tassen Tee, Flaschen Bier, Gläser Schnaps und Informationen­ aufgenommen haben.

»Fahr am besten nach Hause, ich komm nachher noch vorbei oder ruf an«, sagte Roolfs und klopfte dem Freund auf die Schulter.

Johannes Fabricius zuckte die Achseln. »Wenn du meinst.« Er setzte sich ins Auto. Unterwegs sah er, wie Siebo Remmers­ auf seinem Fahrrad in die Einfahrt eines Nachbarhauses einbog und seine Ermittlungsarbeit begann.

Fabricius feiert Hochzeit

Zu Hause zog Johannes Fabricius wie immer zuerst die Schuhe aus, dann die Krawatte und zuletzt die Jacke. Er stellte das Teewasser an und ging in sein Wohnzimmer, das etwa die Hälfte der unteren Etage einnahm. Die Post, die er im Vorbeigehen aus seinem unansehnlichen grünen Plastikbriefkasten geholt hatte, legte er auf den riesigen Schreibtisch seines Großvaters am Fenster. Er öffnete die Terrassentür, die in den Garten führte.

Johannes Fabricius hatte bei der Gestaltung der Räume die Hilfe einer Freundin in Anspruch genommen, die Inneneinrichtung als eine Art Hobby betrieb. Deshalb sah sein Haus von innen ein wenig aus wie ein Vorführmodell für eine englische Wohnzeitschrift. »Du bewohnst ein Klischee!«, pflegte Gerrit Roolfs zu spotten. Immerhin hatte Fabricius durch viele Bücherregale, in denen neben Unmengen von Büchern auch Reihen von CDs und Stapel von DVDs standen, dem Wohnbereich etwas Charme verliehen.

In der Mitte des großen Raumes befand sich eine Sitzgarnitur, auf die sich Johannes Fabricius fallen ließ, nachdem er die seiner Meinung nach einzige CD eingeschaltet hatte, die seine Stimmung jetzt noch retten konnte: Figaros Hochzeit in der Drottningholmer Einspielung. Aber noch bevor die quirlige Ouvertüre zu Ende war, stellte er die Musik ab.

Er ging nach oben in sein kleines Arbeitszimmer. Er setzte sich in den Sessel und sah aus dem Fenster in die Westermarscher Landschaft. Weites Grün, Wiesen und Felder und vereinzelte Bäume und Baumgruppen, dazwischen ein paar rote Tupfer – die wenigen Häuser und Höfe – und darüber der strahlend blaue ostfriesische Himmel mit weißen Wolkentupfen.

Wie für einen ostfriesischen Fotokalender – dachte Johannes­ Fabricius, und dann musste er daran denken, dass in einem der Häuser in seiner Nachbarschaft ein Mensch erschlagen worden war. Kein sympathischer Mensch, aber ein Mensch. War der Mörder ein Einbrecher gewesen? Wenn der Einbrecher zu einer anderen Tageszeit und in ein anderes Haus, in sein Haus gekommen wäre, hätte er selbst erschlagen in seinem Wohnzimmer oder sonst irgendwo liegen können, grübelte er weiter.