Der Name der Dunkelheit - Daniel Scholten - E-Book

Der Name der Dunkelheit E-Book

Daniel Scholten

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Beschreibung

Am Weihnachtsabend entdeckt die Polizei in einem Stockholmer Strandbad die Leiche einer Frau. Sie sitzt umtost von Schneeböen unter einem Sonnenschirm in einem Liegestuhl und blickt aufs Wasser. Kommissar Cederström stößt im Leben von Elin Gustafsson schnell auf lauter gute Gründe für einen Freitod und schließt den Fall. An den Feiertagen warten noch andere und weniger malerische Selbstmorde auf ihn. Doch als bald darauf eine weitere Frauenleiche in einer noch bizarreren Szene gefunden wird, erkennt der Chef der schwedischen Reichsmordkommission, dass er einen schlimmen Fehler begangen hat. Whodunit-Krimi.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Daniel ScholtenDer Name der Dunkelheit

Impressum

Dritte Auflage. Die Originalausgabe erschien 2008 bei Random House unter demselben Titel. Die Bände dieser Reihe können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

2020 Bright Star Books. All rights reserved.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Der Umfang dieses Werks entspricht 410 Standardseiten.

ISBN 9783948287269

Build: 20200630045924

Unique ID: DNDD_9783948287269_20200630045924

Dieses Werk ist auch als Printausgabe unter der ISBN 9783948287276 erhältlich.

Verlag und Hersteller: Bright Star Books in der ASE GmbH, Ingolstadt, [email protected]

Inhalt

Impressum

Inhalt

Karten

1

Montag, 24. Dezember, Weihnachtsabend

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Dienstag, 25. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Mittwoch, 26. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Donnerstag, 27. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Freitag, 28. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Samstag, 29. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Sonntag, 30. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Montag, 31. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Dienstag, 1. Januar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Karten

Karte von Stockholm

Montag, 24. Dezember, Weihnachtsabend

1

Die schmalen Augen von Suunaat Kjærgaard waren für diese blendende Dunkelheit geschaffen. Als die Sonne um halb drei unterging, hatte sie zufällig am Fenster gestanden und bemerkt, wie sich am nördlichen Horizont ein heller Streifen abzeichnete. Für Suunaat Kjærgaard, die an der Westküste Grönlands geboren und von dort zu einer lebenslangen Reise aufgebrochen war, hatte nicht der geringste Zweifel daran bestanden, dass der nahende Schnee wild war.

Sie blinzelte und klopfte sich das glitzerndes Pulver von der Brust. Endlich hatte der Anblick grauer Sträucher ein Ende. Wochenlang hatte die Landschaft vor Kälte gestarrt und auf den Schnee gewartet wie eine leere Bühne auf den ersten Auftritt.

Böen griffen von allen Seiten an und brachten ihren Körper ins Wanken. Der Einbruch des Winters war wie ein Besuch aus der Heimat. Der Wind jaulte in ihrer Muttersprache.

Sie stapfte los. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien, war wegen des Windes jedoch nicht überall gleich tief. Sie kannte das Strandbad vom Sommer und wusste, dass die Badewiese dreißig Schritte weit in sanften Stufen abfiel und kurz vor dem Ufer in Sand überging. Suunaat verlangsamte ihre Schritte. Die Wasserlinie war nur noch ein gefährlich unklarer Schimmer. Sie hörte bereits das Schwappen, sah jedoch die Bäume nicht, die vereinzelt am Wasser standen. Zwei Schritte weiter zeichneten sich die schwarzen Stämme ab. Die Bäume trogen. Ihre krummen Stämme ragten weit über das Wasser hinaus, das dazwischen kleine Buchten ausgespült hatte. Suunaat schlug eine andere Richtung ein und bewegte sich entlang des unsichtbaren Wassers. Der Wind schlug ihr entgegen. Vor jedem Schritt prüfte sie den Untergrund mit der Fußspitze, deshalb bemerkte sie den weißlackierten Mast erst, als sie mit dem Kopf dagegenstieß. Das Signalrot des Rettungsrings war so verblasst, dass die gesamte Vorrichtung im Gestöber unsichtbar wurde. Nebel verhüllte den Fjord. Von Kungsholmen am anderen Ufer erkannte sie nur die drei Hochhäuser von Marieberg. Sie funkelten wie Kristalle.

Suunaat erreichte die Stelle. Zuerst erkannte sie die blauen Streifen des Sonnenschirms. Er widerstand den Böen mit erstaunlichem Starrsinn. Der Saum des Stoffs flatterte im Wind. Obwohl die Stange tief im Boden steckte, drohte der Schirm durch die Last des Schnees zur Seite zu kippen.

Der Liegestuhl darunter war aus massivem Holz und die Lehne aufgestellt. Suunaat musste sich unter den Schirm ducken und hinknien, um das Gesicht der Frau betrachten zu können. Unter dem Schutz des Schirms lag ein so feiner Schleier aus Schnee auf ihren Wangen und der Stirn, dass Suunaat glaubte, einzelne Kristalle erkennen zu können. Obwohl die Lider geschlossen waren, wollte sie der Frau nicht den Blick auf den Fjord versperren und kroch auf den Knien zur Seite. Sie stellte die Tasche in den Schnee und streifte sich ihre Fäustlinge ab. Als erste Maßnahme öffnete sie den Mund der Frau und legte die Spitze ihres Zeigefingers auf die Zungenwurzel, während sie sich die Uhr an ihrem linken Handgelenk nah vor ihre Augen hielt, damit sie die Zeit messen konnte. Sie zog ihren Finger irritiert aus der Mundhöhle der Frau. Sie hatte dort einen Anflug von Wärme erwartet.

Suunaat wechselte von der linken auf die rechte Seite des Stuhls, um den Wind im Rücken zu haben. Die Scheinwerfer des Polizeiwagens oben am Beginn der Wiese waren als diffuser Kreis zu sehen. Eigentlich sollten sie die Stelle markieren und ausleuchten.

Suunaat öffnete ihre Tasche. Der Schnee war trocken und ließ sich mit dem Notizblock vom Körper der Frau wedeln. In dieser Lage konnte sie nur eines tun. Sie griff nach dem Stechthermometer und stieß es der Frau in den Bauch. Sie musste dreißig Sekunden warten, bis es piepste.

Für eine Rechtsmedizinerin war die Weihnachtszeit eine erfüllte Zeit. Da Suunaat völlig vereinsamt lebte, hatte sie den Weihnachtsabend und die Feiertage in der Abgeschiedenheit des rechtsmedizinischen Instituts verbringen wollen. Mit Menschen sprach sie meist erst nach deren Tod. Wenn man bedachte, dass die Stockholmer in jedem Winkel ihres Lebens recht zu haben glaubten, dann sahen sie nach ihrem letzten Atemzug erstaunlich nachdenklich aus.

Während die letzten Sekunden der Messung verstrichen, glaubte Suunaat in der unmittelbar neben ihr beginnenden Ferne ein Harmonium zu hören, aber da es auf Långholmen weit und breit keine bewohnten Häuser gab, schrieb sie den Klang einer Schiffssirene zu.

Sie fror nicht. Der Speck, der sie sonst vor der Kälte des Lebens schützte, schützte sie jetzt vor der Kälte des Winters.

Die Polizistinnen Annika und Britt saßen da und glotzten. Maria 13 parkte mit eingeschalteten Scheinwerfern oberhalb des Strandbads von Långholmen. Die Wischer quietschten über die Scheibe, doch sobald Annika Holmqvist den Hebel auf Intervall stellte, bewältigten sie den Schnee nicht mehr.

Dieser Schneesturm hatte mit nichts Ähnlichkeit, was Annika in den vierunddreißig Jahren ihres Lebens erlebt hatte. Obwohl er erst seit einer Stunde wütete, mitten durch die Bescherungszeit. Wie viele Menschen er nach der Messe wohl in der Kirche gefangen hielt? Der Wind war so heftig, dass sie es längst aufgegeben hatte, die Höhe des gefallenen Schnees zu schätzen, aber bereits auf der Fahrt hierher waren sie kaum vorangekommen. Annika hatte den Wagen nah am Hang geparkt. Die Frage, wie sie später unbeschadet wenden und es bis zur Brücke schaffen sollte, saß als flaues Gefühl in ihrem Bauch.

Britt seufzte auf dem Beifahrersitz und wischte zum achten Mal mit ihrem benutzten Taschentuch über die beschlagene Seitenscheibe. „Alle haben sich weiße Weihnachten gewünscht.“

„Wie in einer antiken Tragödie“, sagte Annika. „Jemand wünscht sich etwas Wunderbares, und wenn er es bekommt, ist es ganz und gar schrecklich.“ Sie zog energisch am Hebel; die Wischer verdoppelten ihre Frequenz, und die Scheibe war für einen Augenblick klar. „Da! Sie kommt zurück.“

Die Eskimofrau trat ins Scheinwerferlicht. Ihr Körper wackelte wie bei einem Pinguin, fiel Annika auf, aber vielleicht war das die beste Art, durch hohen Schnee zu stapfen.

Die Rechtsmedizinerin öffnete die Tür, hievte ihre Tasche auf den Sitz und klopfte sich den Schnee von den Stiefeln.

Annika schaltete das Gebläse ab, damit sie besser sprechen konnten. Doch die sonderbare Frau auf der Rückbank schwieg und machte sich minutenlang Notizen. Es sah aus, als löste sie Rechenaufgaben.

„Ist sie tot?“ Inzwischen waren Annika Zweifel gekommen, ob sie nicht zu voreilig gewesen war. Nach dem Einsatzbefehl waren sie selbst zum Ufer hinabgestiegen. Weil sie in Zentral-Söder Dienst taten und in ihrer Zeit als Streifenpolizistinnen zwölf, an Unterkühlung gestorbene Obdachlose gefunden hatten, hatten sie unten am Ufer nicht lange herumdiskutiert. Nur der Umstand, dass die Tote keine Obdachlose war, irritierte sie.

Die Eskimofrau nickte nur. „Ein Nachbar hat sie gefunden?“, fragte sie schließlich.

„Esbjörn Fors“, las Britt von einem der Zettel ab, die sie nach jeder Meldung ans Armaturenbrett klemmte.

„Wo gibt es hier Nachbarn?“ Die Rechtsmedizinerin sprach in eigenartigem Tonfall.

Hinter dem Wagen lag das alte Gefängnis, in dem heute ein Hotel war, aber sonst gab es weit und breit nur Bäume und vereinzelte Holzhäuser, in denen im Winter niemand lebte.

„Es ist komplizierter“, setzte Britt an. „Er ist Pensionär und wohnt jenseits des Kanals in der Bergsundsgatan. Er kommt dreimal am Tag mit seinem Hund herüber nach Långholmen, wobei er anscheinend immer die ganze Insel umrundet. Der Einsatzzentrale hat er die Sache so beschrieben: Heute Morgen war der Strand menschenleer und von der Frau angeblich nichts zu sehen. Bei seiner Nachmittagsrunde saß die Frau dann da, als er herkam. Nachdem er die Insel umrundet hatte, saß sie immer noch unverändert an derselben Stelle. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen.“

Die Rechtsmedizinerin betrachtete Britt schweigend über den Rückspiegel.

Britt fuhr fort. „Er war in Eile, weil er zur Bescherung bei seiner Schwester in Upplands-Väsby wollte. Unterwegs im Auto fiel ihm dann auf, dass die Gestalt sich überhaupt nicht gerührt hatte zwischen den beiden Malen, wo er sie sah. Und da rief er zur Sicherheit an.“

Allen im Wagen war klar, dass einem Anruf dieser Art am Weihnachtsabend nicht gerade mit der höchsten Priorität nachgegangen wurde.

„Jetzt ist er in Upplands-Väsby“, folgerte die Ärztin.

Annika registrierte eine leichte Verärgerung in der Stimme. Das ließ sich bei ihrem mechanischen Tonfall nicht leicht heraushören. Vielleicht war es auch Sarkasmus. „Er hat um 16 Uhr 04 angerufen“, sagte sie. „Nicht mehr als eine Viertelstunde war vergangen, seit er hier am Strand war. Genauer wissen wir es nicht.“

„Um die Mittagszeit war er auch hier, behauptet er? Wann war das?“

„Das weiß er nicht genau. Die Sonne stand jedoch schon tief hinter den Baumwipfeln, gab er an. Gegen drei vielleicht.“

„Jetzt ist es 17 Uhr 29“, sagte die Ärztin. „Der Temperaturausgleich ist abgeschlossen.“

Annika und Britt drehten sich zugleich zur Rückbank um.

„Sprichst du von der Leiche?“, fragte Britt.

„Ihre Kerntemperatur liegt bei null Grad.“

„Geht das so schnell?“

Suunaat schüttelte den Kopf.

2

Lilly Cederström saß auf dem Sofa und presste den riesigen Telefonhörer an ihr Ohr. Nach dem dreißigsten Tuten wartete sie mit derselben Spannung wie beim ersten darauf, dass sich ihre ältere Schwester Linda in der Ferne meldete.

Kjell nahm seiner Tochter den Hörer aus der Hand und legte auf. „Da müssen wir es wohl morgen noch einmal versuchen“, sagte er und seufzte.

Klein-Lilly seufzte ebenfalls. Sie seufzte immer mit, wenn ihr Vater seufzte.

Das Familienglück der Cederströms würde also an diesem Weihnachtsabend nicht gänzlich vollkommen werden, dachte Kjell und sah denselben Gedanken in den hellblauen Augen seiner Freundin Ida, die stets eine leichte Unsicherheit an den Tag legte, wenn es um ihn und Linda ging, die aus seiner ersten Ehe mit Madeleine stammte. Nach Madeleines Tod hatte er jahrelang allein mit Linda gelebt und war nicht auf die Idee gekommen, dass noch jemand zu seinem Glück fehlen könnte. Bis Ida, die zehn Jahre jünger als er war, in sein Leben trat.

Klein-Lilly war rechtzeitig zur Welt gekommen, bevor Linda endgültig in dieselbe hinausgeschritten war, um die Malerei zu studieren. Es sei gut für eine junge Malerin, während der ersten Hälfte ihres Studiums in Europa herumzuvagabundieren. Das hatte sie behauptet und so entschlossen dreingeblickt, dass ihm nur die Einwilligung geblieben war. Ein halbes Jahr später hatte Ida ihn beim Abtrocknen des Geschirrs ermahnt, seinen Gram endlich abzulegen. Nicht einmal verprellte Geliebte kamen zurück, und erwachsene Töchter schon gar nicht. Zumal er selbst seinem Vater einst erklärt hatte, sein Leben ergebe nur in Paris einen Sinn. Natürlich hatte er nicht Malerei studiert, sondern klassische Literatur an der Sorbonne. Um dann Kriminalkommissar in Stockholm zu werden.

Die vergangenen fünfzehn Monate hatte er jedoch nicht im Büro verbracht, sondern unten am Steg vor dem Haus. Dort hatte es Klein-Lilly in Windeseile zur Meisterschaft im Entenanlocken gebracht, während Ida mehr oder minder freiwillig vier Monate nach Lillys Geburt zu ihrem Antiquariat in der Drottninggatan zurückgekehrt war. Daneben war sie noch an der Universität und der Wissenschaftsakademie angestellt. Doch weil die Gesellschaft unfähig war, sich Idas Charakter anzupassen, war der Kontakt lose. Ida gab das hiesige Fachjournal für Mathematik heraus und verbrachte die meiste Zeit damit, in ihrem Buchladen zu sitzen, eingereichte Beiträge zu begutachten und hitzige Telefonate mit den Autoren der Beiträge zu führen. Inzwischen hatte es sich in der Welt der Mathematik herumgesprochen, dass eine Veröffentlichung im Schwedischen Journal für reine Mathematik einem Nobelpreis im Telefonieren gleichkam.

„Da stimmt etwas nicht“, zischte Kjell in Idas Richtung, damit Lilly nichts mitbekam.

„Bestimmt ist sie bei einer Weihnachtsfeier“, sagte Ida. „Ist doch klar, dass sie heute Abend nicht allein in einem Zimmer im Studentenwohnheim sitzt und glotzt.“

„Da stimmt etwas nicht“, wiederholte Kjell und versuchte, seine Kiefermuskeln zu entspannen. „Sie hätte angerufen.“

Er musste unbedingt etwas unternehmen, aber da Linda in Wien lebte, war er machtlos.

Ida hob die Schultern. Kjell hatte Linda nach dem Tod seiner ersten Frau alleine großgezogen, und Ida hatte sich daran gewöhnt, dass Bande zwischen ihnen bestanden, die nicht abrissen, egal wie alt und erwachsen Linda auch wurde, und die anderen Menschen zuweilen sonderlich vorkamen.

Kjell nahm Lilly in den Arm und deutete zum Fenster, um sie von der Enttäuschung abzulenken, die vielmehr seine war. Er öffnete die Balkontür und trat ins Freie. Der Sturm hatte so plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Nur der Schnee fiel unvermindert weiter. „Sieh mal“, flüsterte er verschwörerisch. „Die ganze Welt ist verschwunden.“

Klein-Lilly hatte in ihrem kurzen Leben noch keinen Schnee gesehen. Der Steg vor dem Haus, ihr zweites Kinderzimmer, war ebenso verschwunden wie die Straße mit den parkenden Autos. Zwei Nachbarn traten gleichzeitig aus dem Haus und winkten einander mit ihren Schneeschaufeln zu. Lilly war noch in einem Alter, wo man schwieg, wenn man keine Erklärung für etwas hatte.

„Morgen können wir runtergehen und im Schnee spielen.“

Lilly erkannte mit einiger Verzögerung, welche Möglichkeiten die Verwandlung der Welt ihrem Tatendrang eröffnete, und lächelte. Gemeinsam betrachteten sie die vorbeischwebenden Flocken, bis das Telefon klingelte.

„Jetzt ruft sie an“, flüsterte Kjell.

Er hörte Ida ins Telefon sprechen. Sie verstummte und erschien hinter ihnen in der Balkontür. „Per Arrelöv ist für dich am Apparat.“

Per? Was wollte er? Ihm frohe Weihnachten wünschen? Kjell fuhr herum und tauschte Lilly gegen das Telefon ein.

„Hoffentlich nichts Dienstliches“, sagte Ida.

Kjell schüttelte den Kopf. Der Kriminaltechniker rief niemals den Kommissar an. Außerdem dauerte Kjells einjähriger Erziehungsurlaub noch acht Tage. „Per? Frohe Weihnachten!“

„Cederström? Gott sei Dank. Frohe Weihnachten.“

Pers Stimme klang weniger schroff als sonst. „Es ist hoffentlich nichts Dienstliches?“, fragte Kjell darum zur Sicherheit.

„Kann man nicht sagen.“ Pers Stimme klang gar nicht freundlicher, sie klang bloß erschöpft. „Du hast doch ein Boot, Cederström, oder?“

„Ein Segelboot.“

„Nein, ein kleines Ruderboot hast du auch.“

„Ein Kajak.“ Kjell beugte sich über die Brüstung, damit er wieder den Steg unten vor dem Haus sehen konnte. Das Kajak schimmerte blassrot in dem Gestell, in dem auch die Boote der Nachbarn eingewintert waren. Im vergangen Sommer war er nur zweimal damit gefahren und erwog deshalb, es gegen ein offenes Kanu einzutauschen. Dann könnten er und Lilly im kommenden Sommer damit Abenteuer erleben.

„Hör mal, Cederström! Wir sind ganz in deiner Nähe. Långholmens Strandbad.“

Kjell hob den Blick. Bei diesem Schneefall verlor sich die Sicht nach dreißig Metern, bei besserer Witterung reichte sie weit über die Nachbarinsel Långholmen hinaus, über den Fjord bis zum Stadthaus.

„Wir haben hier eine Selbstmörderin“, sagte Per.

Kjell war verwundert, dass der Leiter der Kriminaltechnik sich überhaupt an ihn erinnern konnte. Er war immerhin ein ganzes Jahr lang zu Hause geblieben, bis auf wenige Abstecher ins Polizeigebäude, wo er Per nie begegnet war. Und Per Arrelöv war bekannt dafür, eine halbe Stunde nach Feierabend frei von jeder Erinnerung zu sein. „Du solltest lieber jemand aus Kungsholmen anfordern“, sagte Kjell deshalb.

„Sie sitzt in einem Liegestuhl so dämlich vor dem Wasser, dass wir sie nur von hinten fotografieren können.“

Per brauchte also gar nicht ihn, erkannte Kjell. Er brauchte das Boot. „Wir?“

„Ich und meine Leute. Die Speckrobbe war zuerst da.“

„Suunaat? Verdammt, Per, das klingt nach einer Schnapsidee. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das Kajak durch den tiefen Schnee zu euch hinüberschleppe! Sie sitzt in einem Stuhl?“

„Ein Liegestuhl, ja.“

„Könnt ihr den nicht fünf Meter landeinwärts tragen? Sonst bist du auch nicht pingelig.“

„Zu viele Leute von der Schutzpolizei hier. Der Bericht ist auch schon fertig. Wenn die Revision sieht, dass wir bei den Fotos geschlampt haben, und dann das heutige Datum liest, bekomme ich wieder Ärger.“ Das war zum letzten Mal im Sommer der Fall gewesen, als der Revision auffiel, dass die angeblichen Verkehrsstaus, mit denen die Spurentechnik ihre stundenlange Verspätung erklärte, immer genau dann aufgetreten waren, wenn im Fernsehen ein Europameisterschaftsspiel lief. Bedachte man das Abschneiden der schwedischen Mannschaft, hatte sich die Abmahnung nicht gelohnt, fand Per im Nachhinein. „Kannst du nicht zu uns paddeln? Da bist du doch im Nu da.“

Weiße Wolken stiegen aus Kjells Nase. „Woher willst du wissen, dass der Wind nicht wieder aufzieht?“

„Das behauptet jedenfalls die Speckrobbe. Von solchen Sachen hat sie eine Menge Ahnung.“ Per verstummte. Jetzt wartete er auf eine Antwort.

Er war Per ziemlich viele Gefälligkeiten schuldig, erinnerte sich Kjell. Die konnte er jetzt mit einem Schlag zurückzahlen. „Ich schaue, was sich machen lässt“, sagte er und legte auf.

Ida würde ihn auslachen, aber andererseits hatte sie großes Verständnis für jede Form von selbstzerstörerischem Wahnsinn.

„Du bist völlig verrückt“, sagte sie jedoch, während er vor den offenen Türen des Kleiderschranks stand und einen verzweifelten Blick auf seine Winterkleidung warf.

Lilly begann, auf Idas Arm zu zappeln. „Ganz ruhig, Papa geht nur ein bisschen Boot fahren“, flüsterte Ida. „Am besten nimmst du deine Skisachen. Die machen sich jetzt richtig bezahlt! Außerdem brauchst du eine Badehaube. Falls du eine Eskimorolle machen möchtest.“

Zum Glück war es Zeit für Ida, Lilly ins Bett zu bringen. So konnte er sich in Ruhe einkleiden. Eine Viertelstunde später trat er aus dem Haus. Die Nachbarn mit ihren Schneeschaufeln waren wieder im Haus verschwunden, so dass er mit dem langen Paddel nicht wie ein Idiot zurückwinken musste. Seine Hände steckten in dicken Handschuhen, und er hatte einige Mühe, den winzigen Schlüssel nicht fallenzulassen. Den benötigte er für das Vorhängeschloss, mit dem das Boot an den Steg gekettet war.

Zu seinem Erstaunen war es windstill. Als er jedoch auf dem schwimmenden Steg wankte, streifte eine Bö seine Wange und trieb ihm Schneekristalle in die Augen. Kjell erwog noch einmal, das Kajak lieber auf dem Landweg hinüberzutragen, aber über die beiden Brücken war es ein langer Umweg. Selbst wenn er das Boot an einer Schnur hinter sich herzog, würde er nach einer Ewigkeit völlig erschöpft ankommen.

Das Schloss ließ sich leicht öffnen, aber als er an der Kette zog, fiel sie scheppernd auf den Steg. Er fegte den Schnee vom Kajak und hob es aus dem Ständer. Vielleicht lag es an seinem Widerwillen, dass es sich viel schwerer anfühlte als im Sommer.

Im ersten Stock des Hauses wurde ein Fenster aufgerissen. Die alte Jansson steckte ihren Kopf heraus. „Wo willst du denn hin?“, rief sie aufgebracht. Auf sie war immer Verlass.

„Das ist ein freies Land!“, ächzte er und zwängte seine Beine ins Boot. Und jeder darf während eines verschneiten Weihnachtsabends dorthin rudern, wohin es ihm passe, fügte er flüsternd hinzu. Er wollte sich in nichts verwickeln lassen. „Frohe Weihnachten noch!“, rief er und drückte sich ab.

Das Boot glitt ins schwarze Wasser. Unter den Blicken der alten Jansson trieb er einige Sekunden lang bewegungslos dahin. Noch immer plagte ihn die Sorge, dass das Boot ein Leck haben könnte. Nach dem zweiten Paddelschlag kam er sich lächerlich vor und warf einen Blick zurück zum Haus. Im sechsten Stock hatte es sich Ida am offenen Küchenfenster bequem gemacht. Sie winkte, als sie entdeckte, dass er zu ihr hochsah.

Er legte sich in die Riemen und kam schnell voran. Seine Befürchtung, er würde binnen einer Minute zu frieren beginnen, bestätigte sich nicht. Nachdem er in die Dunkelheit des Kanals zwischen Reimersholme und Långholmen eingetaucht war, verringerte er seine Geschwindigkeit. Der Schnee schwebte in winzigen Kristallen vom Himmel. Zwischen den Paddelschlägen hörte er sie auf der Oberfläche des Wassers knistern.

Die längliche kleine Insel Långholmen lag nördlich der kugelrunden kleinen Insel Reimersholme, und der Kanal dazwischen maß nur zehn Meter in der Breite. Per befand sich jedoch am entgegengesetzten Nordufer, in zweihundert Metern Entfernung von Kjells Haus. An diese zweihundert Meter Luftlinie hatte Per wohl gedacht, als er seinen wahnsinnigen Plan ersann. Auf dem Wasserweg musste Kjell allerdings zuerst das halbe Südufer entlangrudern, die Westspitze umrunden und dann dieselbe Strecke am Nordufer zurücklegen. Dadurch verlängerte sich die Entfernung um das Fünffache.

An der Westspitze schlug ihm steifer Wind vom Fjord entgegen, der sich nach der Wende allerdings als hilfreich erwies. Auf der Westbrücke, die den Fjord in riesigem Bogen überspannte, war der Verkehr bis auf zwei Schneepflüge, die mit gelben Scheinwerfern von den beiden Enden der Brücke aufeinander zusteuerten, zum Erliegen gekommen.

Endlich lichteten sich die Bäume. Das Ufer öffnete sich zu einer Bucht. Der Sandstrand war nicht einmal fünfzig Meter breit und lag in der Nacht sonst verlassen und unbeleuchtet da. Nun waren die Bäume geisterhaft beschienen. Kjell hatte die mobilen Strahler erwartet, mit denen die Kriminaltechniker einen Tatort gewöhnlich wie ein Stadion ausleuchteten. Hier mussten sie sich wegen der Witterung mit weniger zufriedengeben. Oberhalb der Wiese parkten drei Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern, und unten standen Techniker um die Stelle und hielten wie kleine, zitternde Freiheitsstatuen Handlampen in die Höhe.

Niemand am Ufer entdeckte das rote Kajak. Das Geschehen am Strand war so unwirklich, dass Kjell das Rudern vergaß und lautlos dahintrieb.

Der Sonnenschirm stand gleich bei dem schräg wachsenden Baum, an dem Kjell im Sommer manchmal seine Badehose zum Trocknen aufhängte. Darunter saß eine Frau in einem Liegestuhl. Aus der Ferne sah es aus, als blickte sie genau zu ihm. Der Wind hatte einen Wall aus Schnee um den Liegestuhl geweht. Die Stelle sah noch unangetastet aus, aber im nahen Umkreis kämpften die Techniker mit Schaufeln gegen das Wetter. Während einer den Schnee weghob, suchte ein anderer den Boden mit einer Taschenlampe nach Gegenständen ab.

Ein solches Durcheinander hatte Kjell bisher nur in seinem Kellerabteil und nach einem Flugzeugabsturz gesehen. Mitten in dieser weiträumigen Szene leuchtete Pers rote Nase. Offenbar hatte sich Kjell soeben aus der Dunkelheit gelöst, denn Per trat winkend ans Ufer. „Es tut mir leid, aber du siehst ja selbst, wie es hier aussieht!“

Entschuldigungen waren eine seltene Geste an ihm, die nicht durch Schuldgefühle ausgelöst wurden, sondern immer dann auftraten, wenn ihn die Lage aufrieb. Er beugte sich über das Wasser und zog das Boot an Land. „Ture hat es mit den langen Gummistiefeln versucht“, sagte er und öffnete die Fototasche. „Aber der Grund ist so glatt, dass Ture sich nach zwei Schritten reingelegt hat.“ Das war der Moment gewesen, wo Per an Kjell Cederström gedacht hatte. „Jetzt sitzt er nackt im Transit und lässt sich vom Gebläse aufwärmen.“

„Was ist mit der Frau?“, fragte Kjell.

„Hat sich hier ein schönes Plätzchen gesucht, zum Sterben.“ Per schniefte, so laut es ging. Das war selbst bei besserem Wetter seine höchste Form der Anteilnahme. „Sieht jedenfalls so aus. Suunaat sitzt auch im Transit und macht einen Schnelltest des Blutes.“

„Wo ist die Mordkommission?“, fragte Kjell. Außer zwei Streifenpolizistinnen waren niemand von der Polizei zu sehen.

„Sie haben uns soeben mitgeteilt, dass sie es nicht schaffen werden. Angeblich ist in der Stadt die Hölle los. Slussen und die Brücke sind ohnehin gesperrt.“ Per hängte den Fotoapparat mit der Umhängeschnur an die Schneeschaufel und reichte sie über das Wasser zu Kjell. „Du weißt ja, welche Bilder wir brauchen.“

Kjell hängte sich den schweren Apparat um den Hals. Per stieß mit dem Fuß gegen die Spitze des Kajaks. Nachdem Kjell wieder einige Meter aufs Wasser hinausgetrieben war, begann er zu fotografieren. Der Dreifachblitz zerstörte das seltsame Idyll am Ufer.

„Wir sind soweit, Chef!“, rief Lasse nach einer Weile. Der schlaksige Kerl war seit Jahren Pers linke Hand und würde es auch immer bleiben. Obwohl die Männer vermummt waren, konnte Kjell jeden an seinen Bewegungen identifizieren.

Die Leute von der Tatorttechnik versammelten sich um die Tote und verharrten. Vor dem Anheben der Leiche sprachen sie gemeinsam ein kurzes Gebet. Das taten sie immer, und außer den Todesermittlern wusste nicht einmal der liebe Gott davon.

„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, hörte Kjell Pers Stimme dumpf durch das Knistern der Schneeflocken hindurch. „Am Ende aller Tage wird er mich auferwecken von der Erde.“

Die Männer deuteten ein Nicken an. Dann griffen Per und Lasse unter die Schultern der Frau. Janne packte die Füße. Sie hoben den Körper aus dem Liegestuhl und betteten ihn auf die Bahre. Lasse rutschte aus und schlitterte ein Stück auf dem Bauch die schräge Wiese hinab. Ein jämmerliches Schauspiel, für das der große Dramaturg im Himmel stets den linkischen Lasse auserkor. Kjell hörte ihn fluchen, während er zurück zur Bahre krabbelte.

Kjell kratzte sich an der Schläfe. Seine Mütze juckte unentwegt. Er hatte erwartet, dass der tote Körper in seiner Sitzposition starrgefroren war, aber augenfällig war das nicht der Fall. Als die Männer die Bahre anhoben, lag die Leiche langgestreckt darauf.

Der Liegestuhl war jetzt leer. Die Frau hatte noch sehr jung ausgesehen. Als Chef der Reichsmordkommission, der obersten Instanz der schwedischen Todesermittler, hatte Kjell nie mit Selbstmördern zu tun, deswegen wunderte er sich, dass sie einen Liegestuhl aus massivem Holz hierhergeschleppt hatte. Und dazu noch der Sonnenschirm. Er erweckte den Eindruck, als hätte sich die Frau über sich selbst lustig machen wollen. Kjell machte weitere Bilder, während die Männer oben am Hang vor den offenen Flügeltüren des Transits standen. Sie beabsichtigten, den Leichnam damit zur Rechtsmedizin zu bringen, was streng verboten war.

Plötzlich tauchte Ida neben dem Wagen auf. Sie beobachtete das Treiben im Fond und wirkte mit ihrem hellen Haar wie eine Schneekönigin. Auch Per bemerkte sie sogleich.

„Und was ist mit Lilly?“, rief Kjell von seinem Platz im Boot aus, als alle wieder unten beim Schirm standen und Ida den Kaffee ausschenkte, den sie mitgebracht hatte.

„Sie ist eingeschlafen.“

„Und wenn sie aufwacht?“

Ida streckte den Arm in die Höhe. In ihrer Hand erkannte Kjell das rosafarbene Babyphon. „Lilly wacht nie auf, das weiß du.“ Sie trat vorsichtig ans Ufer. „Jetzt passieren die Morde schon vor unserer Haustür, damit du deinen Erziehungsurlaub nicht so lange unterbrechen musst.“

„Es war Selbstmord, Ida. Das siehst du doch!“

„Frierst du?“

Das tat er, aber die Antwort wurde von Suunaat Kjærgaard durchkreuzt. Sie kam den Hang herabgestapft und postierte sich neben Ida am Ufer. „Alkohol und Benzodiazepin.“

„Also ein klassischer schwedischer Selbstmord“, murmelte Per, der gerade im Liegestuhl probesaß.

„Was ist daran klassisch?“, fragte Ida.

Per sah erstaunt auf. „Rohypnol und ein malerisches Ambiente. So sind sie alle, unsere Selbstmorde.“

„Siebzig Prozent“, sagte Suunaat in ihrem etwas roboterhaften Tonfall, womit sie andeuten wollte, dass die anderen dreißig Prozent der Selbstmörder beim Sterben auf Behaglichkeit verzichteten. „Ich schicke dir den Bericht ins Büro.“

Weil das Boot vor dem Ufer zu sehr schaukelte, hatte sich Kjell zurück aufs Wasser treiben lassen. „Ich leiste hier nur Nachbarschaftshilfe. Beruflich habe ich nichts mit der Sache zu tun.“

Ida hob beipflichtend den Daumen. Morgen früh stand ein Besuch bei Idas Eltern in Uppsala an.

„Kannst du uns wenigstens den Bericht abzeichnen?“, wollte Per wissen. „Die Lokale steckt irgendwo in Norrmalm. Wir sind auf Platz sieben in der Warteliste. So lange will ich nicht …“

Ida kreischte. „Kjell! Pass auf! Hinter dir!“

Er riss den Kopf herum. Zwei Meter hinter ihm quollen weiße Blasen aus der Schwärze des Wassers an die Oberfläche. Was war das? Die Blasen wuchsen zu einer Fontäne von einem halben Meter Höhe, die jedoch bald erstarb. Kjell starrte reglos auf die Stelle. Dann begann das Kajak zu schaukeln. Ida kreischte wieder, und auch die anderen standen am Ufer und blickten entsetzt herüber. Das Schaukeln wurde heftiger und fühlte sich wie die Bugwellen einer vorbeifahrenden Fähre an. Aber hier gab es keine Fähren.

Er sah sich um. Die Wellen waren konzentrisch. Und Kjell Cederström befand sich im Zentrum. Er stieß das Paddel ins Wasser und zog es durch. Hinter ihm toste es. Etwas Großes und Schwarzes stieg an die Wasseroberfläche. Und schwamm. Kjell starrte auf das riesige schwarze Ding, das einen Meter neben ihm im Wasser trieb. Das war eine Kugel. Er sah die Hälfte einer schwarzen Kugel. Sie war riesig.

„Was ist das?“, rief jemand am Strand.

Kjell achtete nicht auf die Frage. Er paddelte wild zum Ufer. Kurz davor riss er das Boot herum und fixierte den Punkt mit den Augen. Aus dieser Entfernung hob sich die Kugel kaum vom schwarzen Wasser ab.

„Es sieht wie eine Boje aus“, hörte er Suunaats tiefe Stimme sagen.

„Was soll denn das für eine Boje sein?“, erwiderte Per. „Sie ist aus dem Wasser aufgetaucht. Verdammte Scheiße!“

Das konnte man wirklich sagen. Wenn Ida nicht gekreischt hätte, wäre die Boje unter dem Kajak hochgekommen. Kjell schlug das Herz bis zum Hals.

„Sollen wir dir aus dem Wasser helfen?“, fragte Ida.

Kjell schüttelte mechanisch den Kopf.

„Willst du hin und es dir anschauen?“

Kjell schüttelte immer noch den Kopf. Da würde er nie und nimmer hinrudern. Er würde überhaupt nie mehr rudern.

Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas tat oder sagte. Aus der Ferne näherte sich ein Boot. Es schien aus Kungsholmen am anderen Ufer zu kommen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit.

Niemand sagte etwas, bis das Boot sich auf dreißig Meter genähert hatte. Kjell ließ sich mit zwei Paddelstrichen hinaus aufs Wasser treiben. Zwei Scheinwerfer erstrahlten und suchten das Wasser ab. Kjell hielt sich die Hand als Blendschutz vor die Augen, als beide Scheinwerfer auf ihm stehenbleiben.

„Wer bist du denn?“, rief eine Megaphonstimme.

„Polizei!“ brüllte Kjell.

Die Antwort war ein mehrstimmiges Kichern. Weitere Lichter wurden eingeschaltet und erhellten das Boot, das von beachtlicher Größe war. Der Schiffsmotor verstummte. Dafür gab ein Krangewinde am Heck quietschende Geräusche von sich.

Kjell erwiderte die Frage und ruderte zum Schiff.

„Wir sind vom Wetteramt“, sagte ein Mann, der sich über die Reling zu Kjell herabbeugte und sehr verwundert aussah. Wir bergen das Auge.“

„Was für ein Auge denn?“

„Na, das da.“

„Die Kugel? Ist das eine Boje?“

„Ja.“

„Ich habe sie für eine Miene gehalten!“ In Wahrheit hatte er sie für ein Seeungeheuer gehalten. „Wieso ist die Boje ein Auge?“

„Sie heißt Odins Auge.“

„Und warum müsst ihr sie ausgerechnet jetzt bergen? In der Weihnachtsnacht? Hier an dieser Stelle, wo ich rudere?“

„Wir fragen uns eher, warum du in der Weihnachtsnacht hier ruderst“, erwiderte der Mann, erhielt jedoch keine Antwort. „Sie ist kaputtgegangen. Irgendetwas hat sie getroffen und außer Gefecht gesetzt. Ich dachte gerade, du hast dich daran zu schaffen gemacht. Weil du hier treibst. In einem Kajak. In der Weihnachtsnacht.“

„Ich hab mir fast in die Hose gemacht!“

Ida und die Techniker tigerten unruhig am Ufer auf und ab. Sie konnten das Gespräch dort drüben nicht verstehen.

„Es gibt sie überall im Fjord. Von der Schleuse stromaufwärts bis zum Fyrisån. Alle hundert Meter. Sie werden dicht über dem Grund an drei Seilen befestigt und messen allerlei Dinge. Wegen der Klimaerwärmung, weißt du. Der Pegel wird in den nächsten zwanzig Jahren dramatisch steigen. Reimersholme und das Stadthaus, das wird alles unter Wasser stehen.“

„Verdammt, da wohne ich!“

„Im Stadthaus?“

„Auf Reimersholme, du Witzbold! Zum Glück im sechsten Stock.“

„Der sechste Stock ist nicht betroffen.“

Die alte Jansson im Ersten würde es sich in Zukunft dreimal überlegen, ob sie ihr Küchenfenster aufriss. Die Klimaerwärmung hatte also auch ihr Gutes. „Was ist das denn für ein dämlicher Name? Odins Auge!“

„Die Bojen heißen alle Odins Auge, obwohl Odin nur eines seiner beiden Augen am Brunnen der Erkenntnis geopfert hat, um durch einen Schluck daraus Allwissen über die Zukunft zu erlangen. Danach ist das Projekt benannt. Das hier ist Nummer 213.“

„Und warum ist sie kaputt?“

„Wissen wir nicht. Etwas muss sie getroffen haben. Ein Ventil wurde abgerissen. Kann das etwas mit eurem Picknick da drüben zu tun haben?“

„Bestimmt nicht. Wir haben eine Selbstmörderin gefunden.“

3

„Du hättest früher kommen sollen.“

Damit meinte die Tanzlehrerin Anna Issaro nicht etwa Minuten, Stunden oder gar Tage. Sie meinte Jahre und eigentlich das ganze Leben.

Sofi Johansson vermutete, dass das Kompliment weniger ihrem Talent galt, und schwieg deshalb. Welche Rolle spielte schon Talent, wenn man das Tanzen erst mit siebenundzwanzig Jahren in der Singlefrauengruppe begann. Als Kriminalinspektorin bei der Reichsmordkommission saß sie den lieben langen Tag am Schreibtisch. Sie hatte bloß etwas Würdevolleres als einen Fitnessclub zur Ertüchtigung gesucht und übte außerhalb der Stunden nur, wenn sie zufällig Lust darauf bekam. Aber im Sommer konnte es vorkommen, dass sie auf dem Heimweg unter einer Laterne herumhüpfte.

Wenn Anna ihre Schüler lobte, klang das an guten Tagen wie Mitleid, an schlechten wie Hohn. Nur Sofi wurde nie gelobt. Während der Stunde zischte Anna manchmal Sofis Namen, worauf sich Sofi drüben am anderen Ende der Stange augenblicklich zusammenriß, obwohl sie Ende zwanzig, Kriminalinspektorin und in Besitz zweier Schußwaffen. In der vergangenen Woche hatte sich Anna sogar innerhalb einer einzigen Stunde viermal wegen Sofis Attitude bekreuzigen müssen. Keine andere Frau aus der Singlefrauengruppe vermochte bei Anna Issaro religiöse Gefühle zu wecken. Anna spürte anscheinend, dass das Ballett mittlerweile einen zweiten Sinn in Sofis Leben ergab. Sie tanzte als Einzige von den Schülern mit selbstzerstörerischem Eifer. Das war es, was Anna Issaro, die für andere Lebenswege als selbstzerstörerischen Eifer kein Verständnis hatte, so gefiel. Und an Ehrgeiz fehlte es Sofi gewiss nicht: Erst im April hatte sie sich beim Auswringen des Spülschwamms den kleinen Finger gebrochen.

Sofi brauchte wie immer am längsten im Umkleideraum, und Anna Issaro hatte es sich angewöhnt, hereinzukommen und sich schicklich ans Fenster zu stellen und mit ihr zu plaudern.

Sie hob sich elegant auf die Zehenspitzen, um über den Sichtschutz hinwegblicken zu können. „Feierst du mit deiner Familie?“

„Ja“, log Sofi. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und ihre Mutter war vor Jahren in einer Nervenklinik an einem Hirnschlag gestorben. Danach hatte Anna bestimmt nicht fragen wollen. „Und du?“

Anna seufzte. Sie stand so nah am Fenster, dass das Glas von ihrem Atem beschlug. „Ich bin katholisch. Da gibt es hier nicht viel zu feiern.“

Das sah man schon daran, dass Anna die Montagsübungsstunde nicht ausfallen ließ, nur weil sie zufällig auf den Weihnachtsabend fiel. Und von den vierzehn Frauen war sogar die Hälfte gekommen. Sie standen jetzt draußen am Schuhregal und verhandelten darüber, was sie noch zusammen anstellen sollten.

Anna musste um die fünfzig sein, überlegte Sofi. Sonst wusste sie so gut wie nichts über sie. Irgendwann war sie aus Spanien nach Stockholm gekommen, und alles, was sie sagte, war eine Kette aus Imperativen. Ihr Schwedisch klang wie ein auf dem Kopf stehendes Ausrufezeichen. Mehr wollte Sofi gar nicht erfahren, so sehr liebte sie Unklarheiten.

„Ich bin ebenfalls katholisch“, sagte sie und zog dabei den Reißverschluss ihre Jacke zu.

Anna fuhr herum und musterte sie. Sofis schwarzes Haar und ihre ebenso schwarzen Augen genügten als vorläufiger Beweis. Sie stellte keine Folgefrage. Was ihre Schüler außerhalb der Tanzschule machten, kümmerte Anna nicht. Solange sie hier tanzten, gab es kein Draußen.

Der Katholizismus war wie ein geerbtes Schmuckstück für Sofi, etwas das zu nichts zu gebrauchen war und das man nie herzeigte und nur selten aus der Schatulle holte, weil man ja wusste, dass man es besaß. Darüber hinaus wusste sie so gut wie nichts über ihre Religion, da sie Zeit ihres Lebens in ihrer Welt die einzige Katholikin gewesen war. Einzig ihr Vater hätte ihr etwas darüber erzählen können, doch den hatte ihre Mutter nach einer leidenschaftlichen Nacht irgendwo südlich des 44. Breitengrades nie mehr wiedergesehen. Die einzige katholische Kirche Stockholms lag in Sofis Stadtteil, doch sie zog es vor, von Zeit zu Zeit in der Sofiakirche nahe ihrem Haus zu sitzen und nachzudenken, während sie die protestantischen Frauen aus der Nachbarschaft bei ihren Qigong-Übungen betrachtete, zu denen sie sich täglich zwischen den Kirchenbänken trafen.

Die anderen waren längst aufgebrochen, als sie ins Treppenhaus trat. Sie wollte den Weihnachtsabend nicht mit sieben verzweifelten Frauen verbringen. Mitten auf der knarrenden Treppe erlosch das Licht. Sie tastete sich voran. Als sie die Tür öffnete, quoll kniehoher Schnee in den Flur. Dicke Flocken schwebten in der Luft. Aus allen Richtungen hörte man Schneeschaufeln über den Asphalt kratzen. Sofi brummte vor Erstaunen. Auf der Fahrt hierher war alles karg und grau gewesen. Schnee war zwar angekündigt worden, aber niemand hatte damit gerechnet, dass er noch zu den Feiertagen eintraf.

Am Gehweg hatten die Räumfahrzeuge den Schnee so hoch angehäuft, dass der Wall Sofi bis zu den Schultern reichte und man wie im ersten Weltkrieg durch geschaufelte Gräben bis zur Ampel und noch weiter laufen konnte, ohne entdeckt zu werden. Sie hatte das Gefühl, eine ganze Woche verpasst zu haben.

Abseits der Kreuzung waren die Straßen und Wege noch ungeräumt, und überall herrschte Anarchie. Der Zusammenbruch der Zivilisation war das Schönste am Schnee. Man musste sehr weit in den Süden Europas reisen, um eine Stadt zu finden, die bei einem Wintereinbruch in eine vergleichbare Panik verfiel wie Stockholm. Sofi sog den Kristallduft in die Nase und lief los.

Nicht nur sie war auf der Suche nach ihrem Auto. Auf der anderen Seite der Straße versuchte ein Mann im Mantel einen Schneehaufen nach dem anderen und fuchtelte dabei mit seinem elektronischen Türöffner in der Luft herum, ohne dass sich sein Wagen zu erkennen gab. Bei Sofis altem Fiat Mirafiori hätte der Schnee einen Meter hoch auf der Motorhaube liegen müssen, damit die altmodisch lange Antenne darunter verschwand. Der Eiskratzer war in dieser Lage natürlich ein Witz, deshalb behalf sie sich mit der Fußmatte, um das Auto freizuschaufeln.

„Spring an, Mimi!“, flehte sie und drehte den Schlüssel mit unklaren Erwartungen im Zündschloss. Der verrostete Mirafiori war als Sollbruchstelle in ihrer raffinierten Schicksalshygiene fest einkalkuliert. Ein präpariertes Ziel für den lieben Gott. Doch der Wagen sprang jedesmal an, als wollte sich der liebe Gott über ihren erbärmlichen Versuch lustig machen und sie zappeln lassen. Schon vor langer Zeit hatte Sofi beschlossen, sich ein richtiges Auto zuzulegen und damit in die Zukunft zu fahren, sobald beim Fiat die nächste Reparatur anfiel. Seit dieser Entscheidung lief der Wagen ohne Murren.

Sie wohnte nur drei Straßen von der Tanzschule entfernt. Als sie nach der schlüpfrigen Fahrt in die Tengdahlsgatan einbog, begann sie nach einem Parkplatz Ausschau zu halten und bemerkte daher zu spät, wie am anderen Ende der Straße Scheinwerfer auftauchten. Sie trat mechanisch auf die Bremse. Das Bremsen half auf der abschüssigen und gebogenen Straße nicht, sondern verschlimmerte alles. Auch der entgegenkommende Wagen bremste, so gut es ging, und geriet ebenfalls ins Schlingern. Fünfzig Meter, dreißig Meter, zehn Meter. Von allen Sicherheitsvorrichtungen, die die Autoindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfunden hatte, besaß der Mirafiori keine einzige. Sofi streckte ihre Arme aus, zog die Füße zu sich und drückte den Kopf gegen die Lehne. Der Aufprall blieb aus. Sie öffnete ihre Augen. Der andere Wagen stand so dicht vor ihr, dass seine Scheinwerfer unter ihrer Kühlerhaube verschwanden. Aus dem Fenster der Beifahrertür ragte ein geschnürter Weihnachtsbaum.

Der Fahrer öffnete die Tür. Auch Sofi stieg aus. Dem Mann sah man an, dass der Beinaheunfall eine den ganzen Tag dauernde Gehetztheit von ihm genommen hatte. Jetzt war alles egal. Sie riskierten einen Blick zwischen die Stoßstangen. Da passte kein Finger mehr dazwischen.

„Heute ist nicht mein Tag!“, brummte der Mann und sah auf.

„Meiner auch nicht!“

„Frohe Weihnachten!“

„Dir auch!“

Als Sofi den Motor wieder anließ, hatte der andere schon zurückgesetzt und wendete in der Einfahrt. Sofi musste weit vom Haus entfernt parken. An der Wohnungstür waren ihre Finger vor Kälte so steif, dass sie den Schlüssel nicht ins Schloss bekam. Hinter ihrem Rücken wurde die Nachbartür aufgerissen.

„Ich hab gedacht, dass du zu Hause bist“, rief Eufrat. „Weil alle Lichter in deiner Wohnung brennen.“

„Das muss an Weihnachten so sein, damit es im kommenden Jahr keine Todesfälle gibt.“

„Seid ihr abergläubisch bei der Polizei?“, kicherte Eufrat. Sie war zwölf und dünn wie eine gut gewickelte Webspindel. Ihre Mutter war Busfahrerin und hatte heute Abend offenkundig keinen Dienst, denn aus der Küche schwebte ein orientalischer Duft ins Treppenhaus.

„Das ist eine alte schwedische Sitte.“

Die Mutter kam aus der Küche und winkte mit ihrem Pfannenheber. Sofi hatte die Mutter noch nie ohne den Pfannenheber gesehen.

„Arbeitest du nicht?“, fragte Sofi. „Bei uns müssen die Moslems an Weihnachten immer dran glauben.“

„Wir sind syrische Christen“, erklärte Eufrat und schüttelte den Kopf. „Deswegen sind wir ja hier und nicht in Syrien!“

„Dann frohe Weihnachten.“

„Ich habe dir deine Weihnachtskarte durch den Briefschlitz geworfen.“ Die Mutter fand, dass Eufrat den Erlöser an seinem Geburtstag nicht beleidigen sollte, indem sie wie ein Flittchen im Treppenhaus herumlungerte, und trieb sie mit dem Pfannenheber in die Wohnung zurück.

Sofi schloss ihre Tür und bückte sich nach dem Kuvert. Aber da lagen gleich zwei. Sie legte die Weihnachtspost auf den Tisch und ging in die Küche. Sie hatte sich Hering vorbereitet. Der wartete in Silberfolie verpackt auf dem Backblech, und Sofi musste nur noch den Ofen einschalten und ein bisschen warten. Die Hälfte dessen, was von der Reisgrütze am Mittag übrig war, stellte sie wie in ihrer Jugend auf den Balkon, um den Weihnachtsmann bei Laune zu halten. Aus der anderen Hälfte wurde Reis à la Malta für den Nachtisch. Mit einem Glas Punsch nahm sie am Tisch Platz.

Das rote Kuvert entpuppte sich als Eufrats Weihnachtskarte. Das Nachbarmädchen hatte Sofi eine feste Rolle in ihrem Leben zugewiesen, als Ersatz für eine ältere Schwester.

Das zweite Kuvert enthielt eine Zeichnung. Bei näherer Betrachtung konnte Sofi daran nichts Weihnachtliches entdecken. Es war ein Porträt von ihr. Kein Porträt, ihr ganzer Körper war darauf zu sehen, laufend, mit wehendem Rock und wehendem Haar. Aber es stellte ohne Zweifel sie dar. Sofi drehte und wendete den Umschlag. Nirgendwo ließ sich erkennen, von dem die Zeichnung stammte. Eine Briefmarke gab es nicht.

Sofi klingelte bei Eufrat. Die Mutter öffnete und rief dann Sofis Frage in einer Sprache in den Flur, die Sofi bis heute für Persisch gehalten hatte.

Eufrat kam angerannt. „Bist du dumm, oder was? Das rote!“

Sofi kehrte in ihre Wohnung zurück.

Das Bild war mit Tusche gezeichnet und sehr hübsch. Sofi dachte für eine Sekunde an Linda Cederström, die Tochter ihres Chefs. Linda war eine eifrige und talentierte Malerin, aber sie wohnte jetzt weit entfernt in Wien und zeichnete auch ganz anders. Sonst kannte Sofi keinen Menschen, der so zeichnen konnte.

Dienstag, 25. Dezember

1

Inspektorin Snæfríður Jómundardóttir zeichnete mit der Fußspitze unsichtbare Buchstaben auf den Boden. Seit zwanzig Minuten saß sie schon auf den Stufen des Treppenhauses und wartete. Es war erst neun Uhr. Außerdem roch es nach Staub. Als die schwache Deckenlampe zum zwanzigsten Mal erlosch, stand sie auf. Inzwischen fand sie den Schalter auf Anhieb. Sie setzte sich wieder und seufzte. An Hausbesuche war sie noch nicht gewöhnt.

Snæfríður stammte aus Island und hatte bei der Wirtschaftskriminalität gearbeitet, bis sich diese Kombination im vorletzten Herbst mit einem Schlag als äußerst aufreibend herausgestellte. Ihre Landsleute hatten jahrelang in Zentralskandinavien gehaust wie Wikinger. Kaufhausketten, Zeitungsimperien und Werften hatten sie in Dänemark und Schweden gekauft und alles mit sich in den Abgrund gerissen. Vom ersten Tag der Finanzkrise an hatte sich Snæfríðurs Berufsleben dramatisch verändert. Heiß begehrt von allen Behörden, hatte sie zunächst geglaubt, es ginge mit ihrer Karriere nach oben, bis sie begriff, dass es in Wahrheit nach unten ging. Als sie im Frühjahr eine Fremdsprachenkorrespondentin des Wirtschaftsministeriums zu werden drohte, hatte sie sich bei Cederström beworben. Der hatte sie zwar bei der Reichsmordkommission aufgenommen, jedoch umgehend zu einer mehrmonatigen Ausbildung in Verhörtechnik nach Amerika geschickt. Von dort war sie erst vor kurzem heimgekehrt und in ihrer neuen Abteilung daher eine blutige Anfängerin, die bei jedem Schritt zögerte.

Endlich öffnete unten im Erdgeschoss jemand die Tür. Snæfríður hörte Schritte im Korridor. Gummisohlen quietschten auf dem alten und glattgelaufenen Steinboden. Als nach fünf Schritten ein Stöhnen bis hinauf zu ihr in die vierte Etage drang, war sie sich sicher, dass es ihr Kollege Henning Larsson war. Er hatte soeben entdeckt, dass es keinen Aufzug gab.

Sie lächelte vor sich hin und blieb sitzen. Die Schritte und das Ächzen kamen immer näher.

„Heute ist nicht mein Tag!“, stöhnte Henning Larsson auf den letzten Stufen. „Das kann ich jetzt schon sagen, obwohl ich noch nicht lange auf den Beinen bin.“ Er sank mit seinem massiven Körper neben ihr auf den Treppenabsatz und keuchte. „Ist es diese Tür da?“

Snæfríður nickte und zauberte den Schlüssel hervor.

„Erst trinken wir unseren Kaffee.“ Er hatte zwei Becher dabei, die er vorne an der Ecke gekauft haben musste. Sonst hatte heute alles geschlossen. „Ganz schön heruntergekommen hier.“

Das stimmte. Ein gräulich glänzender Schleier lag in allen Winkeln.

„Wartest du schon lange?“

„Eine Viertelstunde vielleicht. Es war ein wenig unheimlich, weil es so still ist.“

„Das ist an Werktagen anders. Da wackeln hier die Wände, wenn draußen die Lastwagen vorbeirasen.“

Das Haus stand am schmutzigen Ende der Långholmsgatan kurz vor der Brücke. Wegen des starken Verkehrs war die rote Farbe der Fassade von Ruß bedeckt.

„Für mein letztes Stündchen hätte ich mir auch ein hübscheres Plätzchen gesucht“, fand Henning irgendwann.

Snæfríður hatte genau dasselbe gedacht. Henning konnte in den Gedanken anderer Menschen lesen wie im Sportteil des Abendblatts. Er war fünfzig und von so enormer Statur, dass Snæfríður ihn bei ihrer ersten Begegnung darauf angesprochen hatte. Er habe sich vor einem Vierteljahrhundert in den Polizeidienst gezwängt wie eine Dogge in einen Kaninchenbau. Und wenn man einmal drinsteckte, bekam einen niemand mehr heraus.

Henning war dreiundfünfzig. Ohne jeden Ehrgeiz und ohne jedes Zutun, wie er immerfort betonte, hatte er es von der Södermalmer Maria-Wache bis zum stellvertretenden Kommissar der Reichsmordkommission geschafft. Soweit Snæfríður es bis jetzt beurteilen konnte, bestand seine Ermittlungsmethode ausschließlich aus unruhigen Gefühlen in der Magengegend, was in seinem Kopf aus heiterem Himmel Ahnungen auslösen konnte, mit denen Henning signifikant über dem Zufallsdurchschnitt lag. In diesem Jahr hatte er die Reichsmord als Kommissar geleitet, während ihr eigentlicher Leiter Cederström seine Arbeitszeit für die Erziehung seiner kleinen Tochter auf ein Viertel gesenkt hatte und nur für gelegentliche Unterschriften vorbeigekommen war. Formal galt Cederström immer noch als Voruntersuchungsleiter.

„Cederström“, knurrte Henning Larsson in diesem Moment. „Wenn der noch einmal etwas unterschreibt, kann er was erleben.“

Die Unterschrift war der Grund, weshalb sie hier beide am frühen Morgen des Weihnachtstags auf einer schäbigen Treppe in der Långholmsgatan saßen und auf eine grüne Tür starrten. Henning war nach einem beunruhigenden Anruf des Kriminaldienstes noch früher an diesem Morgen aus dem Bett gesprungen und nach Kungsholmen gerast, um den Schaden zu beheben, den Cederström mit seiner Unterschrift am gestrigen Abend angerichtet hatte, doch es war bereits zu spät gewesen. In der Nacht hatte der Kriminaldienst Cederströms Unterschrift auf dem Tatortprotokoll entdeckt und die Akte der Reichsmord zugeordnet.

„Wo sie überhaupt nicht hingehört!“, hatte Henning geschimpft und dem Leiter der lokalen Mordkommission die Akte auf den Schreibtisch geschmettert.

Das Schmettern hatte überhaupt nichts genutzt. Hennings Gegenüber hatte mit seiner verschnupften Nase unverschämte Geräusche gemacht und dabei gegrinst. „Wir sind überlastet“, hatte der Leiter der Lokalen behauptet, und damit alle Verbrechen aus Leidenschaft, Verbrechen aus Verwandtschaft und sonstigen Verbrechen vom Vorabend gemeint. Vor allem aber sechs weitere Selbstmorde. „Von anderen Abteilungen nehmen wir vor Neujahr nichts an.“

„Ich habe natürlich erwidert, dass der Fall nie bei uns lag und alles nur ein Missverständnis ist“, erklärte Henning seiner Kollegin nun.

„Genutzt hat es nichts, oder?“

Henning Larsson zerdrückte den geleerten Kaffeebecher. „Cederström hat das Formularfeld für den Voruntersuchungsleiter leer gelassen. Und der Kerl vom Kriminaldienst hat dort Cederströms Namen nachgetragen.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Snæfríður. Sie neigte stets dazu, ihr Los anzunehmen und nach vorn zu blicken.

Henning öffnete die Akte auf seinem Schoß. „Elin Gustafsson, 32 Jahre, arbeitet in einem Telia-Shop am Ringvägen. Wir gehen rein, und wenn uns nichts auffällt, sind wir in zwei Stunden fertig.“

Während Snæfríður die Tür aufschloss, schaltete Henning das Diktiergerät ein. „Aktenzeichen S195632, 25. Dezember, 8 Uhr 41, Öffnen der Wohnung von Elin Gustafsson in der Långholmsgatan 7 im vierten Stock, durch die Polizeibediensteten Kriminalkommissar Henning Larsson und Kriminalinspektorin Snæfríður Jómundardóttir, Haupteinheit Reichsmord. Jesus! Eine Höhle!“

„Was meinst du?“

Henning trat in den Flur und vollführte eine Drehung, die man bei schlankeren Menschen Pirouette nannte. Snæfríður folgte ihm und drückte die Wohnungstür hinter sich zu. Ihr letzter Dienstbesuch in einer Wohnung lag in ihrer Vergangenheit bei der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Damals hatte es so nach Essen und Schweiß gestunken, dass Snæfríður jetzt zuerst auf den Geruch achtete. Aber er war freundlich-neutral und ein bisschen weiblich. Henning betätigte zwei Lichtschalter. Noch vom Flur aus sahen sie sich um.

Keine lässig arrangierte Einrichtung, wie Snæfríður es von schwedischen Wohnungen gewohnt war, obwohl man an allen Stellen Liebe zum Detail erkannte. „Es sieht aus, als wären das ihre allerersten eigenen Möbel aus der Studentenzeit, die sie im Laufe der Jahre nur erweitert hat. Aber einen Neubeginn gab es nicht.“

Henning blätterte in der Akte bis zum Volksbuchauszug und nickte zur Bestätigung. Dann lenkte er Snæfríðurs Blick auf die Regalbretter zwischen Garderobe und Decke. Es gab sehr viele Dinge in Elins Leben, wirklich sehr viele, die verstaut werden mussten. Der Boden im Flur war beinahe zur Gänze mit Teppichen ausgelegt. An der Wand entdeckten sie eine Zeitschaltung für das Licht. Henning drehte das Rädchen bis zur Neunzehn. Sämtliche Lampen in der Wohnung sprangen an. „Damit es gemütlicher ist, wenn man nach Hause kommt“, diktierte er in sein Aufnahmegerät. „Deutet auf eine Kontaktstörung hin.“

Snæfríður staunte. „Ein mutiger Schluss, wenn man erst den Lichtschalter im Flur gesehen hat.“

Henning drückte mit seinem dicken Daumen auf die Pausentaste. „Wollten wir nicht in zwei Stunden fertig sein?“, erwiderte er. „Sie hat ihr ganze Freizeit hier verbracht, da kannst du sicher sein. Sofi hat auch so eine. Eine Zeitschaltung, meine ich.“

„Müssen wir auf eine bestimmte Art vorgehen?“, fragte sie. „Ich habe noch keinen Selbstmord bearbeitet.“

„Du schleichst herum, während ich mir die Dokumente vornehme. Und denk an unsere Deadline!“

2

Kjell stellte den Kragen seines Mantels auf und trat in die Morgenfinsternis. Die angefrorenen Schneeflocken knisterten und piekten auf der Haut.

Eine schlechte Nacht lag hinter ihm. Zweimal hatte er im Traum das Unbehagen durchlitten, helle Luftblasen aus einer finsteren und grundlosen Tiefe zu ihm aufsteigen zu sehen. Dazu die schreckverzerrten Gesichter der anderen am Ufer. Hoffentlich brachte er es im Sommer über sich, am Strandbad zu schwimmen, dachte er beim Schlurfen durch den Schnee, der ihm über die Knie reichte und in Klumpen an der Hose klebte. Mehrmals blieb er stehen, um sich den Grimm und den Schnee von Brust und Schultern zu klopfen. Als er die kleine Brücke nach Långholmen erreichte, stand Esbjörn Fors bereits da, unter der einzigen Laterne weit und breit. Deshalb war er in der Finsternis gut zu sehen. Während der Hund mit der Schnauze über den Boden jagte, starrte Fors mit zurückgelegtem Kopf in die Krone eines Baumes. Die Hundeleine baumelte in seiner Hand.

„Esbjörn Fors?“, erkundigte sich Kjell, eher zur Begrüßung als aus Unklarheit, denn außer dem Nachbarn, der ganz vernarrt ins Schneeschaufeln zu sein schien, war ihm seit der Wohnungstür niemand begegnet.

Fors nickte, ohne den Blick von der Baumkrone zu lösen. Er legte den Zeigefinger vor die Lippen, bevor er ihn hinauf zum schwarzen Geäst richtete. Sekunden verstrichen. Dann begann dort oben ein Vogel zu zwitschern.

„Der ist wohl nicht ganz bei Trost“, fand Kjell.

„In jedem Fall ein Irrer“, flüsterte Fors und drehte endlich den Kopf in Kjells Richtung. „Aber einer, der die Hoffnung nicht aufgibt. Die arme Frau.“

„Danke, dass du zurück nach Stockholm gekommen bist“, sagte Kjell beim Händeschütteln.

„Ich wäre besser gar nicht losgefahren“, erwiderte Fors ohne jede Reue in der Stimme. Er roch einige Meter weit nach Seife und hatte phantasielos kurzrasierte Haare. Der Hund war ein Widerspruch zu Kjells erstem Eindruck. Er war nämlich so gut wie überhaupt nicht erzogen und ignorierte jeden Befehl, den Fors ihm gab.

Kjells Kollege Henning Larsson hatte diese Stelle nicht zufällig mit Fors als Treffpunkt vereinbart. Fors und sein Hund betraten Långholmen stets über die Pålsund-Brücke.

Was jenseits der Brücke geschah, entschied einzig und allein der Hund, gestand Fors, nachdem sie aufgebrochen waren. Kjell bat darum, dieselbe Route abzulaufen wie gestern. Dazu mussten sie den jungen Spaniel gemeinsam wie ein Kaninchen einfangen und anleinen. Der Hund sprang an seinem Herrchen hoch. Er wollte noch einmal freigelassen und dann wieder eingefangen werden.

„Fidel hat auch Qualitäten“, sagte Fors. „Heute Morgen hat er meinen Wagen gefunden. Sonst würde ich jetzt noch mit dem Besen einen Schneehaufen nach dem anderen ausprobieren.“

„Fidel?“

Fors nickte. „Weil er stundenlang bellen kann.“

„Warum bist du gestern am Mittag und zwei Stunden später noch einmal hierher?“

„Wir gehen immer zur Mittagszeit, vom Schnee war jedoch noch nichts zu sehen gewesen. Als er dann kam, habe ich beschlossen, lieber früher zu meiner Schwester aufzubrechen. Aber vorher musste Fidel eine große Runde laufen, damit er es am Abend bei meiner Schwester nicht zu weit treibt.“

Bis zum Freilichttheater hielt Kjell den Mann für einen prinzipientreuen Frühaufsteher, vor allem wegen seines Geruchs nach Seife, doch bis zum Bellman-Häuschen oberhalb des Strandbades erfuhr er, dass Esbjörn Fors von 1962 bis zum Frühling an der Grundschule von Högalid unterrichtet hatte. Zuerst die Erstklässler, später die höheren Klassen. Den Tagesablauf eines Lehrers hatte er auch im Ruhestand nicht aus dem Blut bekommen und sich deshalb den Hund angeschafft. Für Kjell war das die Erklärung. Er hatte sich nämlich seit dem gestrigen Abend gefragt, wer auf die Idee kam, sich für einen Menschen aus hundert Metern Entfernung verantwortlich zu fühlen und die Polizei zu alarmieren. Dazu war nur ein Lehrer imstande.

„Ich frage mich die ganze Zeit, ob die arme Frau vielleicht eine ehemalige Schülerin von mir war.“

„Da kann ich dich beruhigen. Sie ist außerhalb der Stadt aufgewachsen und erst nach der Schule hierhergezogen.“

„Da unten“, sagte Fors.

Neben dem Weg fiel die verschneite Wiese sanft ab bis zum Wasser. Selbst an der Stelle, wo die Techniker den Schnee bis zum Rasen abgetragen hatten, war nichts mehr von den Ereignissen am Abend zuvor zu sehen. Dafür hatte der Schneefall gesorgt, der weiter anhielt.

Fors war etwa zur selben Zeit wie jetzt zum ersten Mal hiergewesen. Und wie jetzt war der Hund den Hang hinabgejagt. „Wenn es wärmer ist, schwimmt er eine Runde. Gestern ist er nur durch das flache Wasser gejagt, genau wie jetzt.“

Fidel stürmte durch das Wasser, den ganzen Strand entlang, und galoppierte am anderen Ende der Wiese wieder den Hang hinauf. Über den oberen Weg, wo gestern die Fahrzeuge gestanden hatten, kehrte er zu ihnen zurück und wedelte mit dem Schwanz. Diese Prozedur wiederholte Fidel noch zwei Mal.

„Du schaust also genau hin“, sagte Kjell.

Fors nickte. „Ich schaue ihm immer zu. Im Sommer muss ich besonders achtgeben. Es erzürnt die Badegäste natürlich, wenn sie nackt auf der Wiese liegen und von einem Hund wachgeleckt werden.“

„Dann bist du also ganz sicher, dass die Frau am Morgen noch nicht dasaß?“

„Natürlich.“

„Bist du dir wirklich sicher?“

„Ja. Es wäre ja auch nicht wahrscheinlich.“

„Deshalb frage ich so eindringlich. Hast du es gesehen oder hältst du es für wahrscheinlich?“

„Ich habe es gesehen. Daran besteht kein Zweifel. Ich lasse Fidel keine Sekunde aus den Augen, wenn er am Wasser ist.“

„Gut, haken wir die Morgenrunde ab. Am Mittag war sie da?“

„Ja. Wir sind nach den Nachmittagsnachrichten los. Also muss ich diese Stelle hier zwischen Viertel nach drei und halb vier erreicht haben.“

Und da waren der Sonnenschirm und der Liegestuhl am Strand gewesen. Von hier oben hatte Fors nur die Füße unter dem Schirm herausragen sehen und nicht gewusst, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörten.

„Der Liegestuhl hätte mir eingeleuchtet, nicht jedoch der Sonnenschirm. Die Sonne schien ja längst nicht mehr. Aber der Himmel war ohnehin den ganzen Tag über so wolkig, dass der Schirm ganz und gar sinnlos war.“

Genau das irritierte Kjell auch. Fidel hatte sich von dem sonderbaren Arrangement nicht irritieren lassen. Fors’ dritter und letzter Spaziergang fand um kurz vor fünf statt. Er hatte ihn vorgezogen, als der Schnee zu fallen begann, um früher losfahren zu können.

„Das gleiche Spiel“, erzählte Fors. „Da habe ich mich schon gewundert, dass sich die Gestalt wieder nicht rührte. Sie saß immer noch da. Aber ich wollte nicht wie ein Förster zu ihr hingehen und fragen, was da los ist.“

Erst viel später im Auto hatte Fors sich ernsthaft gewundert, warum die Person sich nicht gerührt hatte, selbst als Fidel nahe an ihr vorbei durchs Wasser trabte. Nachdem Fors und Fidel von der Nachmittagsrunde heimgeeilt waren, stiegen sie sofort ins Auto und fuhren los.

„Da ging der Sturm richtig los. Es gab Stau auf der Brücke, und ich habe von dort oben einen Blick zurückgeworfen. Da war unten alles neblig, aber den Schirm hat man noch gesehen.“

3

Henning spazierte geradewegs zu dem Doppelregal, dessen Bretter sich unter der Last der Bücher durchbogen. Ganz unten gab es drei Ordner.

„Ich habe, was ich brauche“, sagte Henning und ließ sich mit den Ordnern auf dem Sofa nieder.

Snæfríður stand unschlüssig im Raum. „Hast du irgendwo etwas entdeckt, das wie ein Abschiedsbrief aussieht?“