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Seit die deutschstämmige Anna mit dem wohlhabenden Bauern Richard Walther verkuppelt wurde, lebt sie mit ihrem Mann und den Kindern Tessa, Ada, Luise und Mara und Oskar in einem Dorf in der Nähe von Warschau. Das ursprünglich polnische Gebiet gehört seit Beginn des zweiten Weltkrieges zum Deutschen Reich. Mit Skepsis betrachtet Anna, wie die deutschen Besatzer die polnische Bevölkerung unterdrücken. Als ihr 1942 das Ehrenkreuz der deutschen Mutter verliehen wird, versenkt sie die Fruchtbarkeitsmedaille aus Protest gegen die Nazi-Ideologien in der Weichsel. An den Gerüchten in der deutschen Gemeinde, die sich um Annas angebliche Affäre mit einem polnischen Widerstandskämpfer ranken, zerbricht Annas ohnehin problematische Ehe. Während die Familie zersplittert, erleben die Walthers Krieg und Naziherrschaft, die Befreiung der Polen durch die Rote Armee, Enteignung, Entrechtung und Zwangsarbeit. Bis auf Anna, die in Polen festgehalten wird, gelingt es den anderen Familienmitgliedern schließlich, aus ihrer Heimat zu fliehen. Bettelarm landet Richard Walther mit seinen fünf Kindern 1947 in einem Erzgebirgsdorf in der russischen Zone. Konfrontiert mit kommunistischen Ideologien und Vorurteilen der heimischen Einwohner gegen die Flüchtlinge aus dem Osten beginnt für die Walthers ein schwieriger Prozess der Eingliederung. Schon bald suchen zwei Töchter, die rührige Tessa und die durch die Kriegserlebnisse psychisch schwer angeschlagene Luise, ihr Glück im verheißungsvolleren Westen. Nachdem Anna Walther 1950 Polen endlich verlassen darf, muss sie sowohl die junge Bundesrepublik als auch die kurz zuvor gegründete DDR bereisen, um nach dreijähriger Trennung ihre Kinder wieder zu sehen. Entgegen ihrer Erwartung fühlt Anna sich wie ein Eindringling. Es kostet sie Mühe einzusehen, dass die Kinder inzwischen eigene Vorstellungen von ihrem Leben entwickelt haben. Auch Annas naiver Versuch die verstörte Luise durch mütterliche Zuwendung zu heilen, scheitert kläglich. Unabhängig von den anderen beschließt Anna einen Neuanfang in Westdeutschland zu wagen. Printausgabe: 386 Seiten
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Prolog
TEIL I : ZUHAUSE
1 Anna
2 Im Brunnen
3 Jerzy (Eins)
4 Treffpunkt Doppeleiche
5 Verdächtigungen
6 Mai 1943
7 September 1944
8 Januar 1945
9 Die Russen
10 März 1945
11 Der Rotarmist
12 Begegnungen
13 Jerzy (Zwei)
TEIL II : ZUHAUSE FREMDE
1 Juli 1946
2 In der Oberförsterei
3 Aufregung
4 Im Hexenhaus
5 Goldener Oktober
6 Januar 1947
7 Mareks Geheimnis
8 Die Flucht
9 Die Hagestolze
10 Szczecin
11 Auf der Schaukel
TEIL III : FREMDE
1 SBZ
2 Leihgaben und Geschenke
3 April 1948
4 Deutsche Mark
5 Hintzes Werben
6 BRD
7 DDR
8 Die junge Frau Hintze
9 Wiedersehen
10 Wünschendorf
11 Im Zug
A N H Ä N G E
Das Personal
Zeittafel
Impressum
Łomianki bei Warschau 1925
„Du wirst diesen Mann heiraten!“
„Nein. Niemals!” Anna schürzte ihre vollen Lippen trotzig. „Du kannst mich nicht zwingen, Vater”, sagte sie mit Nachdruck.
Jakob Baumann schnaubte. Er war außer sich vor Wut. Seine kleinen wasserblauen Augen funkelten bedrohlich im zornesroten Gesicht. Ungehalten sprang der Bauer vom knarrenden Armlehnstuhl, seinem Lieblingsplatz, auf. Mit polternden Schritten umrundete er mehrmals den Eichenholztisch, dessen wuchtige Präsenz die Wohnstube des Baumannschen Bauernhäuschens beherrschte. Die wilde Woge seines Zorns begann sich zu glätten. Seit Tagen bemühte sich Jakob vergeblich darum, seiner widerspenstigen Tochter einen vielversprechenden Heiratskandidaten schmackhaft zu machen.
„Dankt man so seinem Vater? Du bist zu alt, um wählerisch zu sein, Anna.“ Jakob Baumann atmete tief durch.
Er war vielleicht nur ein einfacher Bauer, aber immerhin wusste er eine störrische Kuh zu behandeln. Auch bei den Rindviechern konnte man mit Befehlen und Grobheit manchmal nichts ausrichten. Oft half ein Umschwenken auf Sanftheit und gutmütige Ansprache.
Der Klang seiner Stimme wurde weich. „Ich will dich gut versorgt sehen, verstehst du das denn nicht, Kind?”
„Aber es gibt da einen, der mich nehmen würde …”, sagte Anna verzagt. Zum einen war sie sich Jerzys Liebe seit er nach Danzig gegangen war, nicht mehr ganz sicher, zum anderen kannte sie die Einstellung ihres Vaters.
Tatsächlich lachte Jakob höhnisch auf. „Sprich seinen Namen bloß nicht aus. Dieser nichtsnutzige Polak ist nichts für meine Tochter, hörst du. Du bist eine Deutsche und du wirst einen Deutschen heiraten.”
Anna dachte an die Fotografie von Richard Walther, die die Heiratsvermittlerin Hedwig ihr vor zwei Wochen ausgehändigt hatte. Vor der künstlichen Kulisse einer Alpenlandschaft wirkte der abgebildete, etwa vierzigjährige, breitschultrige Mann in seinem schwarzen Sonntagsanzug völlig deplatziert. Grüblerisch und ernst starrte Richard Walther den Betrachter an. Die Vorstellung ihr Bett mit diesem Mann zu teilen, erschien Anna absurd. Sie schluchzte unglücklich: „Vater, dann verheirate mich wenigstens nicht mit dem kleinen, alten, kahlköpfigen … Tölpel.”
„Richard Walther ist weder alt noch ist er dumm. Er ist ein anständiger Mann, der schon einiges in seinem Leben erdulden musste und nun endlich zur Ruhe kommen will. Er braucht ein Weib.” Jakob Baumann sah seine weinende Tochter an und erinnerte sich dunkel daran, dass eine Frau vielleicht noch andere Worte hören wollte. „Er findet dich schön, hat Hedwig gesagt – glaube ich.” Jakob blickte verlegen an die Zimmerdecke.
Jetzt ging er mit seiner Sanftmütigkeit wohl etwas weit, dachte er. Hatte man je von Nachbarn oder Verwandten gehört, die so lange brauchten, um ihren Töchtern mitzuteilen, welcher Mann für sie ausgesucht worden war?
Der Groll in ihm verstärkte sich erneut.
„Hat Hedwig gesagt“, echote Anna gekränkt. Sie hasste den Gedanken, von der geschwätzigen Heiratsvermittlerin verkuppelt zu werden. „Ich weiß, du meinst es gut mit mir, Vater. Aber ich wäre todunglücklich mit einem Bauern. Suche mir einen Bäcker oder einen Kaufmann. Das Landleben ist nichts für mich, glaube mir.”
Auf keinen Fall wollte Anna ein Leben dort führen, wo der Gestank von Dung und den Ausdünstungen der Tiere auf ewig in jede Pore ihrer Haut und in jede Faser ihrer Kleidung dringen würde. Anna Baumann sehnte sich nach dem bunten Treiben in der polnischen Hauptstadt, wo sie gemeinsam mit ihrem Bruder und einem Knecht regelmäßig die Erzeugnisse des Baumannschen Bauernhofs feilbot. Inmitten des polyglotten Sprachengewirrs – polnisch, jiddisch, deutsch, russisch –, zwischen hupenden und dröhnenden Automobilen, die sich an behäbig auf dem Kopfsteinpflaster klappernden Pferdefuhrwerken vorbei rasant durch Warschaus Straßen schlängelten, fühlte sie sich wohl.
Aus dem Schweinestall, der sich direkt an das Baumannsche Bauernhaus anschloss, ertönte aufgeregtes Quieken und Grunzen. Die Tiere wurden gerade gefüttert.
„Du glaubst wohl, geeignete Männer wachsen bei uns an den Bäumen, wie?” brummte Jakob Baumann. „Richard Walther hat ausgezeichnetes Land von seinem Vater überschrieben bekommen, er hat ein kleines Haus gebaut, das nur auf dich wartet. Es wird dir gut gehen.”
„Selbst der Lehrer Seidel hat Interesse an mir gezeigt …”
„So ein Hungerleider!” meinte Jakob Baumann verächtlich. „Ein fleißiger Bauer mit gutem Land wird dich immer ernähren können. Was verdient dagegen schon ein Schulmeister? Tochter, du bist nicht gescheit!”
Er schüttelte ratlos den Kopf, offensichtlich würde er seine Strategie ändern müssen. Von draußen drang das wütende Gebell der Hündin Zora, in das sich das nervöse Gegacker der Hühner mischte, in die Stube. Erwartungsvoll spähte Jakob durch die geklöppelte Spitzengardine zum Fenster hinaus. Zu seiner Enttäuschung war die Heiratsvermittlerin Hedwig, von der er sich nun Beistand erhoffte, noch nicht im Anmarsch. Die Ursache für die Aufregung der Hoftiere ließ sich nicht auszumachen. Vielleicht schlich wieder einmal ein hungriger Wolf ums Haus herum. Jakob dachte nach.
„Es ist längst Abendbrotzeit. Willst du etwas essen?” fragte er.
„Nein”, sagte Anna.
„Du musst doch hungrig sein“, beharrte Jakob und riss abrupt die Zimmertür auf, in deren Nähe sich seine Frau Karoline aufhielt.
„Wie sieht es mit dem Abendessen aus, Karoline?”
„Es steht alles bereit, Jakob. Ich wollte euch nicht stören, es kamen so laute Stimmen aus dem Raum, da dachte ich …”
„Ist ja auch gut, Karoline. Aber jetzt hätte ich gerne eine große Portion zu Essen. Und nimm einen von den alten, abgeplatzten Tellern.”
„Nu, das Alltagsgeschirr, warum auch nicht? Aber nur eine Portion? Und was ist mit Anna, hat sie keinen Hunger?” wunderte sich Karoline Baumann.
„Nu, wir werden sehen.” In Jakobs Augen funkelte es spitzbübisch. Karoline ging kopfschüttelnd in die Küche.
In der Stube belauerte Jakob seine störrische Tochter.
„Du willst also ein schönes Leben und du willst einen hübschen Mann, nicht?”
„Na ja, welches Mädchen träumt schon nicht davon?”
„Ja, ja. Wer nicht?“ Jakob setzte sich in den Armlehnstuhl und betrachtete seine Tochter schweigend.
Minuten später zog Bratenduft durch das Zimmer. Karoline stellte einen an den Rändern abgestoßenen, vergilbten Teller auf den Tisch. Jakob warf einen prüfenden Blick darauf. Mehlige Kartoffeln schwammen dicht gedrängt in einem tiefbraun glänzenden See. Ein stattlicher Hügel Rote Beete Mus dampfte gemeinsam mit einigen Scheiben Schweinebraten, die unter der sämigen Soße begraben lagen, auf dem Teller. Ohne Eile erhob sich Jakob vom Stuhl und ging einige Schritte bis zur zierlichen Glasvitrine, die er mit seinen großen, abgearbeiteten Pranken öffnete. Daraus holte er einen mit rosa Rosen bemalten, weiß schimmernden Porzellanteller hervor. Voller Sanftmut lächelte er seine Tochter an. Dann arrangierte er die beiden ungleichen Teller nebeneinander auf dem Tisch.
„Nun, Anna, hast du die Wahl. Stell dir vor, du hast großen Hunger, einen viel größeren als jetzt. Welchen Teller würdest du wählen?”
„Da gibt es wohl nichts zu überlegen, ich würde natürlich den vollen nehmen.” Anna staunte über die Frage. Was war denn in ihren Vater gefahren?
Doch Jakob betrachtete seine Tochter zufrieden und meinte: „Nu, dann stell dir mal vor, der mit Essen gefüllte Teller, das ist Richard Walther, und der leere da ist ein hübscher, aber armer Polak, der dir in deinem Kopf rumspukt.”
Anna schluckte schwer, während Jakob triumphierend hinzufügte: „Nicht genug zu essen zu haben ist keine feine Lebensaussicht, oder? Richard Walther kommt uns am Sonntag besuchen. Du wirst sehen, der Mann wird dir gefallen.”
Anna:
Da steht er mir also gegenüber, mein Zukünftiger. Der Mann, den mein Vater für mich erwählt hat. Richard Walther erscheint mir zu alt, zu klein, zu kahlköpfig zu sein. Nein, ich finde ihn nicht sehr anziehend.
Eindringlich mustert er mich aus schmalen, katzengrünen Augen. Die Haut an meinem ganzen Körper beginnt unter diesem Blick zu brennen. Es ist als stünde ich nackt vor diesem Mann. Aber anstatt Scham darüber zu empfinden, fühle ich mich gegen meinen Willen wie elektrisiert.
Richard:
Anna und ich tauschen unseren allerersten Blick. Der Speichel in meinem Mund zieht sich zusammen als hätte ich eine besonders köstliche Speise vor meinen Augen. Mein Wunsch mich an dieser bezaubernden Frau zu laben wird übermächtig.
Nach unserer Eheschließung wird Anna sofort schwanger. Es ist ja auch kein Wunder, denn wir können die Finger nicht voneinander lassen. Wir sehen immer schnell zu, beieinander zu liegen, denn unterhalten können wir uns kaum. Es ist, als stammten wir von verschiedenen Planeten, sprächen unterschiedliche Sprachen – damals stört es mich nicht. Im Gegenteil. Anna bleibt ein Geheimnis für mich, und das macht sie nur noch begehrenswerter.
Anna:
Bereits am Anfang unserer Ehe hört mir Richard niemals richtig zu. Ich erzähle ihm von meinem Ärger mit den Mägden und davon, dass ich in Hohenburg herrliche Spitze für den Kragen meines hellgrauen Kleides gefunden habe, doch es ist, als spräche ich mit einer Kuh französisch.
Im ehelichen Bett verflüchtigt sich mein Ärger jedoch schnell. In der Umarmung finden wir unsere gemeinsame Sprache. Bald nach unserer Hochzeit erwarte ich unser erstes Kind. Im Mai 1926 kommt unser erstes Kind, ein Sohn zur Welt: Richard Jakob Walther.
Puschkeiten, Polen
1942 - 1945
Schröttersburg, 15. August 1942
Das metallene, zackige Ding, das ihr vor wenigen Minuten feierlich überreicht worden war, ruhte wie ein Fremdkörper in Anna Walthers linker Faust. Mit einem blütenweißen Leinentaschentuch in der anderen Hand betupfte sie sich die schweißnasse Stirn. Die Luft in dem etwa zwanzig mal zwanzig Meter großen Raum war verbraucht von dem Atem der gewürdigten Frauen und ihrer stolzen Angehörigen.
„Seid fruchtbar und mehret euch“, murmelte Anna leise vor sich hin und wurde dafür von ihrer weizenblonden Sitznachbarin mit einem Knuff in die Seite bedacht. In Gedanken versunken presste Anna die Auszeichnung für ihre Fruchtbarkeit noch fester, so dass sich das spitze Metall ins Fleisch ihrer linken Hand bohrte. Anna ignorierte den Schmerz.
Der Kindersegen war doch Gottes Wille. Warum fühlte sie sich unzufrieden? „Kinder sind der Reichtum des kleinen Mannes“, so lautete von jeher einer der Lieblingssprüche ihres Vaters, des alten Jakob. Möge er in Frieden ruhen.
Auch das Regime förderte und begrüßte Kinderreichtum in den Familien. Wieso konnte sie sich, anders als vermutlich alle anderen Frauen hier im Saal, nicht über das Mutterkreuz freuen? Immerhin, es war eine Anerkennung erheblicher Mühen. Sechs Kinder hatte Anna unter Schmerzen in den vergangenen Jahren das Leben geschenkt, fünf von ihnen lebten. Anna liebte ihren Nachwuchs, trotzdem hatte sie jede Schwangerschaft und Geburt eher als Strafe denn als Auszeichnung empfunden.
Bin ich entartet? – So nannten es die Nationalsozialisten, wenn ein Mensch sich außerhalb der Norm, die einzig und allein sie selbst definierten, befand.
„Ihr deutschen Frauen, gebärt Eurem Volk und Eurem Führer viele Kinder!“ Von der Bühne donnerte die staatstragende Stimme des Bürgermeisters hinunter auf die gebannt lauschende Menge. „Die deutsche kinderreiche Mutter soll den gleichen Ehrenplatz in der deutschen Volksgemeinschaft erhalten, wie der Frontsoldat, denn ihr Einsatz von Leib und Leben für Volk und Vaterland war der gleiche wie der des Frontsoldaten im Donner der Schlachten …“ Die wie unter großer körperlicher Anstrengung hinaus gepresst klingenden Sätze des Redners verursachten bei Anna eine Welle von Übelkeit. Sie musste an ihren Bruder denken, der mit der deutschen Wehrmacht auf der Krim gegen die Russen kämpfte.
Mit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 als Auslöser des zweiten Weltkriegs, hatte das Unheil, das schon einige Jahre zuvor wie ein bedrohliches Tier in die Welt geschlichen war, seinen Anfang genommen. Die Beute „Polen“ war zwischen des beiden landhungrigen Nachbarn, der Sowjetunion und dem Deutschen Reich, brüderlich aufgeteilt worden. Seither gehörte der künstlich geschaffene Regierungsbezirk Zichenau, in dem die Familie Walther lebte, zu Ostpreußen.
Ruckartig erhob sich Anna vom Stuhl. Das Leinentaschentuch hielt sie vor ihren Mund gepresst. Sie spürte, wie man ihr verständnislose Blicke zuwarf. Sogar der Bürgermeister unterbrach seine Rede, vielleicht nicht unfroh darüber, einen Moment Luft zu holen, bevor er die nächsten schwer verdaulichen Sätze von seinem Manuskript ablesen wollte. Die Aufmerksamkeit, die sie erregte, war Anna egal. Zielstrebig drängte sie durch die Stuhlreihe an misstrauischen Frauengesichtern vorbei und eilte den schmalen Gang hinaus ins Freie. Draußen wurde sie vom gleißenden Augustsonnenlicht geblendet. Einige SA-Leute unterhielten sich vor dem Eingangsportal des Rathauses. Einen Moment lang glaubte Anna das Profil ihres Schwagers zu erkennen. Arthur Reschke fehlte ihr jetzt gerade noch. Die Augen in die Ferne gerichtet hastete sie an den Männern vorbei.
Ein leichter Wind aus Flussrichtung fächelte Anna etwas Kühlung zu. Sie atmete tief durch und wählte den Weg hinunter zur Weichsel.
Jetzt, wo sie frische Luft tief in sich einsaugte, fühlte sie die Schwäche aus ihrem Körper weichen. Nun war wieder Platz für ihre Wut. Anna ärgerte sich, weil sie der Bitte ihres Mannes gefolgt und zu dieser lächerlichen Nazi-Veranstaltung erschienen war. Richard Walther wollte nicht, dass Anna den Machthabern unangenehm auffiel, indem sie die Auszeichnung ablehnte. Vor dem Krieg hatte Richard das Amt des Bürgermeisters in ihrem kleinen Dorf ausgeübt. Doch seit der Naziherrschaft hielt er es für klüger, sich aus einer Politik, die er nicht zu unterstützen gedachte, herauszuhalten. Sein Bauernhof war Richard Walther in den vergangenen drei Jahren wichtiger als jemals zuvor geworden, denn dort war er sein eigener Herr.
Obwohl sie Richards Vorsicht hinsichtlich der Nazis verstehen konnte, wurmte Anna das passive Verhalten ihres Mannes, denn ihrem Wesen nach war Anna ein aufsässiger Mensch. Allerdings hinderte sie ihre ebenfalls angeborene Trägheit daran, den Hang zum Ungehorsam auszuleben. Gleichwohl fühlte sie sich von Menschen, die mutig und energiegeladen gegen den Strom schwammen, angezogen.
Wieder spürte Anna den kreuzförmigen Anhänger in ihrer Hand, unverwandt schaute sie sich die Trophäe ihrer Fruchtbarkeit noch einmal an. In der Mitte des silbernen und blauen Abzeichens prangte ein schwarzes Hitlerkreuz, das mit der Schriftumrandung „Der deutschen Mutter“ versehen war. Entschlossen schüttelte Anna ihren Kopf. Langsam schlenderte sie in Richtung der Weichselbrücke, die das Zentrum der tausendjährigen Bischoffsstadt Płock, seit 1939 in Schröttersburg umbenannt, mit der Ortschaft Radziwie verband. Als Anna die Mitte der Brücke erreichte, lehnte sie sich ein Stückchen über die Brüstung. Das graublaue Wasser unter ihr strömte im pfeilschnellen Tempo in Richtung Meer.
Puschkeiten, September 1942
„Hühnerwetter, Kinder – hört endlich auf mit dem Geschrei!“, rief Anna Walther, in der stillen Hoffnung eines der Kinder würde ihrer Ermahnung Folge leisten, zum Küchenfenster hinaus. Sie schwenkte einen feuchten Waschlappen drohend in der Luft herum, während eine lachende und kreischende Kinderschar am Küchenfenster entlang stob. Nur die siebenjährige Tochter Mara stoppte am Fenster und sah ihre Mutter etwas besorgt an.
„Geh´ nur Kindchen. Hab du auch deinen Spaß. Aber bleibt nicht ganz so dicht am Haus. Mir brummt der Kopf heute.“ Seufzend ließ Anna sich auf den Schemel fallen und kühlte sich mit dem Lappen die Schläfen. Es war ein sonniger, schwüler Spätsommertag, vielleicht würde es wie gestern Abend ein Wärmegewitter geben. Vor Anna auf dem Tisch lag ein Berg Mohrrüben, die bis zum Abend geschabt werden mussten. Während Jadwiga, die Küchenmagd mit einer Sommergrippe im Bett lag, waren die anderen Mägde auf den Feldern mit der Kartoffelernte beschäftigt. Ergeben begann Anna eine Rübe nach der anderen zu schälen. Draußen kehrte tatsächlich Ruhe ein, die spielenden Kinder schienen sich aus der näheren Umgebung des Bauernhauses verzogen zu haben.
Während sie ihrer eintönigen Beschäftigung nachging, hing Anna mal wieder dem Gedanken nach, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie sich seinerzeit gegen die Heirat mit Richard entschieden hätte. Obwohl sie sich nicht beklagen konnte, verließ sie niemals das unbestimmte Gefühl, die eine große, erfüllende Liebe verpasst zu haben.
Seit nunmehr siebzehn Jahren lebte Anna in dem 60 km weichselaufwärts von Warschau entfernt gelegenen Dorf Puschkeiten. Hier besaßen die Walthers ein kleines Bauernhaus mit Stallungen für Kühe, Schweine, Pferde und Federvieh sowie ertragreiches Ackerland, auf dem Getreide, Kartoffeln und Futterrüben angebaut wurden. Sechs Bauernhöfe zählte der kleine Ort. Die Höfe lagen in großzügigem Abstand voneinander entfernt in der weiten ebenen masowischen Landschaft und reihten sich eine unbefestigte Straße entlang, die bis nach Hohenburg führte. In diesem alten Weichselstädtchen gehörte den Walthers ein Mietshaus, das im Erdgeschoß eine verpachtete Gaststätte beherbergte. In den gemeinsamen Ehejahren hatten sich Anna und Richard Walther einen soliden Wohlstand geschaffen. Und wenn Anna auch das Leben einer Bauersfrau mit wenig Begeisterung führte, so empfand sie Genugtuung darüber, in Hohenburg als recht begüterte Dame auftreten zu können.
Stürmisch stieß jemand die Küchentür auf. Anna wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen.
„Mama, Mama!“ Die zwölfjährige Ada Walther stolperte aufgeregt in die Küche. Wenn Ada sich aus ihrer etwas schwerfälligen Ruhe bringen ließ, so war etwas passiert, dachte Anna erschrocken.
„Mama, du musst zum Brunnen kommen. Oskar sitzt im Eimer, und wir bekommen ihn nicht mehr nach oben gezogen!“
Beunruhigt sprang Anna vom Schemel auf. „Herrje, du willst doch nicht sagen, Oskar sitzt im Brunnen fest? Hat Tessa denn nicht aufgepasst!“ Annas älteste Tochter Tessa vergaß in letzter Zeit auffallend oft ihre Pflichten gegenüber den jüngeren Geschwistern.
„Die ist vorhin mit dem Fahrrad abgedampft! Sie hat gesagt, ehe du es bemerkst, ist sie längst wieder zu Hause“, antwortete Ada erregt.
Anna riss die Tür auf und hastete, von Ada dicht gefolgt, den schmalen, sonnenblumengesäumten Gartenpfad entlang in Richtung Brunnen. Im Schatten der mächtigen alten Eiche standen Mara und Luise und brüllten Durchhalteparolen in die Tiefe des Brunnens hinunter.
„Lasst mich vorbei – nichts als Unsinn habt ihr im Kopf!“ Fassungslos starrte Anna in den hohlen, etwa vierzig Meter tiefen Bau. Ein Stückchen über der Wasseroberfläche schwebte Oskar. Er hockte im Eimer und krallte sich mit beiden Händen an den Seilen fest. Dass der jüngste Walther-Spross sich in gefährliche Situationen brachte, war für die Familie nichts Ungewöhnliches. Doch dieses Mal schien sich sogar der Sechsjährige seiner lebensbedrohlichen Lage bewusst zu sein. Voller Furcht blickte er zu seiner Mutter empor.
„Mama, hilf mir!“
Verzweifelt drehte Anna an der Brunnenwinde, doch nichts rührte sich. Die Winde klemmte.
„Warte, Mama, wir versuchen es zusammen.“
Ada begann sich gemeinsam mit ihrer Mutter an der Brunnenwinde abzumühen. Stumm vor Schreck sahen Luise und Mara dabei zu. Oskar, in der Tiefe des Brunnens, schien vor Angst erstarrt zu sein. Das dunkelgrüne gewaltige Blätterdach der Eiche raschelte leise im Sommerwind. Einen Moment lang fühlte sich Anna wie in einem bösen Traum gefangen. Sie zwang sich, eine vernünftige Lösung zu finden.
„Ada, lauf so schnell du kannst zu Reschkes. Versuch Hilfe zu holen. Und ihr zwei“, wandte sich Anna an ihre verschreckten Töchter Luise und Mara, „bleibt bei eurem Bruder. Ich hole Vater vom Feld.“ Sie beugte sich tief über die Brunnenmauer und rief ihrem Sohn zu: „Oskar, du schaffst das. Halte dich weiter so gut fest, wir holen dich da wieder raus!“
Während Anna auf dem sandigen Weg durch die weite, bis zum Horizont reichende Ebene um das Leben ihres einzigen Sohns lief, packte sie eine alt bekannte Verzweiflung. Das Grauen, das sie bei dem Tod ihres erstgeborenen Sohnes empfunden hatte, ergriff sie erneut.
Lieber Herr Jesus, nimm mir nicht auch noch dieses Kind. Gelobt seiest du im Himmel und vergib mir meine Sünden …
Keuchend erreichte Anna den Kartoffelacker, auf dem drei Männer und zwei Frauen mit der schweren Erntearbeit beschäftigt waren. Die Männer liefen die Furchen ab und hoben mit den Mistgabeln Kartoffelsträucher aus der Erde. Die Mägde buddelten die lebenswichtigen Knollen mit ihren Händen aus und sammelten sie in Körben.
„Hilfe! Pomocy!“, schrie Anna verzweifelt. „Oskar steckt im Brunnen fest! Richard!“
Verschwitzt kam Richard Walther, breitschultrig und um Haupteslänge von den beiden Knechten neben sich überragt, von der anderen Seite des Ackers auf seine Frau zugelaufen. Ohne auf weitere Erklärungen zu warten, gebot er: „Schnell, auf den Wagen.“
Während Richard die Pferde antrieb und sicher über den holprigen Weg lenkte, betete Anna voller Inbrunst.
Als sie schließlich den Brunnen erreichten, trafen sie dort eine kleine Menschentraube an. Die Stimmung schien gelöst. Anna sah sofort ihren lachenden Schwager Arthur Reschke mit einigen seiner Knechte. Ina Reschke, Richards jüngste Schwester, hielt Mara und Luise in ihren Armen. In der Mitte der Gruppe stand der kleine Oskar strahlend wie ein Held.
Gelobt sei der Herr!
Erleichtert lief Anna auf ihren Sohn zu, umarmte ihn heftig und küsste ihn, ungeachtet eines gewissen Widerstrebens Oskars, stürmisch ab. Eine Weile ließ Richard seine Frau gewähren. Dann schob er sie zur Seite, legte seinem Sohn die linke Hand auf die schmale Schulter, holte mit der rechten kräftig aus und verabreichte Oskar die schmerzhafteste Ohrfeige seines jungen Lebens. Mit gepresster Stimme blaffte Richard den jammernden Jungen an: „Für diese himmelschreiende Dummheit erwartet dich heute Abend eine ordentliche Tracht Prügel. Damit du nicht vergisst, dich niemals mehr in eine so bodenlos dämliche Gefahr zu bringen. Jetzt muss ich wieder aufs Feld. Die Kartoffeln ernten sich nicht von alleine.“
Oskar rieb sich die schmerzende Wange. Mühsam schaffte er es die Tränen zu unterdrücken. Aus seinen kirschengroßen, dunkelbraunen Augen blickte er dem davon stapfenden Vater erschrocken nach. Wieso lobte der Vater ihn nicht für seine Durchhaltekraft, wie es die anderen getan hatten?
Auch Anna empfand die Reaktion ihres Mannes als hart. Wenn er nicht so schnell verschwunden wäre, hätte sie ihm ihre Meinung dazu gesagt. Wie so oft verspürte Anna große Lust, sich mit Richard zu streiten. Kaltschnäuzig wie immer, dachte sie wütend, und vergaß einmal mehr, dass der ganze landwirtschaftliche Betrieb und auch die Erziehung der Kinder meistens vom kühlen, entschlossenen und durchdachten Handeln Richards profitierten. Die Konsequenz, die Anna fehlte, hatte Richard hohes Ansehen in der Gemeinde gebracht und auch die Kinder achteten die Grenzen, die der Vater zog, sehr genau, während sie der Mutter nur allzu gerne auf der Nase herumtanzten.
„Jetzt einen Schnaps auf den Schreck, nicht wahr?“ Anna machte eine einladende Geste und Ina und deren Mann Arthur, folgten ihr bereitwillig in das kleine, strohgedeckte Bauernhaus, an dessen roten Backsteinmauern weiße, süß duftende Rosen emporrankten. Die polnischen Knechte wurden zurück an die Arbeit geschickt. Anna versprach ihnen später eine Flasche Selbstgebrannten vorbeibringen zu lassen. Die Reschkes machten es sich in der Küche bequem, und Arthur begann ein Gläschen ums andere auf den Schreck zu leeren.
Die Kinder, froh darüber, den Hof nun wieder für sich zu haben, ließen sich noch einmal die Eindrücke, die Oskar in der Tiefe des Brunnens gewonnen hatte, schildern. Und der Sechsjährige genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, obwohl er die unerfreuliche Aussicht auf die Abendstunde mit seinem Vater nicht ganz aus den Gedanken verdrängen konnte.
*
In der Küche geriet Arthur Reschke ins Politisieren. Die beiden Frauen warfen sich vielsagende Blicke zu. Arthur war dafür berüchtigt, sich unter Alkoholeinfluss in einen Militärexperten allerersten Ranges zu verwandeln. Dabei war er gleich zu Beginn des Krieges wegen eines Herzfehlers ausgemustert worden. Den ersten Weltkrieg hatte er aus der Sicht eines Halbwüchsigen erlebt, während sein dreizehn Jahre älterer Schwager Richard Walther bereits damals Soldat gewesen war.
„Ihr werdet sehen: Hitler wird es dem ganzen Slawenpack zeigen. Die 6. Armee dringt gerade in Stalingrad vor, der Ostfeldzug wird ein Triumph. Ein Tri-umph! Der Überlegenheit unserer germanischen Rasse können die faulen Säcke doch nichts entgegensetzen.“
„Mein Gott, Arthur. Krieg hat noch niemals etwas Gutes für die Menschen gebracht.“ Anna schauderte bei dem Gedanken an die vielen Opfer, die der Krieg bisher gekostet hatte.
„Weibergeschwätz. Der Deutsche bringt Ordnung in die Welt!“ Arthur stemmte ein weiteres Gläschen Selbstgebrannten in die Höhe und schüttete ihn mit Schwung in die Kehle. „Jawohl! Deutsche Gründlichkeit, Sauberkeit, Disziplin, Sitte und Anstand … Polen, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Jugoslawien – zack, zack, zack. Alles im Blitzkrieg erobertes Gebiet!“
„Ja, das ging schnell am Anfang. Aber nun ist fast die ganze Welt gegen uns. Selbst die Amerikaner …“ Mit Grauen dachte Anna an den Kampf an allen Fronten.
„Huch, die Amis mit ihren Negern! Der schwarze Mann hat doch keinen Mumm. Vertraut mir, unser Adolf wird es schon richten.“ Leicht schwankend erhob sich Arthur Reschke vom Stuhl, nahm stramme Haltung ein, streckte den Arm zum Hitlergruß mit Inbrunst weit von sich und erklärte zackig: „Sieg Heil!“
„Arthur, ich glaube, du musst mal nach den Knechten sehen. Wer weiß, ob die alles richtig machen“, warf Ina, verschüchtert wie immer, wenn sie mit ihrem selbstherrlichen Mann sprach, ein. Einmal mehr dachte Anna, was für ein ungleiches Paar die beiden waren. Der schlanke, selbstbewusste, gut aussehende, sich immer betont gerade haltende Arthur und seine kleine, pummelige, unscheinbare Frau passten weder äußerlich noch vom Charakter her zueinander.
Geflissentlich überhörte Arthur den Vorschlag seiner Frau, zu gehen. „Tja, den faulen Polaken kann man nicht trauen. Kaum lässt man sie aus den Augen, beklauen sie einen wie die Raben. Es ist die Rettung für unsere Gegend, dass Hitler Zucht in diesen Sauhaufen hineinbringen lässt. Das Wartheland, Oberschlesien und Westpreußen können sich glücklich schätzen seit ´39 zum Deutschen Reich zu gehören! Die Polaken brauchen eine harte Hand, glaubt mir. Heil dem Führer!“ Wieder setzte Arthur schwungvoll das Glas an seine Kehle und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter.
„Aber, Arthur, man kann doch den Polen in ihrem eigenen Land nicht die Luft zum Atmen abschnüren! Wohin soll das führen? Der Hass ist in den letzten Jahren dermaßen gewachsen …“, versuchte Anna zu argumentieren.
„Papperlapapp. Die Polaken haben uns jahrelang auch klein gehalten.“
Ungemütlich rutschte Ina auf ihrem Stuhl hin und her. Aus einem für sie selbst unerfindlichen Grund riefen Arthurs politische Reden bei ihr Nervosität hervor. „Arthur. Unsere Knechte brauchen deine Aufsicht“, traute sie sich mit sanfter Stimme zu erinnern.
„Magst Recht haben. Die Kerle tanzen womöglich auf dem Tisch, wenn sie sich unkontrolliert fühlen“, stimmte Arthur mit Blick auf die halbvolle Schnapsflasche widerwillig zu. Leicht schwankend erhob er sich vom Stuhl. „Na, dann will ich mal los. Dank dir, Anna.“
„Ich habe euch für eure Hilfe tausend Mal zu danken. Nicht auszudenken, wenn Oskar etwas passiert wäre.“
„Nix als Unsinn im Kopf hat dieser Lausejunge. Da hilft nur unerbittliche Strenge. Unser Emil würde sich so etwas erst gar nicht trauen.“ Kopfschüttelnd verließ Arthur die Küche und die Frauen waren endlich unter sich.
Ina seufzte. „Er will aus unserem Emil einen ganz harten Burschen machen. Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde – du weißt es ja. Dabei ist Emil gar nicht der Typ dafür. Ein gutherziger Junge ist der, aber das reicht Arthur nicht. Es gefällt ihm nicht einmal.“
„Diese Männer! Nichts als Ärger hat man mit ihnen. Solange sie jung sind, treiben sie Unfug wie im Brunnen zu verschwinden oder in den gefährlichen Weichselstromschnellen zu schwimmen. Wenn sie erwachsen sind, sterben sie sinnlos in Schützengräben, piesacken Menschen, die nicht so sind wie sie, und sie verehren einen Verrückten.“
„Anna! Also, wirklich. Wie kannst du so etwas sagen.“ Ina wirkte aufrichtig entsetzt. Leise flüsternd fügte sie hinzu: „So etwas darfst du nicht einmal denken.“
Eine Weile schwiegen die beiden Frauen.
„Sag mal, wie war es eigentlich neulich in Schröttersburg?“, wechselte Ina das Thema. „Du bist ja jetzt fast etwas Besonderes.“ In Inas Stimme lag ein Anflug von Neid. „Kommst ja in den Genuss von einigen Bevorzugungen. Das Vortrittsrecht an Behördenschaltern würde mir auch ganz gut gefallen. Zeig doch mal das Mutterkreuz her!“
„Das habe ich nicht mehr.“
„Wie – das hast du nicht mehr. Hast du es verloren?
Anna schüttelte langsam den Kopf, nicht sicher, ob sie ihrer Schwägerin gegenüber offen sein sollte. „Um ehrlich zu sein, war ich derartig wütend über die ganze Veranstaltung und das heuchlerische Getue, dass ich das Ding danach gleich in der Weichsel versenkt habe.“
„Anna!“ Ungläubig stand Ina der Mund offen. Sie hatte ja schon immer gewusst, dass Anna ein theatralisches Frauenzimmer war, aber dieses Mal ging sie nun wirklich zu weit.
„Ist doch wahr!“, beharrte Anna. „Die deutsche kinderreiche Mutter wird mit dem Frontsoldaten gleichgesetzt, weil beide den gleichen Einsatz für Volk und Vaterland erbringen. Das ist doch …“
Erwartungsvoll sah Anna ihre Schwägerin an.
„Na ja, ganz unrecht haben die nicht“, sagte Ina lau.
„Ich habe doch meine Kinder nicht wegen Volk und Vaterland zur Welt gebracht, sondern weil dein Bruder seine Finger nicht von mir lassen konnte!“, redete sich Anna in Rage.
Schockiert erhob Ina sich vom Stuhl. Na bitte, nie kannte Anna ihre Grenzen. Ina wandte sich zum Gehen, während Anna weiter schimpfte: „Die wollen doch nur, dass wir Frauen weiter Kanonenfutter für sie produzieren. Himmel, bin ich froh, über meine vier Töchter. Und bis Oskar groß genug ist, wird dieser Wahnsinn hoffentlich vorüber sein.“
Wortlos verließ Ina das Haus.
„Ja, geh´ nur und halte dich aus allem heraus, Ina“, murmelte Anna enttäuscht ihrer Schwägerin hinterher. Es war schwierig mit Menschen zu diskutieren, die sich scheuten eine eigene Meinung zu vertreten.
Unverwandt blickte Anna die Möhren auf dem Küchentisch an. In Kürze war Abendbrotzeit. Nun musste sie ein schnelles Mahl auf den Tisch bringen.
Von der Diele drang gut gelauntes Pfeifen in die Küche. Anna riss die Küchentür auf und entdeckte ihre älteste Tochter Tessa, die sich gerade im mannshohen Dielenspiegel betrachtete. Tessa war eine bemerkenswert hübsche, zartgliedrige Fünfzehnjährige mit den hohen Wangenknochen ihrer Mutter, klaren hellgrünen Augen und vollen, maronenfarbenen Haaren.
„Tessa, trödle nicht vor dem Spiegel herum. Hilf mir lieber in der Küche“, sagte Anna.
„Ist das Essen noch nicht fertig? Papa ist schon auf dem Weg vom Feld. Ich habe ihn gerade mit dem Fahrrad überholt.“ Tessa folgte ihrer Mutter in die Küche.
„Hole Eier und Speck aus der Speisekammer. Es gibt Rühreier mit Brot. Heute war hier die Hölle los, dein Bruder wäre fast im Brunnen ertrunken.“ Ärgerlich fixierte Anna ihre Tochter. „Wieso hast du nicht auf die Kleinen aufgepasst? Du hättest mir Bescheid sagen müssen, dass du fort gehst.“
Erstaunt riss Tessa ihre großen Augen auf: „Aber ich hab doch Ada lang und breit alles erklärt. Hat sie dir denn nichts gesagt?“ Geschäftig verschwand Tessa erst einmal in der Speisekammer. „Du hättest mich fragen müssen“, beharrte Anna als Tessa mit den Zutaten zurückkehrte. Sie machte sich am Herd zu schaffen und reichte Tessa einen großen Bund Petersilie. „Ach Mama, wenn du Kopfweh hast, lässt man dich am besten eine Weile in Ruhe.“ Tessa begann die Petersilie zu hacken.
Während der appetitanregende Duft des ausgelassenen Specks die Küche erfüllte, quirlte Anna drei Duzend Eier mit Salz und Pfeffer. „Du hattest einfach Angst, ich würde es nicht erlauben. Stimmt´ s? Wo warst du überhaupt?“
Tessa druckste herum. Sie hatte sich im Nachbardorf bei den Sieberts aufgehalten und das sah die Mutter nicht gerne. „Wieso interessierst du dich plötzlich dafür? Na ja, ich hab es doch mal erzählt: ich helfe Lisa Siebert bei den Deutschhausaufgaben. Ihr Deutsch ist wirklich jämmerlich. Wenn man bedenkt, dass ihre Eltern unsere Sprache kaum beherrschen.“
Anna nahm ihrer Tochter die fertig gehobelte Petersilie ab und warf die Kräuter schwungvoll in die Eiermasse. „Du weißt, ich halte es für besser, wenn du nicht so viel Zeit mit der Siebert-Sippe verbringst. Die haben sich auf dem Hof anständiger Leute breit gemacht. Und während die Karlowskis ins Generalgouvernement verfrachtet worden sind, fahren die Sieberts die Ernte ein.“
Als „Generalgouvernement“ wurde das polnische Restgebiet, das weder vom Deutschen Reich noch von der Sowjetunion einverleibt worden war, bezeichnet. Auch Warschau gehörte hierzu. Die Nazis betrachteten dieses Gebiet als auszubeutendes Nebenland. Willkür und Unterdrückung waren hier besonders groß. Vor einiger Zeit hatten die Deutschen begonnen die polnische Bevölkerung aus den annektierten Gebieten ins Generalgouvernement abzuschieben und den frei gewordenen Lebensraum mit Deutschstämmigen aus Russland, den Baltischen Staaten und Ostgalizien zu besiedeln. Wenn Anna an diese menschenverachtende Politik dachte, geriet ihr Blut in Wallung.
„Sei nicht ungerecht, Mama. Die Sieberts können doch nichts für die Politik. Die mussten ihren Hof in Litauen ja auch aufgeben, und nun müssen sie sich hier neu zu Recht finden. Außerdem: Wir können hier gar nicht genug Leute haben, die sich zu ihrem Deutschtum bekennen, sagt Hitler.“ Tessas Augen begannen zu leuchten, sie schwärmte: „Stell dir vor: Von nahezu überall her werden die Deutschen heim ins Reich geholt und im Reichsgebiet angesiedelt. Was für ein fantastischer Plan! Welche gewaltige Organisation dahinter steckt.“
„Nu, und diese Heimholung oder soll ich es Heimsuchung nennen …“
„Mama!“
„… das also findest du gut. Wenn wir für immer hier weg müssten und man würde uns wer weiß wohin schicken, da würdest du dich wohl freuen. Oder doch nicht?“ Anna schnaubte verächtlich. „Was ist das alles für ein hin und her?“
„Ach, Mama, du verstehst es nicht. Wir müssen den Slawen in unserem Land eben auch zahlenmäßig überlegen werden.“
„Gott der Allmächtige hat seine Schäfchen alle gleich lieb, der macht keinen Unterschied zwischen Polen, Deutschen oder sonst wem. Nur der Mensch macht alles kaputt. Unsere Familie hat immer dazu gestanden, deutsch zu sein, obwohl wir so manches Mal Nachteile dafür in Kauf nehmen mussten. Es ist noch gar nicht so lange her. 1915, im Weltkrieg war es, da hat man die Deutschstämmigen aus Polen nach Russland an die Wolga verfrachtet, weil man Angst hatte, sie würden für das Deutsche Kaiserreich spionieren. Als Minderheit in einem Land hat man es niemals leicht gehabt.“ Langsam redete sich Anna in Rage. Bevor Tessa etwas entgegnen konnte, entrüstete sie sich weiter. „Es ist doch sehr verwunderlich, wie zahlreich die Volksdeutschen plötzlich aus dem Erdboden schießen seit Hitler in Polen einmarschiert ist. Vor 1939 trugen die vielen Eingedeutschten noch ganz gewöhnliche polnische Namen.“ Anna gab den Teig zu dem brutzelnden Speck in die Pfanne und ließ die Masse langsam stocken. „Manche Menschen stehen eben immer auf der Seite, von der sie sich die größeren Vorteile erhoffen. Ein guter Pole ist auch in Notzeiten stolz auf seine Nationalität.“
Gelangweilt verdrehte Tessa ihre Augen. Sie dachte daran, wie arm die polnische Landbevölkerung zumeist war. Die Leute gingen schäbig gekleidet, Bauernhöfe und Dörfer wurden aus Geldmangel schlecht gehalten. Einige von Tessas Schulkameraden mussten sogar bei Frost und Schnee barfuß laufen, selbst am Essen mangelte es manchen. Die Deutschen würden dieses marode Land mit ihrem Organisationstalent und ihrem Fleiß in Ordnung bringen, davon war Tessa felsenfest überzeugt. Die Mutter war eben hoffnungslos unmodern und hatte den Geist der neuen Zeit nicht erkannt. Es musste noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Als sei sie eine unzufriedene Lehrerin schüttelte Tessa tadelnd den Kopf: „Ach Mama, immer nimmst du die Polen in Schutz. Ich verstehe dich nicht. Wir Deutschen haben genug Hass zu spüren bekommen. Ich weiß noch, wie oft ich früher gehänselt wurde als der Unterricht in Polnisch stattfand. Damit ist Schluss, seit unser Führer dieses Land errettet hat.“ Tessa beobachtete, wie sich ihre Mutter wütend mit dem Bratenwender an den Rühreiern zu schaffen machte. „Aber nun sind die polnischen Kinder die Dummen. Sie müssen deutsch reden und dürfen nur das Allernötigste lernen! Volksverdummung und Unterwerfung heißt das Ziel. Du wirst sehen Tessa, wir werden eines Tages bitter dafür büßen müssen.“
„Ja, ja.“ Tessa verspürte wenig Lust dieses leidige Thema auszuweiten. Außerdem hatte sie ihr Ziel erreicht, nichts von Zygmunt, dem Jungen mit den ach so himmelblauen Augen, erzählen zu müssen. Von draußen drang Stimmengewirr in die Küche, Tessa blickte zum Fenster hinaus. „Vater und die anderen sind schon im Hof.“
„Deck den Tisch. Schnell. Und sag deinen Geschwistern, sie sollen zum Essen kommen.“
Behände erledigte Tessa die Aufgabe und ging dann hinaus, um Ada, Luise, Mara und Oskar zu holen. Schweigend traten Richard Walther, drei seiner polnischen Knechte und die beiden Mägde in die Küche und nahmen am langen, schmalen Esstisch Platz. Wie auf Zehenspitzen schlichen die Walther-Kinder hinzu und setzten sich, was ungewöhnlich war, still auf ihre Stühle. In Anbetracht des heutigen Ereignisses hielten die Kinder es für das Klügste, das Familienoberhaupt nicht weiter zu reizen. Nur Oskar zog etwas blauäugig in Betracht, der Vater könne seine Drohung vergessen haben. Die Älteren befürchteten dagegen eine Bestrafung, da der Vater ihnen vermutlich die Mitschuld an der Brunnengeschichte geben würde. Wortlos füllte Anna das Rührei auf die Teller und stellte frisches Kümmelgraubrot und Butter auf den Tisch. Dann wurde ein Tischgebet gesprochen. „Herr wir danken dir …“
Hungrig vertilgten sie das Mahl. Richard ließ sich von Anna das vom Speckbraten ausgelassene, flüssige Fett in eine große Tasse füllen und trank es in wenigen Zügen aus. Dann leckte er sich zufrieden die Lippen. Zum Nachtisch gab es duftenden Milchreis mit süßem Apfelkompott.
Gut gesättigt sieht die Welt schon freundlicher aus.
Knechte und Mägde dankten für das Mahl und verließen das Haus.
Anna wartete gespannt darauf, welche Strafe ihr Mann für die Kinder ersonnen hatte. Richard Walther räusperte sich und sagte ernst, aber mit unerwarteter Milde: „Kinder, was ihr heute angestellt habt, jeder von euch ist gemeint, war töricht und unverantwortlich. Oskar hätte sein Leben lassen können. Ihr seid alle alt genug, um diese Gefahr zu erkennen. Es ist bekannt, dass Oskar zuweilen das Denken vergisst und sich und andere in schlimme Situationen bringt. Ihr Großen hättet ihn daran hindern müssen. Tessa,“ Richard Walther blickte seine Älteste vorwurfsvoll an, „von dir hätte ich auf jeden Fall erwartet, dass du einschreiten würdest.“
„Ich war doch gar nicht da“ erwiderte Tessa kleinlaut.
„Sie hat sich einfach nicht bei mir abgemeldet, wir haben darüber schon ernsthaft gesprochen“, warf Anna ein.
„Na ja, das steht auf einem anderen Blatt. Aber du, Ada, du hättest es doch auch verhindern können, oder nicht?“ forschte der Vater weiter.
Das Gesicht der zwölfjährigen Ada lief rot an. „Oskar wollte nicht auf mich hören. Er hat mich ausgelacht.“
„Oskar macht immer, was er will“, sprang die siebenjährige Mara ihrer Lieblingsschwester bei.
„Ja, er sagte: Haut ab ihr tumben Gänse, ihr habt doch nur Schiss in der Hose. Ein deutscher Junge hat keine Angst“, traute sich Ada nun zu erzählen.
„Und was meinst du dazu, Luise?“, wandte sich Richard Walther an seine schweigsame, ernsthafte Tochter.
„Es war nicht recht von uns, Vater. Trotzdem, Oskar ist mutig gewesen. Als wir ihn nicht so schnell retten konnten, war er stark und hat sich ganz lange festgehalten – ohne zu jammern oder zu weinen. Ich habe ihn dafür bewundert“, sagte Luise leise. Ein kluges Mädchen, dachte Richard voller Stolz. Er blickte in die Runde gespannter, junger Gesichter und blieb beim eigentlichen Übeltäter Oskar hängen, der seinen Kopf reumütig gesenkt hielt.
„Furchtlosigkeit, mein lieber Sohn, macht nur Sinn in Verbindung mit Überlegung. Sich gedankenlos in eine gefährliche Situation zu begeben, kann oft die einzige Gelegenheit zur Kühnheit im Leben sein. Danach liegt man nicht selten gar nicht heldenhaft mausetot unter der Erde. Mut ist eine hohe Tugend, wenn er zusammen mit Verstand eingesetzt wird.“ Richard seufzte. „Ich glaube, diese einfache Weisheit ist allgemein in Vergessenheit geraten.“ Richard hoffte, die Kinder hatten seine Botschaft verstanden. „Ihr dürft jetzt auf eure Zimmer gehen. Aber, ich rate euch, reizt mich diese Woche nicht mehr. Sonst ist eine gehörige Tracht Prügel fällig – für jeden von euch!“
Während Anna ihrem Mann einen Krug Bier einschenkte, wunderte sie sich wie so oft über seine natürliche Gabe, im entscheidenden Moment das Richtige zu sagen und weise zu handeln.
Nur aus diesem Grund, mein Lieber, habe ich es überhaupt solange mit dir ausgehalten.
„Was für ein Tag“, sagte Richard. Seine Gesichtszüge spannten sich erneut an. „Ich habe Nachricht aus Hohenburg erhalten. Es gibt Ärger wegen der Mieter der Wohnung im zweiten Stock. Der Czerny ist von der Gestapo verhaftet worden, wegen antideutscher Machenschaften. Seine Frau wird die Miete bald nicht mehr aufbringen können, fürchte ich. Kannst du nicht mal mit ihr reden? Bei dem schönen Wetter kann ich es mir im Moment nicht erlauben, die Ernte zu unterbrechen.“ Anna stimmte zu, sie hielt sich gerne in dem Städtchen Hohenburg auf und kümmerte sich des Öfteren um die Belange des Mietshauses.
„Eine schlimme Zeit“, klagte sie und schenkte sich nun auch etwas von dem kühlen Bier ein. So saßen die Eheleute friedlich wie selten beieinander und genossen die Ruhe in ihrem Haus. Denn von den Kindern war tatsächlich an diesem Abend nichts mehr zu hören oder zu sehen.
Anna:
Mit neunzehn erwischt mich die Liebe so wuchtig, wie der Amboss des Schmiedes das Eisen traf, so gezielt wie der Habicht sich auf seine Beute stürzte, so unausweichlich, wie der Gewitterblitz in die hoch aufragende, einsame Eiche auf der Wiese einschlug.
Auf dem Markt in Warschau half Jerzy Olzsewski am Stand seines Onkels, dem Obsthändler. Ich glaube, alle Frauen schmachteten ihn heimlich an, denn er hatte die glutvollsten Augen, die man sich erträumen kann, und ein furchtloses, siegesgewisses Piratenlachen. Am Ende des Markttages überreichte mir Jerzy eine einzelne rote Rose.
Meine Eltern hätten Jerzy, den Polen, niemals als Heiratskandidaten akzeptiert.
Drei Jahre lang trafen wir uns immer wieder heimlich. Dann verließ Jerzy unsere Gegend, um in Danzig auf einem Frachter anzuheuern. Die Welt zu sehen, das war sein Traum.
Hohenburg, das vor der deutschen Besatzung polnisch Wyszogród hieß, war ein hübsches, altes, etwa 6300 Einwohner zählendes Städtchen am rechten, hohen Weichselufer. Der seit tausend Jahren besiedelte Ort hatte polnische, jiddische und deutsche Wurzeln. In den Gotteshäusern verschiedener Glaubensrichtungen huldigte man – auch wenn die Einsicht hierfür manchem Gemeindemitglied fehlte – dem einen Gott.
Die Bewohner der umliegenden Dörfer kamen hierher, um sich mit Dingen zu versorgen, die sie nicht selber herstellen konnten. Daher gab es eine Anzahl nützlicher kleiner Läden wie ein Kurzwaren-, ein Schreibwaren- und ein Schuhgeschäft. Besonders das Café Chopin übte einen großen Reiz auf die weibliche Kundschaft vom Lande aus. Anna hatte im Sinn, sich später bei einer Tasse Mokka und einem Stückchen Kuchen von ihren Besorgungen zu erholen, doch zunächst war das Walthersche Mietshaus ihr Ziel.
Mit flotten Schritten ging sie über die steinerne Brücke im Herzen Hohenburgs. Eine tiefe Schlucht verlief längs des Ortes und teilte das Städtchen in zwei Teile. Wie immer fühlte sich Anna in Hohenburg wohler als in Puschkeiten. Selbst wenn Hohenburg im Vergleich zu Annas geliebtem Warschau nur einen zarten Hauch von Weitläufigkeit atmete, bewirkte der Aufenthalt in dem Städtchen, dass sich Annas Körpergefühl veränderte. Sie straffte ihre Schultern, reckte das Kinn ein kaum wahrnehmbares Stückchen höher, ihr Gang wurde eleganter, geschmeidiger, … oder lag es nur an den neuen weißen Schuhen mit den hohen Absätzen? In ihrem hellgrauen Kostüm fühlte sie sich wie eine Dame von Welt. Sie trug einen eng geschnittenen Rock, eine schlichte weiße Bluse mit langgezogenem Kragen, eine farblich auf die Schuhe abgestimmte Handtasche und als i-Tüpfelchen einen kecken Hut mit steil hochragender Feder, genau wie sie es bei Zarah Leander in einem ihrer Filme gesehen hatte.
Manchmal konnte Anna kaum glauben, wie schnell die Zeit vergangen war, seit sie Richard geheiratet hatte. Einundvierzig Jahre alt war sie jetzt, was blieb ihr wohl noch, überlegte Anna. Sah sie tatsächlich auch so verbraucht aus, wie ihre Altersgenossinnen auf sie wirkten? Sie dachte an graues, glanzloses Haar, steile Zornes- und Sorgenfalten, Krähenfüße und an von vielen Geburten aus der Fasson geratene Körper. Vor der Auslage des Schuhgeschäfts blieb Anna stehen und betrachtete wohlgefällig ihr Spiegelbild im kleinen Schaufenster.
Eine ordentlich proportionierte, gut frisierte Frau mittleren Alters mit ebenmäßigen Gesichtszügen blickte ihr entgegen. Das noch immer dunkle Haar kontrastierte mit den wasserblauen Augen.
Ja nu, der liebe Gott ist bisher ganz gnädig mit mir.
Der Gleichklang schwerer Stiefel, die über das Kopfsteinpflaster stampften, unterbrach sie in ihren Gedanken. Eine etwa zehnköpfige Truppe braun uniformierter SA-Leute zog singend und Fahnen schwenkend die enge Gasse hinunter und steuerte direkt auf sie zu. Scheinbar wie abgesprochen erhoben die SA-Leute im selben Moment den Arm zum Hitler-Gruß. Anna spürte die Blicke der Männer auf sich gerichtet. Ihr blieb keine andere Wahl als sich mit dem Rücken an das Schaufenster zu pressen und die Gruppe an sich vorbeiziehen zu lassen. Einer der Männer streifte im Vorbeigehen ihre Brust, einen Augenblick lang blieb er bedrohlich dicht vor ihr stehen. Er hatte schmale, dunkle Augen und ein schwarzes Hitlerbärtchen über einem herzförmigen, kleinen Mund. Der nachfolgende Kamerad raunzte ihn an: „Mach Platz!“.
Nun presste sich der Schnauzbärtige noch näher an Anna. Verwirrt spürte sie seine körperliche Erregung. „Du musst den Arm zum Hitler-Gruß ausstrecken, wie es sich gehört! Wann begreift ihr dummen Polaken das endlich?”
Der Schnauzbärtige setzte sich wieder in Bewegung und fiel lauthals in das SA-Lied ein, das seine Truppe inzwischen angestimmt hatte.
Annas Herz pochte ihr bis zum Hals.
„Sie müssen mich nicht belehren, ich bin Deutsche”, sagte sie wütend, doch ihre Worte gingen im lauten Gegröle unter. Der Mann hielt wieder Schritt mit seinen Kameraden und hörte sie nicht mehr.
Du aufgeblasene Erdkröte!
Rauchend vor Zorn riss Anna die Ladentür zum Schuhgeschäft auf, aus der in diesem Moment ein schlanker, fast zierlicher Herr mittleren Alters trat.
„Jerzy”, flüsterte Anna und spürte ein leichtes Flattern in ihrem Bauch.
Ungläubig musterte der Angesprochene Anna. Augenblicklich huschte ein charmantes Lächeln über das schmale Gesicht des Mannes.
„Das gibt es doch gar nicht! Meine Anna. Jung und schön, so als hätten wir uns erst gestern zuletzt gesehen.” Formvollendet beugte Jerzy Olzsewski den Rücken und küsste Annas Hand. Dabei konnte und wollte eine Frau wie Anna Walther es nicht bewenden lassen. Von großer Wiedersehensfreude erfüllt, nahm sie ihren Jugendfreund Jerzy in die Arme und drückte ihn fest an sich.
In einem so kleinen Städtchen wie Hohenburg es war, blieb selten etwas unentdeckt, und es gab genügend Gelangweilte, deren schönste Freizeitbeschäftigung darin bestand, hinter Gardinen versteckt, gierig jede Begebenheit auf der Straße zu registrieren, sich Gedanken dazu zu machen und Schlüsse daraus zu ziehen. Wären Anna und Jerzy nicht so überrascht und überwältigt von ihrer Begegnung nach so vielen Jahren gewesen, hätte vielleicht Anna, bestimmt aber Jerzy darauf geachtet, eine Szene von so offensichtlicher Vertrautheit zu vermeiden.
„Jerzy, mein lieber Jerzy, was machst du hier, um Himmels willen?”
„Wenn ich gewusst hätte, wo du zu finden bist, wäre ich schon viel eher gekommen”, schmunzelte Jerzy. „Nun, ich habe einen Besuch zu machen. In Richtung Gasthof Blunske führt mich mein Weg. Ich glaube, in der nächsten Seitengasse muss es sein.”
Anna lachte fröhlich auf. „So ein Zufall, dort will ich auch hin. Komm.” Sie hakte Jerzy unter. „Was willst du dort? Etwas essen? Dann weiß ich etwas Besseres, ich lade dich ins Café Chopin ein, da ist es viel netter. Dort können wir uns unterhalten, ja?”
„Später gerne. Aber erst mal muss ich einer Verwandten, die in Schwierigkeiten steckt, einen Besuch abstatten. Sie wohnt über der Gastwirtschaft.”
„Doch nicht Frau Czerny? Zu der will ich nämlich auch! Was willst …”
„… du denn da?” fiel Jerzy ihr ins Wort.
Anna protestierte lachend: „… nein, du zuerst.”
Jerzy sah Anna forschend an. „Nun, Frau Czerny ist eine entfernte Cousine von mir. In diesen Zeiten muss man sich umeinander kümmern, du verstehst?”
Obwohl sich Anna über Jerzys abschätzenden Blick wunderte, war sie erleichtert über seine Auskunft. Sie erzählte Jerzy, dass ihr Mann Richard und sie die Eigentümer des Hauses in der Weichselgasse seien und dass sich Richard darum sorge, ob Frau Czerny in Zukunft das Mietverhältnis aufrechterhalten könne, da sie nun – hoffentlich nur vorübergehend, aber wer wusste das schon genau – ohne den Verdienst ihres Mannes auskommen müsse.
Jerzy machte einen Vorschlag: „Da wir wegen derselben Angelegenheit zu Clara Czerny wollen, können wir sie ja gemeinsam besuchen. Vielleicht kann ich gleich helfen, die Mietsache zu klären.”
„Ein ausgezeichnete Idee, und danach gehen wir zusammen ins Café, ja?” strahlte Anna.
„Ich freue mich, dass du dir deine Lebensfreude erhalten hast, Anna. Das ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit”, stellte Jerzy fest.
„Höre ich da einen leisen Tadel? Ich mag dieses Regime auch nicht”, flüsterte Anna, als sie den Gasthof erreichten.
Das Stadthaus der Walthers reihte sich schmal in eine Zeile ähnlicher Bauten ein. Von außen verbarg das zweigeschossige, adrette Haus das Geheimnis seines lang gestreckten Anbaus, der sich wie der Schwanz eines Flusskrebses an den Hauptteil angliederte. Anna schloss die schwere, hölzerne Eingangstür auf. Gemeinsam mit Jerzy betrat sie den dunklen Hausflur, in dem ein intensiver Kohlgeruch hing. Anna zeigte auf die Tür, die rechts vom Flur abzweigte.
„Das ist der Hintereingang von der Gaststube Blunske.”
Anna erklärte, dass das Blunske über den Innenhof des Hauses, der durch einen Torbogen mit der seitlich angrenzenden Gasse verbunden sei, zu erreichen war. Sie zeigte auf die Holztreppe, die links neben der Haustür lag, und winkte Jerzy ihr zu folgen.
„Im gesamten Haus wohnen sechs Mietparteien”, erzählte Anna, während sie die Stufen hinaufstieg. „Bis vor einem Jahr hatte sogar ein sehr netter Fotograf sein kleines Atelier hier. Er hat ganz wunderbare Aufnahmen von meinen Kindern und mir gemacht. Schade, ich habe leider keines der Fotos dabei. Von einen Tag auf den anderen war der Mann plötzlich verschwunden …” Sie hatten den zweiten Stock erreicht. Anna klopfte an die Wohnungstür der Czernys.
„War er Jude?” flüsterte Jerzy.
Anna blieb ihm die Antwort schuldig, denn in diesem Moment wurde die Tür von Clara Czerny, einer etwa dreißigjährigen knochigen Blondine mit rot geweinten Augen, stürmisch aufgerissen.
„Frau Walther, ich hab sie vom Fenster aus kommen sehen. Ich habe mir schon gedacht, dass sie mir einen Besuch abstatten würden”, sagte Frau Czerny und sah trotz ihrer geschwollenen Augen neugierig zu dem gut aussehenden Mann neben ihrer Vermieterin. Doch bevor sie weitersprechen konnte, fiel Jerzy ihr ins Wort.
„Liebe Cousine, schön dich nach so vielen Jahren wieder zu sehen. Mein Gott, wie lange ist es her? Wir waren ja fast noch Kinder …”
Anna fing überrascht Frau Czernys irritierten Blick auf.
Fast beschwörend fügte Jerzy hinzu: „Schrecklich, was deinem Mann widerfahren ist, aber die Familie, unsere gute treue polnische Familie wird dir zur Seite stehen. Sie haben mich gebeten, mich um dich und die Kinder – es sind doch zwei – zu kümmern.”
Nun schien Clara Czerny ihren Cousin wieder zu erkennen, hoffnungsvoll antwortete sie: „Gut das zu wissen. Die beiden Mädchen sind bei Freunden zum Spielen, wir haben Ruhe.” Sie hielt einen Moment inne, dann brach es aus ihr heraus: „Oh Gott, es ist alles so eine Katastrophe, ein Wahnsinn. Sie wollen mir nicht sagen, wohin sie Anton gebracht haben. Was kann er schon Böses getan haben? Ich war gestern bei der Gestapo, sie haben mich hinausgeworfen, beschimpft und gegen eine Flurwand geschleudert. Wenn ich mich dort noch mal sehen lasse, wollen sie mich auch verhaften … Ich habe solche Angst, dass Anton tot ist.”
„Diese Schweine”, zischte Jerzy wütend.
Anna schwieg betreten, unerklärlicherweise fühlte sie sich mitschuldig am Verschwinden Anton Czernys.