Aus dem Leben gefallen - Ariatani Wolff - E-Book

Aus dem Leben gefallen E-Book

Ariatani Wolff

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Beschreibung

Eine Stimme, die das Schweigen bricht Gefangen in der Magersucht. Hungrig nach mehr. Der Körper als Ausdrucksmittel einer hungrigen, suchenden Seele. Ariatani Wolff weiß, wie sich das anfühlt. Schonungslos ehrlich erzählt sie ihre Geschichte und lässt sich dabei tief ins Herz blicken. Deutlich wird: Hier kämpfen Wahrheit und Lüge, Selbstwert und Selbsthass, Verzweiflung und Hoffnung miteinander. Es war ein Kampf, der nicht nur sie selbst betraf, sondern ihre ganze Familie über Jahre in einer Ausnahmesituation leben ließ. Auch die Eltern berichten aus ihrer Perspektive über die Ereignisse. Eine dramatische Schilderung, die aber auch davon spricht, dass Gott in unserem Schmerz bei uns ist. Ein Buch, das berührt, aufrüttelt, informiert, ermutigt und herausfordert.

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MIT MATTHIAS & HEIDI WOLFF

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MEIN KAMPF GEGEN DIE MAGERSUCHTUND DAS RINGEN UM GOTTES ZUSAGEN

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Dieses Buch beruht auf Tatsachen. Dennoch wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte einige Namen geändert. Der vorliegende Text gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autoren wieder.

ISBN 978-3-7751-7521-0 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6030-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Weiter wurde verwendet:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen (ELB).

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Titelbild: fran_kie (shutterstock.com)

Autorenfoto: © Ariatani Wollf; © Heidi & Matthias Wolff

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Über die Autoren

Einleitung

1. Kapitel | Herbstgewitter – Die Zeit, in der alles begann

Anfang 2010 bis Frühjahr 2013

2. Kapitel | Winterstürme – Es wird immer kälter

Frühjahr 2013 bis Frühjahr 2014

3. Kapitel | Aprilwetter – Jahre zwischen Licht und Schatten

Sommer 2014 bis Sommer 2018

4. Kapitel | Frühlingserwachen – Der Weg zurück ins Leben

Anfang 2018 bis Herbst 2019

5. Kapitel | Sommerdüfte – Hoffnung auf neue Perspektiven

Herbst 2019 bis Herbst 2020

Nachwort

Buchempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autoren

ARIATANI WOLFF(Jg. 1998) ist in Hamburg geboren und studiert Politikwissenschaft und Soziologie in Heidelberg. Das Schreiben ist eine ihrer kreativen Leidenschaften sowie Mittel zur Gedanken- und Gefühlsverarbeitung: In ihren Büchern »Verschwunden in mir« und »Aus dem Leben gefallen« erzählt sie vom Umgang mit ihrer Anorexie.

HEIDI UND MATTHIAS WOLFFsind seit 1993 verheiratet und haben vier Kinder. Seit 2004 stehen sie gemeinsam in der Leitung der Elimkirche in Hamburg. Ihr Herz schlägt dafür, Gemeinde zu einem Ort zu machen, an dem Menschen Gott begegnen, ihr Leben miteinander teilen und ihr Potenzial entfalten können.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung

Das hier ist meine Geschichte. Eine Geschichte, in der lügnerische Worte und unüberlegte Handlungen ein Selbstbild zerstörten, in der Perfektionismus, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit außer Kontrolle gerieten; eine Geschichte voller Ablehnung, Verzweiflung, kontrollierter Selbstzerstörung und sehr viel Schmerz. Doch es ist auch eine Geschichte voller Hoffnung, Unterstützung, Zusammenhalt, Mut, Glauben und bedingungsloser Liebe. Eine Geschichte, die ein gutes Ende verdient. Solange es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende, davon bin ich überzeugt. Es ist die Geschichte einer Magersucht. Meiner Magersucht.

Ich persönlich benutze aber lieber den Fachausdruck Anorexie – denn obwohl das offensichtlichste Zeichen dieser Krankheit die Verwüstung des Körpers ist, steckt hinter ihr so viel mehr als die Herbeiführung extremer Magerkeit. Mein Verhalten gründete sich auf einer inneren Not, der ein Wort, um das sich so viele irreführende Klischees ranken, kaum gerecht wird. »Anorexie« ist neutraler, exakter, weniger belastet und gesellschaftlich besetzt und meint doch denselben Albtraum.

Wenn du dieses Buch liest, weil du auch von der Krankheit betroffen bist oder weil jemand aus deiner Familie betroffen ist, lass dir gesagt sein: Das hier ist meine persönliche Geschichte. Sie ist individuell, so wie jeder Mensch individuell ist. Vielleicht erlebst du diese Erkrankung ganz anders als ich, vielleicht sind es bei dir ganz andere Umstände und Ursachen, die ihr zugrunde liegen. Dennoch hoffe ich, dass meine Geschichte dir hilft und dich ermutigt, nicht aufzugeben. Es gibt einen Weg zurück in ein erfülltes Leben. Von meinem Weg möchte ich hier erzählen – zusammen mit meinen Eltern, die mich niemals aufgegeben haben, die mir Wegbegleiter, Ermutiger und noch so viel mehr sind.

MATTHIAS

»Welches gesellschaftliche Projekt würden Sie gerne anpacken?«, werden prominente Leute manchmal gefragt. Meine Antwort: »Ich würde die Diskriminierung und Zerstörung von Frauen durch ein übertriebenes Schlankheitsideal anpacken!«

Das vermeintliche Ideal eines superdünnen weiblichen Körpers dominiert unsere Kultur. Castingshows und Werbebilder, Misswahlen und Modeschauen sind darauf fixiert, nur ein einziges Bild legitimer Weiblichkeit zu präsentieren. Mit ausdruckslosen Gesichtern und unnatürlichen Bewegungen staksen sie über den Laufsteg, die sogenannten Models. Anscheinend interessiert niemanden, dass hinter den abgefahrenen Modekreationen, in denen die Models stecken (wohlgemerkt hat das Model in unserer Sprache auch noch ein sächliches Geschlecht), Frauen stehen – echte Frauen –, die sich oftmals krampf- und krankhaft auf die gewünschten Körpermaße trimmen. So stark bestimmt dieses Ideal die allgemeine Erwartung, dass eine wachsende Zahl von Mädchen und Frauen unzufrieden mit ihrem normalen Körper ist und nicht wenige in eine Essstörung hineingeraten. Allein die Gesundheitskosten dafür sind enorm. Noch weitaus schlimmer sind die sozialen und psychischen Folgen: Die Propagierung eines zu dünnen Körpers ruiniert Beziehungen, zerstört Karrieren, zerreißt Familien und raubt Lebensqualität. Als Vater einer magersüchtigen Tochter frage ich: Warum machen wir das mit?

Was mich schon immer genervt hat, gewann durch die persönliche Betroffenheit plötzlich eine ganz andere Aktualität. Es sind nicht mehr irgendwelche Frauen – es ist meine Tochter. Es ereignet sich nicht irgendwo – es geschieht in meinem Haus. Es läuft nicht nur im Fernsehen – es geschieht im echten Leben.

Aber ist nicht jeder selbst für seine Lebensentscheidungen verantwortlich? Auch für sein Essverhalten? Kann man etwa anderen die Schuld geben, wenn jemand zu viel oder zu wenig isst? Nein, das kann man nicht. Auch für die Magersucht in unserer Familie kann man die Verantwortung nicht ausschließlich im übertriebenen gesellschaftlichen Schlankheitsideal suchen. Jedes Mädchen, das in diesen Strudel hineingerät, hat seine eigene Geschichte, und wichtiger noch als die Ursachenforschung ist die Suche nach dem Ausweg. Und doch bin ich der Meinung, dass es bei uns ein gesellschaftliches Klima gibt, das völlig falsche Anreize setzt. Es ist mehr eine veröffentlichte als die öffentliche Meinung, die das Bühnenbild formt, vor dem sich dann die Tragödien meist junger Frauen abspielen – oft ohne Happy End.

Nach dem, was wir in unserer Familie durchgemacht haben, steht mir umso deutlicher vor Augen: Wir brauchen hier ein Umdenken. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass die Zukunft junger Menschen bedenkenlos auf dem Altar des Profits geopfert wird. Einige wenige Medienmacher und Modezare erzielen durch ihre Shows extreme Gewinne, ohne an die Folgen für Einzelne oder für die Gesellschaft zu denken. Wie lange werden wir noch tatenlos zusehen? Gäbe es so etwas wie Abmagerungsspritzen, mithilfe derer man Mädchen zu ihrem »Idealgewicht« verhelfen könnte, würde das bestraft und verboten werden. Im Gegensatz dazu bleibt es bislang straflos, wenn man die Gedanken von Mädchen und Frauen mithilfe überhöhter Ansprüche und unerreichbarer Schönheitsideale vergiftet, bis sie abmagern. Wo bleibt der Aufschrei?

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen: Warum essen diese Mädchen nicht einfach? Warum behandeln die sich selbst so? Es zwingt sie ja keiner dazu!

Doch wer so redet, hat noch nie erfahren, was sozialer Druck auslösen kann. Er ist sich auch nicht bewusst, wie mediale Dauerberieselung die Grundeinstellungen einer Gesellschaft formt. Denn auch wenn es ganz individuelle Einflüsse oder Gedanken sind, die zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild führen, werden sie doch stets vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Standards gedeutet. Sie liefern dem Spötter Munition (»Wie sieht die denn aus?«) und lassen den Spott bei den Betroffenen auf fruchtbaren Boden fallen (»Ich sehe wirklich nicht so aus wie …«). Es dominiert eben nicht ausschließlich die Stimme der Vernunft, bei keinem von uns, schon gar nicht bei Jugendlichen. Auch nicht die Stimme der Eltern. Es ist Zeit aufzustehen.

Wir haben es geschafft, durch ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein die Diskriminierung von Minderheiten zu beenden oder zumindest immer weiter zurückzudrängen. Es ist gelungen, Sklaverei abzuschaffen und Menschenhandel zu ächten. Wir haben es geschafft, ein Bewusstsein für Naturschutz, Klimawandel und Tierrechte zu schaffen. Menschen denken heute intensiver über Ressourcenverbrauch, Energiegewinnung und globale Verantwortung nach. Es geht also. (Un-)Wertvorstellungen können sich ändern. Sozialschäden können abgebaut werden. Das macht Hoffnung.

Wir brauchen auch einen gesellschaftlichen Wandel im Frauenbild, weg von einem durch wenige Profiteure diktierten Schlankheitsideal. Wir brandmarken Umweltsünder, Steuerhinterzieher, Menschenhändler, Waffenverkäufer, Textilarbeiterinnenausbeuter, Kinderschänder – sie alle nutzen Menschen hemmungslos für ihren Gewinn aus. Brandmarken wir endlich auch die Medien- und Modemacher, für die Frauen nur Ware, Produktionsfaktor und Profitquelle sind.

Die unselige Allianz aus Medien-, Mode- und Männerwelt, die Frauen unter Druck setzt, einem gewissen Körperideal zu genügen, muss zerbrochen und als das demaskiert werden, was sie ist: ein rücksichtsloses Profitstreben auf dem Rücken zerstörter und manipulierter Frauen.

Frauen brauchen sich das nicht länger gefallen zu lassen. Männer auch nicht. Eltern nicht. Freunde nicht. Lehrer nicht. Du nicht.

HEIDI

»Wie hast du das bloß geschafft? Wie konntest du weitermachen? Weiterhoffen, während du deiner Tochter beim Verschwinden zusehen musstest? Weiterleben, ohne sie retten zu können?« Diese Fragen wurden mir in den letzten Jahren häufiger gestellt. Und ganz ehrlich, ich stelle sie mir auch, während wir als Eltern gemeinsam mit unserer Tochter dieses Buch schreiben. Viele Seiten können wir nur unter Tränen zu Papier bringen. Denn dies ist nicht irgendeine Geschichte, es ist unsere Geschichte. Kein ausgedachtes Schicksal, sondern unsere Realität. »Wie hast du das bloß geschafft?« Ja, habe ich es denn überhaupt geschafft? Meine ehrliche Antwort ist: nein.

An vielen Tagen war der Schmerz zu groß und die Verzweiflung zu tief. Meine Kraft war aufgebraucht, und ich konnte den weiteren Weg nicht mehr sehen. Aber inmitten unserer tiefsten Hilflosigkeit gab es jemanden, der uns mit seiner starken Hand festhielt. Inmitten des Sturms unserer Gefühle wurde uns übernatürlicher Friede geschenkt. Inmitten des Tals der Verzweiflung gab es einen, der uns lebendige Hoffnung gab. Dieser eine ist der Gott der Bibel. Er ist ein starker Gott, der mitfühlt, tröstet und bedingungslos liebt. Er hat mich und uns alle gehalten und hindurchgetragen. Nicht ich oder wir, sondern er hat es geschafft.

Bis hierhin sind wir gekommen und noch immer sind wir auf dem Weg. Wir schreiben dieses Buch im Vertrauen darauf, dass Gott unserer Geschichte ein gutes Ende gibt.

Wir schreiben dieses Buch für dich, wenn Schmerz dich überwältigt, du am Boden liegst und keine Kraft mehr hast. Wenn du unvorstellbar leidest und dich fragst: Werde ich es schaffen?

Wir schreiben dieses Buch für dich, wenn du andere Menschen in Lebenskrisen begleitest, und dabei mit deiner Hilflosigkeit konfrontiert wirst und weißt, dass du diese Person nicht retten kannst.

Wir schreiben dieses Buch für Menschen, die eine Essstörung haben oder dabei sind, in eine hineinzurutschen sowie für ihr gesamtes Umfeld.

Wir schreiben dieses Buch ganz grundsätzlich für Menschen, die durch schwierige Zeiten gehen und dabei mit Gott und seinen Zusagen ringen.

Wir möchten dir sagen: »Du musst es nicht schaffen – nicht allein! Es gibt noch andere, die sich so fühlen wie du. Und es gibt einen Gott, der dir mitten im Sturm die Kraft gibt, weiterzumachen.«

Unser Gebet ist, dass du beim Lesen die Hoffnung schöpfst, dass Gott auch dich nicht verlassen wird. Glaub mir: Gott schafft, was kein Mensch zu schaffen vermag. Unsere Geschichte ist ein lebendiges Beispiel dafür.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. KAPITEL

Herbstgewitter – Die Zeit, in der alles begann

ANFANG 2010 BIS FRÜHJAHR 2013

Respekt, denke ich mit einem zynischen Lächeln, sie haben wirklich an alles gedacht. An absolut alles. Feste Zeiten, zu denen ich allein in meinem sterilen Krankenhauszimmer essen muss. Keine Möglichkeit, meinen Zwängen und Essritualen nachzugehen. Sorgfältige Kontrolle der Abfalleimer, der Schränke, selbst der Privatgegenstände, abgeschlossene Fenster. Keine Möglichkeit, verhasste Butterpäckchen oder fettige Käsescheiben mal eben verschwinden zu lassen. Verbot jeglicher körperlicher Bewegung und zwei große Sichtfenster im Zimmer. Dadurch habe ich keine Möglichkeit, die unfreiwillig aufgenommenen Kalorien durch heimliche Sportübungen wieder abzutrainieren. Abgabe aller potenziell gefährlichen Gegenstände: Rasierer, Nagelpflegeset, selbst der Handspiegel muss weg. Keine Möglichkeit, die inneren Qualen durch äußere Schmerzen zu kompensieren.

Letztlich laufen alle Regeln auf drei Gebote hinaus: liegen, essen, zunehmen. Sonst wird sondiert. Keine Kompromisse, alle Ausflüchte aussichtslos. Wie gesagt: Sie haben an alles gedacht.

Mein Blick wandert aus dem Fenster, doch selbst die Schönheit des Sonnenuntergangs kann mich nicht erfreuen. In Gedanken bin ich wie so oft bei der nächsten Mahlzeit. Der nächsten Herausforderung, der nächsten Überwindung. Die Stille im Raum ist vollkommen, doch umso lauter hallen die immer gleichen Dogmen in meinem Inneren wider: Du darfst nicht essen! Du bist falsch, immer zu viel und niemals genug. Wie können Aussagen so vollkommen unmissverständlich und absolut, zugleich aber so völlig irrational und lügnerisch sein? Ich kenne die Antwort und bin doch vollkommen ratlos.

An diesem Tag erreichte ich einen Tiefpunkt. Mir wurde der Ernst meiner Lage zum ersten Mal in seiner vollen Bedeutung bewusst: Ich war allein, hilflos, entmündigt, eingesperrt in einer Klinik, gefesselt an mein Bett, jeglicher Kontrolle beraubt. Ich erkannte mit schmerzhafter Klarheit, dass mein verzweifelter Wunsch, akzeptiert, angenommen, geliebt und einfach genug zu sein, mich in diesen Zustand getrieben hatte. Es war ein Wunsch, der mich beinahe umgebracht hatte und zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erloschen war. Denn tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich die Kontrolle über meinen Körper und Geist nicht erst heute verloren hatte. Schon vor Langem war sie übernommen worden von etwas anderem – einer Krankheit – oder vielmehr jemand anderem – Ana. Meine Anorexie besaß eine unglaubliche Macht über mein Denken und Handeln, sie war ein abstrakter Begriff mit fast schon physischer Präsenz. Sie schien meine Gedanken aktiv zu beeinflussen, ständig zu mir zu sprechen, in meinem Inneren zu wohnen, zeitweise gar ein Teil von mir zu sein. Deshalb personalisiere ich sie als »Ana«, was keineswegs als Kosename missverstanden werden darf. Vielmehr ist es Ausdruck dafür, dass ich jahrelang einen Kampf austrug, einen Kampf zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Selbstannahme und Selbstzerstörung, zwischen meinem wahren, lebensfrohen Ich und diesem fremden, bedrohlichen Eindringling in mir. Und Ana wollte kämpfen, ihren Platz behaupten, gewillt, alles um sich herum zu verschlingen. In meinem Fall war sie weitaus mächtiger als mein Umfeld ahnte, vielleicht gar heimtückischer, als ich selbst es mir vorstellen konnte. Je weiter sie gedieh, desto rascher ging ich ein. Je mehr Raum sie einnahm, desto schneller verschwand ich. Bis ich eines Tages nur noch ein Schatten meiner selbst war – oder sogar noch weniger als das.

Das Davor – Meine Kindheit

Die Jahre meiner Kindheit sind mir als glückliche Zeit in Erinnerung geblieben. Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass sie für meine Geschwister und mich ein liebevolles Umfeld schufen, in dem wir wohlbehütet aufwachsen durften. Sie folgten Gott mit ganzem Herzen nach und stellten auch unser Leben früh unter seinen Segen.

In diesem Sinne betrachte ich die erfüllte Beziehung meiner Eltern und unseren familiären Zusammenhalt als wahres Geschenk Gottes. Ich durfte mit der tiefen Überzeugung aufwachsen, dass nichts und niemand unsere Familie jemals auseinanderbringen könnte. Sie war meine persönliche Insel, denn egal, wie stürmisch das Meer des Lebens um uns herum wogte, ich glaubte, vertraute, und spürte, dass wir es überstehen würden. Gemeinsam, zusammen. Als Familie, mit Gott auf unserer Seite. Die Gewissheit, dass ich niemals tiefer fallen würde als in ihren Schoß und seine Hand, zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Während meiner unbeschwerten Kindheit nahm ich diese Gewissheit dankbar als Selbstverständlichkeit an, während meiner krankheitsbelasteten Jugend war sie das einzige Bindeglied zwischen mir und dem Leben, und nun als junge Erwachsene spüre ich sie als tiefe Überzeugung in mir.

Ich denke, es war und ist nicht zuletzt die Bereitschaft, offen miteinander zu kommunizieren und sich füreinander Zeit zu nehmen, die unsere Familie so stark macht. Ja, es gab Zeiten, in denen Lügen die Wahrheit übertönten und ja, es gab Momente, in denen ich in mir selbst verschwand, anstatt mich meiner Familie mitzuteilen – doch letztlich haben wir immer wieder zueinandergefunden. Das Gefühl von Geborgenheit, die Gewissheit, geliebt zu werden, und unser gemeinsamer Glaube an Gott hielten uns zusammen und mich am Leben.

Eine Darstellung aller prägenden Kindheitserlebnisse würde zu weit führen, doch ein besonders wichtiger Punkt sei herausgegriffen: meine Rolle in unserer Familie. Im Rückblick erkannten wir, dass sie weitaus mehr mit der späteren Entwicklung meiner Krankheit zu tun hatte, als uns lange bewusst war. Verschiedene Faktoren wirkten zusammen und niemand konnte wissen – geschweige denn wollen –, wohin (uns) dies schließlich führen würde …

Ich wurde am 28. Mai 1998 als zweites Kind meiner Eltern Heidi und Matthias in Hamburg geboren. Eineinhalb Jahre zuvor hatten sie meinen Bruder Julian bekommen, der meine Geburt nicht minder gespannt erwartet hatte. Durch unser gemeinsames Aufwachsen und die bis heute andauernde Weiterentwicklung unserer Beziehung fühle ich mich ihm in ganz besonderem Maße verbunden.

Meine Grundschulzeit war insgesamt eine sorglose Zeit, denn sowohl in sozialer als auch in fachlicher Hinsicht gab es kaum Probleme. Allerdings empfand ich mich stets als durchschnittlich, und irgendetwas daran störte mich. Durchschnittlich. Ich mochte dieses Wort nicht, es nagte an mir. Dass Julian seinem Ruf als Überflieger durch eine übersprungene Klasse, tadellose Grundschulleistungen und den anschließenden Besuch eines altsprachlichen Elite-Gymnasiums alle Ehre machte, verstärkte meine Überzeugung: Von uns beiden war er der Besondere, Begabte, Beliebte, ich hingegen nur die kleine Schwester, in allem ein bisschen weniger gut. Den vollkommen natürlichen Grund dafür sah ich damals nicht: unseren geringen, aber in dieser Entwicklungsphase bedeutsamen Altersunterschied. Alles, was ich gerade lernte – Lesen, Schreiben, Fahrradfahren, Schwimmen … –, konnte er einfach schon (besser). In unserem gemeinsamen Aufwachsen empfand ich uns jedoch als gleichaltrig, sodass ich die unbedenkliche Ursache meiner vermeintlichen Unzulänglichkeit nicht erkannte. Diese Gedanken müssen mich stärker beeinflusst haben als gedacht, sodass die toxischen Vergleiche zu meinen wachsenden Selbstzweifeln beitrugen.

Mit der Geburt meiner ersten Schwester Flavia begann eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Obwohl ich erst zehn Jahre alt war, interpretierte ich dieses Ereignis als Ende meiner Kindheit, zumindest als Ende dieser völlig unbeschwerten und ausgelassenen Jahre. Ich freute mich über meine neue Rolle als große Schwester, verband damit aber automatisch den persönlichen Anspruch, nun auch erwachsen und vernünftig handeln zu müssen. Meine Eltern förderten dieses Streben nach Verantwortung und Selbstständigkeit, was ich grundsätzlich als positiv empfand. Dennoch erinnere ich mich, dass es mir manchmal ein wenig zu schnell ging mit dem Erwachsenwerden. Es war vermutlich eine Wechselwirkung: Ihnen fiel auf, dass ich mich intensiv mit ernsthaften, altersuntypischen Themen auseinandersetzte, weshalb sie meine Interessen und Weiterentwicklung fördern wollten. Ich hingegen nahm wahr, dass sie mir viel zutrauten und auf hohem Niveau mit mir kommunizierten, weswegen ich dem unbedingt gerecht werden wollte. So hatte ich schon früh einen verantwortungsvollen Nebenjob, engagierte mich in mehreren Ehrenämtern, übernahm Aufgaben im Haushalt, kümmerte mich selbstständig um die Versorgung und Finanzierung meiner Haustiere und las Literatur, um die meine Klassenkameraden einen weiten Bogen machten. Unser Umzug in ein größeres Haus, mein Wechsel aufs Gymnasium und meine Pubertät als die Umbruchsphase schlechthin fielen ebenfalls in diese Zeit. Durch Mariellas Geburt 2009 manifestierte sich meine Rolle als große Schwester, mein schulischer Ehrgeiz verstärkte sich fortlaufend, und statt mit meinem Bruder verglich ich mich nun mit den Mädchen aus meiner Klasse. Denn auch die waren – natürlich – intelligenter, sportlicher, beliebter und hübscher als ich …

Ich möchte betonen, wie dankbar ich für die wertvollen Dinge bin, die ich während dieser Zeit lernen durfte. Dennoch: Der Wunsch, meine Eltern stolz zu machen, mein hoher Selbstanspruch und ein ausgeprägter Ehrgeiz überdeckten mein Gefühl der Überforderung, sodass es lange unentdeckt in mir wuchern konnte. Es wuchs heran und war irgendwann so mächtig, dass ich mit allem an und in mir unzufrieden war. Ich fühlte mich seltsam fremd in der Welt und fragte mich vergeblich, wer oder was ich sein wollte. In jedem Fall irgendwie anders und besser, zumindest so viel wusste ich. Als zu dieser inneren Unzufriedenheit und Unsicherheit die Belastungen einer langen Phase des Mobbings hinzukamen, verlangten all die unterdrückten Emotionen und Bedürfnisse nach einer Ausdrucksform, die sich schließlich auch fand. Dass ich damit kein Rettungsseil ergriff, sondern mir eine Eisenfessel anlegte, ahnte ich damals nicht. Niemand tat das.

Wer hätte ahnen können, dass meine Position in der Familie als vermeintlich Zweitplatzierte hinter meinem Bruder und als Vorbild für meine Schwestern zu krankhaft überhöhten Selbstansprüchen führen würde? Wer hätte vorhersehen können, dass grundsätzlich gute Werte sich bei mir in einen ungesunden Hang zum Perfektionismus verwandeln würden? Warum konnte ich das positive Beispiel meiner Eltern nicht dankbar aufnehmen, sondern ließ mich davon verunsichern? All diese Fragen münden in einem großen Warum. Warum die Anorexie? Warum ich? Warum so lange, so schwer, so überwältigend?

Hätte nicht gerade ich alle Voraussetzungen gehabt, das Leben gut zu meistern? Ich habe ein liebevolles Elternhaus, eine tolle Großfamilie, den Glauben und die Gemeinde, Freunde, Versorgung, Bildung, Chancen – und versagte dennoch. Weil ich einfach keine Begründung oder Rechtfertigung für meine Krankheit fand, spürte ich irgendwann nur noch eine überwältigende Schuld: Hätte ich mehr Stärke bewiesen, wäre all das niemals passiert. Ich war überzeugt, selbst an meiner Krankheit schuld zu sein. Mit der Verinnerlichung dieser Gewissheit erschuf ich eine weitere Belastung, die meine Heilung erschwerte.

MATTHIAS

Ich nahm meine gerade erst geborene Tochter zu mir und hob sie an meine väterliche Brust. Noch feucht und schmierig schmiegte sie sich an mich. Mit meinem Mund näherte ich mich ihrem kleinen Öhrchen und flüsterte: »Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden!« Die ersten Worte aus 4. Mose 6,24-26 (ELB), die Ariatani auf dieser Welt hörte, waren Worte des Segens.

Unsere Tochter war ein Wunschkind und kam zur rechten Zeit. Sie war munter und aktiv, fröhlich und lebhaft, bald sehr agil, schlagfertig und lustig. Mit ihrem älteren Bruder verstand sie sich blendend. Der Kindergarten war nicht ihr Fall, aber die Schule machte ihr Spaß, und ihr das Lesen beizubringen, war die beste Idee, die ein Lehrer je haben konnte. Schon in der zweiten Klasse las sie die sieben Bände der »Narnia-Chroniken« von A bis Z durch. Dieses Mädchen wird seinen Weg ins Leben finden, den Herausforderungen ins Gesicht lachen, den Jahren trotzen und eine Freude für andere sein, dachten wir.

Der Vers auf Ariatanis Geburtsanzeige lautete: »Eine größere Freude habe ich nicht als dies, dass ich höre, dass meine Kinder in der Wahrheit wandeln« (3. Johannes 1,4; ELB). Die Wahrheit. Sie zu sprechen und gegenüber unseren Kindern stets ehrlich zu sein, war für uns eine Selbstverständlichkeit. Natürlich legten wir auch ihnen nahe, bei der Wahrheit zu bleiben – auch wenn das mal unangenehm war.

Wichtig war uns auch, mit unseren Kindern über Grundwahrheiten zu sprechen. Wer sind wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir? In der Bibel fanden wir die Antworten, die unser Wesen als Menschen beschreiben, und wir versuchten, Ariatani und unseren weiteren Kindern zu vermitteln:

• Du bist von Gott geschaffen! Du bist kein Produkt des Zufalls, sondern geliebt und gewollt.

• Du bist schön! Gott hat dich als sein Ebenbild ins Leben gerufen.

• Du bist wertvoll! Weil du für Gott wichtig bist, ist es egal, was andere über dich sagen.

• Du bist geliebt! Von uns – und von Gott sowieso.

Allem fremden Gerede und eigenen Selbstzweifeln wollten wir die Wahrheit Gottes entgegensetzen. Was kann ein böses Wort schon anrichten, wenn die Wahrheit Gottes über unserem Leben ausgesprochen ist? Wer soll uns niedermachen können, wenn der Allmächtige uns aufrichtet? Warum sollen wir schlechten Stimmen glauben, wenn wir doch wissen, was unser Gott und Schöpfer über uns denkt? Es war eigentlich ganz einfach. Theoretisch jedenfalls …

Zwischen Selbstzweifeln und Lügen – Die Krankheit schleicht sich an

Herausforderungen lassen dich wachsen, heißt es immer. Es gibt viele Beispiele für die Wahrhaftigkeit dieses Ausspruchs und vielleicht gehört meine Entwicklung dazu. Zumindest habe ich den Eindruck, durch meine Irr- und Umwege achtsamer und toleranter geworden zu sein, demütiger und dankbarer. Letztlich ist die Person, die ich heute bin, ein Produkt all meiner Entscheidungen – und weil ich mich selbst inzwischen endlich annehmen kann, habe ich auch mit den weniger Guten Frieden geschlossen. Doch dieser Weg war allzu anstrengend, und ich hätte mir niemals ausgesucht, auf eine Jugend voller Leichtigkeit und Glück zu verzichten. Denn auch wenn unliebsame Erfahrungen sich mit Gottes Hilfe und viel Zeit in Resilienz verwandeln können, verursachen sie in aller erster Linie Wunden. Diese sorgen für seelische Schmerzen, die sich früher oder später unweigerlich durch körperliche Symptome äußern – schließlich ist der Körper der Übersetzer des Unsichtbaren ins Sichtbare, wie Christian Morgenstern einmal sagte.

Ich habe solche Schmerzen gelitten. Anfangs geleugnet, existierten sie doch. Trotz aller Bemühungen, meine Emotionen auszuschalten, ging bei jedem verletzenden Wort, jedem abfälligen Blick und jeder verinnerlichten Lüge etwas in mir zu Bruch. Mein Herz zersplitterte, und als mein Inneres nur noch aus Scherben bestand, begann ich, mich selbst daran zu verletzen. Am Anfang half es tatsächlich, es betäubte Scham und Selbsthass, überdeckte Furcht und Frustration, bändigte Ärger und Ablehnung – doch eben deshalb entging mir, wie ich langsam, aber sicher die Kontrolle über mein Handeln verlor. Und irgendwann auch den Mut zum Leben.

»Die Zunge kann töten oder Leben spenden« (Sprüche 18,21).

Viele Menschen unterschätzen, welche Wirkung Worte entfalten können, welche Macht die simple Aneinanderreihung von Buchstaben tatsächlich besitzt. So neutral das Werkzeug der Sprache grundsätzlich sein mag, so kann es, entsprechend verfremdet und missbraucht, zur tödlichsten aller Waffen werden. Denn Worte richten einen Schaden an, der vorerst nicht sichtbar und manchmal nicht einmal spürbar ist, sich auf lange Sicht jedoch gefährlicher auswirkt als jede offensichtliche Wunde. Natürlich können wir uns sagen, dass verletzende Aussagen lediglich auf Neid fußen oder schlichtweg nicht ernst gemeint waren. Aber seien wir ehrlich: Ein übler Nachgeschmack bleibt trotzdem zurück, oder? Selbstverständlich können wir versuchen, uns das Ganze nicht zu Herzen zu nehmen. Aber machen wir uns nichts vor: Die Zweifel verfolgen uns weiterhin, oder? »Vielleicht haben die Leute ja doch recht mit dem, was sie über mich sagen. Vielleicht steckt ein Funken Wahrheit dahinter.« Die Saat der Lüge bleibt. Und wenn sie nicht sofort entdeckt und zertreten wird, nistet sie sich ein, sprießt, gedeiht und entwickelt sich zu einer wuchernden Schlingpflanze, die alles Leben um sich herum zu ersticken droht. Es gab eine Zeit, in der ein ganzer Urwald solcher Pflanzen in meinem Inneren heranwuchs, so schnell, dass ein Durchkommen bald unmöglich war. Sie umschlangen mein Herz, bis kein Sonnenstrahl es mehr erreichen konnte – geschweige denn erwärmen. Dabei fing alles ganz harmlos an …

Ich begann die fünfte Klasse voller Optimismus und erlebte während der ersten Monate eine Bestätigung meiner positiven Erwartungen: neue Freundinnen, sympathische Lehrer, gute Noten. Doch es dauerte nicht lange, bis sich Schwierigkeiten abzeichneten. An den konkreten Auslöser der ersten Kommentare kann ich mich nicht mehr genau erinnern – vielleicht, weil es ihn gar nicht gab. Vielleicht hatte ich gar nichts falsch gemacht, zumindest nichts, was eine solche Reaktion erklärt oder entschuldigt hätte. Vermutlich aber spürten die betreffenden Mitschüler, dass ich in mancherlei Hinsicht anders war. Und »anders« wird im schulischen Kontext leider viel zu oft mit »Opfer« gleichgesetzt – zumindest von all den Konformisten, die nach einem solchen Opfer suchen. So war es in erster Linie ein bestimmter Junge namens Jan, der mich zu verspotten begann, stets unterstützt von seiner folgsamen Clique. Dazu nutzten sie Kommentare, die einzeln betrachtet nicht weiter dramatisch waren, in der Summe jedoch wie hunderttausend winzige Nadelstiche in mich eindrangen. Anfangs ging es vorzugsweise um meine ausgezeichneten Noten, dann war es der Charakter und schließlich vor allem Aussehen und Figur – sie fanden immer etwas anderes, etwas noch Verletzenderes. Einmal schrieb ich gerade etwas an die Tafel, als einer dieser Jungen an mir vorbeiging und mir die Worte »Du müsstest echt mal abnehmen« ins Ohr zischte. Vor Scham hielt ich jede mögliche Erwiderung zurück, nicht nur wegen der Aussage selbst, sondern auch aus Angst, die Umsitzenden hätten sie ebenfalls gehört. Gehört, und innerlich zugestimmt, daran zweifelte ich keine Sekunde.

Viele Situationen verschwimmen in meinen Erinnerungen miteinander, doch Ausdrücke wie »fette Kuh« und »Mannsweib« brannten sich unauslöschlich in mein Herz. Ich glaube, dass gerade der letztere Ausdruck mein Schönheitsideal massiv beeinflusste, denn seitdem sie mich so beleidigten, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als zart, zierlich, ja sogar zerbrechlich auszusehen. Während ich mich als Kind selbstbewusst gegenüber anderen behauptet hatte und mutig für meine Meinung einstehen konnte, erschien mir dies nun unnatürlich. Ich wollte nicht so stark und extrovertiert sein, nicht so laut und aufgeweckt, nicht so durchsetzungsfähig und präsent, nicht so »viel«. So durfte ich nicht sein, nicht mehr. Stattdessen wollte ich als fragiles Mädchen wahrgenommen werden, bewundert für mein beherrschtes, behutsames Auftreten. Heute glaube ich, dass meine radikale Abnahme unter anderem ein Versuch war, meine innere Verletzlichkeit nach außen zu tragen: Ich »machte« meinen Körper so schwach und hilflos, wie meine Seele sich fühlte.

Im Laufe der Jahre fragten mich viele Menschen, warum ich nichts gegen dieses Mobbing unternommen habe, warum meine Eltern nicht eingegriffen haben, in all den Jahren! Man hätte doch … Aber wir haben doch!

Wir versuchten alles Mögliche, um die Situation zu verbessern – immerhin prägte die Problematik den Großteil meiner Unter- und Mittelstufenzeit. Zum Ende der sechsten Klasse erhielt die ganze Angelegenheit allerdings eine erhöhte Brisanz, weil Jan Unterstützung von unerwarteter Seite erhielt.

Damals hatte ein anderer Klassenkamerad, Lukas, ein gewisses Interesse an mir entwickelt, und obwohl ich mich davon geschmeichelt fühlte, empfand ich nicht auf die gleiche Weise. Zudem kam es mir ehrlich gesagt unvernünftig vor, in diesem jungen Alter eine Beziehung einzugehen, maß ich ihr doch nur geringe Chancen auf Beständigkeit bei. Ich wollte nicht lediglich »aus Spaß« oder nur für kurze Zeit mit jemandem zusammen sein, sondern mich eines Tages ganz bewusst für eine zukunftsfähige Partnerschaft entscheiden, um anschließend in diese zu investieren. Diese Einstellung und das Fehlen jeglicher romantischen Gefühle für besagten Jungen sorgten dafür, dass ich höflich, aber bestimmt ablehnte, als er mich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wollte. Er bat mich daraufhin, niemandem davon zu erzählen, und da ich diesen Wunsch nachvollziehen konnte, behielt ich die Sache zumindest im schulischen Kontext für mich. Im Laufe der nächsten Wochen fiel mir auf, dass Mitschüler und selbst Leute aus älteren Jahrgängen mich seltsam anstarrten, in meiner Anwesenheit zu tuscheln begannen oder anzügliche Kommentare machten. Ich konnte dies anfangs nicht recht einordnen, bekam dann aber mit, dass Lukas ihnen offenbar eine vollkommen verdrehte Version der Geschichte erzählt hatte: Er hätte mich abgewiesen, ich wäre nicht damit zurechtgekommen. Auch muss er unser erstes, einziges und ziemlich platonisches Date gänzlich falsch dargestellt haben, anders kann ich mir die verletzenden und peinlichen Kommentare, mit denen ich konfrontiert wurde, nicht erklären.

Die ganze Angelegenheit mag unbedeutend erscheinen, eben wie etwas, was ein Haufen pubertierender Teenager nun einmal tut. Doch für mich brach damals eine Welt zusammen. Mein unbeschwerter Glaube, ich müsste mich nur selbst vernünftig verhalten und ehrlich kommunizieren, um kein Opfer von Intrigen zu werden, wurde in diesem Moment zerstört. Ich fühlte mich zutiefst ungerecht behandelt, hilflos und alleingelassen. Gleichzeitig führte ich diese Isolation selbst herbei, da ich mir aus Scham jedes Gespräch verbot, das mir bei der Verarbeitung meiner Erfahrungen hätte helfen können. Natürlich kannte ich das Patentrezept »Reden hilft« – doch ich konnte einfach nicht. Wie sollte ich meinen Eltern nur erklären, was im Anschluss an mein erstes richtiges Date – ein besonderes Ereignis im Leben eines jeden Mädchens – geschah? Ich war doch ihre Tochter, ihr kleines großes Mädchen! Sie durften einfach nicht erfahren, dass man so mit mir umging. Dass ein mir unbekannter Typ kurz nach besagtem Date in der Schule auf mich zukam und mit grenzdebilem Grinsen fragte: »Mit oder ohne Kondom?« – wohlgemerkt mitten in der gut gefüllten Schulcafeteria und nicht gerade leise. Ich dagegen blieb stumm und still, entschied mich zu verharren und zwang mein Herz zu erstarren.

Nach einiger Zeit kamen neue, spannendere Diskussionsthemen auf, sodass die Leute das Interesse an dem Tratsch über mich verloren. Doch der Schaden war bereits angerichtet, seitdem fühlte ich mich in meiner Klasse nie wieder richtig wohl. Irgendetwas hatte sich verändert. Irgendetwas war unwiederbringlich zerbrochen.

Als die Beobachtungsstufe endete, sprachen meine Eltern mit mir über einen Schulwechsel, da sie die Probleme trotz meines Schweigens bis zu einem gewissen Grad mitbekommen hatten. Mir erschien dieser Schritt jedoch zu riskant, denn warum sollte ich davon ausgehen, dass es woanders besser sein würde? Ich befürchtete, mich in eine neue schulische Umgebung nicht integrieren zu können und dort gleichermaßen abgelehnt zu werden. Gleichzeitig machte mir die bald anstehende Neuordnung der Klassen Hoffnung – vielleicht würde in der achten Klasse alles besser werden? Nach besagter Neuordnung musste ich allerdings ernüchtert feststellen, dass das Mobbing weiterging wie zuvor, waren die tragenden Mitschüler doch mit mir in die neue Klasse gekommen. Tatsächlich wurde es sogar noch schlimmer, und irgendwann empfand ich den täglichen Schulbesuch als regelrechten Spießrutenlauf. Mittlerweile bezogen sich die Beleidigungen hauptsächlich auf mein Äußeres beziehungsweise meine Figur, was dazu führte, dass ich jeden Morgen verzweifelt vor dem Kleiderschrank stand und mich selbst für mein Aussehen fertigmachte. In jedem Outfit kam ich mir unförmig, hässlich, plump, dick vor – ich fühlte mich nicht einfach nur unwohl in meinem Körper, sondern entwickelte eine regelrechte Abscheu vor mir selbst. An vielen Nachmittagen kamen mir auf dem Heimweg die Tränen, weil die verletzenden Worte sich wie kleine Widerhaken in meinem Herzen festgesetzt hatten und die höhnischen Stimmen unablässig in meinem Inneren widerhallten. Gleichzeitig schämte ich mich so sehr für die ganze Situation, dass ich kein Wort mehr darüber verlor, hielt ich die Kommentare doch mittlerweile für berechtigt. Zudem wusste ich nicht, was Reden noch hätte bringen sollen. Was hätten meine Eltern schon sagen können, um mir meine Last zu nehmen?

Vielleicht hing mein Schweigen auch mit den Rückmeldungen zusammen, die ich in Reaktion auf anfängliche Erzählungen erhalten hatte. Ja, meine Eltern zeigten viel Verständnis – zeitgleich argumentierten sie aber auch ziemlich rational. Ich muss gestehen, dass ich insbesondere mit der Position meines Vaters – »Berufe dich auf die Wahrheiten Gottes!« – sehr wenig anfangen konnte. Natürlich wusste ich, was er damit meinte, und natürlich glaubte ich grundsätzlich an die biblischen Zusagen. Aber mich selbst als Gottes geliebte Tochter bezeichnen, mich selbst als seine wunderschöne, einzigartige Schöpfung betrachten, mich selbst als genug und richtig bewerten? Das konnte ich schon lange nicht mehr. Und Gott konnte ich auch nicht mehr hören – vielleicht weil er einfach nicht zu mir sprach?

Trotzdem tat ich äußerlich so, als sei alles in Ordnung, und nahm anderen damit die Chance, meinen Schmerz zu sehen. Häufig verleugnete ich ihn sogar vor mir selbst. Nur an manchen dunklen, einsamen Abenden, die ich schreibend in meinem Zimmer verbrachte, erlaubte ich mir, meine Gefühle in ehrliche Worte zu kleiden. »Mein Kopf schreit, doch meine Wut zeigt sich nicht. Mein Herz weint, doch die Tränen kommen nicht. Mein Mund bewegt sich, doch die Worte erklingen nicht. Ich reiße mich zusammen und zerbreche innerlich«, bekannte ich in meinem Tagebuch. Doch eben nur dort. In der Schule zwang ich mich unter Aufbietung all meiner Selbstbeherrschung, eine Maske aus Gleichgültigkeit aufzusetzen, wenigstens bis ich mich in der Pause hinter der Toilettentür verschanzen konnte oder nach dem Unterricht das Schulgelände verlassen hatte. Mit jedem weiteren Tag wuchs in mir die Gewissheit, dass ich die Situation nur verändern könnte, wenn ich selbst mich veränderte – verbesserte. Perfekt, perfekt, perfekt, tönte es wie ein ständiges Mantra in meinem Inneren. Werde perfekt, mach dich unangreifbar und unzerstörbar. Werde perfekt.

Aussichtsloser Kampf

MATTHIAS

Von Anfang an versuchten wir, Ariatani zu ermutigen und Positives in ihr Leben hineinzusprechen. Doch es gab auch die anderen Stimmen. Böse Stimmen. Gehässige Stimmen. Lügnerische Stimmen. Kein Kind hört immer nur Ermutigung. Keine Familie kann einen Kokon um ihre Kinder spinnen, der sie vor allen negativen Einflüssen abschirmt. Wir leben in einer Welt, in der sich viele über die Gefühle anderer keine Gedanken machen und sich nicht überlegen, was sie mit ihren Worten anrichten.

Wie er. Jan. Den Mund voller giftiger Pfeile, die Zunge wie eine Bogensehne, jederzeit bereit, ihre Spitzen in die Gedanken seiner Mitschüler zu treiben. Er trat in das Leben unserer Tochter – irgendwie, irgendwo, irgendwann, als sie elf oder zwölf war. Ihm passte vieles nicht an ihr: ihr Reden, ihre Schulleistungen, ihr Aussehen, ihre Figur. »Du bist eine Angeberin! Du bist hässlich! Du bist zu dick!« Jeden Tag. Immer wieder.

Na und?, dachte ich. Lass ihn doch reden! Du musst doch nicht auf ihn hören. Du weißt doch, was wir über dich sagen und was Gott über dich sagt. Wieso hörst du dem überhaupt zu?