Aus dem Netz gefischt - Petra Mehnert - E-Book

Aus dem Netz gefischt E-Book

Petra Mehnert

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Beschreibung

Ein unbedachter Klick in den sozialen Netzwerken und nichts ist mehr so wie es war im Leben der Studentin Svenja Mangold aus Ottenbach. Als auch noch ihr Vater eines Nachts nicht mehr nach Hause kommt und plötzlich beängstigende Dinge sie und ihre Mutter an den Rand des Wahnsinns treiben, taucht noch jemand auf, der immer dann zur Stelle ist, wenn man ihn braucht. Auch die junge Messermacherin Nora Angerer wird in diesen Fall verwickelt, denn sie und ihr Schäferhund Hasso bekommen ihren ersten Auftrag als Flächensuch-Team. Wird sich Nora auch diesmal wieder in die Ermittlungen einmischen oder werden ihr Freund, der junge Kommissar Joska Kiss und seine Kollegen erfolgreich sein?

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Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.  

Impressum

Petra Mehnert, »Aus dem Netz gefischt«  

www.edition-winterwork.de  

© 2018 edition winterwork  

Alle Rechte vorbehalten.  

Satz: edition winterwork  

Aus dem Netz gefischt  

von Petra Mehnert  

Prolog  

Warum war seine Mutter nur auf diesen bescheuerten Gedanken gekommen, den zehnten Todestag ihres Mannes und seines Vaters zu begehen? Es verging zwar kein Tag, an dem er nicht an seinen geliebten Vater dachte, aber mit dieser Feier wieder an den Selbstmord seines Vaters erinnert zu werden, darauf konnte er wirklich verzichten. Er war damals elf Jahre gewesen und hatte seinen Papa vergöttert. Bis heute wusste er nicht, warum sein Vater sich das Leben genommen hatte. Mit seiner Mutter hatte er darüber nie sprechen können, das heißt, sie war seinen Fragen bisher stets ausgewichen. Ob heute vielleicht der Tag war, um nochmals einen Versuch zu starten, das alles zu verstehen?  

Doch bevor der junge Mann seine Mutter auf die Seite nehmen konnte, erhob diese sich von der Tafel, an der ihre spärliche Familie beisammensaß, und verkündete:  

„Mein Mann hat sich umgebracht, weil er seine große Liebe nicht bekommen hat und stattdessen mit mir vorlieb nehmen musste.“  

 

1  

Wie hingemeißelt lag sie da – aber auch irgendwie verloren auf dem riesigen Himmelbett; die Bikinizonen klar und weiß sich abzeichnend, als hätte sie noch etwas an. So lag sie auf dem Rücken in freudiger Erwartung ihres Liebhabers. Genussvoll seufzend strich sie sanft über ihren makellosen Körper – langsam spreizte sie die Beine …  

„Diese blöde Mücke macht mich noch verrückt!“, rief ich ärgerlich und versuchte, die elende Stechmücke mit meiner schon etwas zerfledderten Fliegenklatsche zu erwischen. Der Schweiß lief mir inzwischen in Bächen herunter – es war schwül und heiß an diesem Juniabend. Heute war es besonders drückend, und wenn man dann auch noch heiße Bettszenen schreiben musste, wurde die Hitze beinahe unerträglich. Diese Plagegeister fanden trotz der Fliegengitter immer irgendwo eine Lücke, um ins Haus zu gelangen. Wenn man schwitzend und von Mücken terrorisiert tippen musste, war das echt eine Qual. Es stand jedoch ein Abgabetermin an den Verlag an und so blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzuschreiben. Doch dann kam mir ein rettender Gedanke: Wozu hatte ich schließlich einen Laptop?  

Da ich wusste, dass meine übervorsichtige Mutter jeden Abend, bevor sie sich selbst schlafen legte, nochmal zu mir ins Zimmer kam, um nach ihrem Kind (ich war schon einundzwanzig!) zu sehen, legte ich ihr einen Zettel hin:  

Ich schlafe heute in der Sauna – mir ist es hier oben einfach zu heiß – schlaf gut und träum was Schönes!  

Svenja  

Ich konnte mir meine Mutter bildlich vorstellen, wie sie den Kopf schütteln und dann in ihr klimatisiertes Schlafzimmer gehen würde. Sie war vor kurzem fünfzig geworden und die Wechseljahre mit den lästigen Hitzewallungen machten ihr natürlich in dieser drückenden Schwüle umso mehr zu schaffen. Ein Glück für die verwöhnte Hausfrau, dass mein Vater als angesehener Anwalt genug Moneten mit nach Hause brachte, um unsere Villa in Ottenbach mit allen Annehmlichkeiten auszustatten – unter anderem eben auch in fast allen Räumen mit einer Klimaanlage. Nur ich hatte mich geweigert. Ich will die verschiedenen Jahreszeiten mit allen Sinnen spüren; obwohl ich heute die Vorzüge eines gekühlten Zimmers zu schätzen gewusst hätte. Aber nun saß ich in unserer geräumigen Sauna und an Schlafen war natürlich nicht zu denken. Da ich als Studentin nur nachts Zeit zum Schreiben hatte, musste ich vor allem in der Schlussphase eines Romans oft nächtelang durcharbeiten. Niemand wusste von meiner Autorentätigkeit, denn ich schrieb meine Erotikromane unter dem Pseudonym Eliza Martini. Dieser Name war mir schon beim ersten Manuskript ganz spontan eingefallen, und mir war von vornherein klar gewesen, dass ich niemals unter meinem eigenen Namen würde schreiben können. Das Gerede in meinem kleinen Heimatdorf wollte ich mir und meiner Familie ersparen. Nicht auszudenken, was wir uns hätten anhören müssen! Mein Vater Olaf Mangold war ein hochgeachteter Anwalt, spezialisiert auf Scheidungsrecht. Meine Mutter Martina war Hausfrau mit Leib und Seele und im Vorstandsteam des örtlichen Motorsportclubs.  

Aus Geldmangel hatte ich ganz sicher nicht angefangen zu schreiben (ich bekam ein recht üppiges Taschengeld). Es geschah eher aus einer Laune heraus, als ich vor drei Jahren kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag einen gleichaltrigen Studenten kennenlernte, der aber leider überhaupt nichts von mir wissen wollte. Aus Frust hatte ich damals meine sexuellen Phantasien zu Papier gebracht, beziehungsweise getippt und als ebook auf einer Selfpublisher-Plattform veröffentlicht. Zunächst noch kostenlos, aber als ich bei dreihundert heruntergeladenen Dateien und zahlreichen positiven Bewertungen angelangt war, hatte ich beschlossen, mir einen ebook-Verlag zu suchen. Ich fand auch relativ schnell einen, der von der Attraktivität meines Pseudonyms überzeugt war. Als Autorenbild hatte ich mir wahllos eines aus Facebook heruntergeladen und nur die Augen- und Haarfarbe mit Photoshop verändert. Das fremde Gesicht hatte nun meine braunen Augen und meine mittelbraune Haarfarbe. Während meine Haare raspelkurz waren, hatte mein Autorenbild eine lange, wellige Haarpracht. Ganz legal war das sicher nicht, aber das war mir gleichgültig, denn mein Eigenes konnte ich auf keinen Fall verwenden. Seither hatte ich schon mehr als zehn erotische Romane geschrieben und dadurch einen ganz einträglichen Nebenerwerb. Natürlich konnte ich mit diesem zusätzlichen Geld nicht bedenkenlos um mich werfen, aber mit reichen Eltern im Hintergrund war es durchaus legitim, zum Beispiel ein Beetle-Cabrio zu fahren.  

Das Einzige, was mich an der Verlagsgebundenheit störte, waren die Abgabetermine, die unbedingt einzuhalten waren. Die brachten mich regelmäßig im wahrsten Sinne des Wortes ins Schwitzen. Gezwungenermaßen versuchte ich es mir nun auf den harten Saunabrettern gemütlich zu machen und mit dem Laptop auf dem Schoß fing ich wieder an zu schreiben. Sollte meine Mutter wider Erwarten doch nochmal nach mir sehen, würde ich behaupten, noch dringend für die Uni etwas recherchieren zu müssen. Für solche Fälle hatte ich immer neben meinem Manuskript noch eine Ebene mit Google geöffnet. Meine erotischen Dateien waren auch nicht auf dem Laptop, sondern nur auf meinem Stick gespeichert, den ich als herzförmige Halskette stets bei mir trug, und von der ich hoffte, dass niemand etwas von ihrem Inhalt ahnen würde. Wenn dieser in falsche Hände geraten würde, wäre ich aufgeschmissen!  

Nun saß ich also hier in dem kühlen Kellerraum in einer Sauna – den Laptop vor der Nase – und mir fiel einfach nichts Erregendes ein, um die angefangene Szene weiter zu schreiben. Das durfte doch nicht wahr sein! Oben in meinem Zimmer war es in den letzten zwei Stunden doch wunderbar gelaufen – die Worte waren nur so aus mir herausgesprudelt, während ich ab und zu durchs Fenster geschaut und mich an dem vertrauten nächtlichen Bild meines geliebten Hohenstaufen erfreut hatte. War das vielleicht der Grund, warum es hier unten mit dem Schreiben nicht klappen wollte? Konnte es sein, dass ich nur was zustande brachte, wenn ich den Hohenstaufen im Blick hatte? Da mir trotz weiterem Überlegen und Grübeln nichts Verwertbares einfallen wollte, dachte ich wirklich kurz daran, wieder nach oben zu gehen. Doch dann kam mir die Idee, mich selbst zu überlisten … ich hatte im Laufe der Zeit unzählige Bilder unseres Ottenbacher Tals und der umliegenden drei Kaiserberge Hohenstaufen, Rechberg und Stuifen gemacht. Ich konnte mir doch auf einer weiteren Ebene diese Bilder mit den verschiedenen  

Himmelsfarben auf den Laptop holen. Um den wie ein Vulkan aussehenden Hohenstaufen rankt sich die gleichnamige Ortschaft und je nach Sonnenstand und Beleuchtung sieht das Wahrzeichen unseres Göppinger Landkreises immer wieder anders aus. Ohne meinen täglichen Blick hinauf zu unserem Hausberg konnte ich nicht leben, zumindest vermisste ich es, wenn ich nicht zuhause war. Ich ließ meine Bilder nacheinander durchlaufen und es half tatsächlich! Nach nur circa zehn Hohenstaufen-bei-Sonnenuntergang-Bildern kam ich endlich wieder in Schreibschwung und die Finger flogen wie gewohnt über die Tastatur. Hoch lebe das Zehn-Finger-Schreibsystem, welches ich von meiner Mutter gelernt hatte. Wobei wir beide der einhelligen Meinung sind, dass diese Fertigkeit unbedingt in den Schulen beigebracht werden sollte. Denn … gab es heute überhaupt noch irgendeinen Beruf, bei dem man nicht auf einer Computer-Tastatur schreiben musste? Und je schneller und sicherer man das Tippen beherrschte, desto mehr wertvolle Arbeitszeit konnte man sparen. Ob ich überhaupt Autorin geworden wäre, wenn ich nicht so schnell hätte tippen können … ich weiß es wirklich nicht.  

 

2  

„Eliza“, hauchte er und hielt sein Gesicht dabei ganz nahe an seinen riesigen Bildschirm, so als könne er seiner Angebeteten dadurch noch näher sein. „Zu so später Stunde bist du noch online … kannst du auch nicht schlafen?“  

Wie gerne hätte er ihr die Worte persönlich gesagt oder wenigstens über den Facebook-Chat mit ihr ausgetauscht – doch bis heute hatte er sich das nicht getraut. Jedes ihrer Bücher hatte er bisher verschlungen und alle bereits mehrfach gelesen, er konnte sie beinahe auswendig. Aber noch nie hatte er sich dazu durchringen können, ihr eine Nachricht zu schicken. Sie hatte zwar keine private Seite, aber auch über ihre Autorenseite konnte man ihr eine Nachricht schicken. Doch was hätte er ihr schon schreiben sollen? Dass er rettungslos in sie verliebt war und sie unbedingt kennenlernen wollte? Dass er ohne sie nicht mehr leben konnte und zu gerne all das mit ihr erleben wollte, wovon sie immer schrieb? Ob sie wohl ihr eigenes Bild ins Netz gestellt hatte? Es war auf allen Plattformen der sozialen Netzwerke dasselbe Foto, aber es war dennoch aufregend, sich vorzustellen, dass sie vielleicht doch ganz anders aussah. In seiner Fantasie hatte sie wallendes rotes Haar, grüne Augen und üppige Rundungen. Er versuchte sich immer wieder einzureden, dass das Bild im Internet nicht ihres war oder zumindest irgendwie verändert worden war. Leider konnte man auf ihrem Profil gar nichts Persönliches über sie herausfinden – weder ihr Alter noch wo sie wohnte oder welchen anderen Hobbys sie nachging. Sie postete auch keine privaten Bilder oder Aktivitäten. Es ging ausschließlich um ihre Bücher – was ja in Ordnung war – aber ihm reichte es nicht! Wie konnte er nur mehr über sie in Erfahrung bringen? Vielleicht sollte er doch endlich über seinen Schatten springen und ihr heute noch eine Nachricht schicken?  

Bei diesen Überlegungen kam dem jungen Mann noch ein weiterer Gedanke: War „Eliza Martini“ überhaupt ihr richtiger Name? Irgendwie konnte er das nicht recht glauben – dieser Name war zu perfekt für eine Erotik-Autorin. Je mehr er sich mit seiner Angebeteten beschäftigte, desto drängender wurde sein Wunsch, endlich mit ihr in Verbindung zu treten, wenn es zunächst auch nur virtuell war. Er musste endlich den ersten Schritt tun. Nach den vielen Büchern und den vergangenen Jahren war er inzwischen an einem Punkt angelangt, wo er nicht mehr passiv bleiben konnte. Er musste jetzt aktiv werden und versuchen, sie zu erreichen. In seinen kühnsten Träumen schaffte er es sogar, dass sie sich ebenfalls in ihn verliebte.  

„Aber das kann sie nicht, wenn du nicht endlich den Mumm hast, ihr zu schreiben!“, schalt er sich selbst und legte mit zittrigen Fingern seine Hände auf die PC-Tastatur. Gerade, als er anfangen wollte zu schreiben, sprang sein riesiger getigerter Main-Coon-Kater auf die Tastatur und schrieb:  

„ßüpjmn654a<y“ und Kevin schickte beim Hochnehmen seines vorwitzigen Katers die Nachricht auch noch aus Versehen ab.  

„Mist!“, entfuhr es ihm entsetzt. „Was hast du nur gemacht, Django? Was soll Eliza nun von mir denken?“ Dennoch kraulte er seinen Liebling, der sich auf seinen Schoß gekuschelt hatte, gedankenverloren hinter den Ohren. Dabei kam ihm eine Idee und mit einem Ruck sprang er auf, wobei die arme Katze mit einem erschrockenen Maunzen auf dem Boden landete.  

„Wo ist mein Handy?“, fragte Kevin zu Django blickend, als hätte dieser eine Ahnung, wo sein Herrchen seinen ständigen Begleiter wohl hingelegt haben könnte. Nach hastigem Suchen und Durchwühlen seines zugemüllten Schreibtisches fand er sein Smartphone endlich und hielt es sofort nach einigem Wischen seinem Kater vor die Nase.  

„Bitte lächeln!“, rief er und drückte ab, bevor das Tier auf die Idee kommen konnte, wegzulaufen. Dieses Bild erschien Kevin immens wichtig und umgehend schickte er das Bild seiner Katze der verstümmelten Nachricht hinterher. Noch hatte Eliza nicht geantwortet, obwohl er erkennen konnte, dass sie die Nachricht bereits gelesen hatte. Wenn er sich nicht sehr in ihr täuschte, würde sie auf das Katzenbild reagieren. Schnell tippte er noch hinterher:  

„Sorry! Ich wollte dich nicht erschrecken!“  

Dann wartete er …  

 

3  

„Nettes Kätzchen“, murmelte ich, als nach dieser seltsamen Nachricht das Bild einer getigerten Katze erschien. Der Absender war ein Nevik Prumk und als Profilbild hatte er – oder sie – einen hohen, schmalen Kaktus. Sollte ich antworten? Vielleicht war es ein begeisterter Leser, der auch nicht erkannt werden wollte, sich also nicht als Erotikleser outen, aber dennoch mit mir in Verbindung treten wollte? Was konnte es schaden, zu antworten? Ich brauchte sowieso dringend eine Pause. Es war inzwischen vier Uhr früh und mir taten alle Knochen weh. Die paar Kissen, die ich mir unter den Hintern und in den Rücken gestopft hatte, hatten nicht lange gegen die Härte der Holzbänke geholfen. Manchmal wünschte ich mir wirklich, ich hätte ein paar Pfunde mehr auf den Rippen, beziehungsweise am Po, dann würde ich nicht immer auf meinen Knochen sitzen müssen. Gut – eine gute Muskulatur würde da auch helfen, aber ich hatte wegen der vielen Lernerei und Schreiberei einfach keine Zeit für Kraftsport. Ich war schon glücklich, wenn ich es einmal in der Woche schaffte, zu Nora Angerer ins Hip-Hop-Training zu gehen. Zu meinem geliebten Salsatanzen kam ich schon seit Monaten nicht mehr.  

Während ich mir eine passende Antwort überlegte, ging ich kurz raus in unseren Hobbyraum, wo jede Menge Fitness- Geräte herumstanden. Lustlos stellte ich mich auf das Wackelbrett und versuchte ein paar halbherzige Kniebeugen. Da ich das schon lange nicht mehr gemacht hatte, klappte es natürlich nicht und ich kippte nach hinten runter. Zum Glück stand der Fahrrad-Hometrainer direkt daneben und ich konnte mich dort festhalten. Trotzdem stieß ich mir das Knie an dem blöden Ding, worauf ich fluchend zu dem Katzenbild zurückging. Genervt tippte ich eine Antwort:  

„Welche komische Sprache sprichst du denn, du hübsche Katze … oder Kater?“  

Eigentlich rechnete ich gar nicht mit einer Antwort, doch diese kam fast postwendend:  

„Maincoonisch.“  

„Aha. Das sagt mir zwar was, aber ich spreche diese Sprache leider nicht. Wenn du also keinen Übersetzer hast, müssen wir die Unterhaltung leider gleich wieder beenden. Gute Nacht, schöner Kater … oder Katze?“  

„Kater … und mein Name ist Django, und wie du siehst, habe ich einen Translator!“  

Sehr witzig, dachte ich, aber dennoch fing das Ganze an, mir irgendwie Spaß zu machen und es hielt mich zudem wach. Die Ablenkung konnte ich gerade auch gut gebrauchen, denn ich hing wiedermal an einer besonders heiklen Szene fest.  

„So, so … Django heißt du also. Sehr verwegener Name. Bist du das auch?“  

„Und wie! Du müsstest mich mal kennenlernen …“  

Gegen das Kennenlernen einer Katze hatte ich nichts einzuwenden, wenn da nicht der Besitzer oder eine Besitzerin wäre. Wer auch immer es sein mochte.  

„Erzähl mir einfach was von dir, dann lerne ich dich kennen“, forderte ich mein virtuelles Gegenüber auf.  

„Nun ja … also … ich bin ein Main-Coon-Kater, bin acht Jahre alt und wiege zwölf Kilo.“  

„Zwölf Kilo?“, schrieb ich ehrlich entsetzt. „Dann musst du aber aufpassen, wenn du auf den Bauch deines Besitzers springst!“  

„Der hält das aus und übrigens … ich habe keinen Besitzer – ich bin freiwillig bei ihm!“  

So kann man das auch sehen, dachte ich und war fürs Erste bereit zu glauben, dass mein Nachrichtenschreiber tatsächlich männlich war. Irgendwie schon aufregend, wenn man nicht wusste, wer oder was da am anderen Ende der Leitung saß.  

„Dein Dosenöffner hat aber einen seltsamen Namen: Nevik. Woher kommt dieser Name?“, wollte ich wissen, obwohl ich mir denken konnte, dass dieser Name irgendein Fake-Name war.  

„Keine Ahnung … aber du hast einen wunderschönen Namen … Eliza!“  

„Danke. Liest dein Herrchen meine Bücher?“, fragte ich und wollte damit die Unterhaltung in Bahnen lenken, die mich wirklich interessierten.  

„Ja sicher! Er ist ein ganz großer Fan von dir und er würde dich gerne näher kennenlernen ;-)!“  

Das glaube ich dir gerne. Aber ich ihn nicht, dachte ich, schrieb aber:  

„Das schmeichelt mir natürlich sehr und wir können uns gerne ein andermal hier auf Facebook unterhalten, aber jetzt muss ich dringend an meinem nächsten Buch weiterschreiben! Gute Nacht und grüß mir dein Herrchen!“  

Das „Herrchen“ hatte ich mir nicht verkneifen können und war nun gespannt auf eine Antwort. Es kam jedoch keine und ein paar Minuten später hatte ich diese seltsame Unterhaltung schon wieder vergessen und war wieder in meinem Text versunken.  

 

„Mama!“, kreischte ich und vor Schreck rutschte mir beinahe der Laptop vom Schoß. Hastig griff ich danach, wobei ich ihn reflexartig zuklappte. Nur einen kurzen Moment verschwendete ich an den Gedanken, wann ich das letzte Mal zwischengespeichert hatte, denn das entsetzte Gesicht meiner Mutter machte mir Angst. Hatte sie etwas gelesen? Ertappt versuchte ich etwas zusammenzustammeln, von wegen Recherchen für die Uni, aber sie ließ mich gar nicht ausreden.  

„Dein Vater ist nicht nach Hause gekommen!“  

Mein Vater? Das sagte sie sonst nur, wenn sie sich über ihn geärgert hatte. Aber ihr ängstlicher Blick spiegelte ihre wahren Gefühle wider.  

„Was? Warum?“, stammelte ich dümmlich. „Wie spät ist es überhaupt?“, war dann das Erstbeste, was ich wissen wollte, denn während des Schreibens war mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.  

„Kurz nach fünf!“, klärte mich meine Mutter mit anklagender Stimme auf, wobei sie sich ermattet auf die harte Saunabank fallen ließ.  

„Vielleicht musste er schon früher in die Kanzlei?“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.  

„Mit dem Mopsi?“, fragte Mama entgeistert, was mich zu einem entsetzten „Der ist auch weg?“ veranlasste.  

„Ja und Papas Bett ist unberührt. Die beiden sind nach ihrem nächtlichen Gassigang gar nicht nach Hause gekommen!“  

„Vielleicht hat er was Wichtiges in der Kanzlei vergessen und ist mit Mopsi noch mal hingefahren. Du weißt doch, dass er manchmal die Zeit vergisst, wenn er sich in einen Fall verbissen hat!“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.  

„Hier!“ Damit hielt sie mir unser tragbares Telefon vor die Nase. „Ruf an!“  

„Warum ich?“, fragte ich und merkte sofort, wie zickig das geklungen hatte. Hatte sie Angst, dass er ungehalten reagieren könnte, wenn man ihn bei der Arbeit störte?  

„Ich will nicht als hysterische Ehefrau dastehen und mir anhören müssen, dass ich ihm nachspioniere!“, erklärte sie mir und zum ersten Mal hörte ich aus ihren Worten eine gewisse Spitze heraus. Bisher war ich, vielleicht auch automatisch, davon ausgegangen, dass das Verhältnis meiner Eltern von gegenseitigem Vertrauen und Rücksichtnahme geprägt war. Nun konnte ich vor allem an ihrem leicht gereizten Tonfall doch eine gewisse Verärgerung heraushören. War es etwa schon öfter vorgekommen, dass sie sich Sorgen machte, ob mein vielbeschäftigter Vater wirklich arbeitete, wenn er wie so oft behauptete, noch länger in der Kanzlei zu tun zu haben?  

Bei diesen Erwägungen zog sich mein Magen schmerzlich zusammen. Ich wollte nicht glauben, dass unsere bisher so heile Welt ins Wanken geraten könnte. Bisher hatte ich mir nur um mich selbst Gedanken gemacht und in keiner Weise auch nur in Erwägung gezogen, dass auch meine Eltern ihre Probleme haben könnten. Unser Familienalltag war klar strukturiert und fast minutiös durchgeplant. Wir frühstückten jeden Tag um sieben Uhr gemeinsam, wobei mein Vater immer erst die Zeitung überflog, für ihn wichtige Artikel konzentriert las und dabei auf keinen Fall gestört werden durfte. Danach fragte er uns nach unseren Tagesplänen und gab meistens seine belehrenden und in seinen Augen wichtigen Kommentare ab. Bevor wir ihm nicht signalisiert hatten, dass wir ihm zugehört und auch alles verstanden hatten, ließ er uns nicht gehen. Auch wenn das bedeuten konnte, dass ich zu spät zur Uni kam oder meine Mutter einen wichtigen Termin verpasste. Das war allerdings schon länger nicht mehr passiert, denn wir wussten inzwischen, wie wir zu reagieren hatten. Ich muss leider zugeben, dass die Anmerkungen und Hinweise meines Vaters meist nicht von der Hand zu weisen waren. Aber vielleicht tat meine Mutter nur immer so verständnisvoll und auch irgendwie demütig, weil sie einfach nur ihre Ruhe haben wollte? Obwohl sie sicher nicht jedes Mal einer Meinung mit ihrem Mann war. Doch das war ja momentan nicht das Problem und so ergriff ich mit genervtem Augenaufschlag das Telefon. Die mit der Kurzwahltaste „Eins“ gewählte Nummer der Kanzlei in Göppingen ließ aber leider den dortigen Anrufbeantworter erklingen, was meine Mutter auch vernahm, da ich auf „laut“ gestellt hatte.  

„Ruf ihn! Er wird es hören und drangehen!“, meinte meine Mutter bestimmt, als hätte sie das schon öfter so gemacht. Artig rief ich in den Hörer und dann warteten wir. Doch auch nach mehrmaligem Rufen ging mein Vater nicht an den Apparat. Was hatte das nun zu bedeuten?  

„Ist er doch nicht da oder hört er mein Rufen nicht?“  

„Wir müssen hinfahren!“, entschied meine Mutter und sprang dabei voller Tatendrang auf.  

„Meinst du nicht, wir sollten einfach noch warten?“, fragte ich nun doch unsicher geworden. Würde es nicht etwas seltsam rüberkommen, wenn wir meinem Vater so nachstellten? Was, wenn er tatsächlich über irgendwelchen wichtigen Akten brütete und wir ihn dabei störten? Kam es nicht einem Vertrauensbruch gleich, wenn wir einfach so bei ihm aufkreuzten? Doch dann fiel mir noch etwas ein.  

„Hast du es schon auf seinem Handy versucht?“  

„Du weißt doch, dass er es auf seinen nächtlichen Spaziergängen nie mitnimmt. Es liegt auf seinem Nachttisch“, sagte sie fast vorwurfsvoll und bei ihren Worten wurde es mir nun doch etwas mulmig. Denn wenn er wirklich in die Kanzlei gefahren war, hätte er sein Handy doch bestimmt mitgenommen … oder hatte er es einfach nur vergessen? Mit diesen Gedanken versuchte ich meine Mutter zu beruhigen, was mir aber nicht gelang. Sie ließ sich nicht davon abbringen, zu ihm fahren zu wollen.  

„Dann fahren wir gemeinsam, Mama!“, entschied ich kurzerhand und das aus zwei Gründen: Erstens wollte ich nicht, dass sie allein mit einer der zwei Möglichkeiten konfrontiert wurde und zweitens wollte ich bei ihr sein, wenn sie herausfand, dass er entweder in der Kanzlei war oder eben nicht. Wenn er dort war, wollte ich verhindern, dass sie ihm eine Szene machte, weil er sich nicht bei ihr abgemeldet hatte und wenn er nicht dort war … ja dann … dann wusste ich momentan auch nicht, was wir weiter unternehmen sollten.  

„Ich zieh mir nur rasch was Ordentliches an!“, entschied sie und rannte - was für sie gänzlich unüblich war - hinaus aus den Kellerräumen. Ich klappte hastig meinen Laptop wieder auf und stellte beruhigt fest, dass mein Dokument automatisch gespeichert worden war. Schnell zog ich den Stick heraus und klickte ihn in meine Halskette ein. Auch ich stürmte dann hinauf in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Mein Vater konnte es nicht ausstehen, wenn wir unordentlich gekleidet auf die Straße gingen. Ich hörte meine Mutter sogar noch im Bad ihre Haare bürsten und ich musste grinsen – unser Vater hatte uns beide wirklich derart im Griff, das war eigentlich nicht zu fassen!  

Ein paar Minuten später saß ich am Steuer von Mutters Porsche Cayenne, denn ihr hätte es zu lange gedauert, wenn wir erst das Verdeck meines Beetles hätten schließen müssen. Doch selbst fahren wollte sie auch nicht, dazu war sie viel zu aufgeregt. Ich war gar nicht erst gefragt worden und so durfte ich ausnahmsweise mal ihren geliebten Wagen fahren. Wenn es nicht so einen ungewöhnlich ernsthaften Grund gegeben hätte, hätte ich mich darüber sehr gefreut. Aber nun konzentrierte ich mich ausschließlich auf die Straße und vergaß dabei völlig, den leise vor sich hinschnurrenden Motor, das ruhige Laufgefühl und die mörderisch vielen PS zu genießen. Bei den leeren Straßen zu so früher Stunde waren wir so schnell in der Göppinger Innenstadt, dass es mir vorkam, als wären wir geflogen. Wir fanden auch sofort in der Nähe der Kanzlei einen Parkplatz, was zu späterer Stunde sicher problematischer geworden wäre.  

„Hast du eigentlich einen Schlüssel?“, fragte ich einer plötzlichen Eingebung folgend, denn was sollten wir machen, wenn sie keinen hatte? Papa könnte ja auch mit einem Herzinfarkt in seinem Büro liegen! Bei diesen neuen Gedanken wurde es mir plötzlich eiskalt und ich hoffte inständig, dass ich diesen nicht würde laut aussprechen müssen. Doch leider schüttelte sie den Kopf, drückte dabei aber entschlossen auf die Klingel. Mit klopfendem Herzen warteten wir beide und mir kam es tatsächlich so vor, als würde ich nicht nur mein eigenes hämmern hören. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis eine zaghafte Stimme aus dem Lautsprecher zu hören war.  

„Wer sein da?“  

„Mangold!“, bellte meine Mutter und beugte sich nahe an die Sprechanlage herunter. „Ist mein Mann da?“  

„Herr Mangold?“, fragte die Stimme so erstaunt, als wäre das etwas total Ungewöhnliches.  

„Ja, verdammt nochmal!“, keifte meine arme Mama und mir tat die Frau am anderen Ende sofort leid. Bevor ich einschreiten konnte, schrie meine Mutter:  

„Wer sind Sie überhaupt?“  

„Entschuldigen … ich sein nur Putzfrau! Ich haben was falsch gemacht?“  

„Nein, nein!“, griff ich ein, bevor meine Mutter noch etwas Unfreundliches blaffen konnte. „Mein Vater ist also nicht da?“  

„Nein, so früh er nie da. Ich immer alleine sauber machen!“, kam es schüchtern von der für meine Ohren sehr jungen Stimme. Doch meine Mutter zischte mir ins Ohr:  

„Du glaubst ihr doch nicht, oder? Er ist bestimmt da oben und vergnügt sich mit dem jungen Ding!“  

„MAMA!“, rief ich entsetzt, was das „junge Ding“ veranlasste, erschrocken aufzukreischen und plötzlich ging der Summer. Augenblicklich drückte meine Mutter dagegen und lief so schnell in Richtung Treppenhaus, wie ich sie noch nie hatte rennen sehen. Ich kam ihr kaum hinterher!  

„Mama! So warte doch!“, rief ich überflüssigerweise und hastete ihr nach. „Willst du dich wirklich als hysterische Ehefrau outen?“ Das war ein kläglicher Versuch meinerseits, sie zur Vernunft zu bringen. Wie würde das rüberkommen, wenn meine Mutter wie eine Furie in die Kanzlei stürmte? Aber anscheinend war ihr das total egal - unvermindert nahm sie zwei Treppen auf einmal, was mir einen gewissen Respekt abnötigte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie so fit war! Aber wahrscheinlich verlieh ihr nur ihre Wut oder die Ungewissheit die nötige Kondition. Im dritten Stock angekommen schnaufte sie dann doch hörbar und ich konnte mir ein boshaftes Grinsen nur mit Mühe verkneifen. Vor der immer noch geschlossenen Türe blieb sie dann doch wie angewurzelt stehen, so als wolle sie nun gar nicht mehr erfahren, was sich hinter dieser abspielte. Entschlossen schob ich mich an ihr vorbei und klingelte nochmals. Sofort wurde die Türe aufgerissen und eine junge Frau mit Kopftuch schaute vorsichtig heraus. Sie trat auch gleich hastig zur Seite, als hätte sie Angst vor uns. Nun musste ich doch lächeln, während meine Mutter ohne ein weiteres Wort an dem verängstigten Mädchen vorbeilief und in Richtung Vaters Arbeitszimmer stürmte. Entschuldigend zuckte ich die Schultern und setzte eine leicht belustigte Mine auf.  

„Mein Vater hat vergessen uns Bescheid zu sagen, dass er noch etwas vorhatte und nun denkt meine Mutter, dass er hier ist“, versuchte ich eine etwas lahme Erklärung. Doch mein Gegenüber schüttelte dabei vehement den Kopf.  

„Herr Mangold sein nicht hier!“, sagte sie mit Nachdruck und ich glaubte ihr sofort. Warum sollte sie uns anlügen? Doch dann regte sich meine Autorinnen-Fantasie … Vielleicht war er zwar jetzt nicht mehr hier, war es aber bis zu unserem Eintreffen noch gewesen! Er hatte immerhin die Möglichkeit gehabt, während wir durchs Treppenhaus gejagt waren, mit dem Aufzug nach unten zu fahren. Diese Gedanken musste wohl auch meine Mutter inzwischen gehegt haben, denn sie kam mit wütendem Blick zurück.  

„Er ist bestimmt mit dem Aufzug runter!“, kreischte sie und wollte an mir vorbeistürmen. Ich hielt sie jedoch am Arm zurück und durch ihren eigenen Schwung wurde sie fast von den Füßen gerissen. Mit einem Aufschrei konnte ich sie gerade noch auffangen, bevor sie gegen die Türe geknallt wäre. Außer Atem standen wir dann eng umschlungen da und ich hielt sie einfach nur fest. Dabei versuchte ich, sie zu beruhigen.  

„Mama! Nun überleg doch mal genau! Wenn Papa wirklich hier gewesen wäre, dann hätten die beiden uns doch ganz sicher gar nicht erst aufgemacht! Sie hätten sich einfach ruhig verhalten und wir hätten nichts machen können! Schau dir die Kleine doch an, die ist total verängstigt wegen uns und du glaubst doch nicht wirklich, dass sie und Papa hier ein Schäferstündchen hatten!“  

Ich hatte sie bei meinen Worten etwas von mir weg geschoben und schaute ihr nun direkt in die Augen. Langsam schüttelte sie den Kopf und sah die junge Frau, die immer noch neben der Türe stand, nun fast schon mitleidig an.  

„Entschuldigung!“, rang sich meine Mutter mühsam ab.  

„Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Wir gehen dann besser wieder!“, sagte sie ohne weitere Erklärung und die Putzfrau suchte fast schon panisch das Weite, indem sie hinter der nächstbesten Türe verschwand.  

Als wir schließlich wieder vor Mamas Porsche standen, fragte ich sie, was wir nun tun sollten.  

„Vielleicht ist er inzwischen ja auch schon wieder zuhause. Wo immer er auch gesteckt haben mag“, meinte meine Mutter ohne große Überzeugung und auch mir fiel nur eine Alternative ein und die gefiel mir gar nicht. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, murmelte sie mehr zu sich selbst:  

„Er betrügt mich!“  

„Das glaube ich nicht, Mama!“, erwiderte ich automatisch, obwohl mir genau die gleichen Gedanken im Kopf herumschwirrten und mir das Ruhigbleiben erschwerten. Doch diese Überlegungen verdeckten wenigstens die andere Möglichkeit, die so ungeheuerlich war, dass ich sie nicht mal zu Ende denken mochte. Leider tat meine Mutter das für mich, indem sie leise sagte:  

„Dann ist ihm etwas zugestoßen!“  

„Solange wir nichts wissen, sollten wir uns keine solchen abwegigen Gedanken machen, Mama! Vielleicht ist alles ganz harmlos, wir können uns im Moment vor lauter Sorge nur keine weitere Alternative vorstellen. Komm – fahren wir nach Hause, vielleicht ist er ja wirklich schon da“, sagte ich überzeugter, als ich war. Denn wenn er tatsächlich – von wo auch immer – heimgekommen war, musste er doch sofort gemerkt haben, dass Mama nicht in ihrem Bett lag und wir beide zu so früher Stunde nicht mehr zu Hause waren. Er hätte uns doch ganz bestimmt sofort auf einem unserer Handys angerufen. Bei dieser Überlegung schaute ich sofort alarmiert auf mein Display, doch ich hatte mein Handy auf der höchsten Lautstärke stehen und sehr guten Empfang. Wenn er also gewollt hätte, hätte er mich auf jeden Fall erreichen können. Zur Sicherheit forderte ich meine Mutter auf, auch ihr Handy zu kontrollieren, doch auch sie hatte keine Nachricht und keinen entgangenen Anruf.  

„Eigentlich können wir gleich zur Polizei gehen, Svenja. Den Weg nach Hause können wir uns sparen. Wenn er daheim wäre, hätte er sich schon längst gemeldet. Denn was würde er denken, wenn seine Frau morgens um fünf nicht mehr in ihrem Bett liegt und auch die Tochter mitten in der Woche so früh schon aus dem Haus ist?“  

„Da hast du schon recht, Mama. Aber trotzdem würde ich lieber zu Hause nachsehen.“ Warum ich das wollte, konnte ich ihr aber nicht sagen, denn dann hätte sie sich nur noch mehr aufgeregt. In meiner Phantasie schleppte sich mein armer Vater nämlich gerade nach einer Herzattacke mit letzter Kraft nach Hause, wo er dann zusammenbrach! Er konnte sich also gar nicht bei uns melden!  

„Steig schon ein, Mama!“, forderte ich meine Mutter in einem solch strengen Tonfall auf, dass sie entsetzt die Augen aufriss, dann aber doch nichts erwiderte und folgsam einstieg. Mit quietschenden Reifen fuhr ich los, was mir zwar sofort peinlich war, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Viel schneller als erlaubt, und es normalerweise meine Art war, fuhr ich zurück nach Hause. Mit äußerst gemischten Gefühlen stürmte ich durch die Garage ins Haus, meine Mutter mir dicht auf den Fersen.  

Wollte ich wirklich, dass mein Vater plötzlich doch wieder zuhause war? In Variante eins kam er von einer Geliebten und in zwei lag er bewusstlos irgendwo und rang mit dem Tod oder er war schon …  

„Nein!“, rief ich und rannte von Zimmer zu Zimmer, von einem Stockwerk ins nächste und auch den Keller ließ ich nicht aus. Meine Mutter tat wohl das Gleiche, nur in anderer Reihenfolge. Wir liefen uns immer wieder in den Gängen über den Weg, ohne zu hinterfragen, wie sinnlos die ganze Aktion war. Doch irgendwann fanden wir uns im Wohnzimmer zusammen: keuchend, ratlos und den Tränen nahe, und in diesem Moment drang ein klägliches Jaulen von draußen an unsere Ohren …  

„Mopsi!“, kreischten wir im Chor und meine Mutter, die näher an der Terrassentüre gestanden hatte, riss diese auf und stürmte nach draußen. Ich folgte ihr und da sah ich sie auf dem Boden kauern, mit unserem dicken Mops in den Armen. Sie erdrückte ihn fast und wiegte ihn weinend hin und her.  

„Mopsi, mein armer Mopsi!“, schluchzte nun auch ich auf, weil ich mich einerseits so sehr freute, dass er wieder da war, aber andererseits auch nicht wusste, ob er verletzt war und warum er alleine hier angekommen war. Wo war mein Vater?  

„Wo hast du nur dein Herrchen gelassen, Mopsilein?“, jammerte nun auch meine Mutter, wobei sie anfing, ihn etwas von sich weg zu halten und ihn gründlich zu untersuchen. Inzwischen war es schon hell genug, es musste so kurz vor sechs sein und der morgendliche Verkehr hatte vor kurzem eingesetzt. Nicht, dass das störend gewesen wäre, aber hier in unserem abgelegenen Tal war es nachts so ungemein ruhig, dass einem die ersten Autos am Morgen ungewöhnlich laut erscheinen konnten.  

„Ist er verletzt? Ihm geht`s doch gut, oder?“, fragte ich besorgt, denn meine Mama kannte ihren alten Hund wesentlich besser als ich. Sie versorgte ihn ja von Anfang an rund um die Uhr, während Papa und ich uns nur selten um ihn gekümmert hatten. Mein Vater hatte einfach zu wenig Zeit und ich konnte mit Hunden nicht viel anfangen. Ich war eher der Katzentyp, aber Mama hatte eine Katzenhaarallergie und somit war dieses Thema schnell erledigt gewesen. Wie musste sie sich nun fühlen bei den Sorgen um ihr „zweites Kind? Ihre nächsten Worte ließen mich jedoch erleichtert aufseufzen.  

„Ihm fehlt nix, soweit ich das beurteilen kann. Er scheint nur ziemlich k.o. zu sein. Wo warst du nur, du armer kleiner Kerl und wo hast du meinen Mann gelassen?“, fragte sie in einem Tonfall, als müsse der Hund ihr auf jeden Fall eine Antwort darauf liefern. Doch dieser wand sich nur aus ihrer Umklammerung und tapste schwerfällig in die Küche zu seinem Wassernapf. Wir liefen natürlich sofort hinterher und Mama stellte ihm wie immer sofort etwas zum Fressen hin. Doch diesmal stürzte er sich nicht darauf, sondern verkrümelte sich nach ausgiebigem Schlabbern völlig ermattet in sein Körbchen.  

„Und jetzt?“, fragte Mama und ließ sich resigniert in ihren Lieblingssessel fallen. „Was machen wir jetzt, Svenny?“  

„Keine Ahnung, Mummy!“, nahm ich den Kosenamen-Kurs auf. „Vielleicht sollten wir den üblichen Spazierweg absuchen, den Papa immer läuft?“, gab ich von mir, ohne zu überlegen, denn meine Mutter riss sofort entsetzt die Augen auf.  

„Du glaubst doch nicht … du denkst, dass er …“, fing sie an zu stammeln, doch ich riss mich am Riemen und beendete ihren angefangenen Satz:  

„ … irgendwo verletzt rumliegt! Ja genau, das denke ich und deshalb müssen wir ihn so schnell wie möglich finden!“  

„Mopsi muss uns helfen!“, entschied meine Mutter, plötzlich beseelt von neuem Tatendrang, doch ich hielt sie zurück.  

„Den kannst du vergessen, Mummy. Der ist doch total erledigt und wir kennen die Gassistrecke doch genau. Wir finden ihn schon alleine. Komm, und nimm dein Handy mit!“, kommandierte ich, während ich in meine Hosentasche griff, um zu kontrollieren, ob ich auch meines eingesteckt hatte. Kaum waren wir über den Feldweg in den Wald gelaufen, kam uns unser Nachbar mit seinem Golden Retriever entgegen.  

„Guten Morgen, die Damen! Wo ist denn der Mopsi und warum sind Sie heute schon so dermaßen früh unterwegs?“  

„Haben Sie meinen M …“, setzte meine Mutter an, doch ich gab ihr einen Rippenstoß.  

„Meine Mutter wollte wissen, ob sie vielleicht unseren Mopsi gesehen haben, der ist uns gerade entwischt!“, platze ich heraus, und meine Mutter sah mich genauso entgeistert an wie unser alter Nachbar. Ob sie damit signalisieren wollte, dass der Alte doch schon fast blind war und somit unseren Hund sowieso nicht gesehen haben konnte, oder über meine Frage generell erstaunt war. Ich wollte jedenfalls nicht, dass unser Nachbar mitbekam, dass wir meinen Vater vermissten. Das musste jetzt noch nicht gleich das ganze Dorf erfahren, denn vielleicht klärte sich ja doch noch alles auf. Daran wollte ich unbedingt glauben, obwohl ich mir inzwischen beim besten Willen nichts mehr vorstellen konnte, was mit meinem Vater geschehen sein mochte.  

„Gestern Abend ist der Mopsi doch wie jeden Abend mit Ihrem Mann unterwegs gewesen. Ist er da schon ausgebüxt?“, wollte Herr Bader wissen, doch wir schüttelten beide die Köpfe. Nur mit dem Antworten war ich wieder schneller.  

„Nein, erst heute früh, weil ich vergessen hatte, das Gartentor zu schließen.“  

„Sie haben meinen Mann also gestern Nacht getroffen?“, fragte meine Mutter, bevor ich es verhindern konnte.  

„Ja, warum? Wir treffen uns eigentlich jeden Tag.“  

„Meine Mutter hat sich gestern nur in der Zeit geirrt. Sie dachte, mein Vater wäre erst eine Stunde später mit dem Hund rausgegangen. Wir suchen dann mal weiter nach dem kleinen Ausreißer. Er ist bestimmt nur alleine den üblichen Weg gelaufen. Einen schönen Tag noch, Herr Bader!“, versuchte ich den Mann endlich loszuwerden, doch wie nicht anders zu erwarten, bot er sich natürlich an, bei der Suche zu helfen.  

„Das ist doch nicht nötig, Herr Bader! Vielleicht ist er ja auch schon wieder zu Hause! Wir gehen gleich mal zurück und schauen nach, oder Mama?“, verkündete ich entschlossen und meine Mutter ging zum Glück darauf ein.  

„Das ist eine gute Idee, Svenja. Wir haben ja hier schon alles abgesucht. Auf Wiedersehen Herr Bader und danke, dass Sie sich angeboten haben zu helfen. Falls wir unseren Hund nicht finden sollten, kommen wir gerne auf Ihr Angebot zurück!“, erklärte Mama in ihrer gewohnten Art und das schien unseren hilfsbereiten Nachbarn endlich zufriedenzustellen. Er verabschiedete sich und ging leider weiter den Weg in den Wald hinein, den wir eigentlich hatten einschlagen wollen. So blieb uns nichts anderes übrig, als so zu tun, als würden wir wieder zurück nach Hause gehen. Was wir dann notgedrungen auch machten – in der Hoffnung, dass Herr Bader bald von seinem Spaziergang zurückkommen würde.  

„So ein Mist! Hoffentlich ist er der Einzige von den über hundert Hundebesitzern, die die Gassi-Geh-Gewohnheiten von uns so genau kennen!“, schimpfte ich und meine Mutter meinte nur, dass das eben in einem so kleinen Ort normal war. Ja, hier kannte man sich eben und jede kleine Änderung im normalen Tagesablauf fiel auf. Das war ein Fluch, aber in manchen Fällen auch ein Segen.  

„Hältst du bitte Ausschau nach dem Bader und ich mach uns schnell nen Kaffee?“, fragte meine Mutter und ich postierte mich artig am Fenster. Kaffee war eine äußerst gute Idee, denn nach meiner schlaflosen Nacht merkte ich erst jetzt in der kurzen Ruhephase, wie erschlagen ich mich fühlte. Nun konnte ich kaum noch die Augen offen halten und nahm dankbar den Cappuccino entgegen.  

„Meinst du wirklich, es war richtig, den Bader nicht einfach zu ignorieren und nach Papa zu suchen?“, fragte meine Mutter plötzlich. Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Ich hatte da draußen einfach nur instinktiv gehandelt und wollte nicht, dass jemand mitbekam, dass wir unseren Vater vermissten. Wenn ich jetzt genauer darüber nachdachte, was mir aber aufgrund meiner Müdigkeit nicht so recht gelingen wollte, musste ich zugeben, dass es vielleicht sogar fahrlässig war, nicht sofort weiter nach ihm gesucht zu haben. Immerhin waren wir ja davon ausgegangen, dass er irgendwo verletzt herumliegen könnte. Mit einem Satz war ich wieder auf den Beinen, stürzte aber dennoch meinen heißen Kaffee hinunter, und zerrte dann meine überraschte Mutter wieder zurück nach draußen.