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Altenpflegerin Paula Adam ist hinter dem Familienschmuck des 91jährigen Rudolph Poppinga her. Der Anziehungskraft der Juwelen können auch der leutselige Hausarzt Dr. Kolbe sowie Rudolphs smarter Sohn Winfried nicht widerstehen. Als der alte Poppinga in seinem Bett stirbt, hat keiner der Protagonisten ein gänzlich reines Gewissen. Trotzdem wiegen sich zunächst alle in Sicherheit, dann auf dem Totenschein lautet die Todesursache: Herzversagen. Dann kommt es doch zur Obduktion und die Nerven beginnen zu flattern … Printausgabe: 196 Seiten
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
1. Tag, Mittwoch
2. Tag, Donnerstag
3. Tag, Freitag
4. Tag, Sonnabend
6. Tag, Montag. Kommissariat
Vier Wochen später
Impressum
1.
Mit angehaltenem Atem betrat Paula Adam die düstere Diele der Villa ihres Arbeitgebers. An die Duftkombination aus Kot, Urin, Kamillentee und altem Schweiß würde sie sich niemals gewöhnen können. Während Paula ihren kieselsteinfarbenen Übergangsmantel auszog, ließ sie die herbstliche Morgenluft durch die geöffnete Eingangstür ins Haus strömen.
„Huhu, Herr Poppinga, ich bin da!“
Es war fast halb acht. Höchste Zeit, den Tag mit dem Alten zu beginnen. Paula schloss die Haustür, durchschritt leicht hinkend die Eingangshalle, klopfte kurz an eine Eichenholztür und trat in das abgedunkelte Schlafzimmer von Rudolph Poppinga. Die Ausdünstungen hier waren besonders penetrant. „Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Poppinga. Haben wir gut geschlafen?“, zwitscherte Paula. Der Alte im Bett grunzte eine Antwort, die niemanden in der Welt interessierte.
Schon gar nicht Paula.
Wie jeden Morgen machte sich die Altenpflegerin als erstes daran, Licht und Luft in den muffigen Raum zu lassen. Sie zog die dunkelgrünen Samtvorhänge auf und öffnete die hohen Fensterflügel. Während Paula Frischluft in ihre Lunge pumpte, beobachtete sie ein Spinnennetz, das oben im Winkel des äußeren Fensterrahmens im Wind zitterte. Eine kleine Fliege hatte sich darin verfangen und kämpfte mit letzter Kraft gegen ihr Schicksal an.
„Mein Frühstück! Hunger! Ich will…“, nörgelte Rudolph Poppinga.
Seufzend wandte Paula sich ihrem Arbeitgeber zu. Der Alte brabbelte, nuschelte, krächzte.
Lauter unverständliches Zeugs.
Seit drei Jahren pflegte Paula Adam den Greis. Anfangs hatte er sie pausenlos herumkommandiert. Doch obwohl in seinem Blick weiterhin ein ungebrochener Wille lag, gehorchte dem 91jährigen sein Befehlsorgan, die Stimme, nicht mehr. Abgesunkener Kehlkopf. Ausgetrocknete Schleimhäute. Ausgeleierte Stimmbänder.
Kurz: der Verfall.
Mit einem nachsichtigen Lächeln setzte sich Paula auf seine Bettkante. „Eins nach dem anderen, Herr Poppinga. Sie wissen doch: Erst mal lege ich Sie trocken, dann wasche ich Sie. Danach können Sie frisch und sauber das Frühstück doppelt genießen.“ Mit einem Ruck schlug sie seine Bettdecke zurück. Fäkaliengestank schlug ihr entgegen.
„Verhungern lassen willst du mich“, begann der Alte zu lamentieren, „Erbschleicher, Versager, missratene Brut …“
Wieder verlor sich die dünne Stimme.
Paula Adam schob das Baumwollnachthemd des Alten hoch. Die Windel sah prall gefüllt aus.
Sie machte sich an die Arbeit.
*
Eine halbe Stunde später saß Rudolph Poppinga angezogen und gekämmt in der Küche am Esstisch und schlürfte lauwarmen Haferbrei. Seine Pflegerin blätterte in der Zeitung, auf der Suche nach Artikeln, die den alten Mann interessieren oder vielleicht sogar aufheitern könnten.
„Hören Sie mal, Herr Poppinga: Ein drei Monate altes Baby ist angeblich wegen eines Streits der Eltern an der Pinnwand der Stadtbibliothek zum Verkauf angeboten worden. Vernehmungen der Eltern hätten den ersten Eindruck bestätigt, dass ein Dritter hinter der Annonce steckt, so die Staatsanwaltschaft.“ Kopfschüttelnd klopfte Paula auf die Zeitung. „Sagen Sie mal, in was für einer Welt leben wir eigentlich?“
Erwartungsvoll blickte die Altenpflegerin in Herrn Poppingas Origami-Gesicht. Manchmal bereitete es Paula Freude, seine Empörung hervorzukitzeln. Wenn er wütend wurde, schien er lebendiger. Doch heute starrte er sie nur aus geröteten Augen an. Von seinem schlaffen rechten Mundwinkel aus zog sich eine feine Haferschleimspur über das Kinn. Paula griff nach dem feuchten Lappen, der für solche Fälle auf dem Tisch bereit lag, und wischte dem alten Mann mit einer schnellen Bewegung den Schleim ab. Unbeabsichtigt versetzte sie dabei seinen Truthahnhals in Schwingungen.
„Herr Poppinga, was halten Sie von einem schönen Spaziergang heute Vormittag?“
Aus dem Dielenschrank holte sie Schuhe und das praktische Cape, das sie ihm nur über die Schultern zu legen brauchte, und das vorne am Hals mit zwei Druckknöpfen zu schließen war. Dann bückte sie sich – dafür nahm Paula den Schmerz in ihrem linken arthritischen Knie in Kauf –, um dem alten Mann die Schuhe anzuziehen.
Sie spürte, wie Herr Poppinga dabei auf ihre gewaltigen Brüste starrte.
„Komm, Kindchen“, schnaufte der Alte.
Verwundert schaute Paula zu ihrem Arbeitgeber hoch. „Nanu, Herr Poppinga, ich hab schon gedacht, ihre erotischen Triebe sind inzwischen verdorrt!“
„Komm!“
Gehorsam setzte sie sich auf seinen Schoß. Im Sitzen war sie einen Kopf größer als der eingefallene Greis. Sanft bettete er sein kahles Haupt auf ihre üppige Brust. Aus den Poren seiner Kopfhaut strömte ihr der strenge Geruch des Alters entgegen. Langsam begann er ihren Busen zu kneten, er seufzte wohlig. Paula ließ es geschehen und dachte dabei an ihren Lohn. Für jeden ihrer raren kleinen Liebesdienste gab es ein Schmuckstück aus der Schatulle der verstorbenen Frau Poppinga, in der sich noch so manches schöne Geschmeide befand. Paula sehnte sich danach, die niedlichen kleinen Ohrringe mit den funkelnden Rubinen an sich zu nehmen, und die Brosche in Form eines Löwenkopfs, den wunderbaren Diamantring, das schwere Goldarmband, den Bernsteinanhänger und überhaupt … Alles!
Paula konnte nicht anders, sie musste Sachen horten. Das war ihre Leidenschaft. Ihr Lebenselixier. Ihr Laster. Dabei ging es nicht mal so sehr um den Wert der Gegenstände. Das Protzen mit Reichtum hielt Paula für unanständig. Paula Adam war eine einfache, genügsame Frau, und sie kannte ihren Platz im Leben.
Unter ihr ächzte der alte Mann.
„Herr Poppinga, bin ich Ihnen auch nicht zu schwer?“
Als Antwort ließ er die Hände sinken. Paula richtete sich auf und rückte ihre Oberweite zurecht. „Ich glaube, jetzt wird uns ein bisschen frische Luft ganz guttun“, sagte sie.
Herr Poppinga nickte erschöpft.
*
Warm eingepackt saß Rudolph Poppinga in seinem Rollstuhl und ließ sich von Paula Adam durch das Lüneburger Kurparkviertel schieben. Der herbstliche Nebel löste sich allmählich auf, erste Sonnenstrahlen verzauberten Vorgärten, Tau glänzte auf gut getrimmten Rasenflächen und das Laub leuchtete in glühenden Farben.
„Was für ein herrlicher Morgen. Wir können das Leben genießen. Was, Herr Poppinga?“
„Unrat überall, ekelhaft!“ Er deutete auf eine leere Blechdose am Wegesrand. Paula stoppte und bückte sich mit steifen Knien, um die bunte Coladose aufzuheben. Bis auf eine kleine Delle sah sie noch wie neu aus. Paula ließ den Fund in die geräumige Tasche ihres Mantels gleiten.
„Heute Abend läuft eine schöne Volksmusiksendung im Fernsehen. Das ist doch was für uns, nich´, Herr Poppinga?“ Paula schob den Rolli wieder an.
Der Postbote kam ihnen auf seinem gelben Fahrrad entgegen und grüßte die beiden alten Leute freundlich. Paula mochte den drahtigen kleinen Mann. Sie hielt gern einen Plausch mit ihm, wenn er einmal ein Einschreiben oder ein Päckchen an der Haustür der Villa abzugeben hatte. Sie lächelte zurück.
„Der will auch nur mein Geld!“, bellte Herr Poppinga.
„Aber, Herr Poppinga! Neulich, da mussten Sie etwas per Nachnahme bezahlen. Da haben wir dem Herrn Postboten natürlich Geld geben. Das war schon recht so.“
„Das Pack will nur mein Geld! Aber keiner findet es …“ Paula sah, wie die Schultern des Alten zuckten. Er kicherte leise vor sich hin.
Während sie den Rollstuhl umsichtig über den Asphalt dirigierte, musterte sie die schicken Appartementhäuser, die in den letzten Jahren zwischen den gediegenen Backsteinvillen aus dem Boden geschossen waren. Kein Vergleich zum sechzehnstöckigen Wohnsilo, in dem Paula lebte.
Manch einem flogen die gebratenen Tauben in den geöffneten Mund, andere schufteten sich ab, und trotzdem blieben ihnen nur die Brotkrumen der Reichen übrig, dachte Paula und sah auf die gestreifte Wollmütze hinunter, die den kahlen Hinterkopf des Alten bedeckte. Rudolph Poppinga hatte seinen Wohlstand seiner Frau, einer Juwelierstochter, zu verdanken. Nach Emilies Tod vor dreißig Jahren war das respektable Erbe an ihn gefallen. Glück gehabt, dachte Paula.
Sie selbst war nach zwei kinderlosen gescheiterten Ehen, und nachdem sie sich vierzig Jahre lang mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR arrangiert hatte, kurz nach dem Mauerfall in den Westen gezogen. Als private Altenpflegerin hatte Paula zunächst verschiedene pflegebedürftige Senioren betreut. Inzwischen war Poppinga ihre einzige Einnahmequelle. Er zahlte besser als alle anderen, und es gab keine Angehörigen, die ihre Nase dauernd in Paulas Pflegearbeit steckten und besserwisserische Tipps gaben, blödsinnige Vorstellungen entwickelten und sich immer dann einmischten, wenn es nun gar nicht passte. Winfried, Poppingas einziges Kind, tauchte zweimal im Jahr in der Villa auf – am Geburtstag des Alten und am zweiten Weihnachtstag. Vater und Sohn konnten sich nicht ausstehen.
Das war Paula ganz recht.
Es gab viele alte Leute, die ihre Schätze lieber einer freundlichen und willigen Pflegerin überließen als ihren undankbaren, gierigen Erben.
Paula beugte sich hinunter zu Herrn Poppinga und flüsterte ihm zu: „Gleich darf ich mir etwas Schönes aus der Schatulle aussuchen, nich´, Herr Poppinga?“
Der Alte reagierte nicht.
„Herr Poppinga!“ Paula schüttelte ihn an den Schultern. Wieder keine Reaktion. Schlief er? Leicht beunruhigt stoppte sie den Rolli und schaute sich Rudolph Poppinga an. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen wirkten schlaff, die Haut schien aschfahl, fast bläulich.
Atmete er noch?
2.
Winfried Poppinga saß eingeklemmt zwischen einem übergewichtigen, in ein Buch vertieften Mann und einer vor sich hindösenden Blondine mit IPod-Stöpseln in den Ohren auf dem Mittelplatz in Reihe 19 einer in London gestarteten Boeing 737.
Economy Class!
49 Jahre alt, Besitzer von Vielflieger-Karten diverser Fluggesellschaften, seit zwanzig Jahren gewohnt, Business Class zu reisen oder auch First Class, wenn ein Auftraggeber es bezahlte, und nun der Abstieg in die Holzklasse! Winfried wand sich auf seinem Platz und bemühte sich vergeblich, seine langen Beine noch einige Millimeter weiter unter dem Vordersitz auszustrecken.
Vor wenigen Minuten war der Landeanflug auf Hamburg angekündigt worden. Ein adretter Flugbegleiter huschte durch den engen Gang und sammelte die Plastikbecher ein, die den Passagieren kurze Zeit zuvor mit Getränken ihrer Wahl kredenzt worden waren. In Reihe 19, links, hatte der dicke Mann es ungefragt übernommen, die Becher einzusammeln. Wortlos reichte er dem Steward den Plastikmüll, in dem Reste einer rötlichen Substanz schimmerten. Im Gegensatz zu Winfried, der sich stets an Stilles Wasser hielt, hatten sich sowohl der korpulente Mann als auch die hübsche Blondine am Fenster für Tomatensaft entschieden. Nun, zum Glück war die Sache gut gegangen, und das sämige Gesöff hatte ohne Kleckereien den Weg in die Mägen gefunden. Winfried schauderte. Tomatensaft und Plastik! In der Business Class gab es gut gespülte, appetitlich glänzende Gläser.
Um sich zu beschäftigen, fingerte Winfried das nappalederne Brillenetui aus der Innentasche seines maßgeschneiderten Jacketts und schob sich eine randlose Gucci- Lesebrille auf die Imperatornase. Dann zog er das Bordmagazin aus dem Ablagenetz, das sich ebenso wie das hochgeklappte Tischchen eine halbe Armlänge vor ihm befand. Flüchtig betrachtete er das Titelbild, auf dem ihm ein junges Paar entgegenlachte. Im Hintergrund sah man die Silhouette von San Marco im Abendrot. Gelangweilt blätterte Winfried in dem Werbeblatt herum. Kurze Reportagen über einen Wellness-Urlaub auf Bali, ein romantisches Wochenende in Venedig und die ultimative Shopping-Tour in Dubai, dann das Angebot an Bord: edle Parfüms, Uhren, Spirituosen, Tabakwaren, aufblasbare Mini-Boeings für die Kinder – ein käufliches Stück Glück. Er stopfte das Magazin zurück zu Kotztüte und Safety-Anleitung in die Ablage.
Winfried spürte, wie sich langsam Druck in seinen Ohren aufbaute. Er schluckte kräftig und linste an seiner mit geschlossenen Augen Musik hörenden Sitznachbarin vorbei – ihre Brüste waren kaum größer als Tischtennisbälle, das hatte er schon beim Einsteigen bemerkt – hinaus in den weißgrauen Nebel. Seit die Boeing ihre maximale Reiseflughöhe verlassen hatte, befand sie sich im Wolkendickicht.
Trübe Suppe!
Bedacht darauf, sich dabei nicht die Knie zu stoßen, gelang es ihm, seine Beine übereinander zu kreuzen. Abgesehen davon, dass Start und Landung die schwierigsten Parts beim Fliegen waren und die Gefahr eines Absturzes dabei am größten, mochte Winfried die Situation nicht, in der man sich weder in maximaler Flughöhe befand noch mit beiden Beinen auf dem Erdboden. Winfried verabscheute Schwebezustände in allen Lebenslagen, beruflich genauso wie privat.
Das Flugzeug schaukelte und vibrierte, sackte in ein Luftloch, fing sich rasch. Der feiste Schenkel des Dicken links neben ihm drückte sekundenlang an Winfrieds Bein, während sich unvermittelt eine knochige Hand von rechts in seinen Unterarm krallte.
„Ups!“, kicherte die junge Frau am Fensterplatz nervös, „´tschuldigung. Ich hab mich total erschrocken. Dabei ist es fast wie in der Achterbahn. So´n luftiges Kribbeln im Bauch.“
Langsam ließ sie seinen Arm wieder los. Winfried war entzückt von seiner Sitznachbarin. In ihrem niedlichen Gesicht strahlten babygroße, helle Augen. Wie alt mochte sie sein? Siebzehn, oder doch schon älter? Sie war ziemlich sexy.
„Fliegen Sie oft?“, fragte das Mädchen.
„Ja, aber normalerweise Business.“
„Dachte ich mir schon.“ Die junge Frau ließ ihren Blick kokett von seinem markanten Gesicht auf das Designerjackett und noch ein Stückchen tiefer schweifen. „War wohl schon ausgebucht? Die Maschine ist ja auch rappelvoll.“ Sie lächelte. „Ich bin Liza. Wer bist du?“
Winfried betrachtete es als ein gutes Zeichen, dass diese junge Frau so rasch zum Du überging, Offensichtlich hielt sie ihn nicht für einen Grufti. Er nahm seine Brille von der Nase und grinste gerade so breit, dass seine Lachfalten noch attraktiv wirkten.
„Hi, Liza, ich bin Win“, sagte er locker und legte die Brille wieder in das Etui zurück. „Was hast du vor in Hamburg?“
Endlich nestelte Liza die hässlichen Stöpsel aus ihren Ohrmuscheln. Dann straffte sie ihren Oberkörper so, dass die beiden kleinen Wölbungen unter ihrem Pullover besser zur Geltung kamen. „Och, ich war als Au-Pair bei so einer saureichen Familie in Knightsbridge, und nun geht es zurück nach Hause. Such mir einen Job oder fang ein Studium an. Vielleicht Psychologie. Und du? Lass mich raten …“ Liza taxierte ihn eingehend. „Staranwalt, verheiratet, Kinder und der ganze Kram, oder?“
Einen Moment lang verlockte Winfried der Gedanke, seinen angestauten Seelenmüll bei diesem jungen Mädchen abzuladen, einem wehrlosen Opfer sozusagen. Was wäre schon dabei? Er würde sie nicht wiedersehen. Allerdings, man konnte nie wissen … vielleicht standen seine Chancen, sie intensiver kennenzulernen, gar nicht mal schlecht. Winfried entschied: Kein Wort zu ihr über seine völlig missglückte Ehe mit Edwina, nichts über die jämmerliche Schlammschlacht bei der Scheidung. Wozu sollte er ihr erzählen, dass er zwei Jungen hatte, die er nur noch alle zwei Wochen sehen durfte? Ganz zu schweigen von der Privatschule, die seine Kinder besuchten, weil Edwina darauf bestand. Das völlig überhöhte Schulgeld trieb ihn noch schneller in den Ruin. Doch wozu, um alles in der Welt, etwas verraten von dem finanziellen Desaster und allen anderen beruflichen Tiefschlägen, die ihn seit einem Jahr fertig machten? Und auch über seinen Vater, den er in dem norddeutschen Provinznest besuchen wollte, in dem er aufgewachsen war – nothing. Was ging es die Kleine an, dass er seinen Alten anpumpen musste, um überleben zu können?
„He? Entschuldigung, bekomme ich heute noch eine Antwort?“, meldete sich Liza.
„Ich bin nicht verheiratet“, sagte Winfried, und er log dabei nicht einmal, „und mir gehört eine Werbeagentur.“ Winfried fuhr sich mit der Hand über das volle, leicht wellige, graumelierte Haar. „Nach dem Abitur habe ich tatsächlich ein Semester Jura in Hamburg studiert, aber dann bin ich aus Deutschland weg. Erst nach Südfrankreich, später nach London. In England habe ich mir eine Existenz aufgebaut“, fügte er hinzu.
Sie nickte. “Du verdienst jede Menge Kohle, Win, das sieht man. Ich habe einen Blick dafür.“
Winfried lächelte wie Buddha.
Liza zog ihre Handtasche, einen ockergelben Stoffbeutel, hervor, und packte den IPod hinein. Dann verschwand sie beinahe mit ihrem ganzen Gesicht in dem Beutel, offensichtlich auf der Suche nach irgendetwas.
Winfried registrierte, dass er immer noch einen Druck auf den Ohren spürte, zum Glück konnte es nicht mehr lange bis zur Landung dauern. Durch das Fenster sah er Gebäude, Äcker, Rasenflächen, herbstfarbene Landschaft, hie und da Wasserläufe, kleine Seen, Bassins. Fahrzeuge in Spielzeuggröße schlichen über sich windende Asphaltpisten.
Von hier oben sah das Leben so geordnet aus.
Etwas später schwebte die Boeing träge auf das Flughafengelände zu, die Landebahn rückte immer näher, dann setzte die Maschine hart auf. Endlich wieder Bodenhaftung! Winfried spürte, wie sich der Körper seines beleibten Sitznachbarn bei der Landung für einen Moment an ihn drückte. Der dicke Mann entschuldigte sich dafür und klappte sein Buch zusammen. Liza starrte Kaugummi kauend vor sich hin. Mit überraschend kieksiger Stimme machte der Steward die obligatorische Durchsage mit der Bitte an die Passagiere, noch sitzen zu bleiben, bis die Maschine ihre endgültige Parkposition erreicht habe.
An den Fensterscheiben klebten dicke Wassertropfen. Draußen konnte man die Gebäude des Flughafens Hamburg-Fuhlsbüttel im Nieselregen erkennen. Tristes Herbstwetter. Passend zu seiner Seelenlage, fand Winfried, und tröstete sich damit, dass es auch in den düsteren Monaten goldene Tage gab. Seine Stimmung hellte sich auf, eigentlich war die Sache doch glasklar: Erstens, sein angekratztes Selbstwertgefühl verlangte nach Politur. Zweitens, hatte ihm nicht geradezu der Himmel das attraktive Mädchen an seiner Seite geschickt?
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich, Liza?“
„Einundzwanzig! Und du?“
„Auf jeden Fall erwachsen wie du.“ Winfried ging zu seiner in den achtziger Jahren hinlänglich bewährten Abschleppmasche über: „Also, ich finde, du bist eine wirklich interessante Persönlichkeit. Ich würde dich gerne näher kennen lernen.“
Sie zog eine Augenbraue hoch und kaute weiter.
Klong! Das Leuchtzeichen für die Gurte erlosch. Leute schälten sich eilig aus ihren Sitzen, froh, der Enge gleich entfliehen zu können. Der Gang füllte sich im Nullkommanichts. Die Reisenden hatten den nächsten Termin, das nächste Ziel bereits vor Augen. Das merkwürdige Gefühl, sich gerade eben irgendwo zwischen Raum und Zeit befunden zu haben, geriet sofort in Vergessenheit. Alles war gut gegangen. What´s next?
Obwohl auf dem Gang Stau herrschte, weil die Tür noch gar nicht geöffnet war, wuchtete sich nun auch der dicke Mann aus seinem Sitz. Unwillkürlich drängten sich die Leute enger aneinander, um Platz für das respektable Schwergewicht zu schaffen. Winfried, der hager und lang war, nutzte die Lücke und schlüpfte einigermaßen geschmeidig hinterher. Beide Männer machten sich daran, ihr Handgepäck aus dem Fach über ihren Sitzen zu bergen. Winfried hievte seinen kleinen Koffer hinunter. Mehr Gepäck benötigte er nicht. Sein Rückflug war für übermorgen Abend gebucht.
In die Schlange vor ihnen kam zögerlich Bewegung, Liza ergriff die Chance, sich vor ihn in die Reihe einzufädeln. Sie war größer, als er vermutet hatte. Ihre staksigen Beine steckten in engen Röhrenjeans. Im Schneckentempo schoben sie sich ein Stückchen voran. Winfried drängte sich gegen Liza. Er spürte die eckigen Rückenknochen und das kleine, stramme Hinterteil.
„Mann, erdrück mich nicht!“, motzte Liza, die mit Hilfe des ockergelben Beutels Abstand zu ihrem übergewichtigen Vordermann hielt, nach hinten.
Die kleine Zurechtweisung ignorierend, kniff Winfried sie in die Seite. Seiner Erfahrung nach schätzten flirtbereite Frauen unter fünfundzwanzig forsches Verhalten bei Männern. Tatsächlich wandte sich Liza leise aufkreischend zu ihm um. Sie grinste: „Alberner Kerl.“
„Was ist, kommst du noch mit in eine Bar, hier auf dem Flughafen?“
„Ich muss noch zur Gepäckabholung, hab tausend Koffer.“
„Ich kann dir helfen.“
„Nein. Nicht nötig.“
Ehe Winfried weiter insistieren konnte, kam Bewegung in die Schlange. Alles drängte nun zügig aus der Maschine hinaus. Winfried und Liza wurden von der Menge mitgezogen. Erst im Flughafengebäude kamen sie dazu, ihr Gespräch wieder aufzunehmen.
„Hast du eine Handynummer?“, fragte Liza.
Winfried nickte und fummelte eine Visitenkarte – Reliefdruck auf echtem Bütten – aus der Jackentasche.
„Ich melde mich bei dir.“ Liza stellte sich auf die Zehenspitzen, zog Winfried zu sich heran und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, verschwand sie in Richtung Gepäckausgabe.
Nach einer Toilettenpause ging Winfried an den Gepäckbändern vorbei, um die sich die Reisenden scharten, hinaus in die öffentliche Ankunftshalle. Dort lauerten Angehörige und andere Abholer hinter einer Absperrung. Sehr auffällig verhielt sich eine aufgekratzte Gruppe gut aussehender junger Leute mit Luftballons und Bannern, auf denen Welcome back, Lieschen stand sowie einem Plakat, auf dem ganz unverkennbar seine Sitznachbarin aus dem Flugzeug als Strandschönheit im Bikini abgebildet war. Und in der Mitte des aufgeregten Haufens stand ein junger Adonis mit einer einzelnen roten Rose. Winfried spürte seine Chance, die Schöne noch einmal wieder zu sehen, in den Keller sinken. Er trug es mit Fassung und strebte dem Ausgang entgegen. Am Taxistand warteten bereits jede Menge Menschen. Winfried seufzte. Bis er endlich bei seinem Vater eintreffen würde, konnte es noch eine Weile dauern.
3.
Ein Auto sauste viel zu schnell durch die Straße, in der Paula stand und den völlig leblos in seinem Rollstuhl zusammengesunkenen Rudolph Poppinga anstarrte. In ihren 63 Lebensjahren hatte Paula keinerlei einschlägige Erfahrungen mit Toten gesammelt. Nie war jemand in ihrer Anwesenheit gestorben. Ob es sich um Angehörige oder um Pflegepatienten handelte, immer hatte sie den entscheidenden Augenblick verpasst. Ihre Eltern waren bei einem Segelausflug ums Leben gekommen. Paulas erste Schwiegermutter segnete, so wenig rücksichtsvoll sie auch zu Lebzeiten gewesen war, das Zeitliche, als Paula sich mit ihrem ersten Mann Ludger eines kurzen Zelturlaubs am Plattensee erfreute. Auch der Anblick von Johnny Schmitz´ Leiche war ihr erspart geblieben. Paula hatte den hinfälligen Hamburger Lotsen, den sie betreute, zum Arzt begleitet. Während Paula im Wartezimmer saß, war Schmitz im Behandlungszimmer seines Arztes tot umgefallen.
Als gruselig empfand Paula von jeher die Sitte, Toten die letzte Ehre zu erweisen, indem man sich die aufgebahrten Leichen kurz vor der Beerdigung noch einmal anschaute. Nach Paulas Überzeugung sollte man Tote möglichst als Lebendige in Erinnerung behalten.
Vielleicht war Herr Poppinga nun ihr erster Toter?
Paula fühlte seinen Puls: schwach, sehr schwach. Der geht über den Jordan, dachte sie. Einen Moment lang erwog sie, Alarm zu schlagen, Hilfe zu rufen und in einem der Häuser zu klingeln, um darum zu bitten, einen Notarzt zu verständigen. Doch etwas in ihr sträubte sich dagegen.
Als sei nichts geschehen, schob sie den Rolli wieder an.
Poppinga war uralt, der hatte sein Leben gelebt. Im Krankenhaus würden sie ihn nur mit fiesen Schläuchen quälen, ihn notdürftig wieder aufpäppeln, und dann würde sie den noch hinfälliger und vergrätzter gewordenen Greis weiter pflegen müssen. Womöglich war er sowieso schon ins Koma gefallen. Von solchen Dramen konnte man ja fast täglich in der Zeitung lesen. Und dann? Paula würde mit leeren Händen dastehen. Tod oder Koma, egal – der versprochene Schmuck wäre futsch. Der rechtmäßige Erbe war Winfried Poppinga. Sie würde ihn schlecht um den verdienten Schmuck bitten können. „Ihr Vater hat an mir herumgefummelt, und als Dankeschön hat er mir dafür ein bisschen Geschmeide versprochen“, wie klänge das wohl in den Ohren eines Unbeteiligten? Sie war ja schließlich keine Straßendirne. Nein, so ging das ganz und gar nicht.
Abrupt hielt Paula wieder an. Sie bückte sich zu Rudolph Poppinga.
„Herr Poppinga!“
Nichts.
Und dann, ehe sie sich selbst ihrer Tätigkeit richtig bewusst wurde, machte sich Paula bereits an den Druckknöpfen des Capes zu schaffen. Sie wusste, das Schmuckkästchen ließ sich mit dem zierlichen Schlüssel öffnen, den Rudolph Poppinga ständig bei sich trug. Sie knöpfte das gestreifte Oberhemd vom Kragen her auf und fand sofort, was sie suchte. Zwischen dünnem, weißem Brusthaar baumelte eine schwere Goldkette, die im Ansatz des Unterhemdes verschwand. Paula zog an der Kette, und ein ovales Goldamulett kam zum Vorschein. Ihre ungelenken Finger verfluchend, brauchte sie eine Weile, bis der Verschluss des Amuletts aufschnappte. Dann endlich konnte sie das Schlüsselchen bergen. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie es in ihre Manteltasche gleiten ließ, wo es leise klirrend gegen die Coladose stieß.
Geschafft, dachte Paula, und setzte den Spaziergang mit gespannten Nerven fort. Jetzt erst bemerkte sie, dass das schöne Wetter umgeschlagen war. Grauen Vorhängen gleich hatten sich die Wolken zugezogen. Es fing an zu nieseln. Paula beschleunigte ihren Schritt. Da sah sie den Postboten auf seinem gelben Fahrrad aus einer Auffahrt biegen. Er fuhr direkt auf sie zu. Einen Moment lang dachte Paula, ihr Herz bliebe stehen. Der Postbote schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, das jedoch erstarb, als er den Blick auf Poppinga richtete. Er bremste scharf.
„Mit Herrn Poppinga stimmt was nich´. Schau ´n Se mal. Ich glaube …“
Pflichtbewusst stellte sich Paula neben den Mann, der unterdessen an dem Alten herumrüttelte.
„Wir müssen einen Arzt rufen“, sagte der Postbote besorgt, und ehe sich Paula versah, zog er sein Handy hervor und bestellte einen Rettungswagen.
*
Drei Stunden später – draußen goss es inzwischen in Strömen – ruhte sich Paula auf dem Sofa im Wohnzimmer der Poppinga Villa aus. Die ganze Sache hatte sie doch ziemlich mitgenommen. Rudolph Poppinga befand sich längst im Krankenhaus. Der Notarzt hatte sich um ihn gekümmert, dann war Poppinga von Sanitätern auf einer Trage in den Krankenwagen verfrachtet worden. Paula hatte einige Fragen beantworten müssen, dann konnte sie gehen. Der freundliche Postbote, Ronny Dreher hieß er, hatte sie auf einen Kaffee ins nahe gelegene Ristorante Roma eingeladen. Es hatte sich herausgestellt, dass Dreher genau wie Paula ursprünglich aus dem Osten stammte. Sie waren ins Plaudern geraten, und dann hatten sie noch zusammen Pizza gegessen.
Paula rülpste kräftig – die Pizza Diavolo lag ihr jetzt doch etwas im Magen – und griff zum Telefon neben dem Sofa.
„Silke, ich bin´s. Störe ich?“
„Nein. Ich räume nur gerade mein Bücherregal auf.“
„Kannst du mir einen Gefallen tun und mich in der Villa abholen? Der alte Poppinga hat einen schweren Kreislaufkollaps erlitten, als wir gerade spazieren waren. Der Rettungswagen hat ihn mitgenommen. Ich bin völlig erledigt.“
„Ach Gott.