Ehe du lügst - Klaudia Jeske - E-Book

Ehe du lügst E-Book

Klaudia Jeske

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Beschreibung

Was soll man davon halten, wenn der Mann, mit dem man seit siebzehn Jahren verheiratet ist, nie ein Sterbenswort darüber verloren hat, in seiner Jugend psychische Probleme gehabt zu haben? Was ist, wenn man entdeckt, dass die Schwiegermutter noch lebt, obwohl es immer hieß, sie sei längst gestorben? Und wie ist es, wenn man plötzlich annehmen muss, mit einem Mörder verheiratet zu sein? Diese Fragen stellt sich Birthe Siemsen, die mit ihrem wortkargen Mann Kersten einen Gartenbaubetrieb in der norddeutschen Provinz betreibt. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest gerät das Familienidyll aus den Fugen. Ein Paar zieht in die Kate nebenan. Kersten verschweigt, dass die extravagante Nachbarin seine Jugendliebe ist. Kurze Zeit später findet Birthe die Frau erwürgt im Garten auf. Das Dorf steht Kopf. Printausgabe: 200 Seiten

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Klaudia Jeske

Ehe du lügst

Roman

Inhaltsverzeichnis

Sonnabend, 16. Dezember

Sonntag, 17. Dezember (Dritter Advent)

Montag, 18. Dezember

Dienstag, 19. Dezember

Mittwoch, 20. Dezember

Im Sommer (1980er Jahre)

Donnerstag, 21. Dezember

Freitag, 22. Dezember

Sonnabend, 23. Dezember

Im Mai

Anhang

Impressum

Wie genau kenne ich den Menschen wirklich, neben dem ich Morgen für Morgen aufwache?

Sonnabend, 16. Dezember

Intensiver Blickkontakt. Worte, die den Zauber hinaufbeschwören. Zärtliche Berührungen.

Sexuelle Anziehungskraft. Jede Liebesgeschichte hat einen Anfang …

*

„Bist du verrückt? Schon in zwei Stunden?“ Ich rührte mit rechts die Nudeln im Topf um und griff mit links nach dem Bratenwender. „Muss ich denn sofort springen, wenn diese Leute uns einladen? Wieso haben die uns nicht früher Bescheid gesagt?“

Obwohl ich ihm den Rücken zukehrte, wusste ich, dass Kersten sich in diesem Moment mit seiner schmutzigen Hose auf dem Küchentisch niederließ.

„Wahrscheinlich sind einige Gäste abgesprungen, und jetzt sind die froh, ihre Bude mit uns voll zu bekommen“, überlegte ich. „Überhaupt, da passen wir doch gar nicht hin. Hast du den Porsche gesehen?“

Die Dunstabzugshaube lief auf Hochtouren. Ihr saugender Lärm bildete zusammen mit dem Blubbern und Brutzeln aus Topf und Pfanne den Sound der Küche.

In meinen Ohren aber dröhnte Kerstens Schweigen.

„Hey, ich rede mit dir!“

Endlich machte er den Mund auf: „Du wirst sehen, die Winskes sind in Ordnung.“

„Sind denn noch andere aus dem Dorf eingeladen?“

„Keine Ahnung.“

Ich seufzte.

So war es immer: Ich redete mir den Mund fusselig, und am Ende bekam mein Mann doch seinen Willen. Auch wenn ich die Taktik zu durchschauen meinte, war ich gegen seine Art machtlos.

Wachs in seinen Händen.

„Hast du wenigstens den Auftrag bekommen, Liebling?“

„Ja“, antwortete er.

„Und?“ Ich wendete die Frikadellen in der Pfanne. Knusprig und glänzend braun sahen sie aus.

„Mit den Auslichtungsarbeiten soll so bald wie möglich begonnen werden. Und Winske will von mir Entwürfe für eine neue Gartenanlage sehen.“

Am Ton seiner Stimme hörte ich, dass es ihn freute.

Das Nachbaranwesen, jahrelang unbewohnt, befand sich in einem verwahrlosten Zustand. Der 3.000 qm große Garten und die ehemalige Bauernkate hatten zweifelsohne schon bessere Zeiten gesehen. Der Dorfklatsch besagte, die Winskes seien ein überkandideltes Paar aus der Hauptstadt. Es hieß, sie planten, das Haus in Zukunft als Wochenenddomizil auf dem Lande zu nutzen. Ich wusste, für meinen Mann bedeutete es eine reizvolle Aufgabe, den riesigen Garten wieder auf Vordermann zu bringen.

„Was zieht man denn da an?“

Ich schaltete die Dunstabzugshaube aus. Dann drehte ich mich zu Kersten um. Wie vermutet hatte er sein Hinterteil auf dem Tisch geparkt. Die Arme hielt er vor seiner breiten Brust verschränkt, seine ausgestreckten Beine ragten weit in den Raum hinein. Er zuckte mit den Achseln.

„Jeans und T-Shirt sind sicher okay.“

Mit seiner hoch gewachsenen, muskulös-schlanken Gestalt und einem frischen Teint gehörte er zu jenen Männern, die immer attraktiv wirken, egal wie sie gekleidet waren. Mit seinem kahl geschorenen, schön geformten Schädel sah er ausgesprochen sexy aus.

„Für dich vielleicht.“

Längst hatte ich mich damit abgefunden, nicht das Schmuckstück an Kerstens Seite zu sein. Mir fehlte der Sinn dafür, mich aufzubrezeln. „Verleihen Sie ihren Augen Ausdruck wie Jennifer Lopez und setzen Sie künstliche Wimpern auch ans Unterlid“. Wenn ich solche Beauty-Tipps in Frauenzeitschriften las, begriff ich sofort, dass ich selbst dergleichen nie hinbekommen würde ohne lächerlich zu wirken.

Ich nahm zwei Topflappen, stemmte das schwere Gefäß zur Spüle, goss die Nudeln ins Sieb. Der heiße Wasserdampf hüllte mich in eine feuchte Wolke.

„Dann müssen die Mädchen heute Abend schon wieder auf den Kleinen aufpassen“, gab ich zu bedenken. „Die werden nicht gerade begeistert sein.“

„Sie können sich ruhig mal erkenntlich zeigen. Wo du die ganze Mühe mit Maries Geburtstag hast.“

Ich überlegte kurz, dann lenkte ich ein. Es wäre dumm von mir gewesen, Kerstens neuen Auftraggeber vor den Kopf zu stoßen. Morgen würde Marie zwar ihren 15. Geburtstag mit einer Horde von Teenagern bei uns zu Hause feiern, aber ich lag mit den Vorbereitungen gut in der Zeit. Außerdem: Keiner zwang mich, bis zum Morgengrauen bei den Winskes auszuharren.

„Und was schenken wir? Diese Städter stehen doch bestimmt auf Ökogemüse, oder?“

„Ich hab schon einen Erntekorb mit Kartoffeln, Äpfeln und Kohlköpfen zusammengestellt“, sagte Kersten. „Du brauchst dich nur um dich selbst zu kümmern, Süße.“

Wer´s glaubt, dachte ich. Aber ich beschwerte mich nicht. Dafür liebte ich ihn viel zu sehr.

Trotz seiner Fehler.

Im Laufe unserer Ehe hatte ich meiner Meinung nach ein recht realistisches Bild von meinem Mann entwickelt. Kersten war das, was man hier im Norden als ein wenig dröge bezeichnet: Das Gegenteil von einem Temperamentbündel. Eine gelungene Konversation bestand für ihn aus drei Sätzen, eingebettet in dreißigminütiges Schweigen. Er war eben so, wie der Rest der Republik sich einen echten Norddeutschen vorstellt: klar, herb und wortkarg.

Abseits ihm bekannter Pfade wie seiner Arbeit, dem Dorf und dem Schützenverein, war er schwer zu mobilisieren und selten für Neues zu begeistern. Überschaubares packte er kraftvoll an, und dabei machte er seine Sache gut. Aber wenn es unübersichtlich wurde, fühlte er sich überfordert, wurde nervös und gelegentlich aggressiv. Dann und wann entlud er sich in kurzen Zornesausbrüchen. Ich konnte damit umgehen.

*

Als wir bei den Winskes eintrafen, stießen wir auf den Gastgeber, einen unterbeschäftigten Barmann, zwei Cateringdamen sowie eine Handvoll Gäste.

Niemand da, den ich kannte.

Joachim Winske, ein gepflegter breitschultriger Fünfziger mit grauem Vollbart und unübersehbarem Bauchansatz, erzählte wie einer, der den Text bereits zum hundertsten Mal herunter spult. Im Sommer hatte er seiner Frau das Bauernhäuschen zum Geschenk gemacht.

„Paola will die Kate auch für Ausstellungen nutzen.“ Mit großer Geste deutete er auf die bunten Bilder, die überall an den rau verputzten, weißen Wänden hingen. „Der Umbau hat eine Stange Geld gekostet. Sieht man, oder?“

Wir pflichteten ihm bei.

Als ich vor Jahren das letzte Mal in der strohgedeckten Kate gewesen war, hatte die Atmosphäre dunkel gewirkt. Durch den Einbau großer Fenster und das Entfernen diverser Wände war alles Bedrückende gewichen. Jetzt gab es Säulen, die ahnen ließen, an welchen Stellen sich unlängst noch Mauern befunden hatten. Die geringe Deckenhöhe wirkte urig, ebenso der rustikale Kamin. Die Möblierung war sparsam, aber zahlreiche im Raum verteilte Christrosenarrangements sorgten für elegant-weihnachtliches Flair. Kein Vergleich allerdings zu der verspielten Dekoration, die unser eigenes Heim so kuschelig und gemütlich machte.

„Unser Berliner Architekt hat sich um den Umbau gekümmert. Der große Künstler“, Winske kräuselte mokant die Oberlippe, „hat zwar enormen Wert auf die Optik gelegt, aber Praktisches hat der Herr Stararchitekt vernachlässigt. Zum Beispiel gibt es mit der Erneuerung der Hauselektrik leider noch Probleme…“

„Die Elektrofirma Poggensee hier im Ort ist wirklich sehr zuverlässig. Können wir empfehlen, stimmt´s Kersten?“

„Klar“, murmelte mein Mann.

„Die Außenbeleuchtung ist jedenfalls ganz wunderbar“, schwärmte ich.

Durch zahlreiche Lichterketten in den kahlen Bäumen und Sträuchern sah das stark bewaldete Anwesen der Winskes heute geradezu verwunschen schön aus.

„Und was machen Sie so?“, fragte Joachim Winske mich.

Ein junges Mädchen vom Catering bot uns Getränke an. Ich nahm ein Sektglas.

„Wir haben drei Kinder. Da ist man gefordert. Außerdem kümmere ich mich um den Schreibkram in unserer Firma.“

Winske hörte nur mit halbem Ohr zu. Er legte seinen Arm um eine auffallend hübsche, extravagant gekleidete Frau, die sich zu uns gesellte.

„Hallo, wen haben wir denn da?“, fragte sie mit melodischer Stimme.

„Darf ich vorstellen: Paola Toledo-Winske.“ Er strich ihr liebevoll über den Rücken. „Meine Frau – und da übertreibe ich keineswegs – ist eine hochbegabte und äußerst vielseitige Künstlerin. Alle Bilder im Haus stammen von ihr. Außerdem bildhauert sie, spielt perfekt Klavier, komponiert ...“

„Liebling, du machst mich ganz verlegen …“, dämpfte Paola lächelnd ihren Mann.

Ich betrachtete sie fasziniert. Zum halblangen, rotseidenen Abendkleid – oben eng anliegend, unten weit schwingend – hatte sie derbe Wanderboots kombiniert. Ihr rötlich-braunes Haar flutete unter einem gelben Käppi hervor, das an ein orientalisches Fes erinnerte. Zweifelsohne zählte sie zu jenen Frauen, die ungeteilte Aufmerksamkeit einfordern und es gewohnt sind, diese zu erhalten.

„Paola, mein Herz, das sind unsere Nachbarn. Ich habe dir doch schon von dem tüchtigen Gärtner erzählt.“ Er deutete mit dem Kopf nickend auf Kersten, der es hasste als „Gärtner“ bezeichnet zu werden. „Und das ist seine reizende Frau … Wie war noch der Name?“

„Birthe“, half ich ihm, „Birthe Siemsen.“

„Angenehm“, hauchte sie.

Einige Gäste betraten den Raum.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Winske mit einer leichten Verbeugung und ging auf die Neuankömmlinge zu, während uns Paola weiterhin Gesellschaft leistete.

„Die Kate hat sich sehr zum Vorteil verändert“, bemühte ich mich um Konversation, da Kersten nur verlegen vor sich hinlächelte.

„Finden Sie?“ Plötzlich rückte Paola ganz dicht an mich heran, ihr warmer Champagneratem schlug mir ins Gesicht. „Es muss elektrisierend sein, einen Gärtner zum Mann zu haben. Der versteht sich aufs Säen, Pflanzen und Ernten, was?“

Sie kicherte albern. Womöglich hatte sie gerade einen anzüglichen Witz gemacht, den ich nicht verstand.

Dann wandte sie sich Kersten zu. „Dieser fast verrottete Geräteschuppen hinten in unserem Garten ist mir geradezu unheimlich. An den Holzwänden habe ich eingetrocknete Flecken und Spritzer gefunden. Ich frage mich, ob das Blut sein kann.“ Täuschte ich mich, oder fraß Paola Winske meinen Mann gerade mit ihren Blicken auf?

„Vermutlich hat der Vorbesitzer dort seine Hühner geschlachtet“, schlug ich vor.

„Mein Gott, ihr Leute vom Lande seid ja so archaisch!“ Sie lachte kurz auf.

„Wir wissen eben noch, dass ein Steak ein Teil eines toten Rinds ist und nicht bloß ein in Folie eingeschweißtes Industrieprodukt“, sagte ich.

Wieder schenkte sie uns ihr glockenhelles Lachen. Dann vertröstete sie uns geschmeidig auf später.

„Wie die dich angesehen hat“, raunte ich Kersten zu.

„Wer?“

„Na, die Winske.“

„Ist mir gar nicht aufgefallen.“

Das ist in diesem Fall auch besser so, Liebling.

Immer mehr Gäste trafen ein. Sie brachten einen Duft von frischem Sauerstoff ins Haus, der in ihrer edlen Kleidung hing. Alle waren damit beschäftigt sich Bussi links, Bussi rechts auf die Wangen zu drücken und gegenseitige Komplimente auszutauschen. Ich grinste prophylaktisch in die Menge. Die Gesellschaft machte auf mich einen recht illustren Eindruck. Es mischten sich betuchte Bürger, elegante Bohemiens und bunte Vögel aus der Kunstszene. Niemand beachtete uns.

„Ich fühle mich wie eine Bulette zwischen lauter Kaviarhäppchen“, sagte ich zu Kersten.

Unsere Gastgeberin schwirrte herum wie eine Biene. Ihr Nektar waren die Komplimente, die sie emsig sammelte.

„Paola, wie himmlisch du ausschaust.“ Auf dem stark geschminkten, hageren Gesicht einer perfekt gestylten Frau im lila Hosenanzug spiegelte sich blankes Entzücken. „Dieser Look ist grandios!“

Sie drehte unsere Gastgeberin begutachtend einmal im Kreis. Ich fiel fast in Ohnmacht! Der Rückenausschnitt von Paolas Kleid endete erst in Steißbeinhöhe. Gewagt!

„Ich bin falsch angezogen“, quengelte ich und sah Kersten vorwurfsvoll an.

Meine bequeme schwarze Hose, das grüne T-Shirt und der Trachtenblazer, der gut saß und mich an unseren Urlaub in Tirol erinnerte, waren für den heutigen Anlass ein wahrer Missgriff in den Kleiderschrank gewesen. Dabei hatte ich für dieses Outfit auf der letzten Abendeinladung bei Freunden ein tolles Echo erhalten. Allerdings kannten unsere Bekannten im Gegensatz zu diesen Leuten hier meine heiter-ironische Einstellung zu jeglicher Volkstümelei. Die Stickereien mit den Hirschgeweihen am Revers fand ich ganz einfach witzig.

„Du siehst gut aus“, beschwichtigte mich Kersten, aber ich merkte, dass er abgelenkt war.

Fixierte er etwa das Rückendekolleté unserer Gastgeberin?

„Da ist ja Uwe!“, sagte er plötzlich erfreut, ließ mich auf eine Weise stehen, wie ein ansonsten wohlerzogener Mensch es sich nur bei toten Gegenständen oder seiner alt gedienten Ehefrau erlaubt, und strebte Uwe Kröger, dem ehrenamtlichen Bürgermeister unserer Gemeinde, entgegen.

Seit ich durch mein Engagement in einer Bürgerinitiative als seine Widersacherin aufgetreten war, suchten wir beide nicht gerade die Nähe des anderen.

Ich beobachtete, wie sich die Männer gegenseitig auf die Schultern klopften. Dann drängten sich einige junge Leute zwischen uns, die sich besonders aufgekratzt benahmen.

Waren die etwas high?

Ich trank einen Schluck Champagner und begann mir die Bilder anzusehen. Es waren von kühlen Blautönen und kräftigem Rot dominierte Werke, abstrakt zumeist. Graphische Muster wechselten sich mit unkontrollierten Farbexplosionen ab. Hatte der Künstler etwa kohlensäurehaltige Flüssigkeiten aus zu stark geschüttelten Flaschen gegen die Leinwand geschäumt? Wie auch immer, dekorativ sahen die Bilder aus. Ich hoffte nur, man sollte keinen Sinn darin erkennen.

„Langweiliges Zeugs“, sagte jemand neben mir und legte vertraulich seinen Arm um meine Schulter. Verblüfft schaute ich in die babyblauen Augen eines Jünglings.

„Willste mal was wirklich Aufregendes sehen?“

Er fuhr sich mit dem rechten Daumen lasziv über seine fleischigen Lippen wie es Jean-Paul Belmondo als junger Wilder in meinem Lieblingsfilm „Atemlos“ tut. Dann zog der Typ sein T-Shirt bis über den Bauchnabel hoch. Zutraulich blinzelte er mich an. „Dann musst du mal zu mir kommen.“

Er griff in die Tasche seiner eng anliegenden Latexhose und fummelte darin herum.

„Kennen wir uns?“ Zu meinem Ärger wurde ich rot.

Statt einer Antwort beförderte er ein zerknittertes, buntes Kärtchen hervor und hielt es mir unter die Nase.

Ich las: „Roman Kesselhammer – meine Art“, dann folgte eine Adresse in Berlin.

Er tippte auf den Zettel: „Hier findste mein Atelier. Abgefahren, sag ich dir. Ist bestimmt mal was anderes als Wanderurlaub, wa.“

In diesem Augenblick wurde Roman Kesselhammer von mir weggezogen. Die Frau in Lila mit den ausgemergelten Gesichtszügen einer Langsteckenläuferin hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich fort.

„Ich bring ihn gleich wieder zurück“, warf sie mir noch hin.

Danke, darauf konnte ich verzichten.

Wo steckte eigentlich Kersten?

Irgendwo zwischen den Leuten, die mit Gläsern und gefüllten Tellern herumstanden und sich angeregt unterhielten, musste er doch sein. Mein Blick blieb bei Joachim Winske hängen. Er wurde gerade von einem schmalbrüstigen Jungen umarmt, der wie einer dieser Hamburger Schnösel der Erbengeneration aussah, die sich ihre Zeit auf dem Golfplatz unserer Gemeinde vertrieben. Neben den beiden stand ein zartes, blasses Mädchen, ein bisschen älter als unsere Tochter Marie vielleicht. Sie wirkte entrückt.

Wie Marie es ausdrücken würde, „scannte“ ich den Raum weiter ab. Kein Kersten!

Mein Magen knurrte leise vor sich hin. Ich beschloss, mich aufs Buffet zu stürzen. Innerlich verfluchte ich meinen Angetrauten.

Wieso ließ er mich allein mit diesem Haufen von Egozentrikern?

*

Die Speisen hatte man auf einer langen Tafel neben der Küchenzeile angerichtet. Auf weißem Satintuch lockten Platten mit Antipasti und Parmaschinken, Schalen mit kleinen Köstlichkeiten und Körbe mit verschiedenen Brotsorten. Außerdem gab es Stövchen mit Auflaufformen, in denen Lachs mit Spinat warmgehalten wurde, und große Schüsseln mit einer weiß glänzenden Süßspeise. Ein schlanker, rotseidener Arm griff von hinten an mir vorbei zum großen Löffel, mit dem sich der Nachtisch auffüllen ließ.

„Creme Bavaroise“, flötete Paola Winske und schaufelte sich beherzt ihren Dessertteller voll mit der Bayrischen Creme. „Die setzt zwar Hüftgold an, aber ich liebe es trotzdem. Sie müssen unbedingt das Himbeermark dazu probieren. Göttlich!“

„Es sieht alles sehr lecker aus. Ein schönes Fest“, entgegnete ich.

„Ein großes Durcheinander!“, jammerte Paola übertrieben.

„Inzwischen ist es ganz schön unübersichtlich geworden“, stimmte ich zu, „sogar mein Mann ist mir irgendwie abhandengekommen.“

Sie lachte perlend.

Ich sah, dass ein Fitzelchen Spinat zwischen ihren makellosen weißen Zähnen hängen geblieben war. Ihre knallrot geschminkten Lippen bildeten dazu den fettig glänzenden Rahmen. Sie taxierte mich von oben nach unten.

„Auf dieser Party läuft ein Haufen Frauen herum, in deren Beuteschema ihr Mann perfekt passt. Also, ein Tipp, Bertha: Das Schätzchen nie aus den Augen lassen!“

Verärgert schob ich mir einen Pumpernickel mit Gänseschmalz in den Mund. Mit gehässigen Menschen tat ich mich immer schwer.

Irgendjemand rief nach Paola.

„Da ist ja Aidan“, sprach sie in die Luft und schwebte davon, um einen dunkel gekleideten, schlaksigen Vierziger zu umarmen. In ihrem Überschwang zerdrückte sie das Christrosensträußchen, das er ihr zu überreichen versuchte.

Frustriert füllte ich mir einige Mini-Sandwichs auf den Teller. Dann schob ich mich durchs Gedränge.

Vielleicht war es im leicht futuristisch anmutenden Glasvorbau ruhiger, durch den wir das Haus betreten hatten? Zog man einen schweren, roten Samtvorhang zur Seite und schritt über eine hölzerne Schwelle, so gelangte man in den neuen Gebäudeteil mit der schicken Garderobe. Für Beleuchtung sorgten Lichtspots, die in den mit Glasbausteinen gefliesten Fußboden eingelassen waren.

Als ich in den Anbau trat, sah ich, wie sich der junge Golfschnösel und seine blutleere Begleiterin gerade ihre Mäntel anzogen. Sie bemerkten mich nicht.

„Ich könnte die Ziege erwürgen“, stieß das Mädchen hervor, „was Papa bloß an ihr findet.“

„Bei unserem Alten sitzt der Verstand eben in der Hose“, sagte der Schnösel.

„Dieses verdammte, geldgeile Aas, verrecken soll sie.“

Das Mädchen öffnete die Haustür. Ein kühler Luftzug schoss in die Bauernkate. Es war eine frostig kalte Nacht.

„Mach doch mal die Außenbeleuchtung an, Mark.“

Der junge Mann probierte die Schalter neben der Tür aus. Für einen Moment erloschen die Lichtröhren im Fußboden. Dann wurde es wieder hell.

„Draußen tut sich nichts. Da muss das Licht ausgefallen sein. Es ist ein anderer Stromkreis als innen“, erklärte das Mädchen und schaute zum Himmel. „Die Sterne werden uns den Weg schon leuchten.“

„Verdammte Pampa“, grummelte er.

Dann gingen sie hinaus in die Kälte und zogen die Haustür hinter sich zu.

Hoppla! Was war das denn gewesen?

Jetzt brauchte ich etwas zum Trinken. Am besten etwas Hochprozentiges.

*

Hinter der Bar unterstützte der Hausherr den Barkeeper beim Ausschank. Joachim Winske drückte mir ein Glas Rotwein in die Hand.

„Der ist ganz ausgezeichnet.“ Er grabschte nach meinem Unterarm. „Fühlen Sie sich überhaupt wohl zwischen den vielen fremden Gesichtern?“

„Haben Sie einen Sohn namens Mark?“, fragte ich.

„Mark wird die Firma mal übernehmen. Er studiert BWL in Hamburg. Haben Sie ihn kennen gelernt?“ Er wirkte erfreut. „Meine Tochter Nadine war auch da.“

Bevor ich darauf antworten konnte, kümmerte er sich bereits um einen anderen Gast. Ich nahm einen Schluck Rotwein. Als ich das Glas auf dem Tresen abstellen wollte, stieß mich jemand von hinten an. Die Flüssigkeit in meinem Glas schwappte gefährlich, doch es gab kein Malheur.

„Tschuldigung“, sagte der hochgewachsene, schlaksige Mann, dessen stürmische Begrüßung durch Paola ich vorhin beobachtet hatte.

„Ist der gut?“, fragte er mich, zeigte auf den Wein und orderte im gleichen Atemzug ein Glas bei Joachim Winske.

Wozu stellten diese Menschen Fragen, wenn sie keine Antwort darauf hören wollten? War das ein Spiel?

Während er mit Joachim Winske sprach, schaute ich mir den eingebildeten Kerl etwas genauer an. Der Mann hatte dieselbe Überheblichkeit an sich wie die anderen Leute, die ich hier kennengelernt hatte. Menschen, die sich im Grunde genommen nur für sich selbst interessierten, die sich dennoch nach einem Publikum sehnten, das ihnen bestätigen sollte, was für großartige Typen sie doch waren.

Wenigstens war er dezent gekleidet. Ein anthrazitfarbener, schmal geschnittener Anzug, ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf geöffnet war, keine Krawatte. Kurzes staubbraunes Haar ohne Gel und sonstigem Chichi, eine gerade gewachsene feine Nase, volle Lippen. Der Mann war nicht gerade unattraktiv, und das war ihm garantiert bewusst. Sein Blick aus grünbraunen Augen traf mich unvorbereitet. Ich fühlte mich ertappt. Na und, dachte ich, ist doch völlig egal, welchen Eindruck dieser Mensch von mir bekommt, den sehe ich sowieso nicht wieder. Dennoch war es mir unangenehm, als er mich nun seinerseits unverblümt musterte.

„Hübsche Jacke“, sagte er. „Von hier?“

„Nein, aus Tirol.“

Der Typ schaute erstaunt, dann hellte sich sein Gesicht auf.

„Nein, ich meine, ob du von hier bist“, er lächelte. Dann stellte er sich vor: „Aidan Eisengart, ein alter Freund von Paola. Ich darf dich doch duzen? “

Ich nickte. „Birthe Siemsen. Wir sind Nachbarn von den Winskes.“

„Wir?“, hakte er nach.

„Lassen Sie sich nicht von Aidan anbaggern, meine Liebe.“ Neben uns war die lila Langstreckenläuferin aufgetaucht. „Sein Vorname bedeutet Feuer …“

„Aidan ist doch bestimmt auch nur einer dieser blöden Künstlernamen, mit denen ihr euch interessanter macht als ihr seid“, mischte sich Joachim Winske von jenseits der Theke ein. Er schaute spöttisch zu uns hinüber.

„Deine Frau ist doch auch nicht besser, Joachim“, kicherte die Langstreckenläuferin. „Paola Toledo hieß ursprünglich Petra Viola Tödle“, erklärte sie mir.

„Gegen die vielen Mogelpackungen, die sich hier vergnügen, ist das gar nichts“, höhnte Winske. „Schaut euch nur um! Dann entdeckt ihr ein paar Ladys, an denen bis auf ihre Körperflüssigkeiten überhaupt nichts mehr echt ist. Bei Paola ist noch alles original, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ Er grunzte. Die Langstreckenläuferin wieherte. Eisengart zog eine Augenbraue hoch. Ich lächelte schief.

„Die Herkunft des Namens Aidan ist irisch, oder?“, überspielte ich den falschen Ton, der sich in die Unterhaltung geschlichen hatte.

„Korrekt. Meine Mutter stammt aus Cork“, Aidan Eisengart sah mich mit erwachter Aufmerksamkeit an.

Ich begann aufzutauen: „Unsere Tochter heißt Enya, das ist die anglisierte Schreibweise des irischen Vornamens Eithne. Er bedeutet sinngemäß „der Kern“, „Körper, Geist, Seele“ aber auch „das Feuerchen.“

„Siehst du, Amelie, auf so sachliche Ebene lässt sich Namensforschung bringen“, sagte Aidan zu der Langstreckenläuferin, die trocken auflachte.

„Malen Sie eigentlich auch?“, fragte ich ihn.

Wieder blieb er mir eine Antwort schuldig. Eisengart starrte in die Menge. Ich versuchte seinem Blick zu folgen. Einen Moment lang glaubte ich, Kerstens Profil auftauchen zu sehen.

„Es ist gar nicht so einfach, in dem Gewimmel jemanden zu finden …“

Eisengart unterbrach mich: „Drei Arten von Männern versagen im Verstehen der Frauen: Junge Männer, Männer mittleren Alters und alte Männer. Irisches Sprichwort.“

Ich war nicht sicher, ob er es tatsächlich zu mir sagte oder auf so eine, in meinen Augen pseudointellektuelle, Art vor sich hin rezitierte. Jedenfalls schallte es sogleich von Joachim Winske zurück: „Es gibt drei Arten von Frauen: die schönen, die intelligenten und die Mehrheit.“

„Rainer Werner Fassbinder“, sagte Eisengart.

Selbstgefällige Bande, dachte ich.

In der wenig schmeichelhaften Annahme, in den Augen dieser beiden Herren zur Mehrheit der Frauen zu zählen, stürzte ich den Rotwein hinunter. Dann schaute ich auf meine Allerwelts-Armbanduhr, die weder einen Design-Preis abgeräumt hatte noch brilliantenbesetzt war.

Erst halb zehn! Mir kam es vor, als hätte ich schon eine halbe Ewigkeit in dieser Kate zugebracht.

Ich zupfte Winske am Ärmel.

„Toilette?“ fragte ich.

Er deutete nach oben. „Erster Stock, erste Tür links.“

Noch schnell für kleine Mädchen und dann nichts wie nach Hause. Nur komisch, dass ich Kersten nirgends sehen konnte. Auf der Treppe kam mir unser Bürgermeister entgegen, der gerade seinen Hosenschlitz kontrollierte. Nun, da sich unsere Begegnung nicht vermeiden ließ, versuchte ich mich so locker wie möglich zu geben.

„Hallo, Uwe. Weißt du, wo Kersten steckt?“

Wir blieben einen Moment nebeneinander auf der Treppe stehen. Uwes Gesicht war puterrot, ich konnte seinen Alkoholatem riechen und sah, wie glasig seine Augen waren. Die Schwäche unseres Bürgermeisters für Freibier war legendär. Doch seit er Eheprobleme hatte, sprach er dem Alkohol weitaus mehr zu als ihm gut tat.

„Vorhin ist Kersten in den Garten gegangen“, lallte er.

„Da ist es doch stockdunkel.“

Er wankte die Stufen hinab.

Als ich nach dem WC-Besuch in den Flur trat, traf ich dort meinen Mann.

„Hier steckst du!“, sagte ich vorwurfsvoll. „Ich habe dich die ganze Zeit gesucht.“

„Ich dich doch auch.“ Kersten gab mir einen flüchtigen Kuss.

„Wo warst du? Draußen?“

„Auch mal, ja.“

„Was hast du denn da gemacht?“, beharrte ich.

Kersten fasste mich am Arm. Er schob mich in Richtung Treppe. „Komm, es reicht mir hier. Wir gehen.“

„Gute Idee.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Misstrauen unsere Beziehung noch nicht vergiftet. Ich dachte mir nichts dabei, als er mir eine Erklärung darüber schuldig blieb, wo und mit wem er den Abend verbracht hatte. Kersten Siemsen, ein Kerl so verschlossen wie eine Auster – genau so kannte ich ihn.

Draußen atmete ich die kühle Nachtluft dankbar ein. Die Temperatur lag etwa um den Gefrierpunkt. Bei unserer Ankunft hatten Beleuchtungen in den kahlen Bäumen und Sträuchern gefunkelt, jetzt waren Windlichter mit Kerzen entlang des Weges verteilt, die eine sparsame Lichtquelle bildeten.

„Also, noch mal lasse ich mich nicht auf so eine Veranstaltung schleppen“, schimpfte ich.

Kersten nahm mich bei der Hand. Vielleicht war es das wahre Geheimnis unserer funktionierenden Ehe: Mit einer kleinen, bezaubernden Geste konnte er mich besänftigen. Seine Fähigkeit, sich ganz auf sein Bauchgefühl zu verlassen, hatte mich von Anfang an fasziniert. Ich stamme aus einem intellektuellen Elternhaus. Bei uns wurde fast alles zu Tode diskutiert.

Kurz bevor wir die Straße erreichten, tauchten zwei ineinander verschlungene Yetis vor uns auf. Es waren Paola Toledo und Roman Kesselhammer. Beide trugen helle Fransenmäntel. Paola löste sich von dem jungen Mann und schickte ihn ins Haus. Er verzog sich widerspruchslos.

„Wollt ihr etwa schon gehen?“, fragte sie. Ihr Gesicht sah fahl aus.

„Unsere Tochter feiert morgen Geburtstag“, sagte ich und versuchte zu verstecken, wie unangenehm berührt ich von unserer Begegnung mit diesem Vamp war. „Es war sehr nett bei Ihnen, wirklich ...“

Ich blickte Kersten an, doch auf eine hilfreiche Bemerkung von ihm konnte ich mal wieder nicht zählen.

„Na, dann einen schönen Sonntag“, sagte Paola und umarmte uns überschwänglich. „Wir treffen uns bestimmt öfter mal, jetzt wo wir Nachbarn sind.“ Sie warf einen ihrer männermordenden Blicke auf Kersten. Er schlug die Augen nieder. „Ich freue mich sehr darauf“, fügte sie hinzu.

Mein Unbehagen wuchs. Ich jedenfalls war überhaupt nicht darauf erpicht, Paola Toledo-Winske jemals wieder zu sehen.

*

Um den heutigen Abend zu überstehen, war es nötig gewesen, sich zwei Dopamintabletten einzuwerfen. Joachim Winske wollte nicht wieder in eines dieser schwarzen Löcher fallen, in denen er umhertapste auf der quälenden Suche nach dem Sinn seiner Existenz. Es war niemals gut, über zu viel Zeit zum Grübeln zu verfügen, dachte er jetzt, während er schmutzige Weingläser zur Spüle trug.

„Das kann ich doch übernehmen, Herr Winske“, rief ihm der Barmann zu.

Winske winkte ab.

Er ließ heißes Wasser in das Spülbecken laufen und gab einen Spritzer Priel hinzu. Die teuren Gläser hatten es verdient, per Hand gesäubert zu werden. Er genoss solche einfachen Tätigkeiten, bei denen man seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Den ganzen Abend über hatte er sich auf der Einweihungsparty hinter der Bar am wohlsten gefühlt. Viele Gäste waren im nüchternen Zustand kaum zu ertragen, aber mit ein paar Promille in der Blutbahn wurden manche von ihnen ganz amüsant. Ihn selbst konnte Alkohol kaum reizen, und jetzt, zusammen mit den Medikamenten, trank er ohnehin nur Softdrinks.

Joachim Winske biss sich auf die Lippen. Er konnte es selbst nicht fassen, wie sehr er sich in den letzten Monaten verändert hatte. Was war aus dem energiegeladenen Self-Made-Mann geworden?

Das mit den Arzneien hatte bald nach dem letzten Weihnachtsurlaub auf Saint Maurice angefangen. Auf der Insel im Indischen Ozean war er zum ersten Mal in diese dunkle Welt versunken, während die Sonne gnadenlos vom Himmel gestrahlt und das Meer so aquamarin geblitzt hatte wie in der Tourismuswerbung. Unerträglich für ihn. Er hatte es darauf geschoben, dass ihm einfach zu langweilig war auf dem Eiland. Paola und er hatten die Reise frühzeitig abgebrochen.

Joachim Winske tauchte sinnend ein paar Gläser ins schaumige Wasser.

---ENDE DER LESEPROBE---