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Dass die krebskranke Seniorchefin der Messermanufaktur in Ottenbach eines natürlichen Todes gestorben ist, steht für die 7-köpfige Familie außer Frage, aber warum ist in der gleichen Nacht der alte Firmenchef spurlos verschwunden? Seine Enkelin, die 18-jährige Nora ermittelt auf eigene Faust und kommt damit dem jungen Kripo-Assistenten Joska Kiss gewaltig in die Quere. Was hat es mit dieser geheimnisvollen Nachricht auf sich und wer ist der seltsame Mann, der zu Großmutters Beerdigung gekommen ist? Was Nora dann herausfindet, stürzt ihre heile Welt ins totale Chaos. Nur ihr neuer Freund Joska kann ihr helfen, das alles zu überstehen.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Impressum
Petra Mehnert, »Die Messermacher«
2. Auflage
www.edition-winterwork
© 2020 edition-winterwork
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Petra Mehnert
Umschlaggestaltung und Foto: Robin Mehnert
Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf
Die Messermacher
Ein Regionalkrimi aus dem "Tal der Liebe"
Er kauerte wimmernd in der Ecke seines kleinen Schlafzimmers und starrte unverwandt auf das blutverschmierte Messer. Seine Hand zitterte unkontrolliert, als wäre sie ferngesteuert.
Was hatte er nur getan?
Vor ihm lag in einer sich immer weiter ausbreitenden Blutlache ein älterer Mann, mit weißem, längerem Haar, das in wirren Strähnen die Hälfte seines Gesichtes verdeckte. Der Mund halb geöffnet, das eine Auge starr und weit aufgerissen, als könne er selbst noch im Tod nicht glauben, was gerade geschehen war. Der hölzerne Griff eines Messers ragte ihm aus der Brust und es sah aus, als wäre er mit der weiß behaarten Brust verwachsen. Nur das inzwischen kleine Rinnsal aus Blut zeugte davon, dass dieser Mann vor ein paar Minuten noch gelebt hatte. Aber sein Herz hatte aufgehört zu schlagen und der Körper, der zwar alt, doch noch gesund und durchtrainiert gewesen war, hatte seine Funktionen eingestellt.
Der deutlich jüngere Mann zitterte immer noch – wie in
Trance saß er da und wiegte sich vor und zurück – vor und zurück. Er konnte nicht damit aufhören und wusste längst nicht mehr, wie lange er schon so dasaß. Seine langen pechschwarzen Haare hingen genauso schlaff herab, wie er sich fühlte. Er war heute noch nicht einmal dazu gekommen, seinen obligatorischen Zopf zu flechten. Hätte er in diesem Augenblick in den Spiegel geschaut – ihm hätten zwei stahlblaue Augen entgegengeblickt, aus denen jede Lebensfreude gewichen war. Sein sonst vor Energie strotzender Körper war nur noch eine kraftlose Masse, als hätte man aus ihm den Stecker gezogen. Nun war er nur noch eine leblose Marionette. Es schien ihm, als sei es schon Jahre her, dass er sich mit seinem Freund gestritten hatte. Worum war es eigentlich gegangen bei diesem ersten handfesten Streit? Nur ein einziger Moment in einem Leben konnte alles verändern.
Im abgelegenen Örtchen Ottenbach, im „Tal der Liebe“ am Fuße des Kaiserberges Hohenstaufen, schien die Welt an diesem sommerlichen Junitag noch in Ordnung. Doch war dieser Schein der „heilen Welt“ nicht allzu trügerisch?
„Oma! Opa! Nun macht doch endlich auf!“, jammerte Nora, denn die zierliche Achtzehnjährige hatte wie üblich ihren Werkstattschlüssel nicht dabei. Sie war zwar als quirlige Frühaufsteherin stets die Erste, die im großelterlichen Messermacher-Betrieb an der Werkbank oder am Computer saß, doch ihre Großeltern waren immer schon wach und schlossen jeden Tag die Wohnungstüre auf, denn die Werkstatt befand sich in einem Anbau gleich neben dem Wohnzimmer. Normalerweise trudelten dann nacheinander Noras sechsundfünfzigjähriger Vater Jakob, dessen zehn Jahre jüngerer Bruder Tobias und schließlich, meist erst gegen zehn Uhr, die gemeinsame Schwester Marianne ein. Mit ihren vierzig Jahren war Marianne immer noch überzeugter Single und kostete das mit einem ausschweifenden Lebensstil auch weidlich aus. Als Nachtmensch schaffte sie es einfach nicht, wie die anderen Familienmitglieder um sieben Uhr in der Firma anzutanzen. Seit ein paar Monaten hatte die Familie nun für das jüngste Mitglied, Noras sechzehnjährigen Bruder Felix, auch einen Ausbildungsplatz eingerichtet, was in der doch recht kleinen Werkstatt zu einigen Umräum- und Erweiterungsaktionen geführt hatte. Delfina, Jakobs Frau und die Mutter von Nora und Felix, kümmerte sich stundenweise um das Büro und so war das Familienunternehmen komplett. Die gute Auftragslage ermöglichte es, allen Angehörigen der Familie Angerer ein Auskommen zu sichern. Die Großeltern Reno und Adele, beide vierundsiebzig, führten die Firma immer noch mit strenger Hand und waren bisher nicht dazu bereit, dies in die Hände ihrer Kinder zu legen. Was zumindest einem Familienmitglied immer weniger behagte.
An diesem Montagmorgen wunderte sich Nora sehr, dass die Wohnungstüre verschlossen blieb. Ob Opa mal wieder eine anstrengende Nacht hinter sich hatte? Seit seine Frau an Lungenkrebs erkrankt war (Nora hatte auf so was nur gewartet, denn ihre Oma rauchte schon immer sehr viel), musste Reno des Öfteren nachts aufstehen und seiner Frau auf die Toilette helfen. Adele war schon seit Wochen zu schwach, um dies alleine zu tun. Das Atmen fiel ihr zusehends schwerer und ihr Kreislauf spielte oft verrückt, da sie meist den ganzen Tag nur noch im Bett lag.
„Wahrscheinlich schnarcht Opa noch und Oma schläft ja morgens immer so fest, dass sie kaum wach zu kriegen ist. Jetzt muss ich halt warten, bis Papa kommt“, murmelte Nora und setzte sich in den Pavillon des großen Gartens. Wer wohl in diesem Jahr die Pflege des Grundstücks übernehmen würde, wo die Oma doch so krank war? Nora erinnerte sich noch gut an den letzten Frühling, als ihre Großmutter wieder viele herrliche Blumenbeete und große steinerne Blumentröge mit den schönsten Blumen arrangiert hatte. Seit die hohe Hecke entfernt werden musste, weil sie total morsch geworden war, konnten auch die vorbeigehenden Spaziergänger den tollen Garten der Angerers bewundern. Einerseits hatte sich Adele geschmeichelt gefühlt, wenn die Leute staunend stehen geblieben waren, aber andererseits hätte sie nun gerne wieder mehr Privatsphäre gehabt, so wie früher, als die hohe Hecke ihr Anwesen vor neugierigen Blicken bewahrt hatte. Es würde noch sehr lange dauern, bis die neu gesetzten Pflanzen wieder als Sichtschutz fungieren konnten.
Ausgerechnet heute verspätete sich Noras Vater und er kam gemeinsam mit seinem Bruder und Felix mit den Mofas angeknattert. Seit sie auf einen außerhalb des Ortes gelegenen Bauernhof gezogen waren, konnten sie aus Zeit- und Fitnessgründen nicht mehr mit den Fahrrädern zur Arbeit fahren. Die Nachbarn waren zwar über den frühmorgendlichen Lärm nicht erfreut, mussten das aber hinnehmen – es blieb ihnen nichts anderes übrig.
„Was ist denn mit dir los, Nora? Warum gehst du nicht rein? Hast du mal wieder Streit mit Oma?“, fragte ihr Vater mitfühlend, denn seine Mutter konnte manchmal sehr ungemütlich werden.
„Die Tür ist noch zu und Oma und Opa hören mich nicht.
Du weißt doch, dass ich nie einen Schlüssel dabei hab – bisher brauchte ich ihn ja auch nicht“, rechtfertigte sich Nora und stapfte dann hinter ihrem Vater her. Eigentlich wäre sie bei diesem herrlichen Sommerwetter lieber draußen im Garten geblieben, aber leider kannte ihre Familie, was die Arbeitszeiten anging, kein Pardon. Nur in ganz seltenen Ausnahmefällen durfte jemand mal später kommen oder früher gehen. Allein ihre Tante Marianne hatte es durchgesetzt, dass sie erst um zehn Uhr anfangen durfte. Sonst hätte sie gekündigt und das wollte die Familie dann doch nicht, denn Marianne war eine hervorragende Designerin von Messerformen und –griffen, die keiner missen wollte. Und Marianne wusste das.
Nachdem Jakob aufgesperrt hatte, drängte sich Nora an ihm vorbei, und während sie die Treppe nach oben zu den Schlafzimmern hinaufstürmte, rief sie:
„Oma! Opa! Was ist los, ihr Schlafmützen?“
Sie erhielt keine Antwort und so blieb sie vor dem Schlafzimmer ihres Großvaters ratlos stehen. Da ihr Opa so schrecklich schnarchte und seit Oma so krank war, schliefen sie in getrennten Zimmern. Einfach reinplatzen wollte das Mädchen aber doch nicht und so klopfte sie energisch an die Türe. Es kam aber immer noch keinerlei Reaktion. Kopfschüttelnd stand sie nun da, als ihr Vater ihr zurief:
„Lass sie doch schlafen, Nora. Wahrscheinlich hatten sie wieder eine anstrengende Nacht. Reno wird schon runter kommen, wenn ihn der Hunger plagt. Du weißt doch, wie ihm morgens immer der Magen knurrt.“
„O.k., wenn du meinst …“, murrte Nora, denn das bedeutete, dass sie nun an die Arbeit musste. Gerne hätte sie ihren geliebten Opa geweckt und dann mit ihm gefrühstückt. Enttäuscht drehte sich Nora um und schlich nun die Stufen vorsichtig hinunter, denn jetzt wollte sie doch, dass sich ihr Opa mal so richtig ausschlafen konnte. Seine Frau hielt ihn seit ihrer Krankheit ganz schön auf Trab, manchmal tat Nora ihr ruhiger und sensibler Opa richtig leid. Er war so ein lieber Mensch und er versuchte alles, um seiner armen Frau in ihrer schweren Krankheit beizustehen. Nora tat sich da schon etwas schwerer, denn ihre Oma war eine sehr herrschsüchtige Frau und vor allem in Firmendingen war nicht mit ihr zu spaßen.
Wie jeden Tag war es zunächst still in der Werkstatt – jeder hatte seinen eigenen Arbeitsplatz mit Blick auf den schönen Hohenstaufen. Wegen dieses Ausblicks wurden sie oft beneidet, denn wer nach Ottenbach zog, wollte, wenn möglich, diese wunderschöne Aussicht genießen können. Der kegelförmige Berg, um dessen grüne Haube sich eine kleine Ortschaft wie ein Kranz wand, sah zu jeder Jahreszeit sehr schön aus. Täglich zeigte er sich in anderen Farben und Schattierungen.
Trotz des wunderbaren Ausblicks, den sich die Handwerker zur Erholung ihrer angestrengten Augen immer wieder gönnten, konzentrierten sich die Angerers voll auf ihre Werkstücke. Jeder hatte ein Spezialgebiet, um das er sich vermehrt kümmerte, doch bei manchen Arbeitsschritten arbeiteten sie auch Hand in Hand. Es dauerte aber meist nicht lange, bis einer von ihnen irgendein Thema aufgriff, das ihn gerade besonders interessierte oder das momentan im Radio zu hören war. Solange die Seniorchefs nicht in der Werkstatt waren, wurde ein Sender eingeschaltet, auf dem viele Oldies liefen. Die Älteren liebten die alten Songs und so wurden auch die Jüngeren in diese Musik eingeführt und ständig nach den Interpreten ausgefragt. Inzwischen kannten sich Nora und Felix bestens mit den Hits ab den 50er Jahren aus. Wenn die Großeltern in der Firma waren, musste sofort auf den Klassiksender umgeschaltet werden, was der Rest der Familie zwar schon oft zu verhindern versucht hatte, aber immer an der Macht Adeles gescheitert war. Seit ihrer Krankheit war sie allerdings nicht mehr so oft in der Werkstatt und mit Reno konnte man reden. Dem hatten sie inzwischen ihren Lieblingssender auch schmackhaft gemacht.
Momentan beschäftigte sich Nora mit dem Thema Umweltschutz. Eigentlich wissen die Menschen doch, dass es höchste Zeit ist, etwas Gravierendes zu unternehmen, doch keiner will damit anfangen. Wer möchte schon von sich aus auf die liebgewonnenen Annehmlichkeiten verzichten, wenn es der Nachbar auch nicht tut? Wer lässt freiwillig sein Auto stehen, spart Strom oder vermeidet unnötige Verpackungen? Wer denkt schon genauer darüber nach?
Auch hier in der modern mit Holz und Edelstahl eingerichteten Messerwerkstatt wurde nun heftig über dieses Thema diskutiert und darüber verging die Zeit des eintönigen Arbeitens wie im Flug. Nebenbei hatte Nora noch eine Kanne Kaffee gekocht und jedem in seiner Lieblingstasse den dampfenden Muntermacher auf den Arbeitsplatz gestellt. Das mit den Tassen war eine Marotte der Angerers – aus jedem Urlaub brachten sie als Andenken welche mit und Nora kaufte immer wieder besonders schöne oder ausgefallene Tee- oder Kaffeetassen. Inzwischen war dafür sogar eine eigene Vitrine angeschafft worden. Eine weitere Eigenart Noras, die ihren Vater jeden Tag aufs Neue den Kopf schütteln ließ, war, dass sie in ihren Kaffee stets fünf Stück Würfelzucker warf – allerdings ohne umzurühren. Auf die Frage hin, warum sie nicht umrühre, antwortete sie, das wäre ihr dann zu süß. Was sollte man dazu noch sagen?
Es dauerte an diesem Tage noch über eine Stunde, bis Felix endlich auffiel, dass es im oberen Stockwerk immer noch so ruhig war.
„Immer noch nichts zu hören, da oben. Sogar unser Firmenwachhund Moritz hat noch keinen Mucks von sich gegeben“, stellte Felix fest, doch seine Schwester konterte sofort:
„Der Moritz ist doch stocktaub. Wenn die Schlafzimmertür von Opa geschlossen ist, hört der uns hier unten garantiert nicht.“
„Ich glaub, der will nur nicht hören und stellt sich taub. Aber komisch ist das schon“, meinte Felix dann mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Irgendwas stimmte hier nicht – ganz und gar nicht. Er stand auf und mit einem Kopfnicken gab ihm sein Vater zu verstehen, dass es nun in Ordnung war, wenn er nach seinen Großeltern sah. Doch Nora sprang ebenfalls auf und rief ihrem Bruder zu:
„Ich weck Opa!“, und schon war sie zur Tür hinaus und bereits auf der Treppe, als Felix sie einholte. Er hatte mal wieder zuerst seine fast in den Kniekehlen sitzende Jeans hochziehen müssen, die ihm trotz Gürtel immer wieder über seine mageren Hüften rutschte. Jedes Mal, wenn er das tat, schüttelten die erwachsenen Mitglieder seiner Familie über diese unmögliche neue Mode verständnislos die Köpfe. Die Jungs sollten sich mal von hinten sehen – sie sahen aus, als hätten sie die Hosen voll! Und das Treppensteigen ging auch nicht so einfach, sodass Felix hinter seiner Schwester herstolperte.
„Das ist unfair, Nora! Warum muss ich nach Oma gucken?
Seit sie krank ist, ist sie mir noch unheimlicher“, raunte Felix seiner Schwester zu, doch ihr Blick duldete keinen Widerspruch. Wenn es um ihren Opa ging, war sie gnadenlos und außerdem mochte Oma ihren kleinen Felix wesentlich lieber als ihre Enkelin. Also war es nur gerecht, dass Felix nun nach ihr schauen musste. Wieder klopfte Nora zuerst vorsichtig, und als keine Antwort kam, etwas energischer an die Schlafzimmertüre ihres Großvaters. Felix war an ihr vorbei und den Gang hinunter gegangen, um an der letzten Türe zu klopfen. Auch er bekam keine Antwort und die Geschwister sahen sich fragend an. Sollten sie einfach so hineingehen? Würde das im Falle der Großmutter nicht ein mächtiges Donnerwetter geben? Die beiden jungen Leute nickten sich zu und gemeinsam drückten sie die jeweilige Türe auf. Da die Großeltern die Angewohnheit hatten, in völliger Dunkelheit zu schlafen, sahen die Geschwister zunächst nichts. Erst als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse des einfallenden Flurlichtes gewöhnt hatten, konnten sie die Umrisse der Zimmer und schließlich auch die Betten erkennen. Fast gleichzeitig stießen sie einen lauten Entsetzensschrei aus, wobei der von Felix wegen seines Stimmbruchs sofort überschlug und nur noch ein heißeres Krächzen übrig blieb. Während Nora unmittelbar darauf zurück auf den Flur gelaufen kam und dabei rief:
„Opa ist weg!“, rührte sich Felix nicht von der Stelle. Wie erstarrt hielt er immer noch die eiskalte und steife Hand seiner Oma fest, als wäre er an ihr festgefroren.
„Was ist mit Oma?“, fragte Nora, während sie durch den Flur schlitterte. Beinahe wäre sie auf einem der vielen kleinen Teppichläufer ausgerutscht, die ihre Oma im ganzen Haus liegen hatte.
„Ist Oma da?“, wollte Nora wissen, bevor sie überhaupt ganz im Zimmer war. Als sie dann ihre Oma schemenhaft im Bett liegen sah, raunzte sie ihren Bruder an:
„Warum schreist du denn so? Oma ist doch da, nur der Opa ist weg!“ Mit diesen Worten schubste sie ihren Bruder unsanft zur Seite, wobei der die Hand seiner Oma loslassen musste und diese dann kraftlos aus dem Bett rutschte. Nora achtete gar nicht darauf, sondern umrundete das Bett und schaute nach, ob ihr Opa neben seiner Frau kuschelte. Sie machte das ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken, dass das Krankenbett doch viel zu schmal war, um zu zweit darin liegen zu können. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Oma alleine in ihrem Bett lag und anscheinend immer noch schlief, flüsterte sie ihrem Bruder zu:
„Lass Oma schlafen und hilf mir lieber, Opa zu suchen.
Vielleicht musste er kurz weg oder er hat bei dem tollen Wetter einen ausgedehnten Gassigang mit Moritz gemacht.“
„Er würde Oma doch nie alleine lassen, bevor wir in die Werkstatt kommen und für einen längeren Spaziergang ist der arme Moritz doch schon zu alt. Immerhin muss Opa seit über einer Stunde weg sein“, stellte Felix klar und ergänzte noch murmelnd: „Da stimmt was nicht und außerdem ist Oma tot, glaub ich.“
„WAS!“, schrie Nora auf. „Was redest du da für einen Blödsinn?“ Doch nach einem Blick in Felix entsetztes Gesicht drehte sie sich zu ihrer Oma um und sah einen Arm leblos von der Bettkante hängen.
„Oh, mein Gott“, flüsterte sie und ging ganz langsam näher heran. Sie war blass geworden und ihre Sommersprossen traten noch kräftiger hervor. Um sich davon zu überzeugen, dass ihr Bruder Unrecht hatte, musste sie ihre Großmutter anfassen. Zögernd näherte sie ihre Hand dem Arm von Adele, doch kurz vor einer Berührung zog sie sie wieder zurück.
Nein! Sie konnte das nicht!
Brüsk drehte sie sich um, rannte im Hinausstürmen ihren Bruder beinahe um und stürmte hinunter in die Werkstatt.
„Papa! Tobias! Opa ist weg und mit Oma stimmt was nicht! Felix sagt, sie ist tot!“, kreischte Nora hysterisch und zog ihren Vater vom Stuhl hoch. Der kapierte zunächst gar nichts, ließ sich aber mit nach oben ziehen, gefolgt von seinem ratlos dreinblickenden Bruder. Felix hatte es inzwischen über sich gebracht und das Licht im Schlafzimmer seiner Großmutter eingeschaltet. Nach einem Blick in das bleiche Gesicht und die ausdruckslosen Augen war er sich sicher, dass seine arme, kranke Großmutter in dieser Nacht gestorben sein musste. Nacheinander betraten nun die anderen den kleinen Raum, der trotz der morgendlichen Kühle recht stickig war. Auch Jakob und Tobias brauchten ihre Mutter nicht anzufassen, um zu wissen, dass sie nicht mehr lebte. Nun hatte es der Krebs also doch schneller geschafft, die kranke Lunge dieser Frau zu zerstören, als es die Ärzte vorhergesagt hatten. Vielleicht war es besser so, nun würde ihre Mutter nicht mehr leiden müssen, und hatte hoffentlich friedlich einschlafen dürfen.
„Sie ist wirklich tot, oder Papa?“, fragte Felix leise und sein Vater nickte nur. Er ging auf seine Mutter zu, schloss mit einer sanften Bewegung ihre Augen und legte die Hände gefaltet auf ihren Bauch. Dann nahm er seine Kinder in den Arm, während sein Bruder ihm von hinten die Hand auf die Schulter legte. Traurig schauten sie in das etwas verzerrte Gesicht der Frau, die zeit ihres Lebens für die Familie und die Firma da gewesen war. Was würde nun werden, ohne das eigentliche Familienoberhaupt? Denn dass Reno der Chef war, wurde nur nach außen hin so dargestellt, die wirkliche Chefin war Adele. Geschäftstüchtig, herrisch, aber auch fürsorglich war sie gewesen. Aufgeopfert hatte sie sich für ihre Familie und nun war sie tot.
„Warum hat sie auch immer so viel gequalmt?“, entfuhr es nun Nora, denn irgendwie brauchte sie einen Schuldigen für den tragischen Tod ihrer Großmutter.
„Es bekommen auch Menschen, die nie geraucht haben, Lungenkrebs. Es muss nicht unbedingt nur am Rauchen gelegen haben. Aber die wichtigere Frage ist doch nun: Wo ist Reno?“, fragte Jakob in die Runde und sah dabei nur in ratlose Gesichter.
„Vielleicht hat ihn der Tod von Oma so erschüttert, dass er einfach erst mal allein sein musste, und er ist ohne Nachricht zu hinterlassen, aus dem Haus gestürmt“, mutmaßte Tobias und kramte dabei sein Handy aus der Tasche. „Vielleicht hat er sein neues Smartphone mitgenommen?“
Ich kauerte immer noch zitternd neben ihm, als es in seiner Hosentasche klingelte. Der laute Klingelton erschreckte mich so sehr, dass ich panisch aufsprang und dabei in seiner Blutlache ausrutschte. Ich konnte es nicht verhindern und knallte mit meinem ganzen Gewicht auf seinen Arm, der auf einem Stapel Bücher gelegen hatte. Es gab ein fürchterliches, knackendes Geräusch, als ich ihm den Arm brach. Das blöde Handy bimmelte immer noch mit diesem altmodischen Klingelton und mir wurde schlecht. Bevor ich mich aufrappeln konnte, übergab ich mich neben den Toten. Meine langen Haare, die ich heute noch nicht zusammengebunden hatte, hingen mir ins Gesicht und in die eklige Pfütze, ich strich sie nur angewidert zurück. Benommen und mit immer noch zitternden Fingern fischte ich nach dem Telefon und schaute auf das Display. „Anruf von Tobias“ stand da und ich warf es in hohem Bogen weg, als wäre es giftig. Leider machte das diesem modernen und anscheinend recht robusten Ding nichts aus, denn es klingelte munter weiter. Wütend warf ich ein Buch danach und als es nicht aufhören wollte, noch eins und noch eins … bis es endlich still war und ich mich wieder darauf konzentrieren konnte nachzudenken, was ich jetzt tun sollte! Ich musste den Leichnam irgendwie loswerden, aber wie, wann und wo? Wie lange es wohl dauern würde, bis der tote Körper steif wurde? Dann würde es sicher noch viel schwerer werden, ihn zu entsorgen. Ob ich ihn wohl schon mal irgendwie zusammenfalten sollte? Allein schon der Gedanke daran ließ mir die Knie weich werden und mein Magen rebellierte schon wieder. Wie sollte ich das nur alles durchstehen? Aber ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Keinem stand ich so nahe, dass ich ihm in einer solchen Situation vertrauen konnte. Wenn man es genau nahm, lag der einzige Mensch, mit dem ich befreundet war, nun tot vor mir! Ich war jetzt wirklich ganz alleine mit mir und meiner schrecklichen und sinnlosen Tat!
Warum hatte das nur alles so kommen müssen? Wir waren doch bis vor kurzem noch so glücklich gewesen. Reno kam mindestens einmal im Monat unter einem geschäftlichen Vorwand zu mir in meine kleine Werkstatt. Früher hatten wir uns jeden Tag sehen können, als Reno noch hier im Osten wohnte und bei seinem Vater arbeitete. In der Berufsschule, in der Reno und mein Vater das Messermacher-Handwerk lernten, freundeten sich die beiden an und Reno kannte mich schon als Baby, denn mein Vater war erst achtzehn, als seine damalige Freundin mit mir schwanger war. Doch gleich nach meiner Geburt hatte sie uns verlassen und mein Vater musste mich alleine aufziehen. Reno spielte oft den Babysitter und wurde mit den Jahren mein bester Freund. Wann wir uns ineinander verliebt hatten, weiß ich nicht mehr. Es ist einfach passiert. Ich lernte das Messermacher-Handwerk auch bei meinem Vater, machte aber auch ein Praktikum bei Renos Firma. Reno arbeitete damals ja noch bei seinem alten Vater in der Firma mit, doch ich, Rüdiger Haupt, wusste schon sehr früh, dass ich mich selbstständig machen wollte. Dass ich was drauf hatte, bestätigten mir meine Lehrer immer wieder und als Messermacher braucht man ja auch nicht allzu viele teure Maschinen. So konnte ich meinen Traum nach der Schule rasch in die Tat umsetzen und Renos Firma verschaffte mir auch gleich ein paar lukrative Aufträge. Leider wollte Renos Alter die Firma einfach nicht in die Hände seines Sohnes geben und so überwarf sich der bereits Fünfzigjährige Reno mit seinem alten Vater und fing mit nur ein paar Werkzeugen und einer Holzkiste in einem kleinen Zimmer in Stuttgart ganz von vorne an. Ich flehte Reno an, doch hier zu bleiben und die Sache vollends auszusitzen. Sein Vater war ja schon über achtzig, aber mein sensibler Reno verkraftete es einfach nicht mehr, sich ständig von seinem immer seniler werdenden Vater in die Firmenangelegenheiten reinreden zu lassen und dessen Fehler ausbügeln zu müssen. Mit der Kundschaft ging der Alte auch mehr als ruppig um und so manchen hatte er schon zur Werkstatt hinausgejagt. So konnte man heutzutage nicht mit seinen wertvollen Kunden umgehen, aber sag das mal einem so alten Mann und deinem eigenen Chef! Eigentlich war klar, dass es irgendwann knallen würde und eines Tages ist der arme Reno dann einfach sang- und klanglos gegangen. Als sein Vater mal ein paar Tage im Urlaub war, was er höchst selten tat, packte Reno seine liebsten Werkzeuge und zog um nach Stuttgart. Seine Familie hat er erst zu sich geholt, als es mit seiner Firma einigermaßen lief. Ich war damals wirklich geschockt, denn Reno war mein einziger Freund und ich hatte tagelang geheult. Bei diesen Gedanken sammelte sich schon wieder Wasser in meinen Augen, denn nun war mein Geliebter tot! Und ich hatte ihn umgebracht!
„Wir haben hier eine Vermisstenanzeige!“, rief Hauptkommissarin Magdalena Müller-Harnisch durch die angelehnte Türe, die ihr Büro von dem ihres jungen blonden Assistenten Joska Kiss trennte. Wie üblich machte sie sich nicht die Mühe, aufzustehen und ihrem Angestellten gegenüberzutreten. Wusste sie doch, dass Joska sowieso zu ihr kommen würde, um weitere Instruktionen abzuholen. Heute jedoch war der junge Mann so vertieft in die Recherchearbeiten, die man ihm kurzfristig aufgebürdet hatte, dass er den Ruf seiner Chefin nicht gehört hatte. Erst nach einem lauten Kreischen seines Namens fuhr er erschrocken zusammen und stieß dabei seine Kaffeetasse um. Die schon längst kalt gewordene Brühe ergoss sich komplett über die Tastatur seines Computers.
„Verdammte Scheiße!“, zischte der jüngste Assistent der Göppinger Kripo und versuchte verzweifelt, das Malheur mit seinem Ersatz-T-Shirt aufzuwischen. Dabei warf er auch noch sein Nutella-Glas um, das jetzt so früh am Morgen noch fast voll war. Bis zum Feierabend jedoch würde er es wie jeden Tag wohl wieder ausgelöffelt haben. Ohne diese Ration „Glücklichmacher“ lief bei ihm gar nichts! Während seiner kläglichen Säuberungsversuche legte sich plötzlich eine dunkelbraune Hand mit langen, rot lackierten Fingernägeln auf seinen hektisch wischenden Arm und er fuhr wie ertappt herum. In seiner Aufregung hatte er gar nicht registriert, dass diese wundervollen Hände gar nicht seiner Chefin gehörten, sondern ihrer gemeinsamen Sekretärin Lola Amati, einer rassigen achtundzwanzigjährigen Afrikanerin, deren halblange, dichte und krause Haarpracht stets wirr von ihrem Kopf abstand. Wenn sie nicht im Dienst war, sprach sie breitestes Schwäbisch, was ihre Mitmenschen stets sehr befremdlich fanden. Denn in ihrem Wohnort Krummwälden, einem kleinen Örtchen zwischen Salach und Ottenbach, war sie immer noch etwas Außergewöhnliches, obwohl sie nun schon drei Jahre dort lebte. Auf der Polizeiwache jedoch wurde sie als äußerst zuverlässige Mitarbeiterin von allen geachtet. Wegen ihres exotischen Aussehens verehrten sie die männlichen Mitarbeiter und von den weiblichen wurde sie beneidet. Aber um ihren jungen Kollegen sorgte sie sich besonders und gerade heute zeigte sich wieder, wie sehr er sie brauchte.
Erleichtert ließ sich ihr junger Vorgesetzter gerade auf seinen Stuhl fallen und hätte Lola nicht aufgepasst, hätte er sich wohl danebengesetzt. So landete er wenigstens noch knapp auf der Stuhlkante, doch der inzwischen schon recht heisere und wütende Schrei seiner Chefin ließ ihn augenblicklich wieder in die Höhe schießen. Hektisch fuhr er sich durch seine strubbelige Mähne. Seine bernsteinfarbenen Augen huschten nervös zwischen seinem Chaosschreibtisch und dem Chefbüro hin und her.
„Nun geh schon“, drängte Lola ihn mit ihrer rauchigen Stimme sanft in Richtung Chefbüro. „Ich mach das schon“, setzte sie noch liebevoll hinzu und es klang, als würde eine Mutter mit ihrem kleinen Kind sprechen. Doch der kecke Augenaufschlag und das herzliche Lächeln sprachen eine ganz andere Sprache. Verwirrt schnappte sich der junge Assistent seinen Notizblock, der ganz knapp dem Nässeattentat entgangen war und hastete mit Schwung durch die Türe, sodass diese mit einem lauten Knall gegen die Wand krachte.
„Herrgott Joska!“, wetterte Frau Müller-Harnisch augenblicklich los. „Können Sie nicht wie jeder normale Mensch durch eine Türe gehen?“
Joska jedoch wagte sich keinen Schritt näher und so musste seine Chefin, deren Zorn beim Anblick ihres äußerst hübschen und zerknirscht dreinblickenden Angestellten sofort wieder verraucht war, ihn nun wesentlich freundlicher auffordern, sich doch endlich zu setzen. Erleichtert ließ sich Joska auf seinen angestammten Platz der Chefin gegenüber plumpsen, lehnte sich erwartungsvoll zurück, wobei er seine langen, muskulösen Fußballerbeine von sich streckte, und erst einmal abwartete. Als ihr Assistent nichts sagte, schüttelte die Kommissarin genervt den Kopf und fragte unwirsch:
„Ja, wollen`s denn gar nicht wissen, wer vermisst wird?“
„Sie werden es mir doch sowieso gleich sagen“, antwortete der junge Mann frech, denn es machte ihm Spaß, seine Chefin ab und zu zu necken. Sie war zwar doppelt so alt wie er, doch mit ihren vierundvierzig Jahren sah sie immer noch verdammt knackig aus. Obwohl sie ihre pechschwarzen Haare (die ganz sicher gefärbt waren) stets zu einem strengen Dutt hochgesteckt hatte, konnte ihr junger Angestellter sie sich sehr gut mit offenen, wallenden Haaren und sich lasziv auf ihrem Schreibtisch räkelnd vorstellen.
„Haben Sie nicht gehört, was ich Ihnen gerade gesagt habe, Herr Kiss!“
Oha! Wenn sie ihn mit seinem Nachnamen ansprach, wurde es ernst. Normalerweise sprach sie ihn mit seinem Vornamen, aber dennoch mit „Sie“ an. Was hatte sie gesagt? Hatte er schon wieder einmal von ihren katzenartigen, grünen Augen geträumt und über seine Schwärmerei für seine Chefin nicht richtig zugehört? Nur gut, dass sie nicht wusste, warum er gerade so unaufmerksam gewesen war!
„Äh … es ist eine Vermisstenanzeige eingegangen?“, fragte er leise und versuchte sein unschuldigstes Lächeln, was ihm anscheinend nicht ganz gelang, denn seine Chefin sprang auf und ging langsam – wie eine Raubkatze – auf ihn zu. Joska wurde auf seinem Stuhl immer kleiner und er musste aufpassen, dass er nicht herunterrutschte. Dieser Besucherstuhl hatte in voller Absicht keine Polster, damit sich die Leute, die der Kommissarin gegenübersaßen, beziehungsweise gegenübersitzen mussten, nicht zu wohl fühlten.
„Nun … wer wird vermisst?“, fragte Frau Müller-Harnisch
nochmals drohend und kam ihrem nun doch recht eingeschüchterten Untergebenen so nahe, dass er ihr teures Parfüm riechen konnte.
Mist! Nur nicht noch mehr ablenken lassen! Er hatte wirklich nicht richtig zugehört, aber das wollte er natürlich nicht zugeben und so riet er einfach ins Blaue hinein:
„Ein alter Mann?“
„Ja – Herrschaftszeiten!“, fluchte die Kommissarin, wobei sie als gebürtige Augsburgerin in ihren alten Dialekt verfiel.
„Aber wer genau, will ich von Ihnen wissen!“
„Ich weiß es doch nicht, Chefin! Ich war grad nicht ganz bei der Sache. Sorry – wirklich!“ Und diesmal kriegte er es doch hin, dass die Wut seines Bosses endlich verflog. „Sagen Sie`s mir nochmal … bitte!“, schnurrte er geradezu.
„Bleibt mir ja auch nix anderes übrig“, knurrte Frau Müller-Harnisch, allerdings immer noch etwas widerwillig.
„Na gut – der berühmte Messermacher aus Ottenbach wird vermisst“.
„WAS? Der Jakob?“, entfuhr es Joska, denn er war ein großer Bewunderer der Familie Angerer und deren Handwerkskunst.
„Nein, nicht der Sohn. Der Alte ist weg und seine Frau lag heute Morgen tot im Bett!“, klärte ihn seine Chefin nun endgültig auf. Bevor Joska jedoch darauf reagieren konnte, kam ein Kollege nach kurzem Klopfen und ohne auf Antwort zu warten, ins Zimmer gestürmt. Doch bevor seine Chefin ihn diesbezüglich rügen konnte, plapperte er (es war der Dienstälteste, der Herr Maier) sofort los:
„Wer kümmert sich eigentlich um den Mordfall, wo eine
gelähmte Schlaganfallpatientin ihren Ehemann mit einer Vase erschlagen hat?“
„Das werde ich gemeinsam mit Herrn Kiss übernehmen, wenn das mit der Vermisstenanzeige von dem Angerer läuft. Kümmern Sie sich bitte inzwischen um die Sache mit dem Hofbrand in Ottenbach“.
Mit diesen neuen Instruktionen zog der Dreiundsechzigjährige und somit kurz vor der Pension stehende Hartmut Maier wieder ab. Joska Kiss sah sich schon in den nächsten Tagen derart mit Arbeit zugemüllt, dass er sicher keinen normalen Feierabend machen, und bis spät in die Nacht zu tun haben würde. Kaum war die Türe hinter Maier wieder geschlossen, rückte seine Chefin auch schon mit ihren Anweisungen heraus, die dem jungen Polizisten gar nicht gefielen.
„Sie werden heute sofort zu den Angerers fahren und zuerst mit dem Arzt sprechen, um zu klären, ob es eine natürliche Todesursache war. Es ist davon auszugehen, da die alte Dame sehr krank war. Wenn das abgeklärt ist, kümmern Sie sich um die Vermisstenanzeige. Aber warten Sie damit noch zwei Tage. Immerhin ist dieser Reno Angerer ein erwachsener Mann und kann auch mal ein paar Tage verschwinden, ohne allen gleich Bescheid zu sagen. Der taucht bestimmt bald wieder auf oder meldet sich – Sie werden sehen! Ich hab heute einen Termin beim Staatsanwalt und kann Sie somit leider nicht begleiten. Ich weiß schon, dass das Ihr erster Einsatz ist, den Sie alleine führen“, sagte sie mitleidig, als Joska die Augen entsetzt aufgerissen hatte, „Aber ich gebe Ihnen zur Unterstützung, und damit Sie ihm zeigen können, was Sie schon alles gelernt haben, unseren neuen Praktikanten an die Seite“.
„Nein!“, entfuhr es Joska. „Nicht den! Das können Sie mir nicht antun!“, jammerte er, und es klang wirklich sehr verzweifelt. Seine Chefin schaute ihn amüsiert an und Joska sah ihr an, dass sie sehr gut wusste, warum. Dennoch fragte sie süß lächelnd:
„Warum denn nicht? Herr Clemens ist doch ein tüchtiger Kerl.“
„Aber er ist fast zehn Jahre älter als ich! Der lässt sich doch von mir nichts sagen!“, klagte Joska weiter, obwohl er wusste, dass es nichts nützen würde. Er war in seinem letzten Ausbildungsjahr und der Clemens hatte erst nach zwei Studiengängen entdeckt, dass er eigentlich zur Polizei gehen könnte und nun war er ein ziemlich alter Praktikant. Ständig ließ er das heraushängen und auch, wie viel ungeheuer wichtiges Wissen er sich in seinen Studiengängen angeeignet hatte. Das nervte derart, das konnte man sich gar nicht vorstellen. Aber was sollte er machen? Er musste diesen Idioten mitnehmen, sie hatten niemand anderen zur Verfügung. Das konnte ja heiter werden! Missmutig erhob sich Joska und knurrte seiner Chefin entgegen:
„Ich geh dann mal und such den Clemens. Sicher hängt er wieder irgendwo im Archiv herum“.
Er sah nicht mehr, wie seine Chefin ihm liebevoll hinterherlächelte und das war gut so. Sonst hätte er sich nur noch mehr darüber aufgeregt. Und wenn sich dieser junge ungarisch stämmige Mann aufregte, konnte das ziemlich laut und temperamentvoll werden.
Während in dem kleinen beschaulichen Örtchen Ottenbach mit seinen knapp zweitausendfünfhundert Einwohnern der Alltag ganz normal weiterging, stand in der Messerwerkstatt Angerer die Zeit still. Nachdem Jakob die Polizei verständigt hatte, brachte es niemand fertig, zur alltäglichen Arbeit zurückzukehren. Tobias wollte unbedingt noch eine Weile bei seiner toten Mutter sitzen, während sein Bruder seine Kinder tröstete und nebenbei versuchte, seine verschlafene Schwester zu erreichen. Inzwischen war es kurz nach neun und sie müsste eigentlich schon auf sein. Marianne besaß aber nur ein Handy und das schaltete sie meist erst ein, wenn sie um zehn Uhr in die Werkstatt kam. Dennoch war es Jakob den Versuch wert gewesen, sie wegen der schrecklichen Vorkommnisse an diesem Morgen so schnell wie möglich zu informieren. Hätte er es nicht versucht, hätte sich seine Schwester sicherlich beschwert, ob sie es nicht wert sei, dass man sie informierte. So war sie nun selbst schuld, dass sie von alldem, was geschehen war und in der nächsten Stunde noch passieren sollte, nichts mitbekam. Vielleicht war es auch gut so, denn Marianne konnte ziemlich hysterisch werden und darauf konnte die Familie nun ganz sicher verzichten. Vor allem in letzter Zeit war sie oft mürrisch und ungeduldig, was sonst eigentlich gar nicht ihre Art war.
„Wann kommt denn nun endlich ein Arzt?“, ereiferte sich Nora nach einer halben Stunde angespannten Wartens.
„Welchen Arzt die wohl bestellt haben? Hoffentlich nicht die neue Ärztin, die seit ein paar Monaten die Praxis unseres geschätzten Doktors hier in Ottenbach übernommen hat. Die kann ich nämlich gar nicht leiden!“
„Aber Nora, so was sagt man doch nicht“, maßregelte sie ihr Vater. „Sie hat es auch nicht leicht und gibt sicher ihr Bestes, um die Patienten ihres Vorgängers gut zu versorgen“, versuchte Jakob die neue Ärztin in Schutz zu nehmen. Er war bisher nur einmal kurz mit Felix bei ihr gewesen, um ihn vor dem Ausbildungsantritt untersuchen zu lassen. Zugegeben – besonders sympathisch war sie nicht, aber sie hatte Felix gewissenhaft untersucht und ihm dann auch gleich sein Attest ausgestellt. Dass sie ihrem Sohn wegen seiner gelegentlichen Knieschmerzen, die sicherlich vom Wachstum her kamen, gleich eine Akupunktur-Therapie verpassen wollte, verbuchte er unter der Rubrik: geschäftstüchtig. Natürlich hatten weder er noch sein Sohn zugestimmt und sie war dann auch nicht weiter darauf eingegangen. Außerdem hatte Jakob im Ort munkeln hören, dass sie die Praxis demnächst schon wieder aufgeben wollte, weil sie sich angeblich nicht rechnete. Woran sie ganz sicher auch selbst Schuld hatte, denn nur wenige waren nach dem Weggang ihres beliebten Vorgängers zu ihr gekommen.
„Wenn diese Tante kommt, bin ich weg!“, meinte dann auch Felix und erntete von seinem Vater ein genervtes Kopfschütteln. Tobias kam dann einige Minuten später ebenfalls herunter ins Wohnzimmer, wo die anderen in Gedanken versunken oder unruhig herumsaßen. Nora kaute zum ersten Mal seit langem wieder auf den Fingernägeln, obwohl ihre Hände von der Arbeit schmutzig waren. Felix hatte seinen iPod herausgeholt, obwohl sein Vater eigentlich verboten hatte, dass er ihn mit in die Arbeit brachte. Doch heute achtete Jakob gar nicht darauf, er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nicht nur der Tod seiner Mutter erschütterte ihn, viel mehr Sorgen machte er sich momentan um seinen Vater.
Wo war Reno?
Wo war er nur hin und hatte sogar den Hund mitgenommen? War er nach Adeles Tod so geschockt gewesen, dass er in Panik einfach davongelaufen war? Bei dieser Überlegung sprang er plötzlich auf und rief:
„Ist Renos Auto überhaupt weg?“ Niemand war bisher auf den Gedanken gekommen, nachzusehen. Nora erbot sich sofort, einen Blick in die Garage zu werfen und rannte mit ihren langen rotblonden Haaren, die wie ein Schal hinter ihr her wehten, aus dem Haus. Sobald klar gewesen war, dass sie heute nicht mehr arbeiten würden, hatte sie sofort ihren Zopf aufgeflochten. Während der Arbeit war es Pflicht, die Haare wenigstens zusammenzubinden … Betriebssicherheit!
Wenig später kam sie keuchend zurück und schrie noch von der Haustüre her:
„Opas Auto ist da, aber sein Motorrad ist weg!“
„WAS?“, schrien alle fast gleichzeitig. „Aber wo ist dann der Hund?“, fragten sich die entsetzt dreinblickenden Angerers. Auf gar keinen Fall konnte man einen so großen Schäferhund auf einem Motorrad mitnehmen!
„Vielleicht ist Moritz mal wieder ausgebüchst und Opa sucht ihn mit dem Motorrad“, warf Nora in den Raum, doch ihr Vater schüttelte sofort den Kopf.
„Das ergibt doch keinen Sinn, Nora. Moritz läuft nicht mehr so weit weg und im Sommer gibt es keine läufigen Hündinnen, oder? Sind die nicht nur im Frühjahr und im Herbst läufig, sodass sie unserem armen Rüden den Kopf verdrehen können?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hat sich eine damit verspätet“, meinte Nora und setzte nach einem Augenverdrehen ihres Bruders noch hinzu: „Könnte doch sein, oder nicht?“
„Ich weiß das wirklich nicht – aber wie gesagt, mit dem Motorrad nach ihm zu suchen, ist doch idiotisch. Reno kennt die Freundinnen seines Hundes und sucht ihn immer zu Fuß. Da steckt irgendwas anderes dahinter!“, sagte Jakob mit Überzeugung, obwohl er momentan keine Idee hatte, wo sein Vater abgeblieben sein könnte. Während die ganze Familie nun weiter vor sich hin grübelte, nur ein paar Mal durch geschäftliche Telefonate unterbrochen, die allerdings äußerst knapp gehalten wurden, was sonst gar nicht ihre Art war, knallte plötzlich kurz vor zehn Uhr die Haustüre und Marianne kam hereingestürmt. Ohne guten Morgen zu sagen, fragte sie außer Atem:
„Was ist denn passiert, dass ihr mich gleich fünf Mal versucht habt, anzurufen. Ich hab mein Handy grad erst eingeschaltet, als ich aus dem Auto gestiegen bin“. Marianne wohnte in einem hübschen kleinen Loft in Salach, natürlich ebenfalls mit Blick auf den Hohenstaufen und sie kam jeden Tag mit ihrem schwarzen Porsche 911 Carrera in die Arbeit.
„Setzt dich erst mal hin, Marianne“, sagte Jakob behutsam und seine sonst so resolute Schwester ließ sich beim Blick in die traurigen Augen ihrer Familienmitglieder folgsam zum weißen Ledersofa geleiten. Erst als sie saß, erzählte Jakob ihr die ganze Geschichte. Doch bevor sich Marianne dazu äußern konnte, klingelte es laut an der Türe. Wie seltsam sich das anhörte, wenn der Hund nicht augenblicklich zu bellen anfing.
„Das wird die Ärztin sein“, meinte Tobias und ging hinaus, um diese zum Haus zu begleiten, denn auf einem Schild vorne an der Türe stand neben einem abgebildeten Hund:
Ich brauche 2 Sekunden bis zur Türe und du?
Deshalb traute sich auch niemand, alleine durch den Garten zu gehen. Nur diejenigen, die bereits Bekanntschaft mit dem liebevollen alten Schäferhund gemacht hatten, kamen an die Haustüre, um zu klingeln.
Wie befürchtet, brachte Tobias eine mürrisch dreinblickende Frau Doktor Zeitler mit, die sich auch sofort beschwerte, dass sie ihre Praxis hätte verlassen müssen, ihre Patienten nun warten müssten und sie eigentlich für so was gar nicht zuständig sei.
„Wo ist denn nun die Tote?“, fragte sie genervt und ließ sich im Hinaufgehen die Krankheitsgeschichte von Adele Angerer kurz schildern. Sie untersuchte Adele dann auch nur flüchtig und stellte ohne Umschweife den Totenschein mit einer natürlichen Todesursache aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte.
Kaum war Frau Dr. Zeitler damit fertig, klingelte es erneut an der Türe. Diesmal erbot sich Nora, nach draußen zu gehen. Wie immer rannte sie durch den Garten, denn normales Laufen war ihr zu langsam. Doch als sie von weitem zwei Männer vor dem Zaun stehen sah, verlangsamte sie ihr Tempo – warum, wusste sie auch nicht. Vielleicht, weil der eine von ihnen so verdammt hübsch war und der andere so streng dreinblickte? Ob das Kunden waren oder etwa ein paar von den Zeugen Jehovas? Was wirklich sehr bedauerlich gewesen wäre, denn für diesen Schwachsinn einen so gutaussehenden jungen Mann zu missbrauchen, wäre geradezu eine Verschwendung gewesen. Doch zu ihrer Freude stellten sich die beiden als Mitarbeiter der Göppinger Kripo vor und Nora atmete erleichtert aus. Amüsiert lächelte der jüngere Polizist und sagte verschmitzt:
„Kommt nicht oft vor, dass die Leute so erfreut sind, die Vertreter des Gesetzes zu sehen“.
„Nun ja …“, stammelte Nora. „Immerhin ist mein Opa weg und Sie werden uns hoffentlich helfen, ihn zu finden, nicht wahr?“, fragte sie hoffnungsvoll, denn das war im Moment ihre größte Sorge. Ihrer Großmutter konnte niemand mehr helfen und sie dachte keine Minute daran, dass jemand ihre Oma umgebracht haben könnte.
„Das hoffen wir natürlich auch, junge Dame“, mischte sich nun der Ältere ein und Nora ging sofort davon aus, dass dieser hier das Sagen hatte und der junge nur der Assistent war.
„Wegen eures Wachhundes müssen wir uns in Ihrem Beisein wohl keine Gedanken machen, oder?“, fragte der Jüngere und stellte sich als Joska Kiss und seinen Kollegen als Sascha Clemens vor.
„Nein, natürlich nicht. Der ist ganz lieb“, fing Nora an, doch dann schaute sie plötzlich ganz traurig drein und fügte hinzu:
„Der Moritz ist übrigens auch weg!“
„Wer ist jetzt der Moritz?“, fragte Herr Clemens dümmlich, doch Joska erwiderte sofort, als wüsste er das ganz genau:
„Das ist der Hund. Stimmt doch, oder?“
„Ja. Das ist unser Schäferhund und der ist schon zwölf, aber immer noch hinter den Weibern her. Wahrscheinlich ist er mal wieder ausgerissen. Weil … also … mein Opa ist mit dem Motorrad weg und da kann er ja schlecht den Hund mitgenommen haben.“
„Das ist wohl richtig. Also sollte man vielleicht zuerst nach dem Hund suchen?“, meinte Joska mehr zu sich selbst und bekam jetzt zu Anfang seiner ersten eigenen Befragung schon Herzrasen und Schweißausbrüche. Welche Reihenfolge wohl seine Chefin gewählt hätte? Zuerst den Tatort und die Tote begutachten, dann mit der Familie sprechen (sind das nicht meist die Hauptverdächtigen?) und dann erst nach dem Hund suchen und danach die Vermisstenanzeige aufnehmen? Oder doch lieber andersherum? Der arme Joska kam immer mehr ins Schwitzen und dieser oberschlaue Clemens hielt heute mal ausnahmsweise den Mund und hielt sich zurück mit guten Ratschlägen. Ob er wohl merkte, wie unsicher Joska war und ob er ihn vor der jungen Dame nicht brüskieren wollte? Oder fand er es ganz amüsant, den lieben Herrn Kiss so zappeln zu sehen?
Jedenfalls rang der jugendliche Kriminalassistent noch mit sich, doch unerwartet kam die junge Frau ihm zu Hilfe:
„Ich glaube ganz sicher, dass Moritz nur seine Freundinnen besucht und da kommt er meist von selbst wieder. Sie sollten sich zuerst meine Oma … äh … die Leiche ansehen, denn die Ärztin ist gerade fertig und schon wieder auf dem Sprung in ihre Praxis. Sie möchten doch sicher noch kurz mit ihr sprechen? Außerdem kommt bald der Leichenwagen“, sprudelte Nora nur so vor Aufregung und Joska hätte sie umarmen mögen, weil sie ihm so einen genauen Ablauf der nächsten Minuten gegeben hatte … und vielleicht auch, weil sie so toll aussah und so voller Energie war? Dankbar lächelte er sie an, doch sogleich setzte er wieder eine gewichtige Miene auf und sagte:
„Selbstverständlich werden wir noch mit der Ärztin sprechen und der Leichenwagen wird schon warten müssen, bis wir mit der Inspektion und Freigabe der Leiche fertig sind.“ Auch Herr Kiss und sein Kollege kamen nicht auf die Idee, dass die Firmenchefin nicht eines natürlichen Todes gestorben sein könnte.
Während Nora draußen mit den Polizisten sprach, fiel Jakob plötzlich ein, dass sie in dem ganzen Trubel vergessen hatten, seine Frau anzurufen. Diese weilte seit vorigem Wochenende in Irland, wo sie einen Malkurs belegt hatte. Nach einer Woche nur mit malen beschäftigt, wollte sie eigentlich noch ein paar Tage durch dieses schöne Land fahren und nach weiteren tollen Motiven Ausschau halten. Jakob erreichte sie dann auch, als sie gerade auf dem Fußweg zu den „Cliffs of Mohair“ war. Er konnte seine Frau kaum verstehen, denn es rauschte ziemlich stark im Hintergrund. Besorgt fragte er:
„Wo bist du denn gerade und was rauscht da so?“
„Du hast ja keine Ahnung, mein Lieber, wie es hier stürmt!“, rief Delfina, die trotz portugiesischer Herkunft fast akzentfrei Deutsch sprach. Jakob kam gar nicht zu Wort, überschwänglich berichtete sie zunächst von ihrem erfolgreichen Abschluss des Kurses. Dann erzählte sie weiter.
„Auf der Fahrt hier rüber zu den Cliffs sind wir auf der
Autobahn an Tara vorbeigefahren und stell dir vor! … Dort steht ein kleiner, unscheinbarer Baum, der angeblich ein Feenbaum sein soll und deshalb haben die irren Iren die Straße um den Baum herum gebaut – ist doch unglaublich, oder?“
Ja, das war wirklich kaum zu fassen, aber in solchen Sachen verstanden die Iren anscheinend keinen Spaß. Jakob rang nun mit sich, ob er seiner offensichtlich sehr gut gelaunten Frau ihren Urlaub verderben und ihr die traurige Nachricht per Handy überhaupt überbringen sollte. Während er noch überlegte, schrie Delfina geradezu ins Handy: