Aurora – Das Flüstern der Schatten - Caroline Brinkmann - E-Book
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Aurora – Das Flüstern der Schatten E-Book

Caroline Brinkmann

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Beschreibung

Eine Stadt zwischen Licht und Dunkelheit, ein gefährliches Geheimnis und eine große Liebe.

Die Stadt Hansewall ist zerrissen. Tagsüber herrscht die Gottheit des Lichts, doch die Nacht gehört einem gefürchteten Dämon.

Als Aurora loszieht, um dem Herrn der Käfer Einhalt zu gebieten, weiß sie, dass eine nahezu unmögliche Aufgabe vor ihr liegt. Trotzdem ist sie bereit alles zu opfern – ihr Leben und sogar ihre große Liebe. Was sie nicht ahnt: Nur wenige Stunden später wird sie ohne jede Erinnerung auf dem Boot von Kaz erwachen, einem Jungen mit grauen Sturmaugen, der seine wahre Identität vor ihr geheim hält.

Ehe sie sich versehen, werden die beiden in einen Kampf aus Intrigen und Verrat hineingezogen, bei dem sie niemandem trauen können, denn in Hansewall können aus Freunden schnell Feinde werden. Und sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen: Licht oder Dunkelheit?

Weitere Bände der Flüsterchroniken:

Laurelin – Das Flüstern des Lichts

Alle Bände können voneinander unabhängig gelesen werden.

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Seitenzahl: 462

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CAROLINE BRINKMANN

DAS FLÜSTERN DER SCHATTEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe August 2022

© 2022 Caroline Brinkmann

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieser Titel wurde vermittelt durch die Agentur Peter Molden

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Carolin Liepins

Covermotive © Shutterstock.com

(STILLFX, Mrs.Moon, mountain beetle, pixelliebe, In Green)

Inhaltsmotiv: Shutterstock.com (YummyBuum, aksol, Wise ant)

FK · Herstellung: AJ

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28279-0V004

www.cbj-verlag.de

Für meine Familie,

weil ihr mein Hafen seid.

Und für jeden,

der in dieser Geschichte einen Anker findet.

Wenn ihr euch fürchtet,

macht euch euren eigenen Sturm!

Prolog

Aurora Morgenstern

Heute Nacht wird es passieren. Heute Nacht werde ich die Stadt von einem Monster befreien.

Meine Finger schlossen sich um die Umhängetasche, in der ich die Waffe aufbewahrte, die ich für mein Vorhaben benötigte. Einen silbernen Dolch mit schwarzer Klinge.

Ich wusste genau, was zu tun war. Für diesen Moment war ich ausgebildet worden. Trotzdem beschleunigte sich mein Herzschlag mit jedem Schritt, der mich dem geheimen Treffpunkt näher brachte. Wenn diese Nacht vorbei war, würde nichts mehr sein wie zuvor.

Ein Rascheln hinter mir erregte meine Aufmerksamkeit. Ehe ich mich umdrehte, legten sich Hände auf meine Augen und ich wurde an eine Männerbrust gedrückt. Warmer Atem kitzelte meine Wange.

»Rate, wer ich bin«, flüsterte er mir rau ins Ohr.

»Elian.«

Der Dieb, der mein Herz gestohlen hatte …

Ich befreite mich aus seinem Griff. »Du sollst dich doch nicht von hinten anschleichen. Was, wenn ich dich aus Versehen umbringe?«

»Das würdest du nicht tun.«

»Doch! Wenn ich dich für einen Angreifer halte«, widersprach ich. Nachts war Hansewall nicht sicher, erst recht nicht für eine Priesterin des Lichts, denn bei Dunkelheit herrschte … er.

Noch … Es lag in meiner Macht, das zu ändern.

»Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?« Ich spähte über seine Schulter, musterte die Schatten und lauschte.

»Keine Sorge. Ich bin der einzige Unheilige weit und breit«, verkündete Elian und seine dunklen Augen blitzten. Meine Brust zog sich zusammen und ich klammerte mich an ihm fest.

Eine Priesterin und ein Diener der Dunkelheit. Das war wie Licht und Dunkelheit. Wie Tag und Nacht. Unvereinbar. Und trotzdem hatten unsere Herzen zueinander gefunden.

Natürlich wusste ich, auch wenn mein Herz versuchte es zu verdrängen, dass unsere Liebe kein gutes Ende nehmen konnte. Elian diente ihm, während meine Loyalität dem Licht galt.

Nicht meinem Herzen.

Einzig dem Licht.

»Hast du keine Angst?«, flüsterte ich.

»Wovor?«

»Aus diesem Traum aufzuwachen?«

Seine Arme drückten sich fester um mich und er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Nicht solange du an meiner Seite bist.«

Ich löste mich von ihm und streckte meine Finger aus, um seine Lippen zu berühren. Sie waren perfekt geschwungen. Wie bei einem Gemälde, und ich konnte nie aufhören sie anzustarren. Meine Finger wanderten zu seinen schwarzen Haaren, die einen starken Kontrast zu meinem weißblonden Haar bildeten. Während ich aussah wie vom Licht geküsst, war er in Schatten gehüllt.

»Ich bin eine Sanktinerin und bete das Licht an. Du ein Unheiliger, der den Schatten gehorcht … Wie soll das gut ausgehen?«

»Wir werden es schaffen«, hauchte er und sein Atem hinterließ eine Gänsehaut auf meinem Hals. »Wunder entstehen da, wo Licht und Dunkelheit mit Liebe verbunden sind.«

Ein alter Spruch, den ich schon Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Vermutlich, weil es so etwas wie Liebe zwischen Licht und Dunkelheit gar nicht geben konnte.

Eigentlich …

Elian zog mich in den Schatten einer kleinen Gasse und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Seine Hände vergruben sich in meinen Haaren und ich wünschte, ich könnte diesen Moment einfangen wie Erinnerungen in Bernstein, aber die Zeit zerrann zwischen meinen Fingern und ich wusste, am Ende dieser Nacht würde er mich hassen.

»Lass uns später weitermachen«, flüsterte ich atemlos, wohl wissend, dass es kein Später geben würde.

»Schade.« Elian strich eine weiße Strähne zur Seite und sah mit einem Mal so traurig aus. Ob er etwas ahnte? Unmöglich! Dann würde er mich nicht küssen, sondern töten.

»Wird er mich empfangen?«

»Ja.« Elian nickte und mein Herz zog sich zusammen.

»Dann los.« Ich machte Anstalten, die Gasse zu verlassen, aber er hielt mich fest.

»Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?«

»Ich muss …«, stieß ich hervor, bevor mich die Entschlossenheit verließ. Bevor ich schwach wurde …

»Ich weiß, wie wichtig dir das Treffen ist, aber was ist, wenn dir die Antworten, die du findest, nicht gefallen, Rori?«

Ich schloss die Augen und holte tief Luft. »Du musst keine Angst haben, Elian. Ich will nur die Wahrheit wissen, egal wie sie lautet. Das ist alles.«

Es war erschreckend, wie einfach mir die Lügen über die Lippen kamen.

»Ja …«, sagte er, aber die Sorge verschwand nicht ganz aus seinen Augen. »Ich will nicht, dass einem von euch etwas passiert.«

»Ich kann schon auf mich aufpassen.«

»Ich weiß …«

»Außerdem hätte er nicht zugestimmt, wenn er Bedenken hätte, oder?«, fuhr ich fort.

»Ja. Er würde wissen, wenn er in Gefahr ist. Denn er weiß alles.«

War das eine Drohung oder eine gut gemeinte Warnung? Vielleicht ein bisschen von beidem. Trotzdem hoffte ich, dass nicht alle Gerüchte über ihn stimmten. Wenn er wirklich alles wusste, wusste er auch von dem Dolch unter meinem Mantel und dann war ich diejenige, die heute Nacht sterben würde.

»Siehst du. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.« Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht.

»Na gut«, seufzte Elian. »Lass uns gehen. Wer weiß, vielleicht denkst du am Ende der Nacht ganz anders über uns Unheilige.«

»Vielleicht.« Ich strich ihm erneut über seine Wange.

Niemals.

Mein Leben gehörte nur einem. Dem Licht. Diese Worte hatte ich mir in letzter Zeit verdammt oft gesagt, um mich selbst davon zu überzeugen, was ich im Begriff war zu tun.

Elian nahm meine Hand und zusammen traten wir aus der Gasse. Golden leuchtende Solarpusse zogen an uns vorbei. Ihre Erbauer hatten sie wie Oktopusse aussehen lassen, nur dass sie dank Solarenergie leuchteten. Ein Zeichen der Hoffnung in der dunklen Nacht, aber heute hielt ich mich von ihrem schützenden Licht fern und tauchte zusammen mit Elian in die Schatten.

Meine Finger klammerten sich an den Dolch und ich war bereit, ihn jederzeit zu benutzen, sollten andere Unheilige auftauchen. Oder Schlimmeres, denn ihm dienten die übelsten Gestalten.

Auch Elian hatte eine dunkle Seite, doch wenn unsere Lippen sich berührten, vergaß ich, was richtig war. Was ich mein Leben lang gelernt hatte. Um nicht schwach zu werden, zwang ich mich, mich an die Tatsachen zu erinnern. Daran, dass er ein Dieb war.

»Hier lang«, flüsterte Elian mir zu und ich spürte die Wärme seiner Berührung. Sie drang durch meine Haut, schlich sich direkt in mein Herz.

Nach fast zwanzig Minuten Fußweg, in dem wir dank Elian auf keine Menschenseele gestoßen waren, blieb er stehen und drückte mich erneut an eine Wand. Für einen Moment verharrte er wie erstarrt und lauschte. Wir standen direkt über einem Abflussdeckel, durch den ich das Rauschen von Wasser unter uns hören konnte. Es gab viele unterirdische Kanäle, die die Stadt durchzogen. Ein Labyrinth aus Wasserstraßen in der Dunkelheit, in das sich die Unheiligen am Tage zurückzogen. Aber nicht nur sie. Auch Flüsterwesen lebten dort, versteckt in feuchten Grotten. Allein der Gedanke an diese Kreaturen jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Wir sind da«, flüsterte Elian, als er sicher war, dass wir allein waren. Er ließ meine Hand los und ich zuckte zusammen. Ohne seine Wärme spürte ich die Kälte der Nacht noch intensiver.

Dann ging er auf eine Ladestation zu, an der zwei Solarpusse ihre Akkus aufluden. Ihre Arme hingen müde herunter und sie bewegten sich kaum. Überrascht beobachtete ich, wie Elian einen Knopf betätigte und die Ladestation zur Seite klappte, um eine verborgene Tür zum Untergrund zu enthüllen.

Ein Versteck hinter einer Erfindung der Sanktiner. Wie ironisch!

»Da unten ist es«, flüsterte er und zog mich ein letztes Mal an sich, um mir einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. »Viel Glück, Rori.«

»Danke.« Ich löste meinen Mantel und drehte ihn um. Dann betätigte ich einen Schalter und die Lichter, die in den Stoff genäht waren, erstrahlten und verjagten die Schatten. Ich überprüfte den Akku, der Solarenergie speicherte. Er hielt nur eine kurze Zeit, aber ich betete, dass es für meinen Auftrag reichte. In einen Schein aus gelbem Licht getaucht, trat ich an Elian vorbei und stieg die Treppen hinab. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um. »Elian?«

»Ja?«

Für einen Moment sah ich ihn an, um sein Bild in mich aufzusaugen. Seine Augen, die schwarz wie der Nachthimmel waren, und gleichzeitig so warm. Die weichen Lippen, die ich immer noch auf meinen schmeckte.

Ich musste gegen den Drang ankämpfen, seine Hand zu ergreifen und mit ihm wegzurennen. Wie gerne würde ich alles hinter mir lassen.

Das Licht.

Die Dunkelheit.

Er würde nie wissen, wie kurz ich davor war, alles abzubrechen. Für ihn. Aber das war ein Luxus, den ich nicht hatte.

Denn ich war kein normales Mädchen.

Ich war eine Priesterin und ich hatte geschworen, dem Dämon der Nacht ein Ende zu bereiten.

»Ich liebe dich, Elian Windjäger«, flüsterte ich. Es war das erste Mal, dass ich das aussprach, aber ich wollte, dass er es wusste. Schon bald würde alles infrage gestellt werden. Vor allem meine Gefühle für ihn. Trotzdem war es wahr.

Ich liebte ihn.

Nur Sol, die Gottheit des Lichts, liebte ich mehr.

»Ich dich auch, Rori.«

Meine Hände schlossen sich um den Dolch und ich folgte den Stufen in die Dunkelheit hinab, den Solarmantel fest um meinen Körper geschlossen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

So wahr das Licht es wollte, würde ich heute unsere Stadt von einem Monster befreien.

Aber gleichzeitig würde ich Elians Welt für immer zerstören …

Kaz

Der Küstenwind wehte über die Dächer von Hansewall. Die Ausläufer der Stadt führten vom Meer bis ins Landesinnere. Ebenso wie die Kanäle, die dafür sorgten, dass es überall nach Salz und Fisch roch. Für mich bedeutete der Geruch Freiheit, ebenso wie das Kreischen der Möwen über meinem Kopf.

Ich kauerte auf dem Deck meines Bootes und beobachtete das geschäftige Treiben. Menschen eilten vorbei. Luftschiffe kreisten zusammen mit den Seevögeln über unseren Köpfen. Auf meinem Boot war ich mitten drin und doch außen vor. Ich war ein Beobachter, der jederzeit bereit war, die Segel zu hissen und zu verschwinden.

Heute hatte ich in einem der nördlichen Häfen Anker geworfen. In Hansewall gab es unzählige Anleger, denn die Metropole war ein beliebtes Ziel von Seefahrergilden, die aus allen Teilen der Erde zum Handel hierherkamen.

Mein Vater hatte zu den Seemöwen gehört, auch wenn jetzt ein Walross die Fahne meines Bootes zierte. Nicht, weil ich die Gilde gewechselt hatte, sondern weil man auf diese Weise seine Ruhe hatte. Walrösser galten als gefährliche Schläger. Zwar standen hohe Strafen darauf, wenn man unter falscher Fahne segelte, aber niemand kontrollierte ein Walross. Und das war praktisch, denn ich hasste Fragen.

Die Sonne verschwand und mit ihr die letzte Wärme, die mich vor dem rauen Wind schützte, der nun vom Meer heranwehte und einen kalten Schauer auf meiner Haut hinterließ. Kaum begannen sich die Schatten der Nacht über Hansewall auszubreiten, kehrte Stille ein. Die Straßen waren mit einem Schlag leer und verlassen, weil die Menschen in ihre Häuser flohen.

Ein typisches Bild für Hansewall, denn in der Nacht schlug die Stunde des Dämons und seiner skrupellosen Anhänger, den Unheiligen. Am meisten jedoch fürchteten sich die Leute vor den Käfern, Schattenkreaturen, die dem Dämon dienten. Auch wenn man sie nur selten zu Gesicht bekam, waren die Horrorgeschichten über sie allgegenwärtig.

Gerade als ich mich ins Innere meines Boots zurückziehen wollte, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Die Luftschiffe, mit denen die Sanktiner über der Stadt patrouillierten, änderten ihre Richtung und steuerten einen gemeinsamen Kurs an. Nicht eines oder zwei, sondern alle auf einmal. Die Lichter ihrer Scheinwerfer tanzten über die Stadt, um sich wenig später an einem Punkt ganz in der Nähe zu vereinen.

Ich reckte meinen Kopf und entdeckte Solarwagen, die ebenfalls dorthin düsten. Ihnen folgten bewaffnete Männer mit weißen Uniformen.

So viele Sanktiner an einem Ort vereint? Das konnte nur eins bedeuten: Etwas lag in der Luft. Etwas Großes. Das unbestimmte Gefühl, dass nach dieser Nacht nichts mehr so sein würde wie zuvor, jagte wie ein Schauer durch meinen Körper. Und ich wusste mit Bestimmtheit: Was auch immer es war, ich wollte nichts damit zu tun haben.

Ich warf einen letzten Blick auf die Stadt, in der die Schatten plötzlich weniger lebendig erschienen und die Nacht weniger dunkel. Eigentlich sollte mich das beruhigen, doch es machte mir Angst.

Dann zog ich mich ins Innere meines Schiffs, der Roten Perle, zurück. Ich hatte nicht viel für die Sanktiner übrig, aber ebenso wenig für die Unheiligen. Die Seemöwen waren nur Meer und Himmel hörig. Sie brauchten keine Tempel und keine Gebete. Wir waren frei und unabhängig und scherten uns nicht um den Krieg, der die Stadt wie Tag und Nacht zerriss. Sollten sie sich gegenseitig verschlingen.

Das Meer würde ewig bleiben.

Kaum hatte ich die Tür geschlossen und wollte in meine Kajüte gehen, ertönte ein Klopfen.

»Ankergebühr«, verkündete eine raue Stimme.

Natürlich!

Davor waren nicht einmal Walrösser sicher.

Grimmig überprüfte ich meine Waffengürtel am linken Arm und rechten Bein, in denen Klingen versteckt waren. Dann griff ich nach einem Schnauzbart, der neben der Tür bereitlag. Das Markenzeichen aller Walrösser. Ich drückte ihn mir unter die Nase und öffnete.

»Ankergebühr«, wiederholte der Hafenmeister. Wie alle Gläubigen in der Stadt trug er eine halbe Sonne auf der Stirn, direkt unter dem Haaransatz, um seine Loyalität zum Licht zu demonstrieren. Hinter ihm standen zwei Gardisten in Solarmänteln. Doch der bullige Hafenmeister hatte ihre Präsenz gar nicht nötig, um sich Autorität zu verschaffen.

»Kaz, du Wasserratte!«, begrüßte er mich und schlug mir so fest auf die Schulter, dass ich fast in die Knie ging.

»Hallo Herbert.« Ausnahmsweise war das Glück auf meiner Seite. Herbert stellte nicht viele Fragen und hatte mich aus irgendeinem Grund in sein Herz geschlossen.

»Ewig nicht mehr gesehen. Wo hast du dich rumgetrieben?«

»Fischen. Fisch verkaufen. Fischen«, antwortete ich knapp. Dabei achtete ich darauf, die Lippen möglichst wenig zu bewegen. Der Schnauzbart saß heute beunruhigend locker. »Das Übliche.«

»Klingt gut, mein Junge.« Während er mein Geld in Empfang nahm, beugte ich mich vertraulich vor.

»Weißt du, was da draußen los ist?« Ich nickte in Richtung einer weiteren Gruppe Gardisten, die vorbeieilte und zu der Stelle rannte, über der sich alle Luftschiffe versammelt hatten.

»Ärger mit den Unheiligen, nehme ich an.« Er zuckte die Schultern, wandte sich seinen Begleitern zu und fügte vorwurfsvoll hinzu: »Mir sagt ja keiner was.«

»Ihr werdet es früh genug erfahren. Falls ihr etwas Verdächtiges bemerkt, meldet es einfach«, sagte der Größere der beiden Gardisten.

»Verdächtig in welcher Hinsicht?« Ich strich über den Schnauzbart, um ihn unauffällig fester zu drücken.

»Wir suchen nach jemandem. Mehr können wir nicht sagen.« Sein Begleiter trat vor und leuchtete mir ins Gesicht. »Bist du allein, Junge?«

»Der Junge ist immer allein«, entgegnete Herbert für mich. »Aber nie beschwert er sich. Ein tapferer Kerl.«

»Wir würden gerne einen Blick in dein Boot werfen.«

»Und warum?« Der Hafenmeister hatte seine Stimme gefährlich gesenkt.

»Na ja … Walrösser sind nicht gerade dafür bekannt, sich an Gesetze zu halten.«

»Kaz hier ist eine ehrliche Haut.«

»Kein Walross ist ehrlich«, widersprach der Gardist skeptisch. »Das sind alles Schmuggler und Diebe.«

»Immer diese Vorurteile«, murmelte ich kopfschüttelnd. Aber er hatte recht. Die meisten Seefahrergilden verdienten so ihren Lebensunterhalt.

»Kaz hier nicht. Verstanden?« Herbert streckte seine Schultern, die bei der Bewegung bedrohlich knackten. Als wäre das Versicherung genug, zupfte der zweite Gardist am Ärmel seines Kollegen.

»Lass gut sein. Wenn er etwas damit zu tun hätte, hätte er doch schon längst die Segel gesetzt.«

Das Argument schien den misstrauischen Gardisten zu überzeugen. »Nun gut. Du hast Glück, Junge, aber beim nächsten Mal wollen wir deine Fracht sehen. Licht auf deinem Weg.«

»Licht auf eurem Weg«, echote ich brav.

»Pass auf dich auf«, sagte Herbert und drehte sich um. »Und bleib den Schatten fern. Hier geht irgendwas Seltsames vor. Das spüre ich.«

Ich wusste genau, was er meinte, und je länger ich auf die Stadt starrte, desto stärker wurde das Gefühl. Wie der Schauer, der an einem haftet, wenn man gerade aus einem Albtraum hochschreckt. Ich starrte erneut auf die Stelle, an der sich das geballte Licht der Sanktiner bündelte. Was passierte dort?

Du willst es nicht wissen. Schon vergessen, Kaz? Es geht dich nichts an …

Im Bad riss ich mir erleichtert den albernen Bart ab und kleidete mich aus. Zuerst die verbeulten Stiefel und die ledernen Waffenhalter. Dann den Pullover aus Schurwolle, das weite, beigefarbene Leinenhemd und die dunkle Hose. Unter dem Unterhemd lagen Bandagen, die zwei verräterische Wölbungen versteckten. Es fühlte sich gut an, sie zu lösen. Befreiend, aber gleichzeitig stimmte mich der Anblick traurig, denn sie erinnerten mich an den Teil von mir, den ich verborgen halten musste.

Tagsüber glaubte ich manchmal selbst daran, dass ich Kaz war, der Junge mit dem Boot. So lange schon lebte ich diese Lüge, dass sie wie eine zweite Haut geworden war. Doch am Abend streifte ich sie ab und blickte darunter.

»Kassandra«, flüsterte ich.

Der Klang dieses Namens war so fremd. So ungewohnt. Aber auch wenn ich es verdrängte, war es nicht zu leugnen. Unter all den Bandagen und der weiten Kleidung war ich Kassandra.

Dieser Körper war schuld daran, dass mein Vater und ich kein normales Leben bei den Seemöwen führen konnten.

Ein Leben als Herren der Meere.

Frei und wild.

Mädchen blieb dieses Privileg verwehrt. Für sie gab es nur zwei Schicksale: Sie wurden über Bord geworfen oder an eines der vielen Bordelle verkauft, die den Freibeutern gehörten.

Um mich zu schützen, war mein Vater mit mir geflohen. Von dem Leben, das er liebte. Das war eine Schuld, die ich nie begleichen konnte.

Als ich in der Hängematte meiner Kajüte lag und an einem getrockneten Salzfisch nagte, hörte ich die heilige Wache immer noch auf den Straßen. Die Luftschiffe hatten sich wieder aufgeteilt und zogen nun über die Kanäle des Hafens, so als würden sie jemanden suchen.

Gerade angelte ich nach einem Buch, als mich ein lautes Krachen aufschrecken ließ. So ruckartig, dass ich beinahe aus meiner Hängematte fiel.

Das kam von Deck!

Ich griff eine Klinge und eilte zur Tür. Bevor ich hinaustrat, kontrollierte ich das Windspiel, das an meiner Tür hing. Die leere Rumflasche in der Mitte bewegte sich nicht.

Gut.

Also drohte keine Gefahr …

Leise drehte ich den Schlüssel im Schloss um. Während ich die Tür aufschob, hielt ich die Luft an. Kalte Nachtluft wehte mir entgegen. Sie brachte den vertrauten Geruch von Salz mit sich, vermengt mit Fisch. Ich presste mich an die Wand und schlich in geduckter Haltung vorwärts.

Ein verräterisches Knarren verriet mir, wo sich der Eindringling aufhielt. Entschlossen sprang ich vor, die Klinge gezückt … und erstarrte.

Hinter einer Tonne mit Frischwasser kauerte ein Mädchen.

Sie sah mit aufgerissenen Augen zu mir auf. Ihr Haar hatte die Farbe von Schaum, der auf den Wellen tanzt, und flatterte um ihren dünnen Körper. Ebenso ihr weißes Kleid.

»Was machst du hier?«, fragte ich fordernd.

Es war eindeutig. Sie versteckte sich. Ihr Blick zuckte immer wieder zwischen mir und den tanzenden Scheinwerfern der Garde hin und her.

Oh nein!

War sie der Grund, warum die Sanktiner die Straßen durchkämmten?

In diesem Moment blitzte etwas Goldenes in ihren Handflächen auf, das mich innehalten ließ. Aber das konnte nicht sein, oder? War das etwa …?

»Hör zu. Du kannst nicht hierbleiben«, sagte ich. Es brachte bloß Ärger, sich einzumischen, und Ärger konnte ich nicht gebrauchen. »Verschwinde!«

Während ich noch sprach, verdrehte das Mädchen die Augen. Ihr Körper erschlaffte und sie fiel rücklings von Bord ins Wasser.

Manche Probleme lösen sich von selbst.

Ich beugte mich über die Reling und sah, wie ihr blasser Körper von den Wellen verschluckt wurde und in der Dunkelheit verschwand. Ich sollte diese Begegnung vergessen. Ich sollte mich umdrehen und verschwinden. Ja, das wäre das Beste.

»Ach verdammt …« Im nächsten Moment legte ich mein Messer beiseite und sprang dem Mädchen hinterher ins kalte Wasser.

???

Ich wachte auf. Mein Kopf schmerzte, als würde etwas von innen den Schädel auseinanderdrücken wollen, und für einen Moment war ich versucht, die Augen geschlossen zu lassen und in die Dunkelheit zurückzutauchen, aus der ich gekommen war.

Stöhnend blinzelte ich und sah in ein Paar sturmgraue Augen.

Sie gehörten zu einem Jungen, dessen Alter ich auf sechszehn schätzte. Vielleicht auch etwas älter. Es war schwer zu sagen, da das dunkle, nasse Haar die obere Hälfte seines Gesichts verdeckte. Wassertropfen flossen über seine Haut und sickerten in den ebenfalls nassen Strickpullover.

Ich zuckte zusammen. Wo war ich?

»Keine Angst, Priesterin. Ich fress dich nicht.« Die Stimme des Jungen war hart und rau, aber nicht unangenehm.

»Wer bist du?«, fragte ich. Und warum nannte er mich Priesterin?

»Der Kapitän dieses Bootes«, antwortete er und verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Bist du nicht etwas … jung?« Er hatte nicht einmal Ansätze eines Bartes.

»Die Mannschaft hat sich bisher nicht beschwert …« Ein verwegenes Grinsen huschte über sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Wie Sterne, deren Punkte man zu Bildern verweben konnte. »Ich heiße Kaz Griffin. Und du?«

»Ich … ich …« Eine einfache Frage. Eigentlich … Aber ich konnte sie nicht beantworten.

Erschrocken bemerkte ich die Leere in meinem Kopf. Ich wusste nicht, wie ich an diesen Ort gekommen war. Oder woher ich kam. Oder wer ich war. Aber wie konnte das sein? Wie konnte man das nicht wissen?

Panik überkam mich. »Ich weiß es nicht …«

»Du hast vergessen, wie du heißt?« Sein Tonfall verriet, dass er mir nicht glaubte. Und ich konnte es ihm nicht verübeln.

»Die heilige Garde ist ziemlich in Aufregung«, fuhr er fort. »Hast du was ausgefressen?«

Heilige Garde? In mir läutete eine ferne Erinnerung, aber ich bekam sie nicht zu fassen, als läge ein Schleier darüber. Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich … weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an …«

Dunkelheit. Sie drohte mich zu verschlingen wie ein Loch ohne Anfang und Ende, und dann erschien Kaz. Er war durch die Wellen gebrochen und hatte mir seine Hand entgegengestreckt. Und mit ihm kam das Licht, das mich aus dem Tunnel führte.

»… an dich«, murmelte ich. »Ich erinnere mich an dich.«

Kaz beobachtete mich mit gerunzelter Stirn. Schließlich nickte er. »Gut. Wie du willst … Dann nenn ich dich halt Juna.«

»Juna?«

»Nach dem Stern, der verlorene Seefahrer beschützt.«

Juna.

Der Name gefiel mir.

Als ich am nächsten Tag erwachte, lagen Kleidung und Schuhe neben meinem Bett. Alles außer den Stiefeln gehörte wohl Kaz, denn die Sachen sahen einige Nummern zu groß aus.

Erneut horchte ich in mich hinein und versuchte, mich an meinen Namen zu erinnern, fand aber nur grauen Nebel. Auf der Suche nach Hinweisen erkundete ich meinen Körper und erschrak.

Aus meinen Handflächen blickten mir zwei goldene Augen entgegen, umrundet von Sonnenstrahlen. Aber es waren mehr als bloß Tätowierungen. Die Linien waren erhaben, als wäre ein Amulett mit der Haut verschmolzen. Vorsichtig glitt ich mit den Fingerspitzen über das Material. Es fühlte sich warm an und irgendwie … lebendig. Schnell zog ich meine Finger wieder zurück und untersuchte mich mithilfe eines kleinen Spiegels weiter, den ich in einer Schublade gefunden hatte.

An meinem Kopf fand ich keine Verletzung, nichts, was meine seltsame Amnesie erklären würde. Dafür entdeckte ich eine goldene Halbsonne unter meinem Haaransatz. Nicht erhaben wie die Augen, sondern tätowiert.

Dieser Körper schien eine Geschichte zu erzählen, die nicht meine eigene war, und es ängstigte mich. Schnell zog ich mich an und ging an Deck, wo Kaz damit beschäftigt war, die Taue zu lösen.

»Ich fahre gleich los«, sagte er. »Du musst aussteigen.«

Ich sah auf die Straßen, die mir so vertraut und doch so fremd vorkamen. Mein Blick zuckte nach oben, wo Luftschiffe ihre Kreise zogen, und das beklemmende Gefühl in meiner Brust nahm zu.

»Nimm mich mit«, bat ich einem plötzlichen Instinkt folgend.

Kaz musterte mich von oben bis unten. »Das geht nicht. Ich habe schon genug für jemanden riskiert, der mir nicht mal seinen Namen verraten will.«

»Ich erinnere mich wirklich nicht.«

»Ist deine Sache, aber hier kannst du nicht bleiben.« Er zuckte die Schultern.

»Nimm mich bitte mit«, flehte ich weiter. »Nur einen Tag … Ich helfe auch mit.«

Er beäugte mich amüsiert. »Bist du überhaupt schon mal gesegelt, Priesterin?«

»Nein.« Glaubte ich jedenfalls. »Aber ich kann es lernen«, versprach ich eifrig.

»Und was ist, wenn uns die heilige Garde erwischt? Ich will nicht in Schwierigkeiten kommen für etwas, das du verbrochen hast.«

»Ich sag ihnen, ich hätte dich entführt.«

Angesichts dieser Antwort brach er in schallendes Gelächter aus.

»Na gut …« Zu meiner Überraschung gab er nach. »Nur diese eine Fahrt.«

»Danke!« Ich war so erleichtert, dass ich ihm um den Hals fiel. Als ich mich wieder löste, starrte mich Kaz entgeistert an. Sein Gesicht hatte sich leicht rot verfärbt, und als er sich abwandte, murmelte er: »Wehe, du kotzt das Boot voll.«

Ohne ein weiteres Wort warf er den Motor an und wir fuhren aus der Stadt heraus. Die Häuser zu beiden Seiten wurden weniger, je weiter wir uns von ihrem Zentrum entfernten. Wir passierten einige Solarschiffe der Sanktiner, die den Hafen bewachten, und dahinter hieß uns das Meer mit seiner endlosen Weite willkommen. Mit jedem Meter, den wir uns entfernten, fühlte ich mich besser, leichter, sicherer. Als ob ich einer unsichtbaren Klaue entkam, die direkt über mir schwebte und nun in Hansewall zurückblieb.

Kaz stand am Steuer. Seine Haare waren heller, als ich zunächst geglaubt hatte. Braun mit einem leichten Rotstich darin. Seine Gesichtszüge waren weich und passten gar nicht zu dem grimmigen Ausdruck, den er wie eine Maske trug. Er hatte seine Ärmel hochgekrempelt und auf den trainierten, an Arbeit gewöhnten Armen waren zwei Tätowierungen zu sehen. Eine grüne Katze und eine weiße Möwe vor einem schwarzen Schädel.

»Bist du ein Pirat?«, fragte ich.

»Nein. Ein Fischer.« Kaz hatte die Augen nach vorne auf den Horizont gerichtet, wo Himmel und Meer aufeinanderstießen mit nichts dazwischen.

»Wo ist deine Mannschaft?«

»Ich bin die Mannschaft.«

Nun, das erklärte, warum keiner etwas gegen sein Alter einzuwenden hatte.

»Und was machen wir jetzt?«

»Fischen.« Er drückte mir einen unordentlichen Ballen an Netzen in die Hand und seinem Knurren entnahm ich, dass es meine Aufgabe war, sie zu entwirren.

Der Kommunikativste war er nicht gerade. Aber das machte nichts, denn mein Kopf war voller Fragen und hier unterm freien Himmel sprudelten sie aus mir heraus.

»Fängst du viele Fische? Woher weißt du, wo du am besten die Netze auswirfst? Wie lange machst du das schon?« Immer mehr Bilder stiegen in meinem Kopf auf. Chaotische, bunte Bruchstücke einer Welt, die mir gleichzeitig fremd und vertraut war. Wie ein großes Puzzle, das ich zusammensetzen musste. »Bist du schon mal einem Meermensch begegnet? Haben sie wirklich so breite Mäuler? Welche Leuchttiere hast du schon gesehen?«

Die meisten Fragen beantwortete er mit einem unwirschen Knurren, was mich nicht davon abhielt, ihn weiter zu löchern. Mein Kopf war voller Erinnerungen, aber keine einzige zeigte etwas aus meiner Vergangenheit. Sie waren wie fremde Geschichten, die in einem fremden Körper gefangen waren. Ein Strudel voller Bilder, die an mir vorbeiflogen.

Als wir weit genug von der Stadt entfernt waren, stellte Kaz den Motor aus und hisste das Segel. Es bestand aus festem Stoff, der vermutlich einmal weiß gewesen war. Nun war es vergilbt und hatte etliche Flicken, wie Narben, die an vergangene Schlachten mit dem Meer erinnerten.

Kaz schloss die Augen und flüsterte etwas in den Wind.

»Was tust du da?«

Er warf mir einen verärgerten Blick zu. »Ich bitte den Klabautermann um günstige Winde.«

»Den Klabautermann?«

Er deutete auf ein seltsames Windspiel, das er vor der Abfahrt über dem Steuerrad befestigt hatte.

»Du redest mit einer leeren Flasche?«

Kaz verdrehte die Augen. »Er wohnt in der Flasche.«

»Ich seh nichts.«

»Weil Klabautergeister unsichtbar sind …«

»Oh, stimmt. Seefahrer glauben an Flaschengeister …«

Kaz schnaubte verärgert. »Es ist kein Aberglaube.«

»Hat er einen Namen?«, erkundigte ich mich, um Kaz zu besänftigen.

»Albert«, sagte er, während seine Finger durch das Windspiel glitten. Die Muscheln schlugen mit einem sanften Klang gegeneinander und im selben Moment blies Wind in die Segel. Mit einem Ruck spannte es sich, wodurch das Boot nach vorne gerissen wurde. Es flog über die Wellen, leicht wie eine Feder.

»Wir sind so schnell!«, rief ich und beugte mich über die Reling. Wasser spritzte hoch und befeuchtete mein Gesicht.

»Pass auf, Priesterin. Ich spring dir nicht noch mal hinterher«, knurrte Kaz mürrisch, aber ich wusste, dass er log. Er hatte mich aufgenommen, eine Fremde, mir warme Sachen herausgelegt und sich um mich gekümmert. Das tat niemand, der sich nicht um andere sorgte. Er würde mich wieder retten.

»Wie heißt das Schiff? Hat es einen Namen?«, fragte ich weiter, begierig, mehr über ihn und seine Welt zu erfahren.

Er zögerte. »Rote Perle.«

»Rote Perle?«

»Mein Vater hat es nach dem Puff benannt, in dem er meine Mutter kennengelernt hatte. Ich denke, er fand es romantisch.«

»Puff?«

»Hast du vergessen, was das ist?«

Nein, seltsamerweise wusste ich noch genau, was das war. Die Sanktiner hatten dieses Gewerbe in Hansewall vor langer Zeit verboten, was nicht hieß, dass es so etwas nicht gab. Verborgen vom Licht im Untergrund der Stadt.

»Deine Mutter war eine Prostituierte?«, fragte ich zaghaft.

Kaz zuckte die Schultern. »Ist bei den meisten Seemöwen so.«

»Ist sie mit euch gefahren?«

Sein Gesicht verdunkelte sich und für einen Moment glaubte ich, dass er mir nicht antworten würde. »Nur ein paar Wochen. Bis ich geboren wurde. Frauen fahren nicht aufs Meer. Es bringt Unglück, sie an Bord zu haben.«

Ich hob überrascht die Augenbrauen. »Warum hast du mich dann mitgenommen?«

»Weil ich nicht an so einen abergläubigen Schwachsinn glaube.«

»Aber an leere Flaschen?« Ich kicherte, bis ich den finsteren Blick bemerkte, den er mir zuwarf. Ich versuchte, wieder ernst zu werden, was mir nicht so recht gelingen wollte. »Sie sieht schon recht … nun ja … leer aus.«

Für ein kurzen Moment kräuselten sich seine Lippen und ich meinte den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Doch bevor ich sicher sein konnte, drehte er sich weg. »Glaubt ihr Sanktiner nicht an einen weinenden Stein?«

»Ich weiß nicht, woran ich glaube …«

»Für das Meer sind jedenfalls die Klabautergeister zuständig. Wenn dir das nicht gefällt, kannst du gerne aussteigen.« Er machte eine einladende Bewegung zum Meer.

»Nein. Ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast. Wirklich.«

»Ich bereue es gerade …« Kaz wandte sich wieder dem Steuer zu. Aber ich glaubte ihm nicht. So unnahbar, wie er tat, war er gar nicht.

Ich schloss die Augen und hielt mein Gesicht in den Wind. Auch wenn ich nicht wusste, wer ich war und wo ich herkam, wusste ich, wo ich sein wollte.

Hier.

Wo sich der Himmel über unseren Köpfen spann und tausend Möglichkeiten versprach.

Kaz

Juna mochte nicht viel jünger sein als ich, fast eine Frau, aber sie hatte etwas von der Unschuld eines Kindes. Auf jeden Fall wirkte sie nicht wie eine Priesterin der Sanktiner. Schließlich waren die nicht nur Heiler, sondern auch erfahrene Kämpfer im Krieg gegen den Dämon und seine Unheiligen, gegen die Flüsterwesen und gegen jeden, der die Grenzen ihres Landes bedrohte.

»Kommt was von deinen Erinnerungen zurück, Priesterin?«, fragte ich, aber sie schüttelte den Kopf.

»Bitte. Nenn mich nicht so. Priesterin, meine ich. Es fühlt sich falsch an.«

»Aber du bist eine.« Ich deutete auf die goldenen Augen in ihren Händen. Sols Geschenk, das nur Priester bekamen und ihnen besondere Kräfte verlieh. Damit konnten sie Wunderheilungen wirken, aber auch gefährliche Illusionen erzeugen. Juna allerdings starrte sie ängstlich an, als wären ihr die Augen ebenso wenig geheuer wie mir.

»Ich bin lieber Juna«, gestand sie leise.

Ich hätte ihr nie einen Namen geben dürfen, dachte ich. Früher hatte ich den Fehler bei Fischen gemacht, nur um dann festzustellen, dass sie mir, wenn sie erst mal einen Namen hatten, zu sehr ans Herz wuchsen, sodass ich sie nicht töten und essen konnte. Als mein Vater herausfand, dass ich Fische aus den Netzen rettete, wurde er wütend wie nie zuvor und zwang mich, Herrn Scholli und Frau Schuppwupp zu kochen. Danach machte ich den Fehler nie wieder.

Bis heute.

»Kannst du die benutzen?«, fragte ich.

Juna starrte immer noch auf die Augen in ihren Handflächen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaub nicht.«

Gut. Wunder und Illusionen konnte ich an Bord meines Schiffes nicht gebrauchen.

Eigentlich lag es auf der Hand, was ich tun musste. Ich musste Juna loswerden, bevor ich Ärger bekam. Die Sanktiner würden nicht zimperlich mit mir umgehen und ich wollte auf keinen Fall mein Leben für eine Priesterin aufs Spiel setzen.

Verstohlen blickte ich zu ihr hinüber. Ihre weiße Haut hatte sich durch die Stunden in der Sonne rot gefärbt. Sie hatte volle Lippen, die ich öfter, als ich mir eingestehen wollte, ansah, und eine kleine Stupsnase. Aber am auffälligsten waren neben ihren Priestertätowierungen ihre Augen. Hellbraun wie glühender Bernstein.

Sie war einer der Menschen, die so hübsch waren, dass man nicht wegsehen konnte. Doch sie verhielt sich nicht so, als wüsste sie von ihrer Wirkung auf andere, sondern eher wie ein tollpatschiger Welpe.

»Was ist das?«, rief Juna gerade und deutete auf einen schwarzen Fleck am Horizont. Ich schrak aus meinen Gedanken und riss das Steuer herum, um den Kurs zu wechseln.

»Nichts Gutes.«

»Was heißt das?« Sie kniff ihre Augen zusammen und beugte sich weit über die Reling, um besser sehen zu können.

»Die Insel der Freuden.« Ein Schauer lief mir über den Rücken.

»Klingt wunderbar! Können wir dahin?«

So langsam glaubte ich Juna das mit dem Gedächtnisschwund, denn keine Priesterin bei klarem Verstand würde da hinwollen.

»Dieser Ort ist alles andere als wunderbar«, erklärte ich. »Dort herrscht die Dunkelheit, die ihr Sanktiner so sehr fürchtet.«

»Dunkelheit? Was für Dunkelheit?« Ihre Augen weiteten sich vor Neugierde. »Meinst du Dämonen?«

»Nein … Etwas Schlimmeres«, murmelte ich und ließ meine Finger durch das Windspiel gleiten, um Albert zu wecken.

Am Nachmittag fuhren wir den Hauptkanal an, der die Wasserstraßen der Stadt speiste. Wie immer herrschte reger Verkehr, da Anwohner, Händler und Sanktiner ihn gleichermaßen nutzten, und es dauerte etwas, bis wir den Ankerplatz erreichten.

Alles wirkte wie sonst. Die Luftschiffe über unseren Köpfen flogen wieder ihre üblichen Kreise und nichts erinnerte an das seltsame Ereignis der letzten Nacht. Trotzdem jagte mir allein die Erinnerung ein Schauer über den Rücken und ich war mir sicher, dass etwas in der Luft lag. Etwas, das höchstwahrscheinlich mit Juna zu tun hatte.

»So«, sagte ich, als ich das Schiff vertäut hatte. »Zeit, sich zu verabschieden. Ich muss jetzt zum Fischmarkt.«

»Kann ich dir nicht helfen?« Junas Augen leuchteten wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolkendecke brach und einen warmen Schauer auf der Haut hinterließ. Schnell wandte ich mich von ihr ab.

»Nein.«

»Ich werde dir auch keine Last sein!«

Das konnte doch nicht wahr sein! Dieses Mädchen war anhänglicher als ein Blutegel.

»Nein.« Ich füllte einen Eimer mit unserem Fang, überwiegend Scholle, die leider nicht viel Geld einbrachte, da die Stadt damit übersättigt war.

»Nur ein paar Stunden«, flehte sie. »Dann siehst du mich nie wieder.«

Zum dritten Mal sagte ich: »Nein«, aber das interessierte Juna überhaupt nicht.

»Ich bin dein Schatten. Du wirst gar nicht bemerken, dass ich da bin.«

»Du bist nicht gerade unauffällig«, widersprach ich. »Was auch immer du ausgefressen hast, es ist deine Sache. Ich will nichts damit zu tun haben.«

»Warte …« Juna verschwand unter Deck und kurz hoffte ich, dass sie ihr Kleid holte und verschwand.

Weit gefehlt!

Mit unerschütterlichem Lächeln und einer Wollmütze – meinerWollmütze – in der Hand kam sie wieder hoch. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie ihr weißblondes Haar zusammen und verbarg es unter der Mütze, ebenso die goldene Sonne am Haaransatz. Dann griff sie sich ein Paar fingerlose Handschuhe – ebenfalls meine –, um ihre Handinnenflächen zu verstecken. »Siehst du? So falle ich nicht auf.«

»Willst du gar nicht wissen, wer du bist? Oder warum du deine Erinnerungen verloren hast?«

»Nein«, entgegnete sie und für einen Moment erstarb ihr Lächeln. »Ich glaube, das will ich nicht.«

Ich kannte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nur zu gut. Angst. Angst vor den Antworten, die sie finden konnte. Sie belog nicht mich. Sie belog sich selbst. Und das offenbar ziemlich erfolgreich.

Die heiligsten Menschen haben die unheiligsten Geheimnisse, pflegte mein Vater zu sagen. Und aus denen sollten wir uns raushalten. Aber auch wenn auf Junas Stirn groß das Wort »Ärger« stand, brachte ich es nicht über mich, sie fortzujagen.

»Du trägst den Fisch.«

»Danke!« Juna sprang vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Dann griff sie den Eimer und kletterte vom Boot.

Einen Kuss! Ich stand wie versteinert da, während meine Hand zu der Stelle wanderte, die ihre Lippen berührt hatten. Mich hatte noch nie jemand geküsst. Nicht einmal mein Vater. Seemöwen küssten nicht.

»Ich hoffe, ich bereue das nicht!«, rief ich ihr hinterher.

Die Sonne würde in zwei Stunden hinter den Dächern verschwinden und den wachsenden Schatten die Bühne überlassen. Bis dahin wollte ich zurück auf dem Boot sein. Also trieb ich Juna zur Eile an und selbst jetzt, als sie den schweren Fisch schleppen musste, konnte nichts ihre Laune trüben oder ihre Redseligkeit.

»Du hast also schon immer auf einem Boot gelebt?«

Ich nickte und sah mich um. Auch wenn alles normal wirkte, waren mehr Gardisten als sonst unterwegs. Juna zog sich die Wollmütze tiefer ins Gesicht und rückte näher an mich heran. Erst als die Patrouille vorbeigezogen war, entspannte sie sich wieder.

»Seit wann bist du allein?«, fragte sie weiter.

»Ein paar Jahre.«

»Oh.« Sie musterte mich mit ihren großen, goldbraunen Augen. »Fühlst du dich da nicht einsam?«

»Nein«, log ich.

»Wo ist dein Vater?«

»In einem Sturm über Bord gegangen. Ist wohl tot …« Es war härter das auszusprechen als gedacht und ich spürte, wie sich meine Kehle bei der Erinnerung daran zuschnürte.

»Tut mir leid.« Juna strich mir tröstend über den Arm. Die bloße Berührung ließ mich zurückzucken. Für sie schien Nähe etwas Einfaches, Normales zu sein. Für mich war es ungewohnt und fremd. Natürlich erinnerte ich mich an Berührungen. Das raue Schulterklopfen meines Vaters, wenn ich etwas richtig gemacht hatte. Wie er mich hochhob, um mich ins Meer zu werfen, damit ich schwimmen lernte. Und wie er mich fest an sich drückte, um mich zu wärmen, nachdem ich das Eistauchen nur knapp überlebt hatte. Junas Berührungen waren anders als die, die ich kannte. Zärtlicher. Behutsamer. Weniger schmerzhaft.

»Ich komm klar«, brummte ich und marschierte weiter, doch Juna war mit ihrem Verhör über meine Vergangenheit noch nicht fertig.

»Und deine Mutter?«

»Tot. Starb bei der Geburt.« Ich räusperte mich, um die plötzliche Trockenheit in meinem Hals loszuwerden. Man konnte niemanden vermissen, den man nicht kannte, aber manchmal, wenn ich nachts im Bett lag, versuchte ich mir vorzustellen, wie sie wohl gewesen war.

»Sie wären sicher stolz, wenn sie sehen könnten, was aus dir geworden ist.« Juna rückte so nah an mich heran, dass sich unsere Arme beim Gehen berührten.

»Vielleicht.« Ich beschleunigte meine Schritte, um wieder Abstand zwischen uns herzustellen, und wechselte schnell das Thema. »Was ist mit dir? Erinnerst du dich an was?«

»Nein. Aber vielleicht fällt mir etwas ein, wenn wir über den Markt gehen.«

»Wollen wir es hoffen …«, brummte ich und verfluchte mich dafür, dass ich nachgegeben hatte.

Du bist zu weich, Kaz! Sie ist eine Priesterin und du solltest sie verdammt noch mal nicht mögen.

Der Markt war voll mit Ständen, auf denen frische Ware angepriesen wurde. In der Mitte stand ein Pfeiler mit einer goldenen Sonne, der uns daran erinnerte, wem die Stadt gehörte.

Zumindest bei Tag …

Drum herum waren die Zelte der Sanktiner aufgebaut. »Folgt dem Licht«, murmelten sie, während sie Spenden an Bedürftige verteilten, die sich eine Halbsonne unter den Haaransatz gemalt hatten.

Auch ich hatte mir einmal dasselbe Symbol auf die Stirn gezeichnet und meine Treue zum Licht geheuchelt. In jener düsteren Zeit nach dem Verschwinden meines Vaters, an die ich mich nur ungern erinnerte.

Schnell ging ich vorbei und blieb an einem Fischstand stehen, an dem der Fischhändler gerade seine Jackentasche durchwühlte. »Wo ist bloß dieser verdammte …«

»Moin Dizzy«, begrüßte ich ihn.

»Moin Kaz. Licht auf deinem Weg«, murmelte er abgelenkt. »Ihr kommt zu einem ganz schlechten Zeitpunkt. Ich weiß nicht mehr, wo ich meine Haustürschlüssel hingelegt habe. Ich wette, einer dieser verfluchten Käfer hat mich erwischt.«

Nervös schielte er zu den weißen Zelten hinüber. Dort versammelten sich täglich Menschen, die darum flehten, einen Priester sprechen zu dürfen, weil sie krank waren oder befürchteten, Opfer der Käfer geworden zu sein.

Die Käfer waren eine düstere Legende, die man sich erzählte, ohne dass je jemand berichten konnte, wie sie wirklich aussahen. Denn wenn man einen Käfer sah, war es bereits zu spät. Dann gab es kein Entkommen mehr …

Es gab also keine hilfreichen Zeugen, nur Opfer und jede Menge Gerüchte. Angeblich gehorchten die Käfer einzig und allein dem Dämon, der unsere Nächte beherrschte. Skaranok, dessen Namen man lieber nicht laut aussprach, denn er lockte die Käfer an. Und wenn sie einen erwischten, krochen sie einem ins Gehirn, um Erinnerungen zu stehlen. Manchmal nur ein Geheimnis, eine brisante Information oder einen Zahlencode. Manchmal mehr. Es gab Geschichten über Leute, denen die dämonischen Haustierchen alles genommen hatten, sodass nur eine leere Hülle zurückblieb. Bemitleidenswerten Wesen, die nicht einmal mehr wussten, wo links und rechts war. Geschweige denn, wie sie hießen.

Möglicherweise war etwas Ähnliches auch mit Juna passiert? Wann immer es um Gedächtnisschwund ging, waren Käfer die naheliegende Erklärung. Allerdings wirkte sie ganz und gar nicht wie jene Hüllen mit leerem Blick.

»Ich sollte mich bei einem Priester vorstellen«, murmelte Dizzy. »Nicht, dass das Viech noch in meinem Kopf sitzt.«

»Oder du bist einfach nur schusselig. Warum sollte den Dämon interessieren, wo du deinen Haustürschlüssel hast?«

»Na, um bei mir einzubrechen.« Dizzy senkte seine Stimme und sah sich misstrauisch um. »Meine Frau bereitet zum Abendessen einen sehr feinen Hummer vor.«

»Ich glaube nicht, dass der Herr der Käfer auf Hummer steht«, seufzte ich. »Und wenn er wirklich in dein Haus will, braucht er keinen Schlüssel. Er ist ein Dämon!«

»Wenn du wüsstest, Kaz.« Dizzy war nicht überzeugt. »Diese Käfer verstecken sich in einem, ohne dass man es bemerkt. Wenn ich mich heute Nacht hinlege, kann es sein, dass ich mich morgen nicht mal mehr daran erinnere, dass ich überhaupt eine Frau habe.«

»Ich glaube nicht, dass du einen Priester außerhalb der Wundertage zu Gesicht bekommst«, sagte ich. Sie besaßen zwar die Gabe zu heilen, aber die Allgemeinheit kam nur an bestimmten Tagen in den Genuss ihrer Kräfte.

»Dann bin ich verloren.« Dizzy schnappte sich jammernd einen schwebenden Solarpus und zog ihn näher an sich heran, so als könnte die Lampe im Oktopusdesign ihn vor dem retten, was in den Schatten lauerte. Dann deutete er auf Juna, die er erst jetzt wahrzunehmen schien. »Wer ist deine Freundin? Sie kommt mir bekannt vor. Kenn ich dich?«

»Klar. Ich war gestern schon da, aber wahrscheinlich hast du das auch vergessen«, erwiderte sie prompt. Ich prustete los vor Lachen, aber Dizzy wurde noch bleicher.

»Keine Sorge«, sagte ich schnell. »Sie ist neu hier und hat offensichtlich einen furchtbaren Sinn für Humor.«

»Licht auf deinem Weg. Ich bin Juna.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Mit den Käfern scherzt man nicht, junge Frau.« Dizzy hob entrüstet den Zeigefinger. »Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der einmal unter der Kontrolle des Dämons stand. Wie eine Marionette hat er ihn dazu gebracht, über ein Dach zu balancieren …«

»Oder er ist geschlafwandelt.«

»Nein, Kaz. Es war der Dämon. Solange ich diesen Käfer im Kopf hab, werde ich kein Auge mehr zutun.« Er beugte sich vor, um Juna näher in Augenschein zu nehmen. »Sicher, dass ich dich nicht kenne? Du kommst mir irgendwie bekannt vor …«

»Ich habe ein Allerweltsgesicht.«

»Mhm …« Er rieb sich das Kinn. »Möglich …«

»Wir wollen Fisch verkaufen«, unterbrach ich ihn, um an unser eigentliches Anliegen zu erinnern.

»Ach stimmt. Mhm. Ich gebe dir vier Schullies.«

»Sieben.«

»Willst du mich ausnehmen, Kaz?« Dizzy seufzte theatralisch.

»Nein. Ich hab den Fisch ausgenommen«, entgegnete ich trocken.

»Ein Spaßvogel wie eh und je …« Dizzy rieb sich das Kinn. »Ich gebe euch fünf. Mehr gibt es nicht. Es ist schon spät und der Markt schließt gleich.«

Das war fair. »Deal.«

Juna folgte mir mit tänzelndem Schritt zurück zum Boot. »Das war total lustig. Wann wiederholen wir das?«

»Juna, du kannst nicht bei mir bleiben.« Ich warf einen Blick über die Schulter.

»Ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll.«

»Zurück zu den Sanktinern. Möglicherweise können sie dir helfen… In einem Punkt hat Dizzy recht: Mit den Käfern ist nicht zu spaßen. Was, wenn sie etwas mit deinem Gedächtnisverlust zu tun haben?«

»Aber hier bei dir fühle ich mich sicher. Ich weiß, wir kennen uns kaum, aber ich hab das Gefühl …«

»Psst!«, unterbrach ich sie und hielt inne.

Verdammt! Erst war es nur eine Ahnung gewesen, aber jetzt war ich mir sicher.

»Wir werden verfolgt«, flüsterte ich und nahm ihre Hand.

»Sicher? Was sollen wir tun?« Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

»Komm.« Wir beschleunigten unseren Schritt und bogen einige Male ab, doch egal, wie oft wir die Richtung wechselten, der Verfolger ließ sich nicht abschütteln.

»Was jetzt?«, flüsterte Juna nervös.

Ich schnappte mir einen der Solarpusse, die uns passierten, und zog ihn hinter mir her. Am Ende der Straße fuhr ich herum. Juna klammerte sich so fest an meinen Arm, dass ich ihren Herzschlag spüren konnte.

»Was hast du vor?«, flüsterte sie.

»Improvisieren«, antwortete ich. Übersetzt hieß das: Ich hatte keine Ahnung!

Es dauerte nicht lang, da erschien unser Verfolger. Als er uns entdeckte, wurde er langsamer. Die Kapuze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, sodass wir nicht mehr als Kinn und Mund zu sehen bekamen. Sein Mantel war weiß, aber wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass das Innenfutter blau wie die Nacht war, sodass er ihn nach Belieben umdrehen konnte.

Das war kein Sanktiner.

Das war ein Unheiliger.

»Warum verfolgst du uns?«, verlangte ich zu wissen.

Der Vermummte deutete auf das Mädchen.

»Was willst du von ihr?«, fragte ich weiter und spürte, wie Juna sich versteifte.

Der Unheilige trat einen Schritt vor. »Geht dich nichts an«, sagte er. Seine Stimme klang jünger als erwartet. »Übergib sie mir einfach. Dann muss niemandem etwas passieren.«

»Ich möchte nicht«, wimmerte Juna. »Kaz … Bitte.«

»Du hast sie gehört«, sagte ich und tastete nach meinen Klingen. »Sie hat nichts mit euch zu schaffen.«

»Sie wird mit mir kommen«, verkündete der Vermummte. Er schien sich dessen ziemlich sicher.

Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren. Der Hafen war nicht mehr weit weg. Dort wären wir in Sicherheit. Ein kurzer Sprint und wir würden eine Brücke erreichen. Ich betete, dass Juna so schnell rennen konnte, wie sie redete.

Vorsichtig machte ich einen Schritt nach hinten, dann noch einen. Der Unheilige folgte uns, seine Hände unter dem Mantel verborgen. Zweifellos tastete er nach einer Waffe.

»Rori«, fuhr er fort. »Mach es nicht noch schlimmer.«

Rori? Das klang vertraut.

»Juna?«, flüsterte ich. »Kennst du den etwa?«

»Nein.«

»Hör auf mit dem Mist.« Der Unheilige sprang vor und packte sie am Arm. »Was hast du getan?«

Was, beim Klabautermann, war hier los?

»Kaz. Bitte.« Juna klammerte sich an mir fest. Die Panik in ihrem Blick war echt.

Ich packte den Solarpus am Arm und schleuderte ihn dem Unheiligen entgegen. Direkt ins Gesicht.

»Lauf!«, brüllte ich und drängte Juna aus der schmalen Straße.

Bereits nach wenigen Sekunden hörte ich Schritte und wütendes Schnauben hinter uns.

Verflucht! Wo waren die Sanktiner, wenn man sie brauchte?

Meine Füße flogen über die Pflastersteine. Ich überholte Juna, doch sie fiel nicht weiter zurück. Die Angst trieb uns beide zu Höchstleistungen an.

Endlich erreichten wir die Brücke. Ein flüchtiger Blick über die Schulter zeigte mir, dass der Unheilige uns fast erreicht hatte.

»Wir springen«, verkündete ich, während ich auf das Geländer kletterte.

»Ich glaub, ich kann nicht schwimmen.«

»Halt die Luft an und lass mich nicht los.« Mit diesen Worten griff ich ihre Hand und sprang. Kein Laut der Angst drang über ihre Lippen, als wir fielen.

Sekunden später durchstießen wir die Oberfläche des Wassers und wurden von der Kälte willkommen geheißen. Junas Arme schlangen sich um meine Schultern. Sie hielt sich fest, ihr Körper steif wie ein Brett, während ich mich unter Wasser in Bewegung setzte.

Ich wusste nicht, wie lange Juna die Luft anhalten konnte. Ihr Griff wurde enger und enger und ihre Unruhe zeigte mir, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Ich beschleunigte meine Bewegungen. Ein Zug. Noch einer. Noch einer.

Wir tauchten auf.

Juna schnappte panisch nach Luft, während sich ihre Arme um meine Schultern klammerten. Ich hatte Mühe, uns beide über Wasser zu halten, aber wir hatten es in den Schutz eines ankernden Bootes geschafft. Hier verharrten wir, bis unsere Haut aufgeweicht war und wir vor Kälte schlotterten.

»Hey!«, rief eine tiefe Stimme.

Ich sah nach oben und entdeckte einen Sanktiner-Gardisten, der sich zu uns herunterbeugte.

»Was macht ihr zwei da?«

»Schwimmen«, antwortete ich.

Die Wache hob skeptisch die Augenbraue. »Bei Sonnenuntergang?«

»Manche Menschen finden das romantisch.« Ich legte meinen Arm um Junas Schultern, woraufhin sie prustend unterging.

Ups …

Schnell zog ich sie wieder hoch.

»Romantisch«, echote sie hustend, während ich versuchte den Gardisten mit einem verliebten Grinsen zu überzeugen.

»Wenn ihr als Käferfutter enden wollt …« Die Wache half uns aus dem Wasser und drückte uns zwei Lampen in die Hand. Er deutete auf die Sonne, die hinter den Häusern verschwand. »Lauft lieber schnell nach Hause.«

Es würde nur noch eine halbe Stunde dauern, bis die Sonne untergegangen war, und die Schatten legten sich bereits über die Gassen, gierig, sie zu verschlingen.

Juna

Ich zog meine Beine heran und schlang meine Arme fest um sie, um mich auf diese Weise zu wärmen. Pullover und Hose waren nass, aber wir lebten. Dank Kaz! Er hatte mich gerettet. Schon wieder.

»Wie geht es dir?«, fragte er, während er in die Straße hinausspähte, um nach dem unheimlichen Verfolger Ausschau zu halten.

»Danke. Es geht.« Wir kauerten neben einem hell erleuchteten Automaten, an dem man für Geld Gebetszettel ziehen konnte. Einer lag zwischen den Rillen des Kopfsteinpflasters vor mir. Ich legte den Kopf schief, um zu lesen, was draufstand.

Bleibe im Licht.

Kaz zog eine Flasche unter seinem Pullover hervor und nahm einen kräftigen Schluck, bevor er sie mir anbot. Ich nahm an und erschrak, als ich sie an meine Lippen setzte. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer.

»Was ist das?«

»Rum«, antwortete Kaz mit einem frechen Grinsen.

»Das ist doch verboten«, erinnerte ich ihn.

»Ja, aber Klabautermänner lieben Rum.« Er stellte die geöffnete Flasche neben mir auf den Boden. »Und wir werden seinen Schutz brauchen …«

»Was hast du vor?« Ich rückte näher an ihn heran und spürte die pulsierende Wärme, die von seinem Körper ausging. Er war wie eine schützende Wand gegen die aufsteigende Kälte des Abends.

»Was hast du mit den Unheiligen zu tun?«, fragte Kaz, ohne auf meine Frage einzugehen. »Der Typ hat dich Rori genannt. Ist das dein Name?«

Rori … Der Namen war mir in keiner Weise vertraut. »Ich weiß es nicht.«

»Mit den Unheiligen ist nicht zu spaßen«, fuhr er fort und in seiner Stimme klang Sorge, ja sogar Angst mit. »Wenn sie dich auf dem Kieker haben, sind wir echt in Schwierigkeiten.«

Wir.

Er hatte wir gesagt und durch dieses eine kleine Wort fühlte ich mich weniger allein.

»Verdammt! Das ist richtig übel«, fluchte er weiter und raufte sich die Haare. »Wenn die Unheiligen uns erwischen, werden sie uns foltern … Und ohne mit der Wimper zu zucken töten.«

»Vielleicht gibt es einen Grund, warum ich mein Leben vergessen wollte«, flüsterte ich.

Kaz nickte. »An deiner Stelle wäre es wohl das Beste, Hansewall zu vergessen … Du solltest auswandern.«

»Dann nimm mich mit!«

»Ich kann hier nicht weg.«

»Warum nicht?« Ich deutete auf die Stelle, wo seine Seefahrer-Tätowierung war. »Warum segelst du nicht davon? Es gibt so viele Städte da draußen. So viele Orte, an denen die Sanktiner keinen Einfluss haben.«

»Ich warte auf jemanden«, entgegnete Kaz. »Solange kann ich hier nicht weg.«

»Auf wen?« Ich hob meinen Blick und verstand. »Deinen Vater … Du hoffst, dass er noch lebt.«

»Eine dumme Hoffnung, aber ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll. Ich hab niemanden.« Er räusperte sich und für einen Moment ließ er seine grimmige Maske sinken und zeigte, was sich dahinter versteckte. Einsamkeit. »Bleib hier. Ich versuche, etwas herauszufinden.«

»Warte.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als ich ihn am Ärmel festhielt. Meine Finger krallten sich in die nasse Wolle. »Die Sonne geht unter.«

»Bleib hier«, wiederholte er nachdrücklich. »Ich lasse dir die Lampen und den Rum hier. Bleib im Licht und trete nicht in den Schatten, dann bist du vor den Käfern sicher.«

»Und was ist mit den Unheiligen?«

»Albert passt auf dich auf. Versprochen!«

»Was ist mit dir?«

»Ich komm schon klar. Der Dämon interessiert sich nicht für uns Seefahrer.« Er zwinkerte mir zu.

»Versprichst du mir, dass du nicht abhaust?« Ich wollte ihn nie wieder loslassen.

»Versprochen.« Behutsam löste er meinen Griff. Dann schlich er davon. Mein Blick klebte an der Stelle, wo er verschwunden war, und mit der Kälte kroch die Einsamkeit in meine Glieder. Und mit ihr kam die Angst.

Kaz hatte mir gegenüber keine Verpflichtungen. Was, wenn er mich hier sitzen ließ? Wenn er zu seinem Boot zurückkehrte und davonsegelte?

Ich sprang auf. An die Steinmauer gedrückt, schlich ich mich auf die beleuchtete Hauptstraße zurück. Dabei passierte ich ein Fenster, in dem sich im Licht einer Solarlaterne mein Spiegelbild abzeichnete. Etwas erregte meine Aufmerksamkeit.

Ich drehte den Kopf und sah genauer hin. Ein Mädchen mit einer verbeulten Wollmütze und durchnässtem Pullover, schlotternd vor Kälte und Angst. Eigentlich ganz normal, aber das ungute Gefühl wollte mich nicht loslassen.

Ich trat näher an das Fenster heran, so nahe, dass mein Atmen das Glas beschlug, und starrte mir direkt in die Augen. Augen wie flüssiger, glühender Bernstein. Sie sahen nicht so verwirrt und ängstlich aus, wie ich erwartet hätte, sondern kalt und fremd.

Plötzlich bemerkte ich ein Kribbeln in meiner Magengegend. Es breitete sich aus und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich krümmte mich und würgte. Etwas kam meine Speiseröhre hochgekrochen. Ja, etwas presste sich durch mein Inneres nach oben. Tränen schossen mir in die Augen, als es in den Hals gelangte. Etwas Spitzes bohrte sich in meine Zunge. Ich würgte und spukte es aus.

Ein Käfer!

Fassungslos starrte ich ihn an. Er hatte einen schimmernden, dunklen Panzer und ein Beißwerkzeug, das an ein Geweih erinnerte.

Ich hatte einen Käfer ausgespuckt …

Und das Schlimmste war: Er lebte!

Schreiend schüttelte ich ihn ab und floh zurück zum Gebetsautomaten. Im Licht der Laternen sank ich zu Boden.