Auroboros - Die Windungen der Schlange - Unter der Sonne - Micky Neilson - E-Book

Auroboros - Die Windungen der Schlange - Unter der Sonne E-Book

Micky Neilson

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Beschreibung

Es sollte ein einfacher Auftrag werden: Findet eine Gruppe vermisster Jugendlicher und zieht die Schuldigen zur Rechenschaft! Doch als die Mission tragisch scheitert, geraten der Hochelfen-Magier Xamus Frood und seine Gruppe hartgesottener Söldner mit den Behörden von Rechtbrand in Konflikt. Auf ihrer verzweifelten Flucht finden diese zerlumpten Gesetzlosen unerwartete Verbündete in Form eines trinkfreudigen Zwergs und eines eitlen menschlichen Barden. Dem Gesetz immer nur einen winzigen Schritt voraus und gejagt von einer geheimnisvollen Vampirorganisation nehmen sie den Kampf gegen die Kinder der Sonne auf, einem mächtigen neuen Kult, der Rechtbrands herrschende Kirche zu stürzen und die Handelsstädte durch Feuer zu reinigen sucht. Sie ahnen nicht, dass ein Weg voller persönlicher Opfer und schicksalhafter Begegnungen vor ihnen liegt. Am Ende ihrer Reise lauert der Konflikt mit einem urtümlichen Wesen, das zugleich am Anfang wie am Ende der Schöpfung steht ... Dieser Roman basiert auf der von Chris Metzen geschaffenen Fantasywelt aus Auroboros – Die Windungen der Schlange: Weltenbuch: Rechtbrand (ein Kampagnensetting für 5E).

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Seitenzahl: 771

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UNTER DER SONNE

Roman

von Micky Neilson

Ins Deutsche übertragen von Oliver Hoffmann

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: »AUROBOROS – Coils of the Serpent: Under the Sun« by Micky Neilson published in the US by Warchief Gaming LLC, USA, November 2022.

© 2021 Warchief, LLC. Auroboros Coils of the Serpent, Warchief Gaming, and their respective logos are trademarks of Warchief, LLC. Alle Rechte vorbehalten.

STORY DEVELOPED BY Chris Metzen

COVER ART Éva Kárpáti

LAYOUT DESIGN Mark Bryner, Malea Clark-Nicholson, Rob Dolgaard

GRAPHIC DESIGN Mark Bryner

PRODUCT DEVELOPMENT Ryan Collins

BUSINESS OPERATIONS Lisa Pearce, Mike Gilmartin

PUBLISHING Anna Wan, Byron Parnell

AUROBOROS: COILS OF THE SERPENT CREATED BY Chris Metzen, Daniel Moore, Mike Carrillo, Mike Pirozzi, Sam Moore, William Bligh

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70 176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Oliver Hoffmann

Lektorat: Eevie Demirtel

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDAURO002E

ISBN 978-3-7367-9816-8

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4171-7

1. Auflage, Dezember 2022

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

VORWORT

Als Kind und Jugendlicher hatte ich eine sehr enge Gruppe von Freunden. Obwohl einige von uns schon seit der ersten Klasse zusammen auf dieselbe katholische Schule gegangen waren, kamen wir erst um 1985/86 als feste Gruppe zusammen. Sie bestand aus Sam Moore, Mike Pirozzi, Billy Bligh und mir. Für die damalige Zeit waren wir ziemlich verrückt, wir stürzten uns auf alle Filme, Comics und Transformer-Bausätze, die wir in die Finger bekamen. Es war eine fantastische Zeit für fantasievolle Kinder – es schien, als kämen alle paar Monate neue, aufregende Produkte auf den Markt. Transformers, G. I. Joe, Thundercats, He-Man – ihr wisst sicher, wovon ich rede. Eine Welt nach der anderen. Geschichte um Geschichte. Wir verschlangen den Kram einfach. Das machte uns zu Freunden.

Doch eines schicksalhaften Tages – in der Schulkantine, in der fünften Klasse – trat etwas Unerwartetes in unser Geek-Leben. Unser Kumpel Bill brachte ein Spiel mit, das er Dungeons & Dragons nannte. Ihr dürft davon ausgehen, dass es sich dabei für gute katholische Kinder wie uns um gefährlichen Rock ’n’ Roll-Kram handelte. D & D schlug in unseren jugendlichen Köpfen ein wie eine Bombe.

So gut er konnte, erklärte Bill uns die Regeln und leitete während der Mittagspause eine kurze Spielsitzung für uns. Es war das erste Drachenlanze-Modul, Drachen der Verzweiflung, und ich spielte die Rolle des Barbaren Flusswind. Nach all den Jahren ist es schwer, sich an die Einzelheiten dieser aufregenden, fieberhaften zwanzigminütigen Sitzung zu erinnern. Aber sie hat mich verändert.

Ich wollte nicht mehr nur Geschichten in meinen geliebten Welten sehen oder lesen. Nein, ich wollte in ihnen zu Hause sein.

In den nächsten Jahren leitete Bill unsere erste D & D-Kampagne. Sam, Mike und ich spielten sie zusammen mit Bills jüngeren Geschwistern Jennifer und Bobby, und wir schickten unsere Charaktere in ein großes, ausgelassenes Abenteuer. Unsere Kampagne war ein Flickenteppich aus Zufallsbegegnungen und gelegentlichen Dungeons aus damals veröffentlichten Materialien. Sie war ziemlich geradlinig.

Aber irgendwann dann nicht mehr.

Irgendwann dachten wir plötzlich gemeinsam darüber nach, wohin uns das Abenteuer führen könnte – und in unseren Köpfen nahm eine eigene Welt Gestalt an. Drastnia nannte Bill sie. Unter seiner Regie deckten unsere Figuren einen geheimen Pakt zwischen den Mächten des Guten und des Bösen auf, die die Zivilisation unter sich aufteilen wollten. Unsere aufsässigen Charaktere wollten sich das nicht gefallen lassen, und so machten wir uns daran, das ganze verdammte System zu stürzen, was später unter dem Schlagwort »Untergang des alten Sularia« lief. Unsere bizarren Charaktere, bekannt als die Fünf, entwickelten sich zu echten Anarchisten … Ich bin nicht sicher, was das über unseren kollektiven Geisteszustand zu dieser Zeit aussagt, aber so war es nun mal. Diese Respektlosigkeit und der Wunsch, uns gegen jegliche Form von Autorität aufzulehnen, sollten noch jahrelang ein Markenzeichen unseres Rollenspiels sein.

Diese frühen Abenteuer mit meinen engsten Freunden zu erleben, war für mich eine unglaublich spaßige, unfassbar fantasievolle und zutiefst inspirierende Reise. Teil dieses kreativen Prozesses zu sein und gemeinsam mit ihnen Welten zu erschaffen, war alles, was ich mit meiner Zeit zu tun gedachte. Aber irgendwann gingen wir alle auf verschiedene Highschools und hatten keine Zeit mehr, uns zu treffen und D & D zu spielen.

Etwa 1992 beschlossen Sam, Mike und ich, uns wieder zu treffen und eine neue Kampagne zu starten, die in unserer kleinen Welt Drastnia spielen sollte. Zu uns gesellten sich unser Kumpel Mike Carrillo und Sams jüngerer Bruder Daniel. Wir siedelten die Handlung chronologisch ein paar Hundert Jahre nach den Ereignissen im alten Sularia an und schufen ein neues Reich namens Rechtbrand – ein deutlich bodenständigeres Setting mit einer autoritären Kirche, die im ganzen Land für Recht und Ordnung sorgte. Trotz der starren Strukturen gab es in Rechtbrand auch Elemente, die widerspiegelten, wo wir uns zu dieser Zeit in unserem Leben befanden: wilde Musikfestivals, Hippie-Druiden, sprechende Tiere und rauchgeschwängerte lange Nächte. Wir spielten eine Band auf der Flucht – unsere Charaktere forderten auf Schritt und Tritt Autoritäten heraus und stellten die Welt auf die Probe, um zu sehen, ob sie wirklich etwas wert war.

Sam und ich wechselten uns jede Woche als Spielleitung ab und entwickelten die Welt und ihre Mythologie gemeinsam weiter. Die Mikes waren immer lustige Rollenspieler und trieben mit ihrem unverwechselbaren Witz und Flair die Geschichte voran. Daniel war immer der Spaßvogel, der gegen die Regeln verstieß und wirklich absurde Dinge tat, die Sam und mich auf Trab hielten. So einen Spieler gibt es in jeder Gruppe, oder?

Unsere Charaktere waren ein tolles Team: eine Bruderschaft verbitterter Ausgestoßener, könnte man sagen. Ich glaube, wir haben viele unserer Lebensprobleme durch das gemeinsame Spielen dieser Kampagne gelöst. Unsere Charaktere waren zu gleichen Teilen dreiste Anarchisten, Armleuchter und Helden wider Willen. Die ganze Kampagne war … glorreiches Chaos. Dieses Buch erzählt die Geschichte, die wir damals spielten und schließlich »Unter der Sonne« tauften.

Natürlich wäre das ohne seinen Autor, Micky Neilson, nicht möglich gewesen.

Micky und ich sind schon lange befreundet. Wir haben ein paar Jahrzehnte lang bei Blizzard Entertainment zusammengearbeitet … Welten erschaffen, Geschichten erzählt, all die tollen Sachen. Micky war einer der ersten professionellen Autoren, die ich je kennengelernt habe – ich meine, er hatte mit vierundzwanzig bereits fünf großartige Drehbücher fertiggestellt! Sein Können, seine Fantasie und seine unermüdliche Arbeitsmoral haben mich immer umgehauen. Mehr muss ich zu ihm wohl nicht sagen.

Als ich darüber nachdachte, aus »Unter der Sonne« einen Roman zu machen, wusste ich, dass Micky der Autor sein musste. Sicher, er ist ein toller Schriftsteller mit einem riesigen Erfahrungsschatz, aber auch er ist mit einer festen Gruppe von Freunden aufgewachsen, die zusammen D & D gespielt haben. Er kennt sich mit diesem Kram aus. Nicht nur mit »Elfen und Zwergen«, sondern auch mit den Beziehungen hinter all den Fantasy-Elementen – dem Motor, der all die beweglichen Teile antreibt.

Nach langem Bitten meinerseits willigte Micky ein, dieses Monster zu schreiben, und jetzt, fast genau ein Jahr später, stehe ich voller Demut vor dem, was er geschaffen hat.

Im Gegensatz zu konventionellen Romanen oder Drehbüchern, die sich an die bewährte dreiaktige Struktur halten, ist »Unter der Sonne« etwas … nun, sagen wir einfach, wir sind direkt in die fünfaktige Struktur gerutscht, und dabei belassen wir es besser. Ich wollte, dass dieses Buch unsere Abenteuer, die wir während der Kampagne tatsächlich gespielt haben, nachzeichnet, und das so authentisch wie möglich. Irgendwie hat Micky das alles geschickt miteinander verwoben und die Motive und Charaktere dieser Geschichte mit viel Herz und Seele wiedergegeben.

Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er sich mit mir auf dieses Abenteuer eingelassen hat – und für seine grenzenlose Geduld und Großzügigkeit angesichts all meiner endlosen Story-Notizen und Anregungen auf dem Weg zum fertigen Buch.

Die Entwicklung von »Unter der Sonne« – sowohl durch die Rollenspiele vor dreißig Jahren als auch durch die Zusammenarbeit mit Micky bei dieser Romanumsetzung – war eine wirklich erstaunliche Erfahrung, die ich auf ewig in Ehren halten werde.

So schließt sich der Kreis.

Geschichten erfinden und mit Freunden Welten erschaffen. Möge es niemals enden.

Chris MetzenCreative Director, Warchief Gaming

ANMERKUNG DES AUTORS

Chris Metzen und ich kennen uns schon sehr lange und wir haben viele Jahre bei Blizzard zusammengearbeitet. 2016 verließ ich das Unternehmen, um andere kreative Wege einzuschlagen und eigene Projekte zu verfolgen. Einige Zeit nachdem Chris Blizzard verlassen hatte, erzählte er mir von einem Kreativprojekt – einem Rollenspiel im Stil von D & D.

Chris ist eine Ideenmaschine, ein Weltenbauer erster Güte, und ich war wahnsinnig gespannt darauf, was er sich ausdenken würde. Außerdem hatte ich im Laufe meines Lebens immer wieder Rollenspiele gespielt und liebte sie, und dann … rief mich Chris an und fragte mich, ob ich einen Roman über die Kampagne schreiben wolle, die er in den Neunzigern mit seinen Kumpels gespielt hatte, um die Kickstarter-Aktion für seine neue Welt zu begleiten. Von Anfang an Teil des Ganzen sein? Aber so was von!

Ich sah mir seine Entwürfe an und entdeckte eine Geschichte mit viel Herz und lustigen, fesselnden Charakteren, in deren Zentrum eine großartige Botschaft stand. Sicher, einige Teile waren etwas ungewöhnlich. Bei einem unserer ersten Telefongespräche sagte Chris: »Ich weiß, das ist ein bisschen schräg, aber es gibt eine Stelle, an der die Figuren einem Idioten einen Haufen Möbel klauen. Sie vermasseln alles und rennen lachend in die Nacht hinaus. Einer von ihnen hat diesen riesengroßen Schrank auf dem Rücken. Das ist völlig sinnlos, es bringt die Geschichte nicht voran, weswegen man es instinktiv rausschneiden würde. Aber …«

Chris erklärte mir, warum er diese Szene für wichtig hielt, und ich stimmte ihm zu. Als ich den Entwurf las, gefiel sie mir sogar sehr gut. Es war genau das, was ein Charakter in einem meiner eigenen Rollenspielabenteuer getan hätte. Nach wie vor ist dies eine meiner Lieblingsszenen im Buch, und ich hoffe, dass sie am Ende auch eine von euren ist. Für mich war diese Art von Flair wichtig. Ich wollte eine erstaunliche Geschichte erzählen, aber ich wollte auch dem Geist eines guten, alten, unbekümmerten Rollenspiel-Abenteuers treu bleiben.

Deshalb wollte ich die Charaktere auch so originalgetreu wie möglich darstellen, und ich war der Meinung, dass wahrscheinlich niemand sie so gut »kannte« wie die ursprünglichen Spieler (ich erinnerte mich, für meine eigenen Rollenspielcharaktere detaillierte Hintergrundgeschichten geschrieben zu haben). Chris hielt das für eine gute Idee, und tatsächlich, als ich mich mit der alten Mannschaft unterhielt, lieferte sie mir eine Menge toller Informationen, die ihren Weg in dieses Buch fanden.

Für alle Rollenspieler da draußen hoffe ich, dass »Unter der Sonne« euch an späte Abende erinnert, an denen man mit Freunden am Tisch sitzt, Cola (oder etwas Stärkeres) trinkt, Chips isst und würfelt. Für alle anderen hoffe ich, dass die Abenteuer von Xamus, Oldavei, Wilhelm, Nicholas, Darylonde und Torin euch in eine Welt voller Monster und Magie entführen, in der Gefahr, Spannung und Spaß hinter jeder Ecke lauern … aber auch an einen Ort, an dem es absolut vernünftig ist, ein übergroßes Schlafzimmermöbel zu stehlen und damit abzuhauen.

Micky Neilson

HANDELNDE PERSONEN

XAMUSFROOD

Hochelf, Zauberer/Kämpfer

Spieler: Sam Moore

TORINBLUTSTEIN

Wüstenzwerg, Kämpfer

Spieler: Mike Pirozzi

OLDAVEI

Ma’ii, Kleriker

Spieler: Mike Carillo

WILHELMWALLAROO

Mensch, Barde

Spieler: Daniel Moore

NICHOLASAMANDREAS

Mensch, Gespensterklinge

und

DARYLONDEKRALLENHAND

Mensch, Wildniswahrer

Spieler: Chris Metzen

PROLOG

Es begann mit Tausenden Schreien.

Dann folgten Szenen apokalyptischer Verwüstung: Städte, die im Feuer vergingen. Armeen, die wie Ameisen die Landschaft überschwemmten. Wütende Plünderer mit Augen aus Flammen und Krieger in dunklen, andersweltlichen Rüstungen. Hoch aufragende Monstrositäten, die hinter ihnen hertrampelten. Große Zitadellen, hochragende Minarette und stählerne Festungen, die in Stücke zerbarsten.

Bilder von Gemetzel und Verwüstung, furchterregend und erschreckend zugleich. Die Sonne selbst schien zu verglühen. Eine flammende Gestalt, die sich im blutroten Dunst materialisierte, gewaltige Flügel ausbreitete und mit ihnen schlug – eine Schlange aus Flammen, die den Himmel verschlang. Die Erde bebte und riss auf. Ozeane aus Feuer überspülten die Welt.

Die Schreie verstummten.

Beunruhigt von den Visionen trat eine hochgewachsene Gestalt aus der felsigen Öffnung eines Höhlensystems, die dem klaffenden Maul eines Bären glich. Knarren und Stöhnen begleitete jede ihrer Bewegungen. Während sie nachdenklich zum hellen Mond emporsah, löste sich ein gelbes Blatt von ihrem Oberkörper und schwebte an knorrigen, baumstammartigen Beinen vorbei nach unten, um vor ihren Wurzelfüßen zum Liegen zu kommen.

Die Gestalt blickte auf die umliegenden Hänge und die vielen Bäume, die vom Mondlicht silbern gefärbt, aber dennoch grün waren.

Der Hüter fühlte sich alt und müde. Er fragte sich, ob er möglicherweise in den Herbst seines Lebens eintrat. Wie auch immer, es gab noch viel zu lernen und zu tun. Seine Visionen bestätigten die Sorge, die er seit vielen langen Monaten verspürte. Die Zeit war knapp, und er musste sich darauf vorbereiten, wer und was kommen würde: ein mächtiger, furchtbarer Sturm, der Welten vernichten würde.

Teil I

Nichts als Ärger …

Seltsame Aufträge und seltsame Leute

Ein wunderschöner Tag für eine Hochzeit.

Die Schatten waren inzwischen lang, aber draußen war es immer noch angenehm warm.

Lachen und Musik wurden vom leichten Wind herübergetragen, ein Streichorchester spielte unter einem stabilen Pavillon. Hier starrte eine feuerhaarige Frau in einem blassblauen, bodenlangen Gewand mit ausgebreiteten Armen gen Himmel und wirbelte auf der Stelle. Dort lächelte ein rotgesichtiger Kaufmann breit und nickte im Takt der Melodie, den Becher in der einen Hand, die andere schützend auf der Münzbörse, die an seinem Gürtel hing. Ein räudiger Hund streifte umher und suchte nach Essensresten, während sich Bauern und Händler mit ihren Familien auf der Tanzfläche tummelten. Gäste aus dem ganzen Land hatten sich versammelt, um das junge Brautpaar zu feiern, das sich in der Mitte des weiten Feldes in einer liebevollen Umarmung wiegte und einander sehnsüchtig in die Augen blickte. Eine schöne, erbauliche Szene … die Xamus Frood völlig kaltließ.

Schließlich kannte er das Brautpaar nicht. Genau genommen kannte Xamus hier niemanden. Sein einziges Ziel war es, vor dem Treffen am nächsten Tag die Zeit totzuschlagen und seine Lieblingssorte Schnaps zu trinken: den, der nichts kostete.

Mit einem tiefen Zug kippte er den letzten Rest seines gekühlten Whiskeys hinunter und stellte den Tonkrug beiseite. Er lehnte sich im Sessel zurück und drehte sich einen Rauchstängel. Mit Grünflusen, erstmals von Zwergen in der alten Welt angepflanzt. So erzählte man es sich jedenfalls. Wie dem auch sei, von allen Rauchkräutern, die er probiert hatte – und ja, es waren viele gewesen –, war Grünflusen bei Weitem sein liebstes.

Das Leben, dachte Xamus, gehört den Lebenden. Nicht, dass sein Volk diesen Gedanken gutgeheißen hätte.

Schwerfällig, herrisch, engstirnig in ihrem Glauben und isoliert in ihrer Zuflucht, hatten die Hochelfen der Welt vor langer, langer Zeit den Rücken gekehrt. Im Gegensatz dazu war Xamus entschlossen, ihr die Stirn zu bieten, eine Haltung, die sich in seinem Auftreten widerspiegelte, vom Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln über die verblassenden Tätowierungen an den Armen bis hin zu der weiten Latzhose mit der überdimensionalen Gürtelschnalle und den abgewetzten Stiefeln. Wie so oft diente sein langes, volles braunes Haar dazu, die spitzen Ohren zu verbergen, die sonst seine Abstammung verraten hätten. Obwohl es ihm half, lange Erklärungen zu vermeiden – die meisten Leute glaubten schließlich, dass Elfen ausgestorben waren –, war sein langes Haar weder ein Versuch der Verkleidung noch, wie manche glaubten, ein Symbol der Rebellion gegen die Tradition. Nein, er ließ sich die Locken einfach wachsen, weil er keinen Drang verspürte, sie zu schneiden.

Xamus war mit dem Drehen fertig, griff in seine Weste und zog einen Taschenleuchter heraus.

Er klappte den Deckel auf, drückte auf das Zündhütchen und steckte den Rauchstängel an. Der Elf nahm einen langen Zug und ließ den Blick unter der breiten Krempe seines ausgeblichenen Hutes noch einmal über die Menge schweifen.

Er stieß eine blaue Rauchwolke aus, die sich verwirbelte, verwehte, auflöste und damit einen Neuankömmling offenbarte, dem die anderen unbehagliche Blicke zuwarfen, bevor sie ihm aus dem Weg gingen. Die anständigen Stadtbewohner betrachteten ihn als Wilden. Er war ein Zwerg, aber kein gewöhnlicher Eisenzwerg. Nein, dieser kleine, stämmige Kerl war ein Wüstenzwerg, erkennbar an seinem dunklen Teint, dem sandblonden Haar – ein hoher Kamm auf dem Schädel und ein geflochtener Bart, der bis zur Hälfte seines ledernen Wamses herunterhing – und den Tätowierungen. Sie zierten beide Seiten seines rasierten Kopfes, seine Arme und den Teil seiner Beine, der unter dem Saum seines blauen Kilts zu sehen war.

Der Fremde watete durch die Menge und balancierte ein Fass auf der linken Schulter. Er blieb stehen, musterte seine Umgebung und sah dann Xamus an. Der Zwerg zeigte mit einem seiner dicken Finger in Richtung des Elfen. »Du!«, rief er und ließ die nächststehenden Feiernden zusammenzucken.

Xamus deutete fragend mit einem Finger auf seine Brust.

»Ja, du, du beschissener Abschaum!« Der Zwerg richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Frau neben ihm. »Keine Sorge, junge Frau, ich regle das.« Zielstrebig näherte er sich dem Elfen bis auf wenige Schritte und fixierte ihn mit einem finsteren Blick. Das Orchester und die Menge verstummten.

Der Zwerg trat neben Xamus, nahm das Fass von seiner Schulter, stellte es mit dem Zapfhahn nach unten ab und setzte sich darauf. »Abschaum wie wir sollte nicht allein trinken müssen«, brummte er mit tiefer Stimme. »Her mit deinem Becher.«

Xamus gehorchte, während das Orchester weiterspielte und die Gäste ihre Gespräche wiederaufnahmen, wobei einige von ihnen den Kopf schüttelten.

Der Zwerg beugte sich zwischen seine Beine und zapfte etwas, das wie Honigmet aussah und roch. »Torin«, sagte er, drehte sich um und drückte Xamus den Becher in die Hand, wobei er die Hälfte des Inhalts verschüttete und ein Lächeln zeigte, bei dem ein paar Zähne fehlten.

»Xamus«, antwortete der Elf.

Während Xamus den Becher leerte, beugte sich Torin zu ihm vor und kniff ein Auge zusammen. »Also … was bringt einen Fremden nach Herddahl?«

»Ich bin zum Angeln hier«, erwiderte Xamus.

Torin starrte ihn an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, gefolgt von einem Grummeln, das in seinem Bauch begann, nach oben drang und zu einem der lautesten Lacher wurde, die Xamus je gehört hatte. Die Festgäste in der Nähe warfen ängstliche Blicke in ihre Richtung und flüsterten miteinander. Eine korpulente Bäuerin betrachtete Torins Kilt, schnappte nach Luft und sah schnell wieder weg.

»Blödsinn!«, platzte Torin heraus, dessen Gesicht rot angelaufen war. »Das Einzige, was man hier an den Haken kriegt, sind Dornhaie und Krabben – und sonst kann man sich hier nur Filzläuse im Bordell holen!«

Xamus verkniff sich eine Antwort, aber er fragte sich innerlich, ob in diesem Zwerg mehr steckte, als man ihm auf den ersten Blick ansah.

Hinter Torins dröhnendem Gelächter verbarg sich eine scharfe Beobachtungsgabe. Der Zwerg war schon immer gut darin gewesen, Dinge mitzubekommen. Besonders die Dinge, die andere zu verbergen suchten. »Du bist also auch hier, um den Magistrat zu sehen«, verkündete er.

Xamus antwortete ihm nicht.

Auch recht, dachte Torin. Das musste er auch nicht. Der Zwerg dachte schweigend nach … Der Magistrat von Herddahl, Raldon Rhelgore, suchte für irgendein lokales Problem »Hilfe« von außerhalb. Wahrscheinlich Drecksarbeit. Warum sollte er sonst nicht einfach die örtliche Miliz beauftragen? Der Bund Rechtbrander Handelsstädte, zu dem Herddahl gehörte, legte großen Wert auf sein strenges »Recht« und seine kostbare »Ordnung« – bis es unangenehme Angelegenheiten zu erledigen gab. Dann war es an der Zeit, die unkultivierten Heiden zu engagieren. Die Doppelmoral der Rechtbrander war enorm ausgeprägt.

Aber Torin brauchte Geld und seine Verdienstaussichten waren begrenzt. Das Leben auf der Straße glich oft entweder einem Fest oder einer Hungersnot. In letzter Zeit neigte es häufiger zur Hungersnot, als ihm lieb war. Die größte Frage war nun, da er wusste, dass dieser »Angler« am selben Köder knabberte wie er, ob er ein Verbündeter oder ein Konkurrent sein würde. Das blieb abzuwarten.

»Nun«, sagte Torin, bückte sich und schenkte sich selbst einen Becher ein. »Wenn die Sonne aufgeht …« Er richtete sich auf, leerte seinen Becher, rülpste heftig und wischte sich den Schaum vom Schnurrbart. »… können wir ihn genauso gut gemeinsam aufsuchen.«

* * *

Alles in Raldon Rhelgores Räumlichkeiten in der Großen Halle war poliert, abgewischt, abgestaubt oder gefegt. Die Kissen auf den Stühlen, auf denen Torin und Xamus gegenüber dem Schreibtisch des Magistrats saßen, waren so hart und makellos, dass sie besonders unbequem waren. Torin fand, dass Möbel prinzipiell gut eingesessen sein sollten, und sein Rücken schmerzte bereits, während Raldon immer weiterredete.

»Wie gesagt, es handelt sich um ein lokales Problem.« Raldons Haut sah aus, als hätte sie noch nie die Sonne gesehen. Sein spärlicher Spitzbart war sicherlich gewichst, um das Grau an seinem Kinn zu verbergen. Lange dunkle Strähnen hingen von seinem Haaransatz glatt bis knapp über die Schädelbasis. Seine Lippen blieben beim Sprechen meist gespitzt, was ihm das Aussehen eines Tieres verlieh, das ständig die langen, gelben Zähne fletschte.

Die hohe Rückenlehne seines Stuhls reichte bis wenige Handbreit unter die Decke. Er zupfte an den Ärmeln seiner Robe, als er fortfuhr: »Eine kleine Anzahl Jugendlicher ist verschwunden. Alle sind jünger als zwanzig, aber keiner jünger als dreizehn. Einige sind die Kinder hochrangiger Vertreter der Ernterzunft.«

»Entführt, um Lösegeld zu erpressen?«, fragte Torin, nahm einen Kerzenhalter samt Kerze von der Schreibtischkante und zog die Kerze vom Dorn. Raldon starrte den Zwerg an, als wolle er ihm die Gegenstände entreißen, aber dazu saß er zu weit weg. Xamus beobachtete das Geschehen schweigend, der Hauch eines Grinsens umspielte seine Lippen.

»Eine naheliegende Vermutung, aber nein«, antwortete Raldon. »Ich glaube, Kultisten haben sie entführt. ›Kinder der Sonne‹ nennen sie sich. Ein Orden, der erst seit Kurzem hier in der Gegend aktiv ist. Seither hat er viel Zwietracht gesät und bedauerlicherweise ein gewisses Maß an Beliebtheit erlangt, vor allem bei jungen und … beeinflussbaren Menschen.«

Torin versuchte, die Kerze wieder auf den Dorn zu setzen, wobei er den spiralförmigen Griff des Kerzenleuchters abriss. Er prallte von der Armlehne seines Stuhls ab und fiel zu Boden.

Ein Muskel in Raldons linker Wange zuckte, als er in angespanntem Tonfall hinzufügte: »Man munkelt, der Kult habe das Ziel, den sularischen Glauben zu verdrängen.«

Die sularische Kirche war die traditionelle Autorität des Reiches, eine Mischung aus Regierung und Religion, die schon seit Jahrhunderten bestand. »Ich habe schon von diesen ›Kindern‹ gehört«, sagte Xamus. »Lumpenpropheten.«

Raldon sah den Elf an. »Aber dennoch haben sie irgendwie eine gewisse Anhängerschaft erlangt, trotz ihrer Verunglimpfung der Kirche, ihrer lächerlichen Behauptungen, der sularische Glaube habe die Massen im Stich gelassen, und ihrer eitlen, blasphemischen These, sie allein böten eine neue Hoffnung …«, er hob theatralisch die Arme, »… auf Erlösung für ganz Rechtbrand.«

»Erlösung von der Sünde«, ergänzte Xamus.

»Ha!«, platzte Torin heraus. »Was soll das denn bringen?« Er versuchte, den Griff wieder anzubringen, und murmelte: »Ich mag meine Sünden, vielen Dank. Die Leute sollen leben, wie sie wollen …« Ein jähes Geräusch erregte die Aufmerksamkeit aller.

Xamus und Torin schauten über die Schulter zur Kammertür, die jemand aufgerissen hatte. Dort setzte gerade eine gebückte Gestalt einen schwarz gestiefelten Fuß über die Schwelle und hielt sich mit einer Hand mit langen, spitzen Fingernägeln am Türpfosten fest. Sie beugte den Oberkörper in den Raum und witterte.

»Du bist spät dran!«, rief Raldon.

Der Mann stürmte vollends herein, blieb dann stehen und hob die halb geballten Fäuste auf Brusthöhe. Sein Kopf flog herum, seine Nasenlöcher blähten sich, als er den Raum weiter beschnüffelte.

»Darf ich vorstellen? Das ist Oldavei«, sagte Raldon. »Er stammt aus der östlichen Wüste.«

Torin fielen mehrere Dinge auf: Feines blassbraunes Haar bedeckte die Haut des Neuankömmlings. Er war von Kopf bis Fuß voller Wüstenstaub. Zusammen mit dem Haarknoten und dem auf beiden Seiten rasierten Kopf, der schwarz-roten Weste und der ledernen Reithose kennzeichnete ihn dies als einen Ma’ii, einen Angehörigen eines geheimnisvollen Volkes aus der Wüste Tanaroch, das die meisten Menschen in Rechtbrand für nicht besser als wilde Tiere hielt. Zwerge und Ma’ii waren traditionell verfehdet. Torin hatte eine gemeinsame Vergangenheit mit den Wüstenbewohnern, die seine eigenen Gefühle ihnen gegenüber gelinde gesagt kompliziert machte. Der Ma’ii kam dem Zwerg … merkwürdig vor. Ihm fiel eine Tätowierung auf der Stirn des Besuchers auf, ein Kreis, der oben und unten von vertikalen Linien unterbrochen war, die auf beiden Seiten horizontal ausliefen.

Oldavei näherte sich, beugte sich vor und roch mehrfach kurz an Xamus, dann holte er tief Luft. Der Ma’ii nickte sich selbst zu, dann wandte er seinen Kopf gen Torin, reckte die Schnauze dicht an ihn heran und schnupperte hektisch.

Xamus unterdrückte ein Lachen. Torin war deutlich weniger amüsiert. »Weg mit dir, du verdammter Köter!«

Oldavei richtete sich auf und trat scheinbar zufrieden einen Schritt zurück. »Fremde wie ich«, sagte er und entblößte ein Maul voller spitzer Zähne. »Ich freue mich über eure Gesellschaft! Dachte schon, ich müsste alles allein erledigen.«

Torin wandte sich an den Magistrat und fragte: »Kommt sonst noch wer?«

»Meines Wissens nicht«, antwortete Raldon. »Ihr drei werdet doch miteinander klarkommen, oder?«

Torin sah Xamus an, der ein Achselzucken andeutete.

»Mir scheißegal«, entgegnete Torin, »solange das Geld stimmt.«

Oldavei schlug dem Zwerg auf die Schulter, trat hinter Xamus’ Stuhl an die Wand, drehte sich um und ließ sich in den Schneidersitz gleiten. »Bitte«, wandte er sich an Raldon, »fahrt fort.«

Mit einer Miene wie jemand, der gerade etwas Unangenehmes gekostet hatte, sprach Raldon weiter. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass diese widerspenstigen Kultisten …«

Oldavei kicherte und wurde dafür von Raldon mit einem scharfen Blick bedacht. »Verzeihung«, sagte der Ma’ii.

Der Magistrat räusperte sich. »Sie haben … ein Lager in den nördlichen Gebirgsausläufern. Ihr sollt dorthin gehen und die Vermissten zurückholen, falls sie dort sind. Ohne unnötige Komplikationen.«

»Definiert Komplikationen«, sagte Oldavei.

»Versucht, niemanden zu töten«, stellte Raldon klar.

»Verstanden«, erwiderte Oldavei.

Dann stellte Xamus die Frage, die Torin schon vor seiner Ankunft in Herddahl bewegt hatte: »Warum heuert Ihr uns an und setzt nicht Eure eigene Miliz ein?«

Raldon strich sich den Spitzbart glatt. »Es handelt sich um eine delikate Angelegenheit«, sagte er. »Die Miliz ist ein stumpfes Schwert, das erst Blut vergießt und dann Fragen stellt. Einige führende Mitglieder der Ernterzunft haben sich für die Botschaft dieser Sekte erwärmt. Wenn ich mich also täusche und die Kinder der Sonne die Jugendlichen nicht entführt haben und ein Konflikt ausbricht …«

»Könnte jemand anderes diesen bequemen Sitz einnehmen«, schlussfolgerte Xamus und nickte in Richtung des Magistratsstuhls.

Raldon durchbohrte ihn mit Blicken.

Das war einTeil der Antwort, schloss Xamus. Aber da war noch mehr: Nachdem er den ganzen Monolog des Bürokraten aufmerksam verfolgt hatte, hielt er es auch für wahrscheinlich, dass Raldon seine Hände in Unschuld waschen wollte, falls das Vorhaben scheiterte. Er würde ganz sicher leugnen, von ihrer Aktion gewusst zu haben, sollte man sie erwischen. Xamus war lange genug dabei, um eine unausgesprochene und unbequeme Wahrheit zu begreifen: Er und andere Abenteurer seiner Art waren in den Augen von Wichtigtuern wie dem angesehenen Magistrat hier … zu einhundert Prozent entbehrlich.

Die trauernde Witwe

Kurz vor Mittag trafen sich die drei Abenteurer vor dem Haupteingang des Ruhelosen Ponys, Herddahls billigstem und am wenigsten frequentierten Gasthauses. Torin hatte seine Waffe, eine gut gearbeitete einschneidige Streitaxt, auf den Rücken geschnallt. Xamus trug ein fremdländisches, elegantes Langschwert an der einen Hüfte, einen Dolch an der anderen.

Oldavei lehnte mit einem Krummsäbel an der linken Seite an einem Anbindepfosten. Auf dem Rücken trugen sie ihr Gepäck, an dem Schlafsäcke festgezurrt waren – alle außer Torin.

»Keine Ausrüstung?«, fragte Xamus den Zwerg.

Torin winkte ab. »Pah! Unnötiger Ballast. Ich reise mit leichtem Gepäck.«

»Na schön«, sagte Xamus. »Tja, ich schätze, wir sollten uns nach Reittieren umsehen.«

»Reittiere?«, platzte Torin heraus und kniff ein Auge zu.

»Ja«, entgegnete Xamus. »Du weißt schon, Pferde.«

»Ah, bloß nicht!«, erwiderte der Zwerg. »Pferde sind Kreaturen aus der Hölle.« Er schien zu erschaudern. »Vor denen habe ich echt Bammel.«

Xamus überlegte, ob sein neuer Gefährte scherzte. Als ihm klar wurde, dass der Zwerg es ernst meinte, sah er Oldavei an.

Der Ma’ii zuckte die Achseln. »Ich kann nicht mal reiten.«

Der Elf nickte. »Gut, so viel zum Thema Reittiere.« Er spähte die schmale Seitenstraße entlang und weiter zu den dunstverhangenen Grenzgipfeln. »Anderthalb Tage zu Fuß, würde ich schätzen.«

»Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, drängte Torin und übernahm die Führung, als sie sich zu dritt auf den Weg machten. Sie schoben sich durch die überfüllten gepflasterten Straßen Herddahls, vorbei an Fuhrwerken und Vieh, Bettlern und Arbeitern, bis sie erst die steinernen Gebäude der Stadt und dann die hölzernen Bauten der äußeren Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten. Stumm und in leichtem Tempo schritten sie weiter durch das weitläufige Ackerland der Region. Hier flankierten majestätische Felder ihren Weg. Auf der einen Seite pflügte ein schwitzender, haariger Hügelriese in Latzhose tiefe Furchen entlang eines flachen Abhangs, während eine kniende Riesin Saatgut ausstreute. Weiter hinten, wo sich die Ebene nach beiden Seiten bis zum Horizont erstreckte, streuten menschliche Arbeiter aus Jutesäcken Getreidesamen hinter von Ochsengespannen gezogenen Pflügen aus.

»Ich wette, sie säen Gerste«, sagte Torin. Feixend wandte er sich zu Xamus um. »Daraus lässt sich vortreffliches Bier brauen!«

Hier wurde recht intensive Landwirtschaft betrieben, dachte der Elf. Ein Gewerbe, das bis vor Kurzem ausschließlich die Alten Familien ausgeübt hatten. Die Präsenz von Hügelriesen hatte zugenommen, was sich die Ernterzunft zunutze machte. In dem Bestreben, die Alten Familien als Konkurrenten auszustechen, heuerten die Zunfthöfe Riesen an. Sie konnten an einem Tag verrichten, wofür einfache menschliche Arbeiter fünf Tage gebraucht hätten. Das schlussendliche Ziel der Zunft war es, die alteingesessenen Bauern vollständig zu verdrängen und Herddahl als genossenschaftlich organisierte Handelsstadt zu etablieren – eine Stadt, die zweifellos fest unter ihrer Kontrolle stehen würde. Wo und wie Magistrat Raldon in das Ganze hineinpasste, wusste Xamus noch nicht.

Oldavei zog das Tempo an und übernahm die Führung, wobei er mit seltsam hinkendem Schritt dahinstapfte. Ab und zu blieb der Ma’ii stehen und hob den Kopf, um zu wittern und all die verschiedenen einzigartigen Gerüche aufzunehmen, die das Land zu bieten hatte. Unter freiem Himmel, auf Abenteuer ausziehend, war er ganz in seinem Element. Für ihn schienen die Stunden und ihre Reise wie im Flug zu vergehen, so sehr war er in der Schönheit der Umgebung versunken.

Schließlich ließen sie jegliche Besiedlung hinter sich, während die nördlichen Gebirgsausläufer immer näher kamen und die wolkenverhangenen Grenzgipfel dahinter auftauchten. Der Himmel hatte eine mattgoldene Farbe angenommen, als sich das Trio in einem breiten, flachen Tal wiederfand.

Seine Wände hielten die Strahlen der tief stehenden Sonne fern und die Luft kühlte merklich ab. Im Osten mündete ein Nebenfluss der Talisande in einen gurgelnden Bach, der nahe der Straße in einer lang gezogenen Biegung nach Süden abzweigte.

Die drei machten am Bach Rast, um zu trinken und ihre Wasserflaschen aufzufüllen, als überraschend ein Schrei die Stille durchbrach. Es war ein durchdringender, trauriger Klagelaut, der einige lange Sekunden anhielt, bevor er verstummte.

Torin sah Xamus fragend an. Der Elf ließ schweigend seinen Blick über das hohe Gehölz schweifen. Oldavei, der mit einem Wasserschlauch in der Hand am Bach kauerte, seufzte tief. Torin wandte sich an den Ma’ii, der sich kopfschüttelnd erhob.

»Was ist das?«, fragte der Zwerg.

Oldavei zögerte mit seiner Antwort einen Moment, als überlege er, ob es klug wäre, sein Wissen kundzutun. Schließlich sah er die anderen an und erklärte düster: »Die trauernde Witwe.«

»Die was?«, wollte Torin wissen.

Der Ma’ii sah in den Wald. »Es heißt, ein frisch verheiratetes Ehepaar sei vor langer Zeit auf dieser Straße unterwegs gewesen. Eine Räuberbande griff es an, aber anstatt die Ehre seiner Frau zu verteidigen, nahm der Ehemann Reißaus und lief davon. Sie streckten ihn vor den Augen seiner weinenden Frau mit Pfeilen nieder. Sie bewies mehr Mut als ihr Mann, nahm ein Messer und griff den Anführer an, aber ihr Dolch war seinem Schwert nicht gewachsen. Er hat sie niedergemacht und die Räuber überließen ihren Leichnam und den ihres Mannes den Bussarden. Die Legende besagt, dass sie in diesen Wäldern spukt, eine Wiedergängerin – gequält vom feigen Verrat ihres Mannes –, deren grässliche Gestalt von Wut entstellt ist. Ein Blick auf ihr abscheuliches Antlitz, und selbst die mutigsten Krieger sollen vor Angst davonlaufen, aber …« Oldavei band den Wasserschlauch an seinen Gürtel, während die anderen warteten. »Es heißt, wenn ein Mann sie ansieht und die Tapferkeit zeigt, die ihrem Gatten fehlte, wird das die Schönheit der Witwe wiederherstellen und ihren Geist befreien.«

Torin stand stumm da, den Mund leicht geöffnet.

Neben ihm sagte Xamus: »Hm.«

Oldavei ging in Richtung Straße. »Das sind aber sicher nur Geschichten. Ammenmärchen. Wir sollten weitergehen.«

Torin hob eine Braue und warf Xamus einen Blick von der Seite zu. »Klingt für mich nach völliger Pferdescheiße!«, sagte er, ehe er sich in Bewegung setzte.

Xamus folgte ihm stumm.

In den nächsten Stunden hielt Torin ein flottes Tempo und blieb Oldavei dicht auf den Fersen, während er die herannahenden Schatten wachsam beobachtete. Die drei hatten das Ende des Tals noch nicht erreicht, als die Dunkelheit hereinbrach, und sie hielten an, um ihr Nachtlager aufzuschlagen.

Nach einem leichten Abendessen aus Pökelfleisch und Brot saßen sie rauchend um ein knisterndes Feuer, das schwankende Schatten auf die nahen Bäume warf. Xamus zog gerade seine Stiefel und seinen Hut aus, nachdem sie mit dem Rauchen fertig waren, da rief Torin »Ho!« und warf ihm einen Flachmann zu. Der Elf fing ihn auf und wollte gerade trinken, als er den Zwerg fluchen hörte: »Ich will verdammt sein!« Xamus ließ den Flachmann sinken und sah, dass der Zwerg auf seine entblößten Ohren deutete. »Du bist ein Elf!«

Xamus erwiderte den Blick des Zwerges und schaute dann zu Oldavei, der mit einem Stück halb zerkauter Wurst im offenen Mund im Schneidersitz dasaß. »So ist es«, antwortete er.

Torin deutete immer noch auf ihn. »Wie das? Ihr seid doch ausgestorben! Jedenfalls sagt man das.«

»Nicht alle«, widersprach Xamus. »Einige von uns existieren noch, versteckt an geheimen Orten.«

Torin hatte den Finger gesenkt, starrte Xamus aber immer noch ungläubig an. »Aber du siehst so verdammt … menschlich aus. Das hat mich ganz schön genarrt.« Der Zwerg, der sich einer scharfen Beobachtungsgabe rühmte, vor allem in Bezug auf andere, war leicht verwirrt.

»Ich habe nicht versucht, jemanden zu täuschen«, beteuerte Xamus.

Oldavei erlangte die Sprache wieder und sagte: »Ein Elf, der mit dem einfachen Volk herumzieht … das würde großes Aufsehen erregen. Es ist klug von dir, es zu verbergen!«

»Ich will nicht …«, begann Xamus, aber Torin unterbrach ihn: »Magie! Ich habe gehört, die Elfen beherrschen mächtige Magie!«

»Nun ja, ich …«

»Warum bist du weggegangen?«, unterbrach Oldavei ihn. »Wenn dein Volk sich versteckt … Warum bist du hier unterwegs?«

»Ja, genau!«, fügte Torin hinzu.

Nach einer kurzen Pause antwortete Xamus: »Ich sehe die Dinge einfach anders als die anderen.«

»Freunde und Familie zurückzulassen, ist nichts, was man leichthin tut«, konstatierte Oldavei. Die Art, wie er es sagte, machte deutlich, dass er aus Erfahrung sprach.

»Richtig«, stimmte Xamus ihm zu. »Aber hier draußen, auf solchen Abenteuern, bei denen ich etwas über die Welt lernen und mit Abschaum wie euch trinken kann …« Er warf Torin den Flachmann wieder zu. »Genau hier gehöre ich hin.«

»Hm«, brummte Torin und beäugte Xamus etwas misstrauisch, als dieser sich auf den Rücken legte.

Die drei hatten es sich gemütlich gemacht und waren gerade am Einschlafen, als ein langes, durchdringendes Stöhnen die Nachtluft zerteilte. Torin fuhr hoch. Oldavei und Xamus bewegten sich im Halbschlaf.

»Sie ist es«, flüsterte Oldavei. »Die trauernde Witwe.«

»Pferdescheiße!«, entgegnete Torin. Ein Holzscheit im Feuer knackte und ließ ihn zusammenzucken. Dann ertönte ein Rascheln unmittelbar jenseits des Lichtkreises des Lagerfeuers. Der Zwerg sah hinüber und erspähte zwei glitzernde Augen in der Dunkelheit. »Verdammt noch mal …«, murmelte er und griff nach seiner Axt. Langsam erhob sich Torin. »Also gut, Witwe, wenn du das bist, dann komm raus! Wenn du einen mutigen Zwerg suchst, einen mutigeren wirst du nicht finden!«

Oldavei bemerkte, wie die Knie des Zwerges leicht zitterten, als Torin die Axt mit beiden Händen umklammerte und Kampfhaltung einnahm.

Die brennenden Augen sanken mit einem dumpfen Geräusch ins Unterholz.

Torin umfasste seine Axt fester und biss die Zähne zusammen, seine Augen weiteten sich …

Ein pelziges Geschöpf trat in den Feuerschein. Es war etwa so groß wie eine Katze, vierbeinig, mit einem langen, dünnen Schwanz und großen, runden Augen in einem nagetierartigen Gesicht. Ein Merkmal stach besonders hervor: das Maul. Seine Enden reichten fast bis zum Hals der Kreatur, es stand teilweise offen und war mit kleinen, nadelartigen Zähnen besetzt.

Vor den Augen des entgeisterten Torin stellte sich das Tier auf die Hinterfüße, hob die Schnauze in den Himmel und stieß einen langen, lauten, klagenden Schrei aus, der den Zwerg zusammenzucken ließ und sowohl Xamus als auch Oldavei dazu veranlasste, sich die Ohren zuzuhalten.

Endlich hörte das Jaulen auf. »Du kleiner …«, sagte Torin und machte einen Schritt nach vorn. Pfeilschnell wirbelte das Geschöpf herum und war verschwunden. Der Zwerg blieb stehen und atmete erleichtert auf, als ein anderes Geräusch hinter dem knisternden Feuer aufstieg: Lachen.

Der Zwerg drehte sich um und sah, wie sowohl Xamus als auch Oldavei ohne großen Erfolg versuchten, ihr Gelächter zu unterdrücken.

»Ihr habt es beide gewusst, nicht wahr?«, rief Torin. »Ja, ja, ein echter Schenkelklopfer!« Er richtete die Axt auf Oldavei. »Apropos Schenkelklopfer …« Er stapfte zu dem sitzenden Ma’ii hinüber, der immer noch kichernd die Handflächen ausstreckte.

»Entschuldige!«, japste er. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Das war doch nur Spaß. Die Viecher heißen Merwins. Oder Jauler. Ich kannte sie bisher allerdings auch nur vom Hörensagen.«

»So, so, Jauler. Ein bisschen Spaß auf meine Kosten, was?« Torin beugte sich vor. »Nur weiter so, dann jaulst bald du!«

Oldavei schloss den Mund, die Hände immer noch erhoben. Der Zwerg stapfte zurück zu seinem Schlafplatz, kniete nieder und legte seine Axt ab. Er rollte sich auf den Rücken, und gleich darauf verstummte das Lachen und wich dem Knacken und Knistern des Feuers.

»Was ich mich schon die ganze Zeit frage«, sinnierte Xamus laut. »Was hattest du denn mit der Axt vor? Die trauernde Witwe noch mal töten?«

Daraufhin brach Oldavei erneut in Gelächter aus, in das Xamus bald einfiel.

»Ach, leckt mich doch!«, fluchte Torin, woraufhin die beiden nur noch lauter wieherten.

Auch der Zwerg musste wider Willen grinsen.

Kinder der Sonne

Nachdem das Lager abgebaut war, brach das Trio auf und verließ nach einigen Stunden die Schlucht. Sie folgten dem Weg bis zu einer Gabelung kurz vor den breiten, niedrigen Bergrücken, die die südlichste Grenze des Vorgebirges markierten. Im Osten lag das Talisandebecken, im Westen weitläufiges Ackerland. Die Gruppe nahm sich einen Augenblick Zeit, um nach Norden zu schauen. Nur wenige wussten, was hinter den Grenzgipfeln lag, die sich wie die Mauern einer unvorstellbar kolossalen Festung erhoben. Jenseits der Gebirgskette lag die berüchtigte Nordwildnis, ein Ort, wohin sich seit Jahrhunderten kein Lebewesen mehr gewagt hatte.

Selbst auf diese Distanz kamen sich die drei im Vergleich zu den Bergen so winzig vor, dass sie sich fast unbedeutend fühlten, als sie weiter ins Vorgebirge vordrangen.

Als sie auf einem grasbewachsenen Bergrücken ihre Mittagsmahlzeit einnahmen, war die dichte Wildnis licht bewaldeten, flachen Hängen gewichen. Sie waren gerade mit dem Essen fertig, als der Wind, der bisher aus dem Osten geweht hatte, seine Richtung änderte.

Oldavei riss den Kopf hoch, drehte sich in verschiedene Richtungen, und seine Nüstern blähten sich, als er einige Male kurz und schnell witterte. Er sprang auf und seufzte tief, während er sich grob nach Nordwesten orientierte.

Dann sah er über die Schulter, grinste die anderen an und sagte: »Ich habe sie.«

Oldavei ging voran und sprang über Kämme und Hänge, bis er sich in einem Tal zwischen zwei Hügeln umdrehte, einen Finger an die Lippen legte und den beiden ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Er ging in die Hocke und näherte sich mit langsamen, verhaltenen Bewegungen der nächsten Kuppe.

Bald lagen die drei auf dem Bauch nebeneinander und spähten durch das hohe Gras in eine weite Senke hinab, in der sich eine geschäftige Siedlung erstreckte. Dutzende von Wohnhäusern, die trotz ihrer einfachen Bauweise aus Flechtwerk und Lehm stabil wirkten, umgaben ein viel größeres, längliches Gebäude. Hier und da saßen Gestalten in Roben um kleine Feuer und wiegten mit erhobenen Armen ihren Oberkörper. Oldavei sah, dass sie die Augen geschlossen hatten. Er konnte erkennen, dass sie sangen, und da der Wind günstig stand, roch er Weihrauch. An der südlichen Grenze der Ortschaft luden weitere Gestalten in Roben Vorräte aus einem Gebäude, das wie ein Lagerhaus aussah, auf offene Wagen. Auf der anderen Seite standen Ochsen in einem Pferch.

Die Farben der einfachen pastellfarbenen Gewänder der Kinder der Sonne reichten von Beige über Safran und Salbei bis hin zu Ocker. Durch diesen Kleidungsstil und das Fehlen sichtbarer Waffen erinnerten sie Oldavei an östliche Wüstennomaden – ein friedlicher und relativ harmloser Haufen. Vielleicht waren diese Kinder der Sonne ihnen ähnlich und man verstand ihre Absichten falsch, dachte er.

Xamus deutete auf die Arbeiter, die die Wagen beluden. »Die scheinen mir jung genug, um unsere vermissten Jugendlichen zu sein«, sagte er.

Einige Belader unterhielten sich angeregt, während sie ihrem Tagwerk nachgingen.

»Was glaubt ihr, worüber sie plaudern?«, fragte Torin.

»Ich …«, begann Oldavei.

»Wir könnten versuchen, näher heranzukommen«, schlug Xamus vor.

»Nicht nötig«, meinte Oldavei.

»Mm, nicht viel Deckung«, erwiderte Torin. »Vielleicht wird man uns …«

»Ich kann sie hören!«, unterbrach Oldavei ihn, diesmal lauter. »Wenn ihr mal die Klappe halten würdet.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Majestät«, gab Torin zurück. »Lausch ruhig!«

Xamus war davon ausgegangen, dass die Entfernung es unmöglich machte, ihre Unterhaltung zu belauschen, aber er schwieg, während Oldavei verharrte und sich konzentrierte.

»Sie freuen sich auf eine bevorstehende Reise«, teilte er gleich darauf mit.

Xamus runzelte die Stirn. »Meinst du das ernst oder ist das wieder ein Scherz?«, erkundigte er sich.

»Ich schwöre«, antwortete Oldavei.

»Er sagt sicher die Wahrheit«, bestätigte Torin. »Ich habe mal ein Weilchen bei den Ma’ii gelebt.« Er deutete auf sein Ohr. »Die können eine Fliege auf zwanzig Schritt hören.«

Oldavei wartete, den Kopf mit einem Ohr in Richtung des Geländes geneigt. »Sie planen eine Karawane … in die Wüste. Dort werden sie … die Lehren des Großen Propheten hören.« Xamus und Torin sahen einander an. »Es ist eine Ehre … Heimat und Familie zurückzulassen, ein notwendiges Opfer für die Entdeckung des … wahren Ichs.«

»Wahres Ich? Klingt wie ein Haufen Pferdescheiße, wenn ihr mich fragt«, warf Torin ein.

Oldavei hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Nach kurzem Lauschen sagte er: »Sie wünschten, sie könnten jetzt schon aufbrechen und nicht erst morgen früh.« Die Arbeiter machten eine Pause und füllten Becher mit einer Flüssigkeit, die wie Wasser aussah, aus einem Fass auf einem Wagen.

»Na schön«, sagte Torin mit einem Glitzern in den Augen, als er seine Axt losmachte und sich anschickte aufzustehen. »Lasst uns ein paar Schädel spalten. Auf mein Zeichen …«

»Warte«, bat Xamus. »Sie brechen erst morgen auf. Das verschafft uns Zeit. Bei Einbruch der Dunkelheit können wir näher ranschleichen, beobachten und abwarten – und sie heute Nacht im richtigen Augenblick befreien. Möglicherweise sogar, ohne dass es jemand mitbekommt.«

»Ohne dass es jemand mitbekommt?«, erwiderte Torin angeekelt. »Scheiß drauf. Reine Zeitverschwendung. Was meinst du?«, fragte er Oldavei.

»Warten erscheint mir sinnvoll«, antwortete der Ma’ii.

Torin seufzte tief und rollte sich auf den Rücken. »Verdammte Weicheier«, murmelte er, schloss die Augen und legte die Axt auf seine Brust. »Weckt mich, wenn es Zeit ist, Leuten wehzutun.«

Der Tag verlief ohne Zwischenfälle. Xamus und Oldavei wechselten sich bei der Bewachung der Siedlung ab, während Torin die ganze Zeit über tief und fest schlief. Als sich das Sonnenlicht aus dem Tal zurückzog, schichteten die Kinder der Sonne Holzscheite auf, um einige größere Feuer zu entzünden. Als die Nacht hereinbrach, versammelten sich die Gläubigen im Kreis um die Flammen, hielten sich an den Händen und sangen.

Xamus weckte Torin und die drei machten sich auf den Weg den Hang hinunter zu einer zuvor ausgewählten Stelle. Dort kauerten sie im dichten Gestrüpp hinter einem umgestürzten Baum und warteten. Der Stamm war auf Hüfthöhe abgeknickt und einige Stränge aus hellem Holz verbanden ihn noch mit dem verwurzelten Teil. Zu ihrer Linken standen die beladenen Wagen und einige leere Karren. Zu ihrer Rechten, nicht weiter als dreißig Schritte entfernt, befand sich die nächstgelegene Hütte. Unmittelbar dahinter, im Zentrum eines offenen Platzes, brannte ein Lagerfeuer, um das die jungen Fuhrleute einen Ring gebildet hatten. Sie wiegten sich und sangen, wobei sich ihre Stimmen mit denen der anderen Kinder der Sonne zu einer fast hypnotischen Harmonie verbanden.

Tiefer in der Siedlung flankierten zwei Akolythen in Roben die Tür des großen Gebäudes, von dem, obwohl er keinen Schornstein erkennen konnte, Rauch aufstieg. Die Tür öffnete sich und ein langhaariger Mann mit steinerner Miene trat im Schein des Feuers heraus. Er war hochgewachsen und besaß, obwohl er den Zenit seines Lebens bereits überschritten hatte, einen muskulösen Körperbau, der sich sogar unter dem etwas fantasievolleren Gewand abzeichnete. Es war violett gefärbt und mit glänzendem Gold verziert. Ein Siegel schmückte sein Revers und an seiner Seite hing ein Krummsäbel von geheimnisvoller Machart und Herkunft.

Er stand mit ausgebreiteten Armen vor der Tür und rief: »Kinder!«

Alle Gesänge verstummten, die Tänzer hielten inne. Alle Augen richteten sich auf den Redner. »Nun ist es Zeit für ein Mahl und für Gemeinschaft. Kommt!«

Der Anführer wandte sich um, sagte etwas zu den Wachen an der Tür und betrat wieder das Gebäude. Während sich die Kinder schweigend in den Speisesaal begaben, nahmen die Wachen Fackeln auf und begannen an gegenüberliegenden Seiten des Geländes mit einem Rundgang. Torin, Xamus und Oldavei duckten sich in die Schatten des Blattwerks, als einer der summenden Akolythen gerade mal eine Schwertlänge entfernt an ihrem Versteck vorbeischritt. Eine Fackel in seiner Hand erleuchtete seinen Weg.

Sobald der Wachmann außer Hörweite war, richtete Oldavei sein scharfes Gehör auf die Halle. »Ich kann nicht verstehen, was die da drin reden«, gab er leise zu. »Aber es lohnt sich möglicherweise, es herauszufinden.«

»Das sehe ich auch so«, erwiderte der Elf. Informationen waren wertvoll, und das Wissen um die Pläne des Ordens würde den dreien vielleicht ein Druckmittel in die Hand geben, um mit dem Magistrat einen höheren Preis auszuhandeln. »Aber wie kommen wir näher ran, ohne dass eine der Wachen Alarm schlägt …«

»Macht mal Platz«, sagte Oldavei und legte seine Reisetasche ab. »Ich habe eine Idee.« Torin wich einen Schritt zurück, musterte den Ma’ii aber mit plötzlichem Interesse scharf.

Oldavei grunzte, erbebte und verrenkte sich. Seine Kleidung und sein Krummsäbel schienen Falten zu werfen, während sie langsam an Sichtbarkeit verloren. Xamus und Torin wichen noch weiter zurück, als die Kleidung und der Säbel des Ma’ii ganz verschwanden. Knochen und Sehnen knackten und knarzten. Seine Haut und seine Muskeln verschoben sich, als rege sich etwas unter ihnen. Sein Antlitz und seine Zähne verlängerten sich, während sein Körper leicht schrumpfte. Seine Beine veränderten ihre Form und bogen sich nach hinten, als er auf alle viere fiel. Ihm wuchsen ein breiter, buschiger Schwanz und ein grobes Fell. Als die Metamorphose abgeschlossen war, starrten der Elf und der Zwerg wie gebannt auf einen sandfarbenen Kojoten.

Torins Stimme war leise und heiser. »Ein Wandler. Sieht man nicht jeden Tag.«

Xamus wirkte bestürzt und zugleich leicht beunruhigt.

Der Kojote hob den hundeartigen Kopf und musterte die beiden. In den Tieraugen schimmerte Intelligenz und sogar … Erheiterung? Über ihre Verblüffung? Es wirkte zumindest so. Das Tier verzog die Lippen zu einem Ausdruck, der an ein Lächeln erinnerte. Dann kroch es unter der Stelle durch, wo die umgestürzte Baumkrone noch mit dem Stamm verbunden war. Als der nächste Wächter die südliche Grenze des Geländes erreichte und ihm die Sicht von einem Wagen versperrt war, warf Oldavei einen letzten Blick auf seine Gefährten, bevor er davonhuschte.

Ungeladen

In Kojotengestalt glitt Oldavei hinter einen Karren, kauerte sich nieder und wartete, bis der Mann mit der Fackel vorbeigegangen war. Obwohl die erste Wache nun außer Sichtweite war, konnte der Ma’ii sie noch wittern, als er um die nächste Hütte herumhuschte.

Er wusste, dass es das Schwierigste war, an dem Lagerfeuer vorbeizulaufen. Es würde ihn nicht nur anstrahlen, er würde auch einen langen Schatten werfen. Das Zeitfenster, in dem die beiden Wachen ihn am ehesten nicht bemerken würden, war klein, Oldavei hockte sich wieder hin und sog die Luft ein. Genau im richtigen Augenblick sprang er auf, sprang blitzschnell an dem Feuer vorbei und am Speisesaal entlang, während die erste Wache in die entgegengesetzte Richtung sah. An der Rückseite des Gebäudes angekommen, duckte er sich am Fuß eines Fassstapels. Aus dem Inneren drangen dumpfe Feierlaute, während er sich still und leise zusammenkauerte. Niemand gab Alarm. Er richtete sich auf und wollte gerade auf die untersten Fässer springen, als der Wind drehte und er etwas witterte, das ihm vertraut und doch fehl am Platz schien: den Geruch eines Menschen, aber im gleichen Atemzug auch den Gestank von Tod und Verwesung.

Oldavei robbte zur hinteren Ecke des Gebäudes und spähte umher. Zunächst sah er nichts. Dann bewegte sich einer der Schatten in der Nähe der Umfriedung. Eine menschliche Silhouette, die Quelle der Gerüche, die Oldavei wahrnahm, huschte in der Dunkelheit von einem Schatten zum anderen. Sie schien sich weniger zu bewegen, als vielmehr wie dunkles Wasser zu fließen.

Der Ma’ii schnüffelte weiter und stellte fest, dass der merkwürdige Todesgeruch, den er wahrnahm, nicht von dem Fremden stammte, aber eng mit ihm verbunden war. Er umhüllte den Eindringling wie ein Leichentuch und ließ auf ein Wesen schließen, das viel Zeit in der Gesellschaft des Todes verbracht hatte.

Der schattenhafte Fremde kletterte vollkommen geräuschlos an der Wand einer Hütte empor. Nicht einmal die scharfen Ohren des Ma’ii konnten einen Laut vernehmen. Dieser Neuankömmling – ein Mann, wie Oldavei an seinem Geruch feststellte – war eindeutig dabei, tiefer in die Anlage vorzudringen. Sicherlich konnte er das Feuer nicht auf die gleiche Art umgehen, wie Oldavei es getan hatte. Die Entfernung war für einen Menschen zu groß. Man würde ihn zweifellos bemerken.

Während Oldavei gebannt zusah, kauerte sich der Mann auf das Dach, sprang mit lang gestrecktem Körper hoch und über das Feuer. Mit einem lautlosen Überschlag landete er auf dem Dach der nächstgelegenen Hütte.

Er arbeitet sich in Richtung Speisesaal vor, stellte Oldavei fest, als der Mann auf das unterste Fass sprang, dann auf das nächste und schließlich aufs Dach.

Sehnen dehnten sich, wuchsen, vergrößerten sich. Fell, Schwanz und Schnauze verschwanden. Für einen kurzen Augenblick stand da ein Wesen, das halb Kojote, halb Mensch war. Seine Gestalt verschwamm kurz, dann waren Kleidung und Waffe wieder da. Wieder in Ma’ii-Gestalt, umrundete Oldavei leise den rauchenden Schornstein. Wie erwartet sprang der Eindringling auf das gegenüberliegende Ende des Daches. Er huschte vorwärts und zog dabei ein elegantes einschneidiges Schwert aus einer Rückenscheide. Oldavei pirschte sich an ihn heran und zog seinen Krummsäbel. Trotz der Leichtfüßigkeit des Ma’ii ertönte ein Knarren unter ihm. Er wich zurück, als der Fremde sich ihm bis auf wenige Schritte näherte, und blieb angespannt und wachsam stehen.

Von dem Mann ging eine stille Bedrohung aus. Seine Kleidung, vom ärmellosen Hemd bis zu den Schuhen mit den weichen Sohlen, war schwarz und unauffällig. Auffällig war jedoch, dass alles, was er trug … unbenutzt und frisch wirkte. Das lange, dunkle Haar des Fremden war zu einem Zopf gebunden und seine scharfen haselnussbraunen Augen musterten Oldavei durch eine blau getönte Brille.

Ein Augenblick verging, in dem beide darauf warteten, dass der andere sich bewegte, während von unten die Geräusche des Abendessens ertönten.

Schließlich fragte Oldavei leise: »Was willst du hier?«

»Der Tod ist mein Geschäft«, antwortete der Fremde mit heiserer Stimme. »Du wärst gut beraten, mir nicht in die Quere zu kommen.«

»Du bist ein Assassine«, stellte Oldavei fest. »Auf wen hast du es abgesehen?«

»Ich schulde dir keine Antwort!«, entgegnete der Mann. »Du gehörst offenbar nicht zu ihnen, also geh mir aus dem Weg!«

Trotz des anmaßenden Tonfalls des Fremden spürte Oldavei ein gewisses Zögern in seiner Stimme. Der Ma’ii reckte das Kinn. »Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie du«, sagte er. »Ich werde sogar gut dafür entschädigt.«

»Das werde ich auch«, antwortete der Neuankömmling mit zusammengebissenen Zähnen.

»Tja, nun, ich habe Verstärkung ganz in der Nähe«, sagte Oldavei. »Wie wäre es, wenn …«

»Genug!«, spie der Fremde und stürzte sich mit einem schnellen Ausfallschritt auf ihn.

Der Ma’ii reagierte instinktiv und augenblicklich. Er parierte, dann konterte er, aber die Reaktionen seines Gegners waren schnell – fast unnatürlich schnell. Oldavei befand sich sofort in der Defensive. Der Fremde griff ihn nicht nur mit seiner Klinge an, sondern auch mit Tritten. Einer davon verfehlte seinen Kopf nur um Haaresbreite, weil er sich rechtzeitig wegduckte. Der Assassine blockte einhändig einen Gegenschlag des Krummsäbels des Ma’ii mit seiner eigenen Klinge und stieß dann zwei Finger seiner freien Hand seitlich gegen Oldaveis Hals. Ein Ruck ging durch seine rechte Seite, der seinen Arm betäubte, und er war gezwungen, die Waffe fallen zu lassen. Der Ma’ii war jedoch noch lange nicht besiegt. Er griff mit der Linken nach dem Handgelenk des Fremden, stürzte sich auf ihn und biss ihn in die Schulter, was seinem Gegner einen scharfen Fluch entlockte.

Oldavei hörte Aufruhr von unten, just als der Assassine einen Arm um ihn schlang, sich drehte und ihn warf. Der Ma’ii flog über die Hüfte seines Gegners und krachte in – und durch – das Dach.

In ihrem Versteck hatten Xamus und Torin das Klirren von Schwertern gehört.

Sie waren näher ans Licht herangetreten und beobachteten zwei Gestalten, die auf dem Dach kämpften.

»Verflucht, was glaubst du …« Torin war gerade dabei, etwas zu sagen, als ihn das Knacken von Holz unterbrach. Die beiden Schattengestalten verschwanden aus ihrem Blickfeld, was Rufe und Schreie aus der Halle zur Folge hatte.

»Sieht so aus, als würde unsere Nacht gerade deutlich interessanter«, antwortete Torin und machte sich mit der Axt in der Hand auf den Weg.

Dem Zwerg auf den Fersen, rief Xamus: »Versuch wenigstens, niemanden zu töten!«

Oldavei, der Assassine und eine ganze Menge Dachtrümmer krachten auf einen dicken Holztisch. Gestalten in Roben fielen, sofern sie nicht ohnehin bereits standen, von den grob gezimmerten Bänken und schrien vor Schreck und Entsetzen auf. Teller und Becher flogen durch die Gegend, Essen wurde verschüttet. Oldaveis Krummsäbel stürzte von oben herab, und seine Spitze spaltete einen Käseblock, ehe die Waffe sich eine Haaresbreite von seinem linken Ohr entfernt in die Tischplatte bohrte. Der Ma’ii schnappte sich seine Waffe und rollte sich in derselben Bewegung vom Tisch. Wie es der Zufall wollte, stand er nun den Jugendlichen aus Herddahl gegenüber. Vier von ihnen starrten mit großen Augen Oldavei und über seine Schulter auch den Assassinen an.

»Sie sind unseretwegen hier!«, rief eine junge Frau und presste sich gegen die Wand. »Sie wollen uns zurückholen. Wir können aber nicht zurück«, schluchzte sie beinahe hysterisch. »Wir wollen ins Paradies! Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Von rechts drang ein Kultist auf Oldavei ein. Der Ma’ii wandte sich ihm zu, bleckte die Zähne, knurrte tief aus der Brust heraus und schaffte es so, den Mann am weiteren Vorrücken zu hindern. Oldavei spürte, dass sich ihm von hinten noch jemand näherte. Er wirbelte herum und packte einen zweiten Kultisten an der Kehle. Die ganze Zeit über schrie die junge Frau: »Beschützt uns, Brüder! Haltet sie uns vom Leib!«

Auf dem Tisch erhob sich der Assassine, das Schwert in der Hand, und schritt in den hinteren Teil des Raumes, wo der Anführer der Kultisten schweigend und teilnahmslos vor dem Kamin stand.

»Taron Braun!«, rief der Fremde und richtete sein Schwert auf den älteren Mann. »Heute stirbst du!«

Wieder erhoben sich gellende Schreie. In der Nähe des Anführers wich eines der Kinder der Sonne zurück und warf dabei eine Fackel um, die die Wand in Brand setzte.

Braun hob eine Hand und rief: »Das Licht der Sonne brennt in mir und ich fürchte kein Unglück!« Es gab einen Blitz, ein blendendes Licht aus der Hand des Anführers, als ein schillerndes, gestaltloses Leuchten direkt vor dem Fremden erschien. Der Assassine schrie auf, schloss die Augen, fasste sich mit einer Hand an den Kopf und fiel auf die Knie.

Panik brach aus, als sich die Kinder der Sonne nahe der Tür zusammenrotteten, um zu fliehen. Oldavei bemerkte, dass der keuchende Akolyth, den er festhielt, dunkelviolett angelaufen war. Er ließ ihn los und der Mann sank in sich zusammen. Am Kopfende des Tisches kippte der Assassine nach vorn, wobei er eine Schale mit Obst umstieß, und blieb regungslos liegen.

Von den vier Halbwüchsigen waren nur die junge Frau und ein ebenso junger Mann wie erstarrt vor Angst stehen geblieben. Oldavei schlug den Jungen mit dem Knauf seines Krummsäbels bewusstlos. Der Ma’ii warf einen raschen Blick in den hinteren Teil des Raumes und stellte fest, dass der Kultführer nirgends zu sehen war.

Draußen kamen Torin und Xamus einige Schritte vor dem Speisesaal zum Stehen, als eine wahre Flut von Kindern der Sonne herausströmte.

Die beiden Wachen, die sich ebenfalls dem Saal genähert hatten, sahen das Duo und stürmten vor. »Tod den Ungläubigen!«, brüllte einer von ihnen.

Xamus gestikulierte mit den Händen und sagte leise etwas in der uralten Sprache seiner Vorfahren. Torin sah ihm fassungslos zu. Er würde gleich Zeuge von Magie werden. Von echter Magie. Noch dazu von elfischer! Sein Blut geriet in Wallung.

Der Elf streckte eine geschlossene Faust aus, dann öffnete er sie ruckartig, um seinen Spruch mit der dramatischen Geste zu unterstreichen. Die Wachen schrien und taumelten beiseite.

»Blind!«, schrie einer der beiden.

»Ihr Götter, ich kann nichts sehen!«, brüllte der andere.

Einer von ihnen rannte geradewegs ins nahe gelegene Lagerfeuer und sein Gewand ging in Flammen auf. Der heulende, brennende Kultist rannte mit dem Gesicht voran gegen die Wand einer Hütte und stürzte, während die Flammen auf das Gebäude übergriffen.

Torin war beeindruckt, aber auch verwirrt. »Und mir hast du gesagt, ich soll niemanden umbringen!«

»Das hätte ein Schlafzauber werden sollen«, gab der Elf zu.

»Was? Hätte …«, stammelte Torin. »Was nützt die beste Magie, wenn …« Er hielt inne und schlug einem heranstürmenden Akolythen die flache Seite seiner Axt auf den Kopf. Der Mann ging zu Boden. »Wenn sie nicht das tut, was du willst?«, beendete er dann seinen Satz.

»Meist funktioniert es«, sagte Xamus, als er zwei der Jugendlichen aus dem rauchenden Gebäude kommen sah.

»Ja, klar, meist«, brummte Torin, als der Elf auf die beiden losstürmte, einen jungen Kultisten zu Fall brachte und seine Arme um die Taille des anderen schlang. Torin trat an seine Seite und schaute besorgt in die brennende Halle, die die letzten Akolythen nun offenbar verlassen hatten.

»Wo ist der Köter?«, fragte Torin, doch da stolperte Oldavei schon aus dem Gebäude. Er schleifte den männlichen Jugendlichen, den er bewusstlos geschlagen hatte, hinter sich her und hatte die protestierende junge Frau über seine Schulter geworfen. Er ließ beide fallen, schaute zu Torin und keuchte: »Noch einer!«, dann rannte er zurück in die Rauchschwaden.

»Ich habe ein Seil gefunden«, vermeldete Xamus und kniete nieder, um die junge Frau zu fesseln.

Torin wandte sich um und sah, dass der Elf bereits Hände und Füße der beiden anderen Ausreißer zusammengebunden hatte. »Gut, dass du nicht versucht hast, es herbeizuzaubern«, spottete der Zwerg. »Du hättest stattdessen auch Schlangen beschwören können.«

Der Speisesaal stand nun komplett in Flammen, erleuchtete das gesamte Gelände und strahle eine sengende Hitze aus.

Torin schaute zur Tür. »Komm schon, Köter, komm schon …«

Die verbliebenen Dachbalken brachen ein, und der Zwerg glaubte schon, seinen Kameraden verloren zu haben, als Oldavei plötzlich wieder auftauchte, eine schwarz gekleidete Gestalt über den Schultern, ein gerades Schwert in einer Hand. Als er heranstolperte, eilte Torin herbei, um ihm beim Ablegen des Fremden zu helfen. Oldavei ließ das Schwert fallen, stützte sich auf die Knie und hustete heftig.

»Wer ist das?«, erkundigte sich Torin und deutete auf die Gestalt am Boden.

»Assassine«, antwortete der Ma’ii erstickt. »Er hatte es auf den Anführer abgesehen.«

Xamus, der nun den letzten bewusstlosen Kultisten gefesselt hatte, richtete sich auf und sah sich um. »Apropos, wo …« Dann entdeckte der Elf ihn, er stand in einiger Entfernung auf einem flachen Hügel. Der Mann hob eine Hand, und das Licht, das von ihr ausging, überstrahlte den Glanz des Feuers im Speisesaal. Die letzten verstreuten Gläubigen eilten zu ihm. Einen Augenblick später erlosch das Licht.

»Fort«, konstatierte Xamus und drehte sich zu Torin und Oldavei um. »Was machen wir jetzt?«