Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen - Jchj V. Dussel - E-Book

Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen E-Book

Jchj V. Dussel

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Beschreibung

Kopjas Zwillingsbruder Jakop sprüht Aggressionen wie ein junger Vulkan. Als der Sechsjährige wie vom Erdboden verschluckt ist, muss der zarte, heitere Kopja die Lücke füllen. Über Jahre übt er ein Glaubensbekenntnis der Bruderliebe ein, formt den Verschollenen zur Religion, zur Mythologie und bekämpft toxische Übergriffe der Familie, der Mitschüler und der Gesellschaftsbilder, auf sich als nicht-binären Körper in einem provinziellen Deutschland, in dem es vor unterschwelligen Ressentiments, Erniedrigungen und Körperfeindlichkeit wimmelt. Aber Kopja bleibt voller Hoffnung. Nachdem er von Zuhause ausreißt, stößt er auf eine heiße Spur: Wurde Jakop damals entführt? Die Suche nach dem Bruder beginnt. Queere Liebschaften, neue Freunde und eine vergessene Schwester reißen Kopja dabei in einen schrillen Sog, Antworten zu finden auf die Zweifel an Körper, Geschlecht und Sexualität, in der Männlichkeit stets eine Selbstausbeutung einfordert. Bis er sich in einem entblößenden TV-Casting wiederfindet, um diesen Vulkan in sich und auch seinen Bruder ein für alle Mal zur Ruhe zu bringen, während eine Naturkatastrophe alle bisherigen Siege erneut aufs Spiel setzt.

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Kopjas Zwillingsbruder Jakop sprüht Aggressionen wie ein junger Vulkan. Als der Sechsjährige wie vom Erdboden verschluckt ist, muss der zarte, heitere Kopja die Lücke füllen. Über Jahre übt er ein Glaubensbekenntnis der Bruderliebe ein, formt den Verschollenen zur Religion, zur Mythologie und bekämpft toxische Übergriffe der Familie, der Mitschüler und der Gesellschaftsbilder auf sich als nicht-binären Körper in einem provinziellen Deutschland, in dem es vor unterschwelligen Ressentiments, Erniedrigungen und Körperfeindlichkeit wimmelt. Aber Kopja bleibt voller Hoffnung. Nachdem er von zu Hause ausreißt, stößt er auf eine heiße Spur: Wurde Jakop damals entführt? Die Suche nach dem Bruder beginnt. Queere Liebschaften, neue Freunde und eine vergessene Schwester reißen Kopja dabei in einen schrillen Sog, Antworten zu finden auf die Zweifel an Körper, Geschlecht und Sexualität, in der Männlichkeit stets eine Selbstausbeutung einfordert. Bis er sich in einem entblößenden TV-Casting wiederfindet, um diesen Vulkan in sich und auch seinen Bruder ein für alle Mal zur Ruhe zu bringen, während eine Naturkatastrophe alle bisherigen Siege erneut aufs Spiel setzt.

JCHJ V. DUSSEL, * 1988 in Niedersachsen, ist Autorj, Musikerj und Performance-Künstlerj. Jchj studierte in Braunschweig und Istanbul Film/Video, Performance, Malerei und Freies Schreiben. Diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. J gründete mit Moritz Sauer das Performance-Kollektiv BR*OTHER ISSUES. Js Text DARK ROOM wurde 2019 am Schauspiel Hannover uraufgeführt und 2021 am Maxim Gorki Theater Berlin in überarbeiteter Form als Stream verfilmt. J war 2018–21 Mitherausgeber*in der Literaturzeitschrift Glitter und ist aktuell Stipendiat*in des Instituts für Digitaldramatik am Nationaltheater Mannheim.

Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen ist Jchj V. Dussels Romandebüt.

Jchj V. Dussel

AUS DEM SCHLAFENDEN VULKAN AUSBRECHEN

ROMAN

© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage 2022

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuss studio | matthiaskronfuss.at

Umschlagbild: © Filip Henin | filiphenin.com„Ocean drift“, 2020, Acryl und Öl auf Leinwand, 150×190 cm.

Lektorat: Teresa Profanter

Satz: Paul Frenzel

Gesetzt aus der Noe, der Metric, der Avenir, der BonaNova und der Menlo.

Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.

Papier: Munken Print Cream 90 g/m2, Surbalin glatt 115 g/m2, Geltex 115 g/m2.

ISBN: 978-3-903422-00-1

ISBN E-Book: 978-3-903422-01-8

Für meinen ZwillingsbruderMoritz

und für die,die unermüdlich aufgeweckte Worte für sich suchen …

Inhalt

TEIL I: MITLEID MIT DEM GIFT DER DEUTSCHEN MÄNNLICHKEIT

Ich glaube

Würmchens Geburtstag

Die Einschulung

Der große böse Wald

Die Taufe

Die neue Zeit

Die vielen Bücher und ein Vokuhila

Heimgeholt werden

Außerirdisch

Die Metamorphosen des Planeten Witterse

Erste Superkräfte

Mit einer eindeutigen Erscheinung

Sie in Schaukästen konservieren

Grausame Taten

Credo und ein Kammerspiel

Das Referat war ein erstes Date

TEIL II: EIGENE WORTE FINDEN UND SIE WIE KISSEN AUFSCHÜTTELN

Ich glaube, ich brauchte ein neues Zuhause

„Wo ist das Huhn“

TEIL III: EIN VULKANGOTT WERDEN FÜR WEN

Ich glaubte fest daran, dass Jakop

Ich traf Cord

Aynur kam

Ein Orakel

Lenas Geburtstagsgeschenk

Jakop auf dem Festival

Pinky

Dejans Party

TEIL IV: AUSBRECHEN ODER ENDLICH AUSSCHLAFEN

Eine liebeskranke Welt will

Am winzigen Backsteingebäude des Kunstvereins

„Na, Großer?“

Mein Glaubensbekenntnis

Das Fiennale

DANK

Laufen die Kameras? Gut.

Dies ist die Geschichte, wie ich meinen Zwillingsbruder aus Versehen … umbrachte, mich … aus Versehen … in ihn verliebte, als ich ihn Jahre später wiedertraf … Ja, wiedertraf! Und wie meine Freund*innen und ich während einer Naturkatastrophe erst herausfanden, was es bedeutet, ein echter Mann zu sein … Und warum die große Liebe mir selbst da wieder durch die Lappen ging … Also, die Story beginnt zunächst etwas toxisch, aber rasant, männlich eben, sind Sie bereit dafür? Ich bin es.

Let’s go …

TEIL I

MITLEID MIT DEM GIFT DERDEUTSCHEN MÄNNLICHKEIT

„Cause if you like the way you look that muchOh, baby, you should go and love yourself“

– Justin Bieber

Ich glaube

„FANG AN“, schnauzte Jakop, nur weil ich ihn berührt hatte.

Danach mordete er weiter und wurschtelte durch die Kiesel einer braunen Finsternis vor uns. Wir jäteten Unkraut. Seine immense Muskelkraft hypnotisierte mich. Jakop war ja krass und ich als Normalo musste das schlucken – seinen Anblick quasi aufessen, mit bloßen Händen fingernd verinnerlichen, fanatisch meine Nägel abbrechen an diesem Ausblick auf einen ackernden, besseren Bruder, ihn ganz in mich hineinschlingen, damit ich ein Schlingel wurde wie er.

„NICHT ANFASSEN!“ Jakop schlug mich von seinem gejäteten Unkraut weg.

„MACH DEINEN EIGENEN MIST“, kläffte er. Wir waren sechs Jahre alt und mein Bruder Jakop reflektierte bereits alles, was die weiße deutsche Gesellschaft im Dorf von einem Menschen mit Penis erwartete. Ich daneben wirkte phlegmatisch und dachte, ich sei ohne meinen Bruder an nichts selbst beteiligt. Jakop war blond und blauäugig, ich rothaarig und zart. Folgerichtig sah ich nur nach etwas aus, wenn er völlig neben mir stand und sein Schlaglicht in mich reinboxte. Obendrein war unser Heimatort Witterse ein trostloses Loch, in dem es eine extreme Menschenenergie wie seine benötigte, um den täglich gräuelnden Landfrust wie einen inneren Dämon unter Wasser zu halten. Jakop lieferte diese magnetische Energie. Nicht aufgrund seines biederen, großkotzigen Herzumfangs. Nein. Er polarisierte durch aggressives Temperament, durch sein Aussehen, seine makellose Wertoberfläche. Ein winziger, gelbköpfiger Heldenprinz war er. Ein Generator. Und ich sein Zwilling, was heißt, dass ich zwar wusste, wie Jakop aussah, aber unter sehnsuchtsvollem Druck stand, immer wieder und immer genauer hinzusehen, weil er der Vollkommenere von uns beiden war. Ich musste ihn immer so sehr und so täglich als so viel besser ansehen, sah ihn auch deshalb an wie eine Lösung, einen Sinn, weil, so wie er, so nämlich sollte auch ich sein. Genau das strahlte er auf mich aus. Außerdem sagten es die Leute im Dorf und meine Eltern zu mir, wenn ich neben ihm rumfleckte wie so’n Fleck neben einem schönen, kleinen Reinheitsgebot. Hätte er den Leuten ins Gesicht gepisst – bedankt hätten die sich und drei Wochen lang nicht gewaschen. Die liebten, dass seine Haare sittlich und geschwollen glommen wie echtes völkisches Hortgold verdammt, und hofften, dass es auf sie überging. Seine Haut umspannte ihn so weißrosig, dass der Anblick mich schmerzte vor Schneefraß in den Augen. Ich war blind vor Überzeugung. Ahnte damals noch nicht, dass er nicht perfekt, nicht heilig sein konnte. Ahnte nicht, dass er nicht heilsam war, dass es Heiliges als solches nicht gab. Dass, wenn in der Bibel von Gott die Rede war, der Himmelfeste und Erdumfang zur Beschäftigung für nach oben oder unten zeigende Schäfte erschaffen hatte, dass das erstens nicht heilig und daraus folgend Jakop kein Göttlicher sein konnte. Ahnte ich alles nicht. Ich glaubte ihn an der Haut und den Haaren. Mein Brudi, ein Vordruck, dem ich immer nachdruckste. So musste Mann sein.

„Das macht Mann so“, sagte Jakop immer. Sagten auch Leute im Dorf zu allem, was er eben so machte: So macht Mann das. Und aufgrund eines Geschlechtsorgans zwischen meinen Beinen musste auch ich darstellen, was „Mann“ hieß – rassiger Herr sein, also mit Ketten rasselnder, bleichgesichtiger Herrscher werden oder so’n Kram. Ich musste das erst noch lernen – er war es bereits beim Unkrautjäten an jenem Tag, als alles anfing und seine giftige Wendung nahm.

Jakop war Mann, mänschlich, manisch, mannigfaltig und ich hatte diesen Sechsjährigen beim Malochen berührt, upsi, um mir mit dem Messer eine Scheibe oder Locke von diesem rabiaten Rübezahl abzuschneidern.

Da mischte sich plötzlich Mama in unser beider Ohrenbetäubung ein und bat uns, bittenderweise, doch sauber zu arbeiten, so was wie: Entwurzelt da das Unkraut, da, und die Schnecken macht mir auch tot! Jeder Halm hier, jeder, muss auf gemäßigte Tiefe gestutzt werden. Papa holt gleich den Rasenmäher.

Sie legte die durchblätterte Bibel hin und nahm ihre Häkelmasche wieder auf. Sie hatte immer studieren wollen, jetzt war sie zum zweiten Mal schwanger. Währenddessen glänzte der von ihr heraufbeschworene Zweit-Elter mit Abwesenheit, schaute sich noch schnell die gärtnerische Inspiration vom Sportrasen im Fernsehapparat ab.

In ihrem Buch der Bücher fingerte unsere Mutter – Magda von Tann zu Ficht – guter Hoffnung nach Namen für das baldige Geschwisterchen. Einige Wochen zuvor hatte sie uns noch die Leviten aus dem dicken Schinken gelesen, nun, seit alles von ihrem schwangeren Bauch abhing, lag dieses Buch ihr etwas verschlossener zwar am Herzen, aber trotzdem immer total daneben. Das Gebibel veränderte die Luft in einem Menschen nämlich von saurer Stofflichkeit zu verheißungsvollem Odem, Geschenk Gottes und so weiter. Dabei atmeten selbst folgsame Lämmer des Herrn so was wie Abgase und Fürze in sich ein. Also echt. Als Mutter zweier sogenannter Männer in spe stand Magda jedenfalls über den Dingen, zu denen man auch ihre Kinder rechnete, und mal ehrlich, selbst mit Pullermann zählen Kids nicht mehr als Erwachsene, sind nur halbe Wesen, solange sie keine potenten Männerlenden hin und her schwenken.

Einer von diesen halbgaren, latenten Lakaien war augenscheinlich wütend auf seine „MenschMama!“, denn erst hatte sie ihn, Jakop, am meisten geliebt, dann die versöhnliche Kirche, samt Glockenturm des Vaters, wieder in ihr „Dorf“ reingelassen und bums. Schwanger. An jenem Sonntag hatte Magda uns wie als Entschuldigung Liebesknochen rausgestellt, dieses Spritzgebäck, quasi als ihr siebentes Rippchen serviert, süße Liebe, damit man sich um ihre Gärten kümmerte. Jakop warf mir den angeknabberten, vollgesabberten Puddingmops in den Nacken, „WARUM IST DIE SO FETT?!“ Oh, Boy. Wenn es nur einen Gott gab in der Welt und wenn Familie diese Welt beschrieb, so musste er, Jakop, unser Gott sein. Ein Gott, der sich allwissend nannte und dann doch überrascht war von dem Firlefanz, den die Leute um ihn herum trieben. Dennoch musste er der sein, der mächtig wirkte, und strafte und entschied über Schwester oder Nicht-Geschwister, über Himmel und Erde. Stattdessen aber hatte die Mutter dieses Gottes entschieden. Und ihn zur Gartenarbeit in ein langsam, aber sicher faulendes Paradies verknackt. Ich beleidete und bemitneidete Magda um seine immergeile Aufmerksamkeit. Für sie machte er sich die Hände schmutzig. Aber Magda hatte keine Zeit dafür. Ich schon. Über menschliche Verhältnisse braucht man mehr vielleicht gar nicht berichten. Für seine ihm bisher eigene MutterGottes, kurz MG, entwurzelte er in einem vergeblichen Schrei nach Aufmerksamkeit blindlings alles, was ihm zu viel in ihrem Paradiesgürtel war. Weder ein Schäufelchen noch eine Hacke verlangte er dafür von ihr, NEIN!, er betätigte schon höchstselbst seine eigensten, unsterblichen Überreste. Das gewöhnliche Gras hatte er weit hinter sich gelassen. Regenwürmchen bohrten sich vor seiner abtropfenden Schnupfnase verschreckt in die tiefere Erde, aber Jakops Ellenbogen steckten beide senkrecht und mittendrin. Er machte keinen Halt. Und braun war die Erde, braun wie eine Finsternis, in die mit Segen von ihm hineingesargt wurde, während Magda auf der Veranda glühte wie ein Schmiedefeuer in der Esse.

ER gebarte sich näher. Weinerlich schmollte, huldigte, zerknautschte Jakop unter der Gewichtung, die er dieser MutterGottes gab, die ihm ein ratterndes MG-Feuerwerk der Gefühlskälte antat. Warum beachtete Magda ihn nicht?

„Magda!“ Aufmüpfig strampelnd zerfetzte er sich daran, an diese unsichtbare Mauer gestellt zu sein. Ich watete indessen durch die Minuten, albern, plattfüßig, versagte dabei, ihn aufzuheitern, aber verzagte nicht. Ich war mit einer merkwürdigen Freude geboren, mit der ich jedes „So macht Mann …“ zwar hin-, aber nicht persönlich nahm.

„Guck mal, Jakop, ich hab einen Schokoladenbart!“

Die Bibel als Schiedsrichter hielt dabei stille, wie sie es immer tat, kurz bevor ein epochaler Krieg anbrach. Die MG-Munition traf. Peng. Zisch. Autschi. Mein Bruder fasste sich an die Brust. Ein romantischer Sprühwind kratzte durch beide Äuglein des Jakop und schnipste ihm glitzernd seine Jungentrauer aus den Winkeln, als drinnen der Ehemann der MG grölte: „TOOOOR!!“

Die Augäpfel Jakops leuchteten wie vor Radiolumineszenz berstende, mit Lava gefüllte Kristalle. Sein Haupthaar schimmerte weißblond, weil er ein geborener, bornierter Knabe war. Und ich versuchte, mich ihm aufs Neue mit dem Küchenmesser zu nähern, um mir selbst eine Schippe draufzulegen von ihm. Das sah er. Gott sieht alles. Hastig umschlang er den Spaten. Spaltete damit nur knapp an meinem Kopf vorbei, hinterließ einen Riss in der dünnen Luft und seine Stimme blutete daraus hervor, das könne sie nicht mit ihm machen, die Mama! ER, gebrochenes Männlein, rupfte unter dem schweren Fadenkreuz seiner Herzkrämpfe mir näher schlurfend jetzt all jene Gewächse, die noch wuchsen, als Feinde aus Mutters feuchtem Beet. ER schielte bibbernd über die Schulter zum konkurrierenden Fötus, dem heiligen Spirit, der vollends seine Magda ausgestopft hatte. Jakop schälte sich gebeugt dunklen Grünschleim plus Fasern unter den Fingernägeln hervor, die unsere Mutter ihm und uns zu schneiden nun andauernd vergaß. ER warf dramatisch, wie nur ein sich selbst behauptender Kindskopf es kann, die leblosen Landsträucher in ein krass hervorgefertigtes, tiefschwarzes Loch. Planlos und blödelnd tat ich weiterhin Gestrüpp auf die Karre, hihi, hach, schubidu, um irgendwie seine Show zu relativieren.

„Guck ma, hab ’nen Clown gefrühstückt!“, zeigte ich Schoßhund ihm den zerkauten Knochen Liebe auf meiner Zunge, als wollte ich, dass er ihn von dort absaugt. Mich drückt.

Mordlüstern, übersät mit toten Pflanzen, glühend, verwahrloste Bruderjakop an womöglich solchem Emotionsstau: Wer hat Mamas arme Seele bloß verklumpt? Den Fokus ihrer Mutterliebe verstellt? Dieser reinen Frau in die Knospe geschraubt? Ihr mit einem Bienenstich das florale Motiv bestäubt und diese grotesk genabelte Monatshefe in der Wabe festgespeichelt? Jakop wusste alles nicht so genau, strengte sich merklich an, die Welt wieder zu meistern, ihr Herr zu werden, Herrgott noch mal, aber sie, die große, immer größer werdende Mutter, erhörte keinen seiner wimmernden Wünsche, als sie den Ruf zur liebesknöchernen Messlatte mit lang winkenden Worten wie Lanzen in seine perfekten Gehörgänge einstößelte: „Kein Süßkram heut, Jakop? Magst die Liebesknochen nicht? Schau mal, die Mama, so schwanger! Ist das nicht schön? Brüderchen, Schwesterchen“, er konnte es nicht mehr hören, „ganz klein, ganz Baby, ganz süß, freust du dich schon?“

Sein Gesicht schrie wie eine Stimme: NEIN!

„Vorsichtig, gleich bewegt es sich, nicht so grob, Jakop! Hier, fühl mal, fass ruhig an, FÜHL MAL!“

Unlängst übersäten all seine Abfälle den äußersten Rand des Gartens. Selbst nackendicken Wurzeln schnipselte das Bübchen haargenau die Gurgel durch, als sei ein Wurz jemandes Atemwerkzeug, gerade als sich das Familienunglück Bahn brach, weil Magda der Dotter im Ei donnerte.

Eine Packung mogelte sich aus unserer Mutter Schmauchstelle hervor, zunächst tröpfchenweise. Sie vermutete den Vorgang nur, während Jakops Augen vor Sterbenswut zu platzen drohten. Denn zu allem Überfluss begann Magda ein Lied zur Beruhigung ihres Kugellagers zu singen. Sein Lied. Damit wählte sie die ganz falschen Strophen für ihren Unterleibskampf und entfächerte ein Brennen in Jakops Überlebenskrampf mit dem von ihm sonst so geliebten –

„Bruder Jakob, Bruder Jakob“

Viel interessanter als einen Bruder Jakop fand sie dann nämlich doch die unfassbare Gärung unter ihrem Busen, streichelte die Wände dieses reifenden Früchtchens, dieses bald namentlich heißenden Heißluftballons. Das waren doch Wehen gewesen, oder wehte der Wind? Kind, himmlisches, klemmt’s etwa?

„Schläfst du noch, schläfst du noch?“

ER jedenfalls schlief nicht. ER flüsterte und bettnässte wie in Trance, sprühte Verachtung schäumend aus seinem Schandmaul heraus, „Mannooo“, sich an dieser beschissenen Schöpfung mit gutgemeinten Geschenken zu rächen.

„Hier die Blumen, Mama!“

Das Lied singend überhörte unsere MG aber sowohl ihn als auch das schiedsgerichtete Gejohle ihres Gatten beim zweiten „TOOOR!“

(Jakop und ich nannten den Vater lieber Förster, aber dazu später Mär. Der Typ stellte den Fernseher sowieso lauter, wenn Jakop rotierte. Fußballpublikum heulte unverständliche Anfeuerungsrufe so wie auch Förster unverkennbar „Ja, MACH IHN REIN“ grölte.)

Und Jakop heilte den Strauß schräg in die Luft wie ein Faschist: „Für dich hier die Blümchen!“ Wahnwitzig spie er Schnodder über schwellgekaute Lippen, biss sich närrisch in sich fest, wollte mal sehen, wen sie lieber mochte, ihn, blumigen Mann, oder das baldige Baby, wollte das offene Feuer der MG erwidern, wenn ihr Neuankömmling die Kampfansage nicht bald zurücknahm. Wozu hatte Magda ihn denn hergestellt, wenn er ihr jetzt nicht mehr gefiel? Gefiel er ihr nicht mehr?

„Muttiii? Oh Manno!“ Das gestattete er nicht. Niemals. Nein. „Bitteee, Mamaa!“

Knapp schaute die Überforderte ihm direkt vor die Füße, bloß ein Reflex. Das genügte. Darauf zerplatzten die zarten Knötchen in seinem Hirn. Jaulend raffte Jakop alle letzten lebenden Dinge nun komplett aus der verbliebenen Rasenaufschüttung, viel war ja nicht mehr übrig, außer mir und meinem Schokoladenvollbart. Das merkte auch Jakop. Er verlor völlig die Kontrolle über sich, schubste mich in die von Dornstrippen umdrahteten Bombeneinschläge, die er händisch ins Geblüm geprotzt hatte. Boxte mich. Schlug. Das war ein herrlicher Körperkontakt. Und ich, Ulknüdelchen, von Wonne benebelt, würde mich nun drei Wochen nicht waschen.

„Hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken?“

ER drückte meinen Kopf in die weich durchwurmte Braunerde, schlug seine Empörung mit der gerechten oder rechten Faust von oben nach. Sicher ist sicher, und „ICH WILL KEINE SCHWESTER“, hackte diese Bestie mit Handkante auf mich nieder, während unser Muttertier umstandsmodisch die neue kleine Kreatur in sich beschwor.

„Ding dang dong, ding dang dong“

Ihre Breitengrade reibend, setzte sie sich in Bewegung, sodentbrannt. Zu laut störte es mittlerweile von der Kinderarbeit zu ihr hinüber, diese Faxen hätten sie kirre gemacht, kreischte sie verzweifelt, noch ehe ihr die Hutschnur riss. Rief nach Hilfe, doch vom Fernseher nur Tribünengesänge. Fahrig gestikulierend verließ sie den Sessel, stieß ihn von sich, breitbeiniger als immer, kreißend. Es traf, wie es eintraf. Entkorkt parfümierte Magda die Sintflut aufs Unterholz, woraufhin Bruder Jakop mir den frisch enthobenen Garten mit einem ähnlichen Planschen in meine Schnute direkt hineinservierte, mich abrichtete, Kirchenglocken einläutete, ding!, ich hätte es gewusst, dang!, was für ein Verrat, dong!, sein eigen Fleisch und Gut! „ICH WILL DAS WEGHABEN, SCHEISSE“, von schräg oben jätete er schräg auf mich herunter, dass ich Pflanzenleichen sogar in die HalsNasenOhren bekam, „DIESER FETTBAUCH, SCHEISSE“, stopfte er rasend mehr Rasen hinzu, um noch schneller zu vollziehen: „So! NICHT! MEHR!“

Jakop, sechs Jahre, wahrlich ein Richter. STIMME, oh, Gott in meinem Kopf. Und ich glaubte: So soll Mann sein.

Ich wollte alles daransetzen, mir die bereits erwähnte Scheibe von ihm abzuschneiden, ich wusste nur noch nicht wie. Aber ich würde es tun. Ich freute mich so darauf. Das Leben würde großartig werden, als eine Scheibe von Jakop!

Würmchens Geburtstag

erwischte uns auf dem falschen Fuß.

Vor allem den Förster überfiel der Einwurf eines neuen Familieninsassen so abrupt, wie ein TV-Testbildschirm in die Übertragung des WM-Halbfinales knallt, im Jahrhundertmatch Deutschland gegen Schießmichtot. Förster blieb das Herz stehen. Er fühlte sich zum ersten Mal seit unserer Geburt von der Reservebank der Liebe in ein lebendiges Zuspiel zurückgefordert.

Förster, das war natürlich unser Vater. Eigentlich hieß er Isaak von Tann zu Ficht. Förster war sein Mädchenname gewesen, den er für Magda von sich geworfen hatte, um geliebt zu werden und sozial aufzusteigen. Doch der Namenswechsel hatte das Gegenteil bewirkt, den Nachnamen einer Frau anzunehmen, was für ein Unding, Urning, Weichei, flüsterten die Leute im Dorf. Kein echter Mann. Und Magda hatte nur noch Augen für die Kinder gehabt danach, und seit sie den Traum vom Studium für ihn an den Haken gehängt hatte.

Konnte er sich jetzt also einmal beweisen? Fühlte sich so eine große Chance an, oder war er schlicht besoffen? Er schaute auf die sechs Flaschen Bier und wusste die Antwort. Nur was war die Frage gewesen?

Während an diesem 11. Mai 1997 unsere schnaufende Mutti auf einen Krankentransporter gehoben wurde, eilte Jakop hölzern zum weißgekleideten, weißhäutigen Krankenwägler hin. Die Mama habe sich in die Hose gemacht! Da passiere schon nix Schlimmes, ihr Mennekens, die kriege bloß das Baby, wiegelte Förster den kleinen Täter geniert vom Sanitäter ab. Die Türen des motorisierten Karrens schlossen zu und die MG wurde mit Lalülala weggefahren.

„So eine Scheiße, gerade heute!“, zischte Förster, hin- und hergerissen zwischen Mattscheibe und Matriarchin.

„Scheiße scheiße“, wiederholte Jakop. Das Spiel im Fernsehen schien Förster glatt das Wichtigere zu sein. Die sicherere Option. Laut seiner abendlich hörbaren Beschwerden, bezüglich den seiner Meinung nach zu selten stattfindenden Heimspielen auf der Liegewiese, war im Grunde ihm ja nichts wichtiger gewesen, als den Kreis der Familie mit einem weiteren Spielkreis potenziell aufs Spiel zu setzen. Zittrig griff er irgendeine Videokassette und schob sie in das Aufnahmegerät, um auch ja kein Spiel zu verpassen. Auf dieser „irgendeinen“ VHS-Kassette mit der Aufschrift „Die Zwillinge“ sollte Förster ein Jahr später das dusslige Fußballspiel sehen und heulend die Mattscheibe verprügeln, doch in diesem Moment fiel es nicht ins Gewicht. Da eine neue Geburt vor der Tür stand, konnte die alte mit Fußtritten und Kickern überspielt werden.

Die körnigen Aufnahmen davon, wie Jakops Hand schon rauslugte, sie an unseren zappelnden, schleimigen Körper zogen, mich zuerst rausgepflückt, umwickelt und JUNGE notiert hatten. Elf Minuten Altersunterschied. Als die Uhr zwölf geschlagen hatte, kam das zweite BÜRSCHCHEN durchgeschleust. Mit sofortiger Tobsucht forderte dieses welke Zärtelchen seine Liebe vom zermarterten Gehäuse, das nun, dank ihm, eine Mutter geworden war. Glückwunsch! Was für ein Schöner, notierte jemand und: JUNGE. Jakops Faust hatte als Erstes die Welt erblickt und unsere baldige Schwester lief nun Gefahr, ebendiese Faust anzulocken. Laufend lief man Gefahr mit ihm. Geburt war sein erstes Attentat gewesen, mich aus seiner Mutter zu verbannen und schon bald würde auch das Schwesterchen daran glauben müssen. Aber vorher wurde unsere Geburt wie durch Geschichtsklitterung überschrieben und wir wurden vom Förster in ein Fahrzeug Richtung Zukunft übertragen.

Der Vater warf sich schockschwer von der wiederholten Befruchtung geohrfeigt auf den verlorenen Posten des hauseigenen Automobils. Selbstverständlich verpackte der reizbare Ahnherr uns liebreizende Lieblingskinder „lieb“ in das Kraftfahrzeug mit ein. Er gefährdete uns dann nur milde über Stock und Stein, rote Ampeln, fuhr „gemäßigt“ über den Kieselflur vor dem Krankenhaus, zwang Jakop förmlich aus dem Vehikel in das Debakel, der Mama einmal aufs Leder zu schauen, als die das neue, eben fertig geborene, quietschrosane Balg an ihrer Milch abfertigte. Es ist ein MÄDCHEN, klang aus den außerordentlichen Lautsprechern einer Ärztin diese festliche Melodie, als spreche sie es ins Mikro einer Gameshow. SIE HABEN EIN MÄDCHEN GEWONNEN! Jakop verstand den Spaß in diesem Halligalli nicht. Für ihn war es Hölle und roch nach Gülle. Ein MÄDCHEN wurde notiert: Der Entschluss fürs ganze Leben, meine Damen und Herren. Der Endschuss für unsrer Schwester ganzes Leben war nun also, ein „ädchen“ am M zu tragen. Willkommen! Die war ab sofort Jakops Schwester und das dann ganz allein ihr Problem.

„Schau mal, sieh mal, ist dein Schwesterchen!“

„Schlampe“, nuschelte Jakop.

Süße Nase, liebes Kleinchen, so ein winziges Würmchen! Ungeniert meldete sich die Ärztin zu Wort, die den Jakop, weil er so goldig war, zunächst mal abknutschte. Das erste Mädchen in der Familie, was? Da müsse der Sportsfreund aber Acht geben, Mädchen seien etwas anders.

„Anders?“

Ja, die Kleine werde ganz anders als er, junger Mann!, piesackte ein weiterer Kittelmensch den Jakop schlimmer als notwendig. Was habe die, was er nicht habe? Die sei doch noch voll klein, da sei doch nix dran! „Was ihr fehlt, meinst du wohl, sie wird ja noch größer!“, neckte der beglückwünschende Überarzt altmodisch, wobei er breit grinsend eintrat und dem Förster seine fette Hand reinschleuderte. „Was ihr fehlt?“, fügte Jakop seins und meins zusammen, um bei elf Minuten Zwischenstand hängenzubleiben. Was fehlt denn? Was fehlt denn der? Niemand reagierte. Alle schütteten Hände in die andern Hände rein. Das duldete er nicht. Das duldete er jetzt echt nicht mehr. Stapfte auf und ab im Zimmer, während dem Förster, und ausschließlich dem Förster, mehr und mehr Hände entgegenbecherten. HEY, HALLO! Was die weißen Kittel unbedingt aus der Tiefe der MG hatten hervorschürfen müssen, was die „Frischgebackene“ Jakop nun kumpelhaft in die Fresse hielt, sieh nur!, es zu begutachten, den Schmerz zu leugnen, als wär es sein eigenes – dieses Neugeborene schmatzte überhaupt ganz ekelhaft, schwächlich und gähnte, schrie trostlos nach – was eigentlich? Was fehlte dem Ädchen denn? Was wollte es? Seine MUTTA etwa!? Sei es nicht furchtbar niedlich, atmete die schweißnasse MG ihn an und hielt es ermutigend auch über meine dabeistehenden Beistandsaugen. Im Gewimmer des kleinen Brötchens erlosch selbst Försters erste Antipathie, nüchterte ihn vermutlich aus. Er lächelte dumpf. Nur Jakop schüttelte den Kopf, von A bis Z auf Hiebe eingestellt. IHN trog Frischgebackenes nicht. Er aß ja auch keine Liebesknochen mehr. ER krachte hervor, sein gelbgelbes Haar stach flammend in den faulen Odem der mit Turnschuhen abgelaufenen Aufbahrungskammer, ER stampfte mit roher Faustung auf die unnachahmliche Lazarettpritsche seiner Ma. Ein für alle Mal verlangte er Antwort, UND JETZT? Jetzt? JA, JETZT! Jetzt müsse man die Kleine selbstverständlich taufen. Taufen, ja und dann?, ballerte seine Munition in ihre treubiblische Leere. Taufen, antwortete die MG ruhig, und auf alle kommenden Fragen zupfte sie gelassen die drei flaumigen Rosshaare dieser neuen, lebendigen Harfe. Magda, die Heilsheilige, nutzte ihre mütterlichsten Engelsschwingungen als Reitpeitschen, um den aufgedrehten Jungen damit zu einem Mann kaputtzuhätscheln. Die Zeit war gekommen und die Küsschen reif für das Neue, fürs Würmchen vorgesehen. Jakop und mich geleiteten die Weißkittel hinaus und dort in die Arme des Bierfäulnis paffenden Försters. Bitteschön, Isaak. Du bist jetzt dran, winkte Magda. Dann klappte die Tür vor ihr zu. Der Förster sah uns irritiert an und fragte im Krankenhaus sofort nach einem Fernseher, oder ob es denn wenigstens ein Radio gebe auf dieser Station? Ja, aber es würden Nachrichten laufen, fieberte der hektische Krankenpfleger nasal, in Kamtschatka sei der Besymjanny ausgebrochen. Der was? Unser Vater kurbelte bereits am Gerät nach einem Sportkanal. Er wolle doch nur die Ergebnisse Mann, woraufhin sie ihn kurzerhand zu dritt aus dem Schwesternzimmer warfen und der Pfleger aufgebracht japste, er käme aus der Eifel und mit Vulkanen sei nicht zu spaßen, da müsse man informiert bleiben!

„Besymjanny?“, grunzte unser Vater mit wildem Blick gegen die Pfleger, „Vulkane, Kamtschatka, Eifel? Als meine zwei Söhne geboren worden sind, ist der Pinatubo ausgebrochen und der hat die ganze Erde vernebelt, na und? Als hätten Vulkane was mit uns Menschen zu tun“, explodierte er. „Scheiß Tucken!“

Dann musste er sich umsehen und erkennen, die zwei Söhne waren noch da. Einer plapperte Worte nach, ohne zu zucken, „Scheiß Vulkane!“ Der andere fragte nach: „Tucken?“

Na prima. Das Mädchenkind lernte die Mutter besabbern und was lernten wir „Männer“? Jakop konnte sein Unglück kaum anfassen, als ihm so lustig wie deutlich eine Gummibärtüte zum Greifen nahegelegt wurde. An der Gelatine den Giftzwerg abfüllend, lallte uns Förster aus dem Krankenhaus in ein von Familienglück kontaminiertes Zuhause. Das ging uns alles viel, viel zu schnell, aber es ging irgendwie.

Und Jakop beklagte sich nicht, als man uns drei Monate später vor einer sogenannten Schule absetzte, um unsere Kindheit zu beenden. Jakop sagte gar nichts. Er flüsterte nachts. Jakop plante einen Mordanschlag auf seine Schwester. Und ich hielt das Unkrautmesser unter meinem Kissen, wenn ich ihm Gutenachtgeschichten erzählte, bis er einschlief.

Die Einschulung

fand vor der Grundschule in Durenbuschen statt.

Hier entledigte mensch sich der Unfallergebnisse häuslicher Vögelei. Alle Rabeneltern hatten ihren neuesten Küken oder Krücken den gleichen Abstoß zuzufügen.

Sonnengott Jakop stand wie ein Anführer in der Massenpanik. Er wollte ganz hoch hinaus. Raubvogel unter den Piepmätzen. In seiner Hand hielt er, und wunderte sich, dass er hier nicht der Einzige damit war, wie er sonst immer ein Einziger war, die wundervolle Schultüte. Seinen Rucksack und meinen trug ich. Jakop mähte mit seiner Wunderkeule einige der Entenärsche beiseite und rupfte andere Schultüten wie Federn aus dem lächerlichsten Gewimmel, das dadurch entstand.

Seine Mutter hatte im Gegensatz zu anderen Eltern zu Hause bleiben müssen, weil ein Würmchen kränkelte. Der frühe Vogel Jakop beklagte sich über das rückgratlose Kriechtier und schlug unserem neuen Mitschüler Deniz – „Deniz, lass doch bitte den Jungen in Frieden“ – seine Schultüte ins Gesicht.

Dann stand sie da.

Unsere Grundschullehrerin, Frau Rebe-Scheelke. Sie trug winzige orangefarbene Absätze und einen zu engen, perlmuttfarbenen Hosenanzug mit einem türkisfarbenen Wollpulli unter dem Jackett. Ich fand sie schick. Diesen Geruch nach Eukalyptusbonbons beim Ausatmen!

Vor dem aufklappbaren Triptychon der Tafel stand sie mit toupiertem Bob und erinnerte an etwas Flatterhaftes, einen Mensch gewordenen Pfau vielleicht. Mit ihrer langen, filigranen Nase flankierte sie das Kreuz, das auch hier im Klassenzimmer über undurchdachten Köpfen hing. Uns Wagenladung Kleintier verstand sie offensichtlich als liebe Schäfchen, dankbar hingeschenkt von fruchtbaren Anwohnern, Fruchtbarbaren, die ohne Umschweife schon nach dem Duzen beim ersten Date sich fortpflanzen durften.

Sie fletschte ein Lächeln und sagte beim Anblick junger Mädchen: „Wir müssen nur dran glauben, dass jede Arbeit ihren Wert hat. Wir werden durch mehr Türen kommen“, märtyrend, „das kommt noch Mädchen“, als meine sie, kommt, ihr kleinen Frauen, erlesen wir uns vor den Bösen. Und predigen!

„Katholisch oder evangelisch“, fragte ein aggressiv scherzender Vater, der seine Tochter Melissa als einen Besitz zur Schau stellte, durch seine übergriffige Umarmung. Darauf parierte Rebe-Scheelke gutmütig, aber bestimmt, sie werde hier jetzt mal durchmischen, die Eltern könnten fürs Erste gehen. Widerwillig zogen die Fruchtbarbaren ab und Pfau Rebe-Scheelke mischte durch, Männlein, Weiblein, sei im Grunde alles das gleiche. Nicht gleich, aber gleichwertig, mahnte sie, die solche Eltern kannte, denen Gedanken und eigene Gedanken schon gar nicht gefielen. Als Kind begreift Mann das nicht, als Mensch sowieso nichts, was in Mann und Frau zerteilt wird und sich deshalb gegenseitig auf- und absucht, sagte sie, oder ich lege ihr das gerade in den Mund, haha, wer weiß das schon genau. Ich fand sie spitze. Sie wetterte, diese neue Generation Frauen müsse kitschkritisch werden, sie hoffte gern, die Rebe-Scheelke. Ihr Ziel: dass mehr Damen zu Namen kamen, es wurde echt Zeit.

Wir Kinder flitzten derweil umher und warfen uns mit Bauklötzen ab, während sie sprach. Das war natürlich respektlos gegenüber dem aktuellen Mann im Raum: einer erwachsenen Frau. Daher setzte sie die weiße Kreide kreischend an, allerdings um sich selbst das Wort Frau vor dem Nachnamen durch- und den Bindestrich bei Rebe-Scheelke dafür doppelt zu unterstreichen.

„Für euch, Rebe-Scheelke.“

Sie verlangte Ruhe und setzte Jungen neben Mädchen. Dafür wurde sie von der Landesregierung zwar nicht besoldet, aber die bisher geschlechtslosen Kinder mussten das Geschlechts-Los ohnehin überall sonst ziehen, ob sie wollten oder nicht. Bei ihr sollte es egal sein. Etwas an ihr war anders als an anderen Erwachsenen. Die Mitschüler Deniz und Melissa fanden das unpassend. Melissa sagte, bei ihr zu Hause am Tisch säßen die Jungs rechts und die Mädchen links und sie glaube, das müsse doch auch in der Schule so sein.

„Glaube ersetzt Berge“, sagte Rebe-Scheelke gelassen, meinte Hürden, aber fast alle verstanden den herkömmlichen Spruch und Deniz schrie, „Jungs haben einen Pimmel, Mädchen haben gar keinen!“

Rebe-Scheelke lachte schallend, Mädchen hätten eben was Eigenes und es gebe schließlich sogar Menschen dazwischen, zwischen Mädchen und Junge, oder jenseits davon. Hatte sie mir zugezwinkert? Sie winkte den erstaunten Deniz nach vorn, Kreide in die Hand, ließ ihn an seinem Namen buchstäblich scheitern, während ein Flüstern über das Weizenfeld aus Kindern wehte: Dazwischen? Zwischen Mädchen und Junge? Einige schauten in die Luft zwischen den Stühlen. Jenseits? So viele Fragen. Doch zuerst sollten alle ihre Namen nennen. Auch wir.

„Noch so ein Blondschopf“, sagte die Lehrerin und dass man Jakob aber mit B schreibe. Sie deutete auf den anderen Jakob in der Klasse, ebenfalls blond, der mir fröhlich zuwinkte, aber ich hatte nur Augen für meinen und drehte ihm den Rücken zu. Doch das mit den blonden Locken war ein Merkmal, das Rebe-Scheelke auffiel, das fiel mir auf.

„Nö“, seinen Namen schreibe man mit P, jauchzte Jakop. Rebe-Scheelkes Blick freundlich genervt zunächst, überrascht dann auf der Klassenliste: „Aha, und dein Bruder, kann der nicht selber?“

„Bruder? Nein!“, bellte er. „Kann der nicht! Darf er nicht!“ Ich zuckte mit den Schultern, als er meinen Namen für mich anschrieb, sich dann aber einer besseren Schreibweise besann und meinen Namen mit dem Schwamm von der Tafel wischte, sodass nur ein transparenter Kreidefleck blieb, den keiner entziffern konnte. Nun denn, ein Schreihals weniger, ging Rebe-Scheelke vermutlich durch den Kopf, da sie „prima“ sagte.

Als deutliches Ende unserer infantilen Späßegesellschaft versprach sie uns zu guter Letzt das Lesen und Schreiben an den Hals. Jakop wusste bereits, wer in Lieblingsbibeln lesen konnte, für Muttchen rezitieren, der würde auch von einer MG wieder angebetet werden. Er brüllte, „Ja, Pfrau Rebe-Scheelke! SCHRESEN UND LEIBEN“, und sie nickte fantastisch gelassen.

Am Ende der Stunde ging ein Leuchten über Jakops Gesicht auf und tief atmete er den Eukalyptusduft in sich ein, den Rebe-Scheelkes Bonbon in unseren elektrisierten Knochen hinterlassen hatte. Ich wollte mehr von ihr, aber sie ging geradewegs den Gang hinunter, der zum Ende hin immer dunkler wurde. Sie winkte Einzelnen hinterher, aber eine Uhr tickte und Arbeit war eine Decke, die sie nicht den ganzen Tag über wärmte. In ihrer windigen Marschwucht strudelten einige Zettel von irgendwoher in die heimwärts gewandte Richtung mit ein, bis sie mit einem Türschlag in der Gangmündung fürs Erste dem Willen Gottes entkommen war.

Der wollte jetzt vorankommen und überholte die trödelnden Kindsköpfe, die halben Portionen, auf dem Trampelpfad direkt zum tuffenden, puffenden Omnibus.

Arglos stieg Jakop ein. Er setzte sich, stutzte über einen großen Schriftzug an dem Schutzbrett vor seinen Füßen. Ich war hier, das stehe überall, meinte Herbert.

Der schnurrbärtige Busfahrer sprach Jakop einfach so an, stellte sich vor, als sei er ein Gleichaltriger. Herbert trug ein graues Hemd, ungebügelt, Halbglatze und keine Unterhosen. Das konnte man bestaunen, sobald er sich beim Fahren oder Schnaufen vorbeugte. Sein Blick gefiel mir nicht sonderlich, wenn er Jakop überdeutlich anschnaufte.

Als Schüler ritze man den Ich war hier-Spruch überall rein, um sicherzugehen, nicht vergessen zu werden, erklärte Herbert. Das mache Mann so. Worte seien eben immer auch Zauberworte, mit denen man das Erinnertwerden herbeizaubern könne, komisch eigentlich, findet ihr nicht?

„Komisch“, wiederholte Jakop gebannt, strahlend, als habe er seine MG direkt vergessen für ein Stück Aufmerksamkeit. Neue Liebe, neues Glück.

Herbert war wirklich der Allerdümmste, fand ich, aber Jakop reckte ritterlich das Köpfchen in die Höh’ und über diejenigen zusteigenden kleinen Drachen hinweg, die er nicht selber war. Keins der anderen Kinder interessierte sich für Herbert. Im Gegenteil, sie hielten auffällig Abstand. Sie tauschten erfahren Blicke, dann ihre Butterbrotreste gegen quietschbunte Aufkleber und Plastikfiguren, um in das neue Schuljahr mit wirtschaftlichem Aufschwung einzusteigen. Aufstieg beschäftigte auch Herbert, war er doch in seiner Freizeit Bergsteiger gewesen.

„Jetzt nicht mehr, eine Verletzung, wisst ihr, aber vor ein paar Jahren noch.“

„Oh nein“, bangte Jakop und ich wollte aus der Konversation nur noch aussteigen. Ich drückte meine Eifersucht samt Stirnfalten hart gegen die Fensterscheibe.

Die Haustür zu Hause stand offen und Jakop stellte sich von Bergsteigern und Eukalyptus ermutigt dort rein und verkündete, er akzeptiere diesen Umgang an seiner Seele nicht mehr. Das sagte er wirklich. So gehe das nicht weiter. Was wäre mit ihm? Scheiße! Und überhaupt! Ein länglicher Atem sank federleicht von Magda runter zu ihm, und als sie eine von Mutterschaft ausgelaugte Weichheit zuließ, fragte sie, ob er denn unsere Schultüte noch gar nicht geöffnet habe?

„Schultüte?“ Er tippte verlegen das dickere Ende der Keule auf den Küchenboden. Dieses Machtmaterial hatte er nun den ganzen Vormittag ungeöffnet mit sich durch die Gegend präsentiert. Da sei ein Geschenk für ihn drin.

„Für euch“, sagte sie, aber das hörte Jakop nicht. Seine Kristallaugen traten weit hervor. Das kannte ich schon. Musste mir die Hand vors Gesicht halten, denn jetzt kam eine Supernova. Wie vom Blitz durchpfählt, erzitterte Jakop in ihrer Liebe.

„Ein Geschenk!“ Er öffnete die Schleife. Er zerkeilte immer aufgeregter die, wie mir jetzt auffiel, tatsächlich nicht gerade achtlos zusammengebastelte Tüte, unsere Mutter hatte schließlich Künstlerin sein wollen, und er zerpflückte das Teil, ohne dabei seinen fanatischen Blick von ihr, seiner MG, ablassen zu können. Sie lächelte matt. Bonbons, Riegel und Süßes platzten aus dem Gefuchtel seiner glänzenden Teddypranken, wie olle Kamelle oder Aussaat auf einem Acker in jegliche Himmels- und Kücheneinrichtung. Vorsichtig lüftete er das letzte Krepp von einem schweren Block, den die MG mit „Das ist für dich“ als sein Eigen signalisierte. Ein märchenheftiges Buch voller Grimm-, Grimm-, Grimm-Geschichten, sodass Jakop in seinen Grundfesten erschüttert wurde. MEIN BUCH!

Dieses lesbare Werk brillierte wie ein magisches Götzen-Medaillon in seiner Kraftkralle. Es stand eine Art Hoffnung in seine Augen geperltropft und seine harte Fassade bröckelte. Er heulte sich für kurze Zeit als ihr Schoßhund zurück in die peinlich berührten Herzen des Publikums, nein, wie hatte er gelitten! Vor Magdas Füßen lag nun dieses wunderschöne Scheusal Jakop und ließ sich mal so richtig gehen. Hach, schon toll dieser Typ, wie ich ihn bewunderte!

„Vielleicht könnt ihr zusammen ein bisschen lesen üben? Du musst mehr sprechen“, erbat Mutter Magda auf einmal von mir.

Von mir!?

Sie hatte sich tatsächlich an Jakops rothaarigen Doppelgänger, Untertan, herniedergekniet und schaute mir freundlich wie eine gutmütige Mutterfigur, Ikone, mit so einem leuchtenden Kranz um den Kopf und voller Wärme in die Fresse. Ich wusste nicht, wie sich schützen vor diesem gezielten Angriff – schnell schmiss ich ihre zaghafte Heilerinnenhand von mir, um Jakop nicht gegen mich aufzubringen. Sie war ja cool und alles, aber wie konnte sie mir so in den Rücken fallen? Diese dumme Pute! Jetzt kamen mir auch die Tränen. Meine ganze kostbare Vorarbeit um Jakops ewige Gnade umsonst, wenn er so etwas mitbekam! Mitleidig schaute sie mir dabei zu. Wie einem ausgebuhten Schauspieler, dessen Szene sie als Einzige verstanden hatte, sah sie mir gut zu, als hätte sie sich selbst auch schon mal so aufgeführt. Oh Gott, die war ja eine echte, menschliche Person mit Empathie?! Aber nichts verstand sie, das machte sie ganz deutlich, indem sie noch einen ihrer streichelnden Mamaversuche an mir startete. Augenblicklich erinnerte Bruderjakop das Licht der Welt. Sein entwässertes Augen-Austernfleisch an die Seiten gewischt, sprang er ein, um mir das Rampenlicht rechtmäßig zu entziehen.

Er schmiss Tütenreste in die daraufhin herabregnenden Kochtöpfe. Taktloses Scheppern und Torkeln von Kocheisen auf Parkettboden. Das Buch hielt er fester denn je. Seinen Zwilling dröhnte er entschieden aus der Bahn. VERPISS DICH! Ich segelte wie ein Wurfstern durch die Küche.

„Und, und, und bald ist Taufe, oder? ODA??“, wagte er nach diesen ganz klaren Anstalten zu fordern. Offensichtlich erklärte er sich bereit, die Wiedergutmachung anzunehmen und über alle vergangenen Hungermonate hinwegzusehen, Schwamm drüber, nun hatte man sich ja wieder, Mama! Es war doch eine Wiedergutmachung, oder? Er wollte nur alles von ihr, mehr wollte er ja gar nicht. Sie seufzte geschmeidig.

„Ja“, lächelte die Verehrte, doch da meldete sich über eine rundliche Lautsprecherapparatur das Würmchen bei diesem Spektakel zu Wort. Würmchen verstand es, Jakops neue Idylle effizient mit der vollgemachten Windel von der MG entsorgen zu lassen.

„Ich muss eben“, sagte diejenige welche und nahm das Baby-fon dabei mit. Jakop störte sich weniger als gewöhnlich daran. Sie hatte ihn erhört, sie hatte Ja gesagt! Endlich Ja!

„Die Taufe wird das Würmchen vernichten“, sagte er im Delirium. Die Taufe rücke näher und näher. Die Taufe würde Magda und ihn vom Gewürm, diesem Problem schlechthin, erlösen und alles wie gehabt in seinen energischen Händen zerlegen, harharhar. Jakop blödelte, hielt das grimmste Märchenbuch aller grimmen Märchenbücher beängstigend fest an seine grausame Brust gepresst und ließ alle Sorgen wie Schweißdünste und Blähkünste von sich fahren. Sein schönster Tag seit Langem. Bald sei Taufe, wiederholte er wieder und wieder, hopste fidel aus der Küche, sich leserlich auf die Rückkehr der liebenden MG vorzubereiten. Als letzte Person in der Küche begann ich, einzeln verpackte Fruchtgummis vom Boden aufzusammeln, legte sie alle ordentlich auf den Küchentisch. Ich wusste, Taufe bedeutete keinesfalls die Lösung des jakopischen Wurmproblems. Taufe war was ganz anderes. Sollte Jakop aber bloß dran glauben und Ablenkung finden. Vielleicht fiel mir bis dahin ein Weg der Besänftigung ein, vielleicht ein Weg, mir zumindest vorher eine Locke von diesem Blondi-Mann abzuzwacken? Wenn ich so stark, so ein Mann würde wie er, könnte ich ihn im Zaum halten und unsere Schwester würde nicht von ihm ermordet werden, dachte ich. Mein Bruder sollte kein Mörder sein. Und wir alle, als Familie, wären vor seiner Kriegslust sicher. Vielleicht würde er aber auch davon ablassen, bis zu diesem Event, das immer länger hinausgezögert wurde, weil unserer Magda kein passender Name einfallen wollte. Andererseits liebte ich seine Ausbrüche auch. Ihn, wie er war. Sein Feuer. Ich wollte gar nicht, dass er ein Unding, ein Weichei würde wie unser Förster.

Als der am frühen Abend aus jener Teilefabrik, in der er Kleinteile kontrollierte, angeheitert in sein trautes Heim rempelte, scherte es niemanden. Die zwei Eltern rannten auch nie biologisch ineinander, wie Pärchen im Fernsehen. Viel mehr magnetisch schlugen sie zusammen, logischerweise kein Küsschen nach getaner Reproduktion, nur ein handliches Hallo grüßend. Teilten aber einen gemeinsamen Feind vielleicht. In geheimen Unterredungen quasselten sie über uns, das wusste ich genau. Während sich Jakop mit seinem bebilderten Buch zufrieden stellte, hörte ich an Türspalten zu.

Und einmal, bevor die abendliche Nahrung bereitlag, um von unseren Essgewohnheiten vereinnahmt zu werden, hievte uns der Förster sogar mal nüchtern unter den Armen hoch und nahm uns mit raus vor die Tür. Sein voller Bart klemmte zwischen seinen Zähnen, wenn er sprach. Ihn störte so was nur ganz selten. Kleckernd leckte er sich den Zwirn aus dem großen, sprechenden Loch. Seine Stimme klang tief und unsauber. Aber ohne Bierbetankung konnte man ihn problemlos mit anhören. Er forderte von uns, Rücksicht auf unsere Mutter zu nehmen. Sie und das Baby bräuchten mehr Ruhe. Wir sollten nicht egoistisch sein.

„Egoistisch?“ Jakop wiederholte es stoisch, glättete jedoch gedankenverloren seine Buchseiten, während wir den Feldweg entlangspaziert wurden.

„Ego, Jakop, bedeutet selbstsüchtig sein. Dem Egoist ist’s Ego Christ“, sagte Förster, dem gehe es nur um sich selbst. „Aber ihr müsst Rücksicht nehmen, Verantwortung übernehmen, rausgehen.“

Ich verstand: Verantwortung übernehmen bedeutete nach draußen zu verschwinden für eines Würmchens Platz. Jakop verstand nichts, was er nicht verstehen wollte.

Den Feldweg verließen wir mit unserem Paps durch eine grüne, dunkelgrüne Wand aus Zweigen, hinein in den Wald, wo wir spielen konnten, ohne zu stören, sagte er, der angeblich früher im Wald wahre Schätze gefunden hatte. Er keuchte ein bisschen, wirkte müde, aber grinste freundlich beim Vorschlägeunterbreiten. Für die Schatzsuche brauche man ein geschultes, schulisches Auge, wie fürs Kleinteilesortieren. Wir sollten es mal versuchen! Wir ließen uns breitschlagen.

Tatsächlich fanden meine Augen einen Flachmann und eine alte Fackel. Jakop, obwohl er mit dem Kopf in seinem Schinken klebte, fand natürlich etwas viel Cooleres, einen toten Schmetterling.

„Toll“, sagte der Förster, steckte das Tier ein und „auch toll“ sagte er zu mir. Dann wüssten wir ja jetzt, wie das gehe, schlussfolgerte er zufrieden und brach den Heimweg an.

Wieder zu Hause in Witterse angekommen, machte er keinen Hehl daraus, der MG zu erzählen, wie es gewesen war, mit den Jungs und im Wald. Wir hätten ihm hoch und heilig versprochen, ab jetzt immer draußen zu spielen. Er tätschelte unsere Köpfe und umgriff die MG bei der Hüfte mit so einem Blick, den Männer haben, wenn sie Hüften umgreifen, „Arsch wie ein Brauereipferd“, lachte er, sie lachte nicht, während sie so tat, als würde sie lachen. Doch viel mehr irritierte Jakop und mich, dass hier ein Versprechen im wahrsten Sinne eines versprochenen Versprechers erfunden wurde für die MG.

„Moment mal“, schrie ein Augenaufschlag in meine Richtung. Aber Jakop fiel ausnahmsweise nicht das passende Widerwort in den Mund. Förster unterbrach unseren Schlagabtausch wohlweislich mit großen Hungergesten, sagte: „Alles für unsere liebe Mama!“

Mit einem großen, roten Rucksack an Spielproviant saßen wir fortan auf den Steinen vor der Haustür. Alles für unsere liebe MG.