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Eine südländisch aussehende Frau wird vor der Stockholmer Bibliothek überfahren. Die Tote trägt keine Hinweise auf ihre Identität bei sich außer einem verschlossenem diplomatischen Kuvert. Mit einer Genanalyse wollen Kommissar Cederström und seine Kollegen von der Reichsmordkommission Aufschluss über die Herkunft der Toten bekommen, doch das Ergebnis vergrößert das Geheimnis noch: Obwohl sich die Rechtsmediziner sicher sind, dass die Frau aus Südeuropa stammt, ist sie mit keinem anderen Menschen auf der Welt auch nur entfernt verwandt. Kommissar Cederström bleibt nur ein Ausweg: Er muss das diplomatische Kuvert öffnen. Whodunit-Krimi.
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Dritte Auflage. Die Originalausgabe erschien 2008 bei Random House unter dem Titel ‚Der kopflose Engel‘. Die Bände dieser Reihe können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
2020 Bright Star Books. All rights reserved.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Der Umfang dieses Werks entspricht 360 Standardseiten.
ISBN 9783948287030
Build: 20200630045844
Unique ID: ATN_9783948287030_20200630045844
Dieses Werk ist auch als Printausgabe unter der ISBN 9783948287054 erhältlich.
Verlag und Hersteller: Bright Star Books in der ASE GmbH, Ingolstadt, [email protected]
Impressum
Inhalt
Karten
1
2
Walpurgisnacht
Kapitel 1
Einen Monat später
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Sonntag, 1. Juni
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Montag, 2. Juni
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Dienstag, 3. Juni
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Mittwoch, 4. Juni
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Donnerstag, 5. Juni
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Freitag, 6. Juni, Nationalfeiertag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Walpurgisnacht! Baldarelli rückte den Stuhl ans Fenster seiner Kammer. Das tat er jeden Abend, um etwas zu betrachten, was es in seiner Heimat nicht gab. Er hatte sich in dieses Licht verliebt, und weil er noch kein ganzes Jahr in Stockholm verbracht hatte, gab es jeden Tag etwas Neues daran zu entdecken. Die Dämmerung zog sich dahin wie eine schüchterne Romanze. Während die Dunkelheit längst über der italienische Botschaft lag, konnte Alberto Balderelli von seinem Stuhl aus noch eine ganze Weile lang dem Tag jenseits des Horizonts hinterherblicken.
Von Nacht zu Nacht geriet die Sonne in immer größere Verwirrung, und Alberto fieberte dem Mittsommer entgegen, wenn sie ihm um Mitternacht hinter dem Haus auflauern würde wie ein Zirkusclown. In seinem Alter gab es sonst nichts mehr, dem er entgegenfiebern konnte.
Zu diesem Ereignis würde er sich Händel auflegen, eine von den deutschen Arien, von denen es zu jeder Sehnsucht eine passende gab, gesungen von einer schwedischen Sopranistin, deren Namen Balderelli immer mit Ingrid Bergman durcheinanderbrachte. Das zitternde Glänzen der spielenden Wellen versihilbert das Ufer, bepeherlet den Strand!
Aber lange saß er heute Abend nicht.
Aus der Ferne näherte sich ein Fahrzeug. Sein Motor rasselte wie einst die Motoren in Balderellis Jugend. Dann erreichte der Wagen die Botschaft. Der Djurgårdsvägen endete hier und wand sich als Schlaufe um die Mauer des Grundstücks. Balderelli beugte sich aus dem Fenster. Er hatte sich nicht getäuscht. So konnte nur ein alter Chevy rasseln. Der Fahrer nahm die Kurve mit so hoher Geschwindigkeit, dass die Reifen quietschten. Im Halbdunkel konnte Balderelli den Beifahrer erkennen. Er saß auf der Fensterkante, hielt eine Bierdose in die Höh und hatte jetzt Mühe, der Fliehkraft und seiner Trunkenheit zu trotzen.
Dann klirrte es. Es klang zart und fern und wäre im Quietschen der Reifen untergegangen, wenn Balderelli nicht schon darauf gewartet hätte. Er sprang von seinem Stuhl auf und fluchte lauter, als Reifen quietschen können.
„Verdammte Bastarde!“
Das Rasseln des Motors verklang in der Ferne und ließ Balderelli in der geschändeten Nacht allein zurück. Erst nach einigen Sekunden wandte er sich vom Fenster ab. Der Stuhl war beim Aufspringen umgekippt. Ohne weitere Flüche stellte er ihn wieder auf. Beinahe zärtlich.
Auf dem Weg hinab strich er mit der Hand über das Treppengeländer. Diese Bastarde! Wenn er nur gewusst hätte, dass er hier seine Schrotflinte brauchte. Bei der Muttergottes von San Michele, dann hätte er sie mitgebracht!
Am anderen Ende der Straße feierten die Studenten im Skansen Walpurgisnacht. So hatte es ihm Carla erklärt. Sie war hier in der Botschaft die Protokollchefin, warf ihren strengen Blick aber auch auf alles, was sich außerhalb des Protokolls ereignete. Da lag er in seinem Alter allerdings immer schon im Bett. Von Carla wusste er, was Walpurgisnacht überhaupt war, und zwar ein weiteres dieser heidnischen Feste, die die Schweden begingen, sobald die Sonne in einer gewissen Position stand. Offenbar brauchten sie die Gestirne, um sich beim Nachhausetorkeln zu orientieren.
Unten im Erdgeschoss war alles dunkel, nur aus dem Wachzimmer neben dem Eingang flimmerte grünes Fernsehlicht. Weil das Alter Alberto zu Gelenksentzündungen verdammt hatte, entging Lorenza und Romano sein Schlurfen nicht. Der Wachmann kauerte mitten im Zimmer auf seinem Drehstuhl und starrte auf das Endspiel. Das tat auch Lorenza. Obwohl sie ihre Füße auf Romanos Schreibtisch gelegt hatte und an einer Bierflasche nippte, war sie lieblicher als der Frühling in Cosenza. Die beiden saßen da wie ein Ehepaar am Beginn der Routinejahre, in Wahrheit aber konnte nur der Dienstplan die beiden vereinen. Wenn es kein Fußballspiel gab, blieb sie lieber drüben im Konsularzimmer und stempelte Visa und Erbscheine. Romano hatte einen ausladenden Wachmännerbauch, und das einzige, womit er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, war seine Taschenlampe. Lorenza drehte ihren Kopf als erste in den finsteren Flur. Sie war die Hellere von beiden.
Alberto trat aus der Dunkelheit. „Wer gewinnt?“
„Die Spanier“, murmelte Romano.
„Verdammte Bastarde, diese Spanier.“
Lorenza lächelte. „Willst du mitschauen?“
Alberto schüttelte den Kopf. Ihn interessierten nicht einmal mehr Radrennen und Bunte Abende mit blondierten Moderatorinnen. „Diese Bastarde von Schweden haben mir eine Scheibe eingeschlagen. Sind mit dem Wagen vorbei und haben eine Bierdose über die Mauer geworfen.“
„Die rasen immer bis hierher und eiern um die Botschaft“, sagte Romano. Dabei malte er den Verlauf der Straße mit dem Zeigefinger in die Luft, ohne den Ball auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren.
Balderelli stand ein Weilchen da, bis ihm wieder einfiel, weshalb er heruntergekommen war. „Ich hole eine neue Scheibe aus dem Keller.“
„Jetzt noch?“, fragte Lorenza und schwang ihre Beine vom Tisch.
Alberto nickte. Die Beete entwickelten sich besser, als er im Frühjahr erwartet hatte. Da wollte er sich nicht von einer kalten Morgenstunde einen Strich durch die Rechnung machen lassen. Rosenzucht war eine Sache der Disziplin. Das hatte sie mit der Diplomatie gemeinsam.
„Warte“, sagte Lorenza. „Ich komme mit.“
Die grobe Holztür zur Kellertreppe hatte sich im Laufe der Jahre verzogen. Alberto drehte behutsam am Knauf, damit sie beim Aufziehen nicht so knarrte. Sogleich drang Kellerluft in die Nase des Mannes, der sein Leben lang nur feuchte Erde und Blüten gerochen hatte. Und manchmal einen trockenen Chianti.
Der Keller war vor einem Jahrhundert in den Fels, auf dem die Botschaftsvilla stand, gehauen worden. Die Wände entlang der Steintreppe waren unverputzt, und jeder der groben Meißelschläge würde bis zum jüngsten Tag gut zu sehen sein. Unten gliederten Ziegelwände das Gewölbe in sechs türlose Zellen. Eine davon hatte ihm Botschafter Maero für die Scheiben seiner Gewächskästen zur Verfügung gestellt. Er drehte am Lichtschalter und sah, dass nur noch acht Reservescheiben übrig waren. Lorenza blieb draußen im Flur stehen, weil sie nicht wagte, einen Fuß zwischen die Scheiben zu setzen. Sie waren aus dünnem Glas und lehnten an den Wänden. Er begutachtete drei Exemplare und klemmte sich schließlich das schönste unter den Arm. So machten sie sich auf den Rückweg. Als sie die Halle erreichten, klingelte drüben in der Kanzlei das Telefon.
„Einen Moment“, flüsterte Lorenza und eilte hinüber.
„Die italienische Botschaft in Stockholm“, hörte er sie in den Hörer sagen. „Konsularnotdienst. Ja, da sind Sie richtig.“
Alberto Balderelli wartete eine Minute mit der Scheibe unter dem Arm. Als sie sich in seine Handfläche zu schneiden begann, seufzte er und machte sich allein auf den Weg, obwohl es ein wenig schade war, auf Lorenza verzichten zu müssen, jetzt, wo er die Schönheit einer Frau genießen konnte wie die einer Rose, ohne also beim Anblick in Fortpflanzungspläne verstrickt zu werden.
Draußen im Garten spürte er die feuchte Kühle auf seinen Unteramen. Zum Glück hatte er nicht bis zum Morgen gewartet. Auch wenn in einer Stunde der Mai anbrach, konnte sich in diesem barbarischen Klima vor dem Morgengrauen immer noch Frost auf die Triebe legen, und dann hätte er den ganzen Sommer über eine kahle Stelle in den Beeten.
Eine Steinmauer umgab das kreisrunde Gelände der Botschaft, dessen Fläche für einen Gärtner wie Alberto nicht zu verachten war, selbst wenn das Gebäude auf einem Felshügel lag. Alle dreißig Minuten hielt ein Bus, mit dem Alberto manchmal in die Stadt fuhr. Meist sah er aber von seinem Fenster aus zu, wie eine Handvoll Fahrgäste an der Endhaltestelle auf der anderen Seite der Straße ausstiegen. Gewöhnlich wanderten sie von dort ins endlose Grün von Djurgården, nur wenige von ihnen kamen zur Botschaft herauf, um sich ihren verlorenen Pass ersetzen zu lassen.
An der Innenseite der Mauer entlang hatte er Rosen gepflanzt und die Triebe mit den Scheiben vor der Witterung geschützt. Alberto trippelte im Dunkeln an der Mauer entlang und spähte nach der zerbrochenen Scheibe und der Bierdose. Eigentlich hatte er die Einschlagstelle vom Fenster aus genau ausmachen können, doch nun fand er nichts als eine braune Schnecke, die auf einer der allesamt intakten Scheiben klebte. Alberto zog sie ab und warf sie über die Mauer. Mit gebeugten Knien schritt er seine Scheiben ab. Manchmal musste er mit der Hand darüber streichen, weil die Finsternis ihn trog.
Dann entdeckte er die Stelle. Der Kerl musste in weitem Bogen geworfen haben. Erst wollte er hineingreifen und sie herausnehmen. Aber das Loch war eng. Bei seinen zittrigen Händen sah er das Unheil schon auf sich zukommen und drehte lieber die vier Flügelschrauben auf, um die ganze Scheibe aus der Halterung zu ziehen. Er hielt sich gerade die Bierdose vor die Augen, um die Marke zu entziffern und zu verdammen, als es ein paar Schritte weiter im Gras raschelte. Alberto richtete seinen Blick in die Dunkelheit. Eine Gestalt löste sich daraus. Bildete er sich das ein? Nein, eine Gestalt, ganz in Weiß. Muttergottes, wie ein Gespenst! Nein, viele Gespenster. Warum trugen sie weiße Nachthemden? Dicht beieinander, als wären sie ein einziger Körper, traten sie auf ihn zu. Ein Klirren durchbrach Albertos Starre. Er hatte die halbvolle Dose auf seine Ersatzscheibe fallen lassen.
Ein schwarzer Bart füllte das Gesicht des Vordersten. Die Gesichter der anderen blieben in Geheimnis gehüllt. Den Gedanken an irre Schweden, die ihm einen Schrecken einjagen wollten, gab er sofort wieder auf. Man drang nicht in eine Botschaft ein. Diese Mauer überwand niemand, ohne bemerkt zu werden.
Aber etwas anderes brachte Albertos Kiefer zum Klappern. Das war keine Verkleidung. In den Augen des Bärtigen konnte er es lesen, noch bevor der zu sprechen begann. Seine Stimme klang tief. So etwas Fremdes hatte Alberto nie gehört. Keine ihm bekannte Sprache klang so. Die Worte drohten. Das begriff er, ohne etwas zu verstehen. Immer weiter murmelte der Mann, während er seinen Blick von Alberto hob und zum braunen Himmel hinaufsah. Dabei erhob sich ein Raunen hinter ihm. Die Stimmen von einem Dutzend Männern begannen, die unheilvollen Worte zu wiederholen.
Hoc inter nos et illos quibus summa est fulgurum persequendorum scientia interest: Nos putamus quia nubes collisae sunt fulmina emitti. Ipsi existimant nubes collidi ut fulmina emittantur.
Zwischen uns und ihnen, die bei der Beobachtung der Blitze das höchste Wissen besitzen, liegt der Unterschied darin, dass wir glauben, Blitze würden ausgesandt, weil Wolken zusammenstoßen. Sie hingegen glauben, dass die Wolken zusammenstoßen, damit sie Blitze hinausschleudern.
Lucius Annaeus Seneca: Quaestiones Naturales, 2,32,2
Sich am Leben berauschen, dachte Lovisa noch. Dann erbrach sie sich heftig in die Toilettenschüssel. Eine Weile verstrich, bis sie wieder richtig atmen konnte und das Gewirr aus Stimmen jenseits der Kabinentür zu ihrem Gehirn vordrang. Sie sah an sich hinunter. Auf den Kacheln unter ihren Knien war eine Pfütze, dessen Herkunft Lovisa ein Rätsel war. Sie verabschiedete sich von ihrem Wunsch, sich ganz hinfallen zu lassen und für immer dazuliegen. Statt dessen griff sie nach der Türklinke und zog sich hoch.
Ich muss schauen, dass ich nach Hause komme, fiel ihr ein. Wenn sie betrunken war, huschten die Gedanken nur so vorbei. Oder sie griff zu langsam nach ihnen, das kam ihr jetzt wahrscheinlicher vor. Sie atmete durch. Nun ging es ihr besser, aber ihre Hose sah fürchterlich aus. Von den Knien abwärts klebte der Stoff nass an ihren Beinen.
Sie trat aus der Kabine und hatte Glück. Alle drei Waschbecken waren frei. Dort schöpfte sie sich Wasser ins Gesicht und spülte ihren Mund aus. Ihre Hose wollte sie trocknen, indem sie eine versiegelte Papierrolle am Stoff auf und ab rollte. Das saugte ein wenig von der Nässe auf, beseitigte aber nicht den Schmutz.
Die Toiletten lagen nah am Ausgang. Dennoch musste sie sich an den Schlangen der Hinein- und Hinausgehenden vorbeischieben und mit der stickigen Hitze kämpfen. Als sie endlich das Freie erreichte, ging sie rasch weiter, um sich den Blicken der Anstehenden zu entziehen. Draußen war es wärmer, als sie gehofft hatte. Immerhin duftete die Nachtluft nach Blüten und wirbelte in sanften Böen um ihren Kopf.
Sie folgte einfach der Straße, von der sie glaubte, dass es der Sveavägen war. Ein alter amerikanischer Straßenkreuzer in Beige zog hupend an ihr vorbei. Zwei Jungen hatten sich auf die Kanten der hinteren Fenster gesetzt und schwangen Hammarby-Fahnen.
Sie entdeckte den Eingang zur U-Bahn, hielt sich bei der Eingangstür am Metallrahmen fest und blickte die steile Treppe hinab. ‚Rådmansgatan‘ stand dort riesengroß. Sie überlegte angestrengt, kam aber nicht darauf, ob das auf ihrer Linie lag. Während sie noch dastand, kamen zwei Frauen die Treppe herauf.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
Die beiden waren neben ihr stehengeblieben und musterten sie. Lovisa begriff erst mit einiger Verzögerung, dass die Frauen mir ihr sprachen. Sie nickte.
„Du solltest nicht hineingehen“, sagte die mit den blonden Strähnen. „Unten ist alles voller Polizei.“
Lovisa nickte ohne Unterbrechung weiter und erinnerte sich. Sie war ja mit dem Bus hergekommen, und wenn sie mit dem Bus herkommen konnte, dann konnte sie auch wieder damit zurückfahren. Sie wandte sich vom Eingang ab und blickte den Sveavägen entlang. Die Frauen waren weitergegangen und warteten jetzt vor der Ampel.
Ich muss den Zweier nehmen, sagte sie sich und streckte den Arm aus. Sie bemerkte, wie ernst ihr Zustand war, wenn sie schon für sich selbst den Arm ausstreckte und auf Dinge zeigte, die sie bereits sah. Sie steuerte auf die Kreuzung zu, die nur zweihundert Meter entfernt lag. Schon nach wenigen Schritten ging es ihr besser. Auch mit dem Denken klappte es wieder ganz gut. Sie lief an dem viereckigen Bassin entlang, das zwischen der Handelshochschule und der Bibliothek lag. Dort war eine Menge los. Einige hatten die Holzbänke in das Becken verfrachtet, um beim Sitzen mit den Füßen im Wasser planschen zu können. Drei Jungen waren mit dem Skateboard unterwegs. An der Kreuzung wimmelte es vor Menschen und vor dem Schnellrestaurant waren alle Tische belegt. Lovisa warf einen Blick hinein zu den Kassen, aber dort reichten die Schlangen beinahe bis zur Tür. Sie erreichte die Straßenecke. Im 7-Eleven schien es ruhiger zu sein, immerhin standen nicht mehr als fünf Menschen an der Kasse. Die Wärme im Inneren war zu ertragen und auch der Geruch nach Essen. Sie durchquerte den Laden und nahm sich eine Flasche Ramlösa mit Zitronengeschmack aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte sie eine Tüte mit Chips und griff danach. Beim Warten klemmte sie beides unter ihre Arme und fuhr mit den Händen in die Tasche ihrer Jeans. Geld hatte sie noch, sie spürte ein oder zwei Geldscheine und eine kleine dicke Münze.
Die Schlange kam langsamer voran als erhofft. Lovisa lehnte sich gegen die Vitrine und sah den Würstchen darin beim Drehen zu. Die Frau vor ihr duftete gut, wie die Blüten an den Bäumen draußen. Lovisa betrachtete den Rücken der Frau und dann ihren Hintern. Sie trug einen Rock, der ihr bis zu den Knien reichte. Lovisas Blick wanderte wieder hinauf. Die Bluse war aus einem wunderschönen Stoff. Das Haar glitzerte schwarz. Bei jeder kleinen Bewegung wippte es als kompakte Masse hin und her. Erst als die Frau an die Reihe kam und sich zu dem indisch aussehenden Jungen hinter der Kasse wandte, konnte Lovisa ihr Gesicht sehen und starrte sie unverhohlen an. Die Frau sagte etwas auf Englisch und erhielt kurz darauf einen Becher Kaffee. Lovisa atmete auf, als sie endlich selbst an die Reihe kam und nicht mehr neben der Warmhaltevitrine warten musste. Der Schwindel kehrte zurück. Sie schaffte es bis zur Tür und dann bis zur Gehsteigkante. Während sie auf grün wartete, versuchte sie, die Tüte aufzureißen und ließ sie dabei fallen. Sie bückte sich und verlor das Gleichgewicht.
„Are you all right?“
Schon wieder die Frau. Sie hatte sich über Lovisa gebeugt, die zwischen den Stoßstangen zweier geparkter Autos auf dem Hintern gelandet war. Lovisa nickte und deutete zur Bushaltestelle in der Odengatan. Die Frau erwiderte etwas, doch davon verstand Lovisa nur das Wort Taxi. Ein Taxi wäre nicht schlecht, dachte sie. Die Frau packte sie unter den Achseln und half ihr, sich auf die Kühlerhaube des Autos zu setzen. Die Übelkeit kehrte zurück, und das Bild der Frau verschwamm. Lovisa schloss die Augen und kämpfte gegen den Sog. Lustigerweise verstummten sogleich alle Geräusche um sie. Ein harter Stoß holte sie aus tiefer Versenkung. Sie blinzelte und spürte, dass sie auf dem Boden lag. Geschrei umgab sie, das von allen Seiten zu kommen schien. Neben ihr quietschten Reifen. Sie riss die Augen auf, um etwas zu erkennen, aber sie sah nur die Stoßstange eines Autos und blendende Scheinwerfer. Die Frau war verschwunden.
„Auf die Türen aufpassen!“, schallte es durch die U-Bahn-Station Odenplan. „Die Türen schließen sich!“
Während der tiefe Warnton erklang, zwängte sich Polizeiassistentin Theresa Julander mit ihrem Kollegen Hampus durch den Türspalt. Theresa begann sogleich, durch den Wagon zu laufen.
Die drei Jungen hatten sich am anderen Ende des Abteils auf den Sitzen niedergelassen. Es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen Theresa in ihrer Uniform entdeckte und aufsprang. Doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Der Junge trat dagegen, bis der Zug ruckelnd anfuhr. Theresa grinste breit und packte ihn am Arm. Hampus kam ihr zur Hilfe.
Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass sich die beiden anderen nicht von ihren Plätzen rührten. Die drei mussten alle schon achtzehn oder zwanzig sein, sahen türkisch aus und wohnten bestimmt südlich vom Gullmarsplan. Wo alle wohnten, die zwanzig waren und türkisch aussahen. Theresa bog dem Jungen den Arm hinter den Rücken und drückte seine Brust gegen die Trennscheibe. Hampus rief mit dem Funkgerät Verstärkung herbei.
Eine Anwohnerin hatte angerufen, weil ein Betrunkener die Upplandsgatan entlanglief und bei jedem geparkten Auto den Außenspiegel abtrat. Nach jedem dritten Spiegel brüllte er laut ‚Verdammte Hure‘, und zwar so laut, dass acht Anrufe bei der Zentrale eingingen. Alle Anrufer beschrieben den Betrunkenen als weiß gekleidet mit zwei Begleitern im Schlepptau.
Seit einer Stunde war ihnen die Polizei von ganz Vasastan auf den Fersen, und jetzt mussten die drei ausgerechnet der Polizeiassistentin Theresa Julander in ihre offenen Arme fahren, nur wenige Sekunden, nachdem sie über Funk den Befehl bekommen hatte, mit der U-Bahn zum Sankt Eriksplan zu fahren, um sich an der Suche zu beteiligen.
Sie blickte an dem Kerl hinab und schnaubte. Bestimmt hatte er die Spiegel abgetreten. Er war von Hals bis Fuß in Weiß gekleidet. Wie geschmacklos, dachte sie.
Und wenn Theresa Julander sich etwas dachte, dann sagte sie es auch.
Der Junge erwiderte ihre Offenheit, indem er sie eine verdammte schwedische Polizistenhure nannte. Dabei schien er gar nicht zu bemerken, dass er dieselbe Beleidigung, die zuvor Dutzende von Anwohnern der Upplandsgatan gehört hatten, soeben wiederholte hatte. Vielleicht war es ihm auch egal, denn als Theresa die Unterhaltung noch einmal anfächelte, damit er die Beschimpfung laut genug wiederholte, brachte ihr das einen strengen Deeskalationsblick von ihrem Kollegen Hampus ein. Theresa seufzte. Hampus war völlig unbelastet von jedem kriminalistischen Talent und würde sein Leben bei der Schutzpolizei verbringen, wo er für Deeskalation sorgen konnte. Die Bewohner der Upplandsgatan konnten die weiße Kleidung und die Beschimpfung bezeugen, und dasselbe konnten nun auch alle Fahrgäste in diesem Abteil. Bei so gut dokumentiertem Täterwissen half später alles Leugnen nicht. Und er würde leugnen, er war ein Jammerlappen.
„Ich würde später lieber nicht leugnen, du Jammerlappen“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Der Festgenommene versuchte, um sich zu schlagen.
„Beruhig dich endlich!“, rief einer der beiden Freunde des Jungen unerwartet.
„Nächste Rådmansgatan“, fuhr die Lautsprecherstimme dazwischen. Der Zug bremste. Theresa sah durch das Fenster Roffe und Pelle schon am Bahnsteig auf sie warten.
„Alles klar. Wir fünf steigen hier aus!“
Anscheinend hatte Roffe sie schon beim Einfahren des Zuges ausgemacht, denn als sich die Türen öffneten, standen er und Pelle zum Empfang bereit.
Roffe war Ende vierzig und dick, aber Pelle war dicker. Da sie seit fünfzehn Jahren zusammenarbeiteten, hätten sie ja eigentlich gleichdick sein müssen, überlegte Theresa. Immerhin konnten sie mit ihrer Statur den ganzen Bahnsteig ohne zusätzliche Verstärkung abriegeln. Pelle wollte wissen, wer von den dreien in der Upplandsgatan die Spiegel abgetreten hatte. Inzwischen hatte man dort zu zählen begonnen und war bei dreiundzwanzig Spiegeln angekommen.
„Unter hunderttausend Kronen kommt ihr da nicht weg“, fand Roffe. „Ohne die Geldbuße.“
„Kommt aufs Fahrzeug an“, präzisierte Pelle und machte Meldung ins Funkgerät.
Theresa zog ihren Schreibblock aus der Brusttasche. „Wie heißt du?“, wollte sie von dem wissen, der sie für eine schwedische Hure hielt.
„Kenan.“
Pelle sammelte die Ausweise der drei ein und maulte, weil Kenan, der Barbar, nur seinen Führerschein dabeihatte. „Bist du Schwede?“
„Ja. Ja!“
Das Geräusch schneller Schritte hinter ihrem Rücken ließ Theresa herumfahren, doch einer der beiden Komplizen hatte es bereits bis zur Rolltreppe geschafft, ohne dass Theresas Kollegen etwas unternahmen.
„Ich hole ihn“, sagte sie zu Roffe.
Roffe antwortete mit einem Nicken.
„Halt, warte“, rief Kenan. „Er hat nichts damit zu tun. Ich war’s.“
Theresa überlegte einen Wimpernschlag lang, bevor sie sich fürs Hierbleiben entschied und sich dem anderen Jungen zuwandte. Seinem Ausweis nach hieß er Samir Massoud und war Syrer. Theresa gab seine Personennummer an die Zentrale durch.
Ein schriller Pfiff hallte durch die niedrige Bahnsteighalle. Alle blickten zur Rolltreppe. Dort stand der dritte Mann und fuchtelte mit den Armen wie eine französische Austauschschülerin beim Tanzen.
„Bleib hier“, riet Pelle. „Ist ein Trick.“
Theresa glaubte nicht daran. Der Junge war seiner Mimik nach eher ein Spaßvogel gewesen, und jetzt stand Entsetzen in seinem Gesicht, das konnte sie bis hierhin erkennen. Er drehte sich um und rannte wieder hinauf.
Diesmal folgte sie ihm. Als sie die Treppe erreichte, nahm sie zwei Stufen auf einmal und wurde dabei immer langsamer. Sie hatte viele Talente, aber Laufen gehörte nicht dazu. Im Zwischengeschoss war kein Mensch zu sehen. Sie sprang über die Fahrkartensperre und verschaffte sich eilig einen Überblick über die Schilder, bevor sie sich für den linken Aufgang zur Handelshochschule entschied. Oben war der Junge einige Meter neben dem Ausgang stehengeblieben und richtete den Blick auf einen Punkt in der Ferne. Als sie die letzte Stufe erreichte, ahnte sie, was das Interesse des Jungen auf sich zog. Etwas stimmte nicht. Auf dem breiten Sveavägen waren kreuz und quer Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern abgestellt. Menschen standen da und starrten auf denselben Punkt wie der Junge. Von der nahen Kreuzung strömten immer mehr Menschen herbei.
„Eine ist überfahren worden“, murmelte der Junge. Sein Akzent war schwächer, als sie erwartet hatte. „Sieht nicht gut aus für sie.“
Theresa kniff die Augen zusammen, um in dem Gewimmel ein Zentrum zu entdecken. „Hast du den Unfall gesehen?“
„Ein schwarzer Jeep. Er kam von dort, von der anderen Seite der Kreuzung. Hat sie da vorne erwischt. Sie ist bis dort geflogen.“
Zwischen den beiden Punkten mussten dreißig Meter liegen. Theresa konnte kaum glauben, dass ein Körper so weit flog. „Was ist mit dem Jeep?“
„Ist weitergefahren. Hat nicht mal gebremst.“
Sie überlegte, ob sie die anderen herbeiholen sollte, nahm dann aber lieber ihr Funkgerät und erstattete Meldung. Der Junge lief auf einmal los, hin zu der Stelle, wo die Menschen mitten auf der Straße einen Zuschauerring bildeten. Die Zentrale antwortete, dass bereits Anrufe eingegangen waren und der Notarzt jeden Augenblick eintreffen musste. Theresa starrte auf die Menschen. Das Funkgerät knisterte. Sie bekam den Befehl mit, zur Unfallstelle zu gehen, um Zustand und Identität des Opfers festzustellen.
Sie gehorchte. Erst ging sie langsam, dann wurden ihre Schritte schneller. Sie drängelte sich zwischen den Leuten hindurch, die in einem Abstand von zwei bis drei Metern um den Körper herum standen. Nur ein älterer Mann kniete bei dem Körper, der wegen der langen dunklen Haare und dem Rock leicht als Frau zu erkennen war. Die Frau lag mit geöffneten Augen auf dem Rücken und blickte in die Sterne. Theresa kniete sich neben den Kopf. Aus dem Funkgerät ertönte die Meldung, dass der schwarze Jeep mit hoher Geschwindigkeit auf Höhe der Kungsgatan gesichtet worden war.
„Wir müssen sie auf die Seite drehen“, sagte Theresa.
Der Mann hielt das Handgelenk der Frau, um den Puls zu fühlen. Er hatte eine Vollglatze und trug keine Jacke. Wahrscheinlich war er nach dem Unfall aus einem der Autos gesprungen, die jetzt mit offenen Türen mitten auf der Straße standen.
„Sie ist tot“, sagte er und legte die Hand der Frau auf den Asphalt zurück.
Theresa hörte Sirenen. Zwei Männer in gelben Jacken fielen neben ihr auf die Knie und öffneten einen Koffer.
„Öffne die Kleidung, schnell!“, sagte einer der beiden.
Theresa begann, die Bluse aufzuknöpfen, als sie etwas an ihrem Rücken spürte. Sie warf einen Blick über die Schulter und entdeckte den Jungen ganz dicht hinter sich.
„Geh weg!“, brüllte sie. Dazu trat sie mit einem Fuß nach hinten aus und erwischte ihn am Schienbein. Als Antwort erhielt sie einen Tritt in den Hintern. Sie sprang auf, trat nach ihm und brüllte etwas. Dann kniete sie sich wieder hin.
Theresa riss die letzten Knöpfe der Bluse auf, obwohl sie sich sicher war, dass in dem Körper kein Leben mehr steckte. Der Notarzt zog etwas Blaues unter dem Bund des Rockes hervor und wusste dann nicht, wohin damit, bis Theresa danach schnappte. Sie hatte es erst für ein Portemonnaie oder eine Mappe gehalten, aber nun sah sie, dass es ein in der Mitte geknicktes Kuvert aus Kunststoff war. Als der Arzt die Elektroden ansetzte, stopfte sie es in das Revers ihrer Uniform. Der leblose Körper sprang auf und ab. Der Arzt stemmte seine Handflächen auf den Brustkorb und richtete sich auf. Die Frau war sehr schön, fuhr es ihr durch den Kopf.
Nach zwei weiteren Versuchen gab der Arzt auf. Zugleich strömten Polizisten auf die Straße und trieben die Menschen von der Stelle weg. Theresas Funkgerät knackte und riss sie aus ihrer Versenkung. Sie rappelte sich auf und drückte die Sprechtaste. Die Zentrale verlangte wieder nach der Identität. Sie musste sich erneut hinknien und in den Rocktaschen der Toten suchen. Durch den dünnen Stoff spürte sie die Körperwärme. Ein Polizist, den Theresa nicht kannte, erschien und zog die beiden Ärzte mit sich.
Sie fand vier Hundertkronenscheine, einen Fünfziger und mehrere Münzen. Das war alles. Also nahm sie das Kuvert aus ihrer Jacke und drehte es hin und her.
„Sie hat nur Bargeld und ein Kuvert bei sich. Das UN-Wappen ist darauf. Darunter steht wälis diploma…“ Erst nach der fünften Silbe ging ihr auf, dass sie es gar nicht mit Englisch sondern Französisch zu tun hatte. „Es heißt Valise diplomatique. Ne pas ouvrir. À renvoyer à …“
Es verstrichen einige Sekunden, bis die Frau am anderen Ende der Leitung merkte, dass Theresa nichts mehr zu sagen hatte. „Und weiter? Wohin soll man es denn schicken?“
„Mehr steht da nicht. Darunter ist ein Klarsichtfach. Aber das ist leer.“
Die Stimme aus dem Funkgerät schwieg eine Weile. Offenbar wusste sie auch nicht weiter. „Steht der Name eines Landes darauf? Oder ein Wappen?“
Theresa drehte und wendete das Kuvert. Es hatte die Größe eines A5-Blattes. Das Material fühlte sich wie Kunststoff an. Die Lasche war mit einem Klebestreifen versiegelt, unter dem sich deutlich ein Metalldraht abzeichnete.
„Nein. Nur das der UN.“
„Du musst bei der Frau nach einem Zettel suchen, der aus dem Sichtfenster gerutscht sein kann.“
Theresa wühlte in den Taschen, hob den Bund des Rockes und blätterte zuletzt noch einmal die Geldscheine durch.
„Nichts.“
„Ist der Verschluss intakt?“
„Ich glaube schon, ja.“
„Einen Moment, bitte … Du darfst es auf keinen Fall öffnen.“
„Ich bin ja nicht blöd.“
„Wir sind gleich zurück.“
Zwei Polizisten breiteten eine Decke über die Tote. Ratlos drehte sich Theresa um ihre Achse und versuchte, einen Überblick zu gewinnen. Von Roffe und Pelle war keine Spur zu sehen. Das Interesse der Menschen und der meisten Polizisten hatte sich nun zum Hamburgerladen und vor allem zum 7-Eleven an der Straßenecke verlagert. Theresa ging zögerlich darauf zu. Auch oben bei der Bibliothek schien noch etwas los zu sein. Sie sah auf die Uhr. Vor einigen Minuten war der Juni angebrochen.
Eine starke Böe kam wie aus dem Nichts und wirbelte die abgefallenen Kirschblütenblätter im Rinnstein auf. Über dem Observatoriumshügel hinter dem Park ertönte ein tiefes Grollen. Theresa legte den Kopf in den Nacken und sah schwarze Wolken über den Himmel ziehen.
Zwei Polizisten stürzten aus dem 7-Eleven. Sie eilten zu einem schweren Kerl, der anscheinend das Kommando hatte. Theresa steuerte auf die Gruppe zu.
„Theresa Julander, Norrmalm. Was ist da drin los?“
„Es gibt noch ein zweites Unfallopfer“, sagte der Dicke. „Ein junges Mädchen. Sie wurde am Arm verletzt, aber vor allem scheint sie betrunken zu sein.“
„Wie heißt sie?“
Der junge Polizist reichte ihr einen Ausweis. Das Mädchen war vierzehn Jahre alt und hieß Lovisa Sjölin.
„Wisst ihr schon, wie es passiert ist?“, fragte Theresa.
Die Männer schüttelten den Kopf.
Auf einmal entdeckte sie den Jungen wieder, der ihr vorhin auf dem Bahnsteig entkommen war und sie dann zur Unfallstelle gelockt hatte. Er kam mit einem Polizisten vom Park her auf sie zu.
„Uns haben einige Augenzeugen angesprochen“, sagte der Polizist, der noch recht jung war und unter seiner Polizeimütze eine rasierte Glatze trug. „Anscheinend ist jemand direkt nach dem Unfall zur Frau gerannt und hat etwas in ihrer Tasche gesucht. Das soll ein Mann mit dunklen Haaren gewesen sein.“
Der dicke Einsatzleiter sah sich ratlos um, mit der legendären Trägheit eines Stockholmer Polizisten bei einem Großeinsatz.
„Er hat den Unfallwagen davonfahren sehen“, fuhr der Polizist fort und deutete auf den Jungen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Theresa.
„Fayid.“
„Was hast du gesehen?“
„Als ich oben ankam, sah ich die Frau auf der Straße liegen, und bin dann wieder zum Bahnsteig runtergerannt, um euch zu holen.“
Der glatzköpfige Polizist nickte. „Da war der Mann verschwunden, aber wir haben ein Pärchen und zwei junge Mädchen, die unabhängig voneinander einen Mann bei der Frau gesehen haben wollen, und zwar unmittelbar nach dem Aufprall.“
„Ich mache Meldung.“ Theresa hielt sich das Funkgerät ans Ohr und entfernte sich einige Schritte von den anderen. Zwischen den parkenden Autos war es etwas ruhiger.
„Wir schicken jemanden von der Reichskrim vorbei und die Techniker“, sagte die Frau von der Zentrale, nachdem sie Theresas Meldung aufgenommen hatte. „Ihr müsst auf das Kuvert aufpassen und die Zeugen sichern. Wer hat bei euch das Kommando?“
Theresa Julander schielte zu der einsamen goldenen Krone auf ihrer Schulter und dann zu dem Dicken hinüber. „Ich. Ich habe hier das Sagen.“
Kjell Cederström, Chef der Reichsmordkommission, kurbelte die Scheibe herunter und streckte den Kopf aus dem Fenster.
„Also, hier hast du genug Platz.“
Behutsam lenkte Henning den Lastwagen von der breiten Olof Palmes Gatan in die Drottninggatan. Zwei Steinlöwen flankierten die Einfahrt als Zeichen dafür, dass Autos von hier an verboten waren. Nachdem Henning die Löwen unbeschadet hinter sich gelassen hatte, ließ er den Wagen an den dunklen Fassaden der Läden vorbeischleichen, um nicht eines der weit in die Straße hineinragenden Ladenschilder abzureißen. Bei ihrer letzten Fuhre im Frühling hatten sie kapitulieren müssen, denn der Weihnachtsschmuck wurde in der Drottninggatan wirklich nur während der drei heißesten Sommermonate abgenommen, um ihr nicht die Gemütlichkeit zu rauben. Damals brauchten sie eine ganze halbe Stunde, um die abgerissene Glühbirnengirlande wieder vom Führerhaus des Wagens zu wickeln.
Hier im Nordteil der Straße gab es sieben Antiquariate, einige Cafés und Speiselokale, das alte Centralbad, ein Fachgeschäft für Buddhakitsch und einen Laden mit billigen Gürteln und Handtaschen. Die Enge sorgte für ein mittelalterliches Miteinander zwischen den Ladenbesitzern und der Weihnachtsschmuck das ganze Jahr über für gute Umsätze.
Als sie Idas Laden erreichten, waren alle Lichter im Inneren erloschen, nur der gelbe Schimmer aus dem Hinterzimmer verriet, dass noch jemand da war. Henning fuhr weiter, bis sich die Straße nach zwanzig Metern zu einem kleinen Platz weitete und er in zwei Zügen wenden konnte. Mit etwas mehr Schwung fuhr er zum Laden zurück und schaltete den Motor aus. Kurz nachdem die Hydraulikbremsen gezischt hatten, gingen im Laden die Lichter an. Ida erschien an der Tür und sperrte auf. Wenn sie geschlafen hatte, machte sie immer ein ernstes Gesicht.
Kjell entschuldigte sich für die enorme Verspätung. „Wir haben ewig mit den Leuten Kaffee trinken müssen, bis sie zugestimmt haben. Und dann mussten wir auf der Küstenstraße zweimal anhalten und warten, bis das Gewitter weitergezogen war.“
„Hier ist das Gewitter noch gar nicht gewesen“, sagte Ida und gähnte.
„Dann erleben wir dasselbe Gewitter also dreimal“, brummte Henning und betätigte den Hebel. Die Rampe senkte sich summend herab.
Obwohl es im Laderaum kein Licht gab, leuchteten Idas Augen auf einmal hellwach. „Ist es schwer?“
„Leichter, als es aussieht“, antwortete Henning und kletterte auf die Rampe.
„Linda ist auch da. Sie will helfen.“
„Hallo Papa!“ Linda kam aus dem Laden geeilt und kletterte zu Henning auf die Rampe. Seit dem Abitur half Linda mit Begeisterung im Laden mit und suchte überall nach Verantwortung, die sich nach spätestens zwei Stunden in Luft auflöste.
Henning griff unter das lange Sofa und zog es bis zur Kante. Dort übernahm Kjell. Mit wenigen Handgriffen hatten sie es auf dem Gehweg abgesetzt. Ida wollte an Ort und Stelle probesitzen und wippte so begeistert, dass die alten Polsterfedern quietschten. Bei einer Reise ins Ausland hatte sie sich in die Idee verliebt, dass man in einer Buchhandlung auch sitzen konnte. Die anderen Händler in der Straße standen der Idee einer Sitzgelegenheit in einer Buchhandlung kritisch gegenüber. Es gab Buchgeschäfte und es gab Cafés. Beides zusammen war unmoralisch. Was hatte Ida Florén in ihrem Antiquariat als nächstes vor? Im Ausland sei Sitzen nicht unmoralisch, hatte Ida unbeschwert entgegnet und war seitdem trotz ihres lichtblonden Haars das schwarze Schaf unter den Stockholmer Antiquaren. Auch Kjell war von Idas Einfall nicht begeistert. Seit sie den Laden übernommen hatte, entwickelte er sich zu einem Ausflugsziel. Frauen kamen gar nicht mehr, dafür aber Männer, um Ida bei einem zweistündigen Gespräch über Immanuel Kant schöne Augen zu machen.
„Der Laden muss eben laufen“, behauptete Ida. „Das Sofa von Strindberg rundet mein Geschäftsmodell ab.“
„Echt?“, rief Linda. „Das ist das Sofa von Strindberg? Auf dem er mit all den Frauen saß? Oder lag?“
Ida nickte entschieden. Sie stammte aus einem uppländischen Organistenhaushalt und hatte sich dreistes Lügen mit acht Jahren selbst beigebracht.
Linda bekam einen Klaps von ihrem Vater. Damit wollte sie ihr Vater zu mehr Wachsamkeit und Skepsis konditionieren.
„Dass sie sich davon getrennt hat!“, jubelte Ida und nahm die beiden Sessel in Augenschein. Das helle Holz war poliert und ohne Makel, die Bezüge mittsommerwiesengrün.
„Leicht war es nicht“, erwiderte Kjell. „Sie hat die Sachen sehr geliebt.“
Henning brummte. „Sie hat das Geld noch ein wenig mehr geliebt, da kannst du sicher sein.“
Kjell und Henning hatten nur eine Kanne Kaffee und einen ganzen Möhrenkuchen lang gebraucht, um der alten Lina aus Ludvika zu versichern, dass den Sitzmöbeln eine erhabene Zukunft in Strindbergs Lieblingsbuchhandlung bevorstehe. Auch hier war Strindberg wieder eine glatte Lüge. Die einzige Verbindung zu ihm war seine ehemalige Wohnung vier Häuser weiter, und Strindberg war höchstens mal mit seinem geladenen Revolver an diesem Geschäft vorbeigeschlichen.
Aus dem italienischen Restaurant gegenüber kam Franco herbeigeeilt und stemmte seine niedrige Schulter unter das Sofa, das jetzt auf halber Strecke durch die Tür klemmte. Obwohl er rasch ins Keuchen kam, lobte er das gute Stück, bis es an seinem vorbestimmten Platz stand. Seit Ida ihr Geschäft vor vier Monaten übernommen hatte, kam Franco sogar mehrmals am Tag herübergeeilt, man konnte beinahe von einem neuen Sinn im Leben des Italieners sprechen. Den Rest des Tages lehnte er in der offenen Tür seines Restaurants und schaute herüber. Sobald Ida einmal aufschaute, winkte er. Kjell hoffte, dass bald der Winter kam.
Warum man nicht auf eine Pizza und einen Wein zu ihm herüberkomme? Kjell, Henning und Ida verständigten sich mit Blicken, bevor sie nickten. Alle hatten Hunger, und das Pizzabacken war immerhin Francos zweitgrößte Leidenschaft.
„Ich bringe lieber erst den Wagen zur Autovermietung zurück“, sagte Henning. „Den kann ich hier nicht stehenlassen.“
„Dann komme ich mit“, rief Linda vom Hinterzimmer aus. „Cissi wollte später vorbeikommen.“
„Wollt ihr ausgehen?“, fragte Kjell.
„Nein, wir müssen die Reise vorbereiten.“
Linda würde in den nächsten Tagen mit einigen ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen in den Schären herumsegeln und polierte daher seit einer Woche das Boot. Das war Kjell immer noch lieber als eine Flugreise zu einer Sangriahölle am Mittelmeer. Sie würden dreizehn Mädchen in fünf Booten sein.
Kjell trug die beiden Sessel herein. Als er wieder auf die Straße trat, hatte der Wagen bereits die beiden Löwen erreicht. Er sah Henning auf dem Trittbrett neben der Fahrertür stehen und Anweisungen erteilen. Kjell stellte sich mitten auf die Straße und verfolgte, wie seine Tochter den Lastwagen in aller Seelenruhe durch das Hindernis hindurchmanövrierte und nach rechts abbog. Beim Führen von Fahrzeugen suchte seine Tochter stets nach neuen Horizonten.
Auf einmal bremste der Lkw, und die Bremslichter leuchteten die ganze Drottninggatan rot aus. Ein schwarzer Wagen schoss von links auf der Olof Palmes Gatan heran, bremste heftig vor Linda, umfuhr das Führerhaus des Lastwagens und gab dann Vollgas. Henning sprang vom Trittbrett, brüllte hinterher und lief hinüber zur Beifahrertür. Linda fuhr an, der Lkw verschwand um die Ecke.
Polizeiassistentin Theresa Julander hatte immer noch das Sagen, obwohl inzwischen ein weiteres Dutzend Polizisten angekommen waren. Der schwere Kerl mit dem Namen Örjan hätte bei seinem Rang eigentlich den Ton angeben müssen. Dennoch stand er lieber an der Kreuzung und organisierte die Straßensperre. Anscheinend spürte er, dass Theresa wegen ihrer frühen Ankunft die Sache besser überblickte als er.
Theresa streute die Polizisten über das Gelände, um neue Zeugen aufzunehmen. Es war wichtig zu erfahren, woher die Frau vor dem Zusammenstoß gekommen war, glaubte sie, jedenfalls fiel ihr nichts ein, was man sonst noch herausfinden könnte. Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie die beiden Sanitäter in ihren gelben Jacken das Mädchen zum Rettungswagen trugen. Ihr dunkelblondes Haar hing von der Bahre herab.
Den Gedanken, dass das Mädchen und die Tote irgendwie zusammengehören könnten, gab Theresa gleich wieder auf. Weil Aussehen, Kleidung und Alter der beiden Unfallopfer so weit auseinanderlagen, waren sie bestimmt nicht miteinander verwandt. Alles deutete eher darauf hin, dass die beiden sich zufällig über den Weg gelaufen waren. Das Mädchen war kaum älter als dreizehn und trug die bei ihren Stockholmer Altersgenossinnen übliche Kleidung, sehr enge Jeans und heruntergekommene Basketballschuhe, während die Frau auf zurückhaltende Weise elegant gekleidet war und gute fünfzehn Jahre älter sein musste als das Mädchen.
Die Sanitäter schoben die Bahre in den Rettungswagen. Das Mädchen rührte sich nicht. Anscheinend war sie nicht bei Bewusstsein.
Einsatzleiter Örjan hatte die beiden Streifenwagen soeben für eine Straßensperre in Position gebracht, als ein weißer Transit von der Odengatan in den Sveavägen einbiegen wollte. Mit Licht und Hupe brachte der Fahrer alle dazu, sich zu ihm umzudrehen. Örjan marschierte zum Fenster an der Fahrerseite und gab nach einer Sekunde den Befehl, die Straßensperre zu öffnen. Der Wagen fuhr in den gesperrten Bereich und blieb nach einigen Metern mit laufendem Motor stehen. Theresa ging als einzige auf den Wagen zu. Der Fahrer öffnete zwar die Tür, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Laute Rockmusik kam aus dem Inneren des Wagens. Am Steuer saß Per Arrelöv, der Chef der Tatorttechnik. Theresa hatte ihn im letzten Sommer kennengelernt, während sie für einige Tage zur Reichsmordkommission abkommandiert gewesen war und mit Per jede verdammte Wohnung in Skarpnäck kontrollierte, auf der Suche nach der verschwundenen Tochter des Justizkanzlers Rosenfeldt.
Pers Mitarbeiter kletterte vom Beifahrersitz und klappte die Flügeltüren am Fond auf. Per jedoch blieb reglos sitzen. Erst eine halbe Minute später riss er sich den Kopfhörer seines Telefons aus dem Ohr und stemmte sich aus dem Wagen.
„Hallo Per!“
Per wandte sich erstaunt um und musterte sie. „Theresa Julander. Du bist schöner als der Sonnenuntergang auf Värmdö.“
Theresas Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. Sie war noch keinem in Vergessenheit geraten.
Per streckte sich in das Innere des Wagens und zog eine Tasche vom Sitz. Damit steuerte er zielstrebig auf die Frau zu. Während das Mädchen schon auf dem Weg ins Krankenhaus war, lag die tote Frau unverändert unter dem Abdecktuch auf der Straße. Vier Polizistinnen drückten die Ecken des Tuchs zu Boden und kämpften gegen den Wind. Dem Cheftechniker genügte ein kurzer Blick. Um den Körper der Toten hatte sich eine Kontur aus Kirschblüten und Pollenhaufen gebildet. Der Cheftechniker tippte den grauweißrosafarbenen Flaum mit der Schuhspitze an und seufzte.
„Per, kann ich dir etwas sagen?“, fragte Theresa und deutete die leichte Drehung seines Kopfes als Erlaubnis.
Mit vier Sätzen schilderte sie die Lage. Per legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die schwarzen Wolken. Vom Himmel kam ein Grummeln.
„Komm mit“, befahl er und kehrte mit Theresa zum Wagen zurück, wo sein riesiger und schlaksiger Assistent immer noch auf der Ladefläche hantierte. Er sprach ihn mit Lasse an und deutete auf die Stelle jenseits der Kreuzung, wo nach Theresas Bericht der Unfallwagen vor dem Zusammenprall einige Minuten lang die rechte Fahrspur blockiert hatte. Dies behaupteten jedenfalls die Zeugen, die Theresa in den letzten zwanzig Minuten aufgegabelt hatte. Lasse griff nach zwei Aluminiumkoffern und lief zur Kreuzung.
Theresa zog das Kuvert unter ihrer Jacke hervor, das sie in eine Tüte von 7-Eleven gewickelt hatte. „Kannst du das hier gleich prüfen?“
Per lugte in die Tüte. „Später. Wir müssen draußen fertig sein, bevor der Regen kommt. Leg es da hin.“
„Sie ist vielleicht wegen dieses Kuverts überfahren worden. Es gibt da eigenartige Hinweise von den Zeugen. Und draußen laufen noch eine Menge Leute herum.“
Per nahm die Tüte, kletterte ins Wageninnere und verstaute sie in einem verschließbaren Kasten. Dann sortierte er die benötigten Geräte in solche, die Theresa tragen konnte, auch wenn sie eine Frau war, und in solche, die zu teuer oder empfindlich waren, um sie einer Frau anzuvertrauen. Sie griff zu und folgte ihm. Zu ihrem Erstaunen interessierte sich Per gar nicht für die Leiche, sondern ließ sich von Theresa die Stelle zeigen, wo sich der Zusammenprall ereignet hatte. Sie musste eine Lampe mit pinkfarbenem Licht auf den Boden richten, während Per mit seinem hochauflösenden „Infrarotbaby“ den Asphalt zwischen den geparkten Autos fotografierte. Dann kniete er sich hin und suchte mit der Taschenlampe den Boden unter den Fahrzeugen ab.
Ein weiterer Streifenwagen kam die Odengatan herabgefahren und bremste scharf. Eine Frau mit rotblonden Haaren sprang von der Rückbank und steuerte geradewegs auf Theresa und Per zu.
Es war Barbro Setterlind von der Reichsmord. Sie hatte langes, rötliches Haar und war unverwechselbar.
„Theresa?“, fragte Barbro aus einigen Metern Entfernung. „Bist du es wirklich?“
Theresa winkte und lächelte.
„Ist ja lange her“, sagte Barbro. „Wie geht’s dir?“
„Jämmerlich“, gab Theresa zur Antwort und deutete auf ihre Kollegen aus Norrmalm, die mit Kaffeebechern in den Händen vor dem 7-Eleven herumlungerten.
„Jeder fängt bei der Schutzpolizei an“, antwortete Barbro und winkte Örjan herbei. Sie gab Anweisung, die Sperre für die Fußgänger sofort aufzuheben. Verwundert nickte Örjan und ging los.
Barbro wandte sich wieder an Theresa. „Wo ist das Kuvert?“
Theresa deutete zum Transit. Sie stiegen in den Laderaum und schlossen die Türen hinter sich. Barbro schlüpfte in ein Paar Gummihandschuhe und öffnete die Kiste.
Prüfend hielt sie das Kuvert gegen die Deckenleuchte, betastete den Kunststoff und die Verschlussklappe. Während dieser Zeit erstattete Theresa ihren Bericht. Barbro Setterlind blickte skeptisch drein.
„Worum geht es?“, wollte Theresa wissen.
„Das darf ich dir leider nicht sagen. Du bist Schutzpolizistin.“
„Sie ist Diplomatin, oder? Habt ihr Hinweise, wer sie sein könnte?“
Barbro schüttelte den Kopf.
„Keine gute Sache für Schweden, wenn es seine diplomatischen Gäste nicht beschützen kann.“
„Kluges Mädchen.“
„Wir hatten das Wiener Abkommen in der Ausbildung.“
„Dann weißt du sicher auch, vor welchem Problem wir jetzt stehen. Ihr habt also nicht das Geringste bei der Frau gefunden, was auf ihre Identität oder wenigstens auf ihre Herkunft hinweist?“
„Nicht mal unter den parkenden Autos. Im Laden hat sie bar bezahlt.“
Draußen donnerte es laut. Kurz darauf wurde die Flügeltür aufgerissen.
„Theresa!“, rief Per. „Du musst mir jetzt helfen.“ Er kletterte auf die Ladefläche und zog einen Kasten aus dem Stauregal. „Du nimmst dir diese Kamera und knipst um dein Leben. Am besten gehst du hinauf zur Bibliothek. Von dort oben kannst du alles überblicken.“
Theresa nickte.
Barbro nahm ihr Telefon aus der Tasche und sprach mit der Zentrale. „Schickt mir die Unterlagen ins Büro“, sagte sie und hielt dann die Hand auf die Sprechmuschel. „Per, ich brauche ein Porträt von der Toten.“
„Du musst auf die Pathologie warten“, brummte Per. Er war noch dabei, Theresa ein anderes Objektiv auf die Kamera zu schrauben. „Das Gesicht ist verletzt und blutig.“
„… und einen von den Pathologen in den Retziusvägen“, sagte Barbro wieder ins Telefon. „Ich bekomme mein Team nicht zusammen. Könnt ihr einen Wagen nach Reimersholme zu Kjell Cederström schicken? Wenn dort niemand ist, könnt ihr es in der Drottninggatan 73 versuchen. Antiquariat Florén. Und zudem brauche ich Sofi Johansson aus der Tengdahlsgatan 18. Das liegt bei der Sofiaskolan in Söder. Ihr müsst lange klingeln, vielleicht schläft sie. Wenn sie nicht da ist, soll der Wagen warten.“
Kriminalinspektorin Sofi Johansson musste längst nicht mehr ihre Schritte zählen. Ihr Blick fiel über Karl-Emils Schulter auf die anderen Tanzpaare, die Kapelle und durch die hohen Fenster auf den Mälarfjord, wo sie als einziges Gebäude das beleuchtete Stadthaus am anderen Ufer erkannte. Alle zwei Minuten fuhren U-Bahnen über die Centralbrücke, das konnte sie auch noch sehen.
Bei Karl-Emils Einladung zum Tanz im Mälarsaal hatte sie zunächst gezögert und sich ausgemalt, wie sie unter lauten alten Leuten mit Karl-Emil zu schmierigem Schlager tanzen würde. Dabei war sie doch seit ihrer Jugend ein entschiedenes Calypso-Mädchen, vor allem innerlich. Aber nun tanzte sie schon seit zwei Stunden mit ihrer Mittwochsverabredung zu den Klassikern von Evert Taube. Sie war bei weitem nicht die einzige junge Begleitung, auch wenn die meisten Gäste zur gleichen Zeit zur Schule gegangen waren wie Karl-Emil und seine Freunde Janne und Hennes.
Als das Lied verklang und die Kapelle ihre Instrumente zur Pause ablegten, führte Karl-Emil sie zum Tisch zurück, wo Janne und Hennes dem livrierten Ober dabei zusahen, wie er die zweite Flasche Champagner entkorkte und die flachen, weiten Gläser füllte. Sofi kam sich vor, als hätte Ingmar Bergman eine Kamera auf sie gerichtet.
Karl-Emil erntete von allen Seiten Komplimente und anerkennendes Nicken für seine hübsche Enkelin oder Großnichte. Sofi hätte es verwegener gefunden, wenn man sie für seine unanständig junge Geliebte gehalten hätte, aber irgendwie kam niemand auf diesen Gedanken, obwohl Karl-Emils Haar strohblond und ihres tiefschwarz war.
Sie hatte die drei in der Seejungfrau unten am Hammarbyhafen kennengelernt, wo sie an ihrem freien Mittwochvormittag immer spät frühstückte. Dort saßen die drei Pensionäre am Tisch in der Ecke und blickten beim Pokern mit Wehmut auf die Kräne. Alle drei hatten bei der Stockholmer Hafengesellschaft gearbeitet.
Die drei Männer erhoben sich jetzt und warteten mit den Gläsern in der Hand, während Janne auf seine geöffnete Taschenuhr starrte. Er zählte die letzten zehn Sekunden bis Mitternacht laut mit, klappte bei null die Uhr zu und verstaute sie in seiner Westentasche. Man stieß an, und Sofi bekam Glückwünsche für ihre Beförderung von einer Kriminalinspektorin ohne besondere Befugnisse zu einer Kriminalinspektorin mit besonderen Befugnissen. Wegen der Umorganisation ihrer Abteilung waren alle Mitglieder um einen halben Rang hinaufgerutscht.
Karl-Emil war am ältesten und kannte alle Spukhäuser in der Stadt. So gut wie jedes Haus musste ein Spukhaus sein, wenn Sofi Johansson nach den drei Monaten des Zuhörens Bilanz zog. Janne konnte beschwören, in sechzig Jahren Freundschaft mit Karl-Emil keine einzige Spukgeschichte zweimal gehört zu haben. Anscheinend erinnerte nur sie die Geschichte mit dem Straßenbahnfahrer und dem Raben an Edgar Allen Poe und Alfred Hitchcock. Karl-Emil hatte eine goldene Zukunft bei den Trockendocks auf Beckholmen hinter sich, wo er Jahr für Jahr auf einem der Giraffenkräne sitzend genug Zeit für seine Schauerheftchen gehabt hatte. Jannes Geschichten aus seinem Leben als Schleusenwart am Slussen und später als Hafenmeister von Stockholm endeten stets damit, dass er ins Wasser gefallen war.
„Es ist halb so schlimm“, antwortete Janne auf Sofis Frage, wie er es heil durch diese Wasserhölle geschafft hatte. „Solange man nicht in Panik gerät! Wenn du zu weit hinabgezogen wirst, gibt dich die Tiefenströmung erst hinten bei den Finnlandfähren wieder frei. Treibst du oben, drücken dich die Wirbel am Ende der Schleuse tief hinab. Wenn du Ruhe bewahrst und dich vom Hauptstrom erfassen lässt, trägt er dich durch den Tunnel und gibt dich nach zweihundert Metern frei.“
Soviel Mühe Janne sich auch gab, es gelang ihm nicht, Sofi zum Gruseln zu bringen. Im Wasser geriet sie nie in Panik.
„Im Urlaub auf La Palma bin ich mal auf eine bunte Plastiktüte zugeschwommen“, konterte Sofi. „Sie trieb weit vom Strand entfernt auf dem Wasser. Aber das war gar keine Plastiktüte.“
Karl-Emil, Janne und Hennes beugten sich interessiert vor.
Kjell und Ida beendeten gerade ihr Essen, als Henning zurückkehrte. Beim Betreten des Lokals hatte er sein Telefon am Ohr. Kjell und Ida waren während des heftigen Gewitters eng zusammengerückt. Henning nahm Platz und sprach weiter mit dem unbekannten Anrufer. Die anderen hatten Mühe, den Inhalt des Gesprächs zu verstehen und lauschten gebannt.
„Bis zwei Komma fünf kannst du auf jeden Fall gehen, wenn es sein muss“, sagte Henning und legte auf. Erst jetzt bemerkte er die Neugier der anderen. „Eine aus meinem Volkshochschulkurs.“
„Du gehst zur Volkshochschule?“, fragte Ida.
Hennings Pizza wurde serviert. Er hatte sich Sardellen gewünscht. „Ja, vorne am Sveavägen. Ich bin der einzige Mann in der Gruppe. Ist ganz schön.“
Wenn man es im Lichte seines übrigen Lebens betrachtete, wirkte die Volkshochschule wie ein Senffleck auf einem neuen Anzug.
„Und was lernst du dort?“
„Nichts. Es eine Selbsthilfegruppe für Hemnet-Süchtige.“
Franco blickte ernst und argwöhnisch. „Was ist diese Hämmänäte?“
„Eine Internetseite für Immobilienangebote. Es gibt inzwischen viele, die dort mehrere Stunden am Tag Wohnungsangebote ansehen, ohne abschalten zu können.“
„Und seit wann bist du süchtig?“ Francos Augenbrauen waren immer noch sorgengewölbt, jetzt sogar noch mehr, nachdem er wusste, was für eine idiotische Sucht sich Henning da ausgesucht hatte. Er rückte ein wenig ab, um die Ansteckungsgefahr zu verringern.
„Henning ist nicht süchtig, Franco“, erklärte Kjell und nippte an seinem Chianti. „Er sucht eine Wohnung innerhalb der Zollgrenze.“
Henning nickte und biss in seine Pizza. „Ich habe keine Zeit, selbst zu suchen“, erklärte er kauend. „Und übers Ohr will ich mich auch nicht hauen lassen.“
Idas Mund stand schon offen, Franco hatte die Sache noch nicht ganz kapiert.
Ida stöhnte. „Also, entschuldige mal, du kannst doch nicht …“
Hennings Telefon verhinderte, dass Ida ihre Empörung ganz ausformulieren konnte. Er nahm ab und lauschte eine Weile. „Wunderbar!“, sagte er dann. „Danke, Liza!“ Er legte auf und aß weiter. „Ihr dürft gratulieren! Ich habe eine Wohnung. Zinkensdamm, direkt am Stadion. Nur eins Komma acht!“
„Er tut den Frauen nur einen Gefallen“, erklärte Kjell, und Henning nickte dazu. „Keiner weiß soviel darüber wie sie, und sie lieben …“
Kjell verstummte und deutete zum Fenster. Ein Polizeiauto schlich durch die Straße und blieb vor Idas Geschäft stehen. Jemand stieg aus und drückte sein Gesicht gegen das Schaufenster.
„Henning“, sagte Kjell. „Ist das nicht Barbro?“
Henning hob sein Glas und betrachtete die Person durch die rote Flüssigkeit. „Glaub schon. Sie könnte es sein. Will sie ein Buch kaufen?“
Franco sprang auf, um die Signora hereinzubitten. Die anderen Gäste waren längst gegangen und die Tür abgeschlossen.
Kurz darauf stand Barbro mitten im Lokal und stemmte sie Hände in die Hüften. „Was ist mit euren Telefonen los! Bei Henning ist den ganzen Abend besetzt und du hebst nicht ab.“
„Wo ist eigentlich mein Telefon?“, fragte Kjell seinen Kollegen.
„Du hast es auf der Fahrt in deine Jacke gesteckt.“
Kjell sah sich nach seiner Jacke um. „Liegt die etwa noch im Lkw?“
Henning zuckte mit den Schultern. „Wenn du sie nicht herausgeholt hast …“
Während Henning in allen Büros der Ermittlungsgruppe das Licht einschaltete und sich dann um den Kaffee kümmerte, stellten sich Barbro und Kjell vor die Wandtafel im Besprechungsraum. Barbro heftete eine räumliche Skizze vom Gelände um die Bibliothek und den Observatoriumsberg an die Tafel.
„Per hat Theresa Julander zum Fotografieren auf den Hügel geschickt“, sagte Barbro. „Sie stand da oben neben der Statue, als das Gewitter losbrach.“
„Ist ihr etwas passiert?“, erkundigte sich Kjell.
„Nein nein, sie ist jetzt zum Krankenhaus gefahren, um sich nach dem Zustand des Mädchens zu erkundigen. Lovisa Sjölin heißt sie.“
„Vielleicht sollten wir Theresa für die nächsten Tage anfordern. Sie war von Anfang an am Tatort und kennt die Details.“