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Stockholm in der ersten Schneenacht. Ein Anrufer meldet der Notrufzentrale einen Mord in der Nachbarwohnung. Die Polizei findet den Altertumsforscher Carl Petersson tot an seinem Schreibtisch sitzend. In seinem Rücken steckt ein Brieföffner. Kommissar Cederström, Chef der Reichsmordkommission, stößt in Peterssons Notizen auf Hinweise, dass ihm eine wissenschaftliche Sensation gelungen sein könnte: Hat er die Inschrift auf dem dreieinhalb Jahrtausende alten Diskos von Phaistos entziffert? Doch Cederström hat so ein Gefühl, dass er in einer arrangierten Szene steht. Neben der Leiche läuft der Computer und wartet auf die Eingabe eines Passworts. Und dann ist da noch der Nachbar, der die Polizei gerufen hat. Von ihm fehlt jede Spur. Whodunit-Krimi. »Das ist fein und mit Respekt gemacht und entspricht dem groß angelegten Spiel mit dem Rätselhaften, das Scholten betreibt.« Tobias Gohlis, Die Zeit »Kommissar Cederström mit seinem Team ist A-Klasse, der Stil rasant, die Story frisch. Bitte mehr davon!« Alex Dengler, Bild am Sonntag »Spannend, trickreich, Debut.« Krimiwelt-Bestenliste
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Dritte Auflage. Die Originalausgabe erschien 2008 bei Random House unter demselben Titel. Die Bände dieser Reihe können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
2020 Bright Star Books. All rights reserved.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Der Umfang dieses Werks entspricht 335 Standardseiten.
ISBN 9783948287160
Build: 20200630045804
Unique ID: DZT_9783948287160_20200630045804
Dieses Werk ist auch als Printausgabe unter der ISBN 9783948287177 erhältlich.
Verlag und Hersteller: Bright Star Books in der ASE GmbH, Ingolstadt, [email protected]
Impressum
Inhalt
Karten
1
Dienstag, 27. November
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Mittwoch, 28. November
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Donnerstag, 29. November
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Freitag, 30. November
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Samstag, 1. Dezember
Kapitel 1
Sonntag, 2. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Montag, 3. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Mittwoch, 5. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Donnerstag, 6. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Freitag, 7. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Samstag, 8. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Sonntag, 9. Dezember
Kapitel 1
Montag, 10. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Dienstag, 11. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Mittwoch, 12. Dezember
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Carl Petersson saß in seinem roten Lesesessel im Arbeitszimmer und wartete auf das Ende. Es war weit nach Mitternacht, als es endlich an der Tür klingelte. Er schreckte auf. Das Buch auf seinen Beinen machte einen kleinen Satz und klappte mit einem dumpfen Knall zwischen seinen Knien zusammen.
Jetzt war es soweit. Dreißig Jahre hatte er gebraucht. Er hatte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Jetzt erst war er so gut, wie er es sich immer vorgenommen hatte. Noch keiner hatte erreicht, was ihm gelungen war.
Er saß mit durchgestrecktem Rücken regungslos in seinem Sessel und reckte den Kopf. Das Buch rutschte unbemerkt zwischen seinen Knien hindurch, fiel auf seine Füße und dann auf den Boden. Die Zimmertür war halb geschlossen. Er starrte in den dunklen Gang hinaus, ohne die Wohnungstür von seinem Platz aus sehen zu können. Seine Hände lagen schon auf der Lehne, aber er zögerte.
Es klingelte wieder. Im Wohnzimmer drehte Mari den Fernseher leiser. Dann brachten ihre wütenden Schritte den Parkettboden im Gang zum Schwingen, das spürte er bis hierher. Er sank ein wenig zurück und horchte. Carl Petersson hörte eine atemlose Männerstimme. Mari wechselte einige Worte mit dem Kurierboten, doch sie drangen nur undeutlich bis zu ihm ins Arbeitszimmer. Sie schloss die Tür. Die Sekunden verstrichen. Warum verstrich bei ihr immer soviel Zeit? Er blickte zur Wanduhr und dann aus dem Fenster. Gleich war es ein Uhr. Im Haus gegenüber waren die letzten Lichter erloschen. Es hatte zu schneien begonnen.
Die lange Zeit der Anspannung war nun zu Ende. Sie hatte Mari besonders zermürbt. Noch ahnte sie nicht, dass jetzt alles anders werden würde. Er hatte ihr viel zu erzählen.
Endlich trat sie ins Arbeitszimmer, das Kuvert hielt sie in der linken Hand. Es war so groß und dick, wie er erwartet hatte. Mari blickte ihn fordernd an, ohne sich für das Kuvert zu interessieren. Sie forderte etwas ganz anderes. Dafür würde bald Zeit sein. Er lächelte, erkannte dann aber sogleich, dass sie das missverstand. Ohne ein Wort legte sie das Kuvert auf die freigeräumte Platte des Schreibtischs, machte aber keine Anstalten, wieder ins Wohnzimmer zurückzukehren. Jetzt konnte sie auch dabei sein.
„Mach es auf“, knurrte er, weil er glaubte, seine Hände würden zu fahrig sein, um es selbst zu tun.
Mari zerrte und rüttelte an der Lasche des Kuverts, begriff dann aber, dass sich das Papier nicht zerreißen ließ.
„Nimm doch den Brieföffner! Das Papier ist reißfest.“
Sie zog die Schreibtischlade auf und wühlte ungeduldig in den Stiften herum, bis sie den Brieföffner mit der geschliffenen Spitze fand.
Carl stemmte sich aus dem Sessel und schlurfte in seinen Lederpantoffeln zu ihr hinüber. Er spürte sein Alter in den Gliedern. Bishops Elamische Paläographie blieb auf dem Boden liegen.
Sie war schön in ihrem Nachthemd. Er erahnte die weiblichen Formen ihres jungen Körpers darunter. Gerne hätte er seine Arme um ihre Hüften gelegt und nach der langen Zeit endlich wieder etwas Zärtliches zu ihr gesagt. Aber sie würde seine Aufmerksamkeit sofort ganz für sich einfordern. Er setzte sich still an den Schreibtisch.
Mit der Spitze des Zeigefingers wischte er über die frisch polierte Platte. Er konnte kaum glauben, wie glatt es lief. Es war ein Meisterstück, sein Meisterstück.
Mari hatte endlich das Kuvert geöffnet, fischte die Papiere heraus und breitete sie vor ihm auf dem Tisch auf. Carl trennte die drei gehefteten Stapel und legte sie nebeneinander. Am Morgen hatte er den Schreibtisch freigeräumt und das Holz gepflegt, um seine Nerven zu beruhigen. Er hatte dreimal nachpolieren müssen, bis der ölige Film ganz verschwunden war. Bildschirm und Computer standen noch auf dem Boden. Er war zu aufgeregt gewesen, um die Kabel wieder zusammenzustecken.
Wie erhebend sich die drei Stapel nun auf der leeren Holzplatte ausmachen würden, hatte er nicht bedacht. Ein Anblick der Klarheit am Ende eines langen Weges.
Zufrieden überflog Carl Petersson die Seiten. Das Rascheln und Knistern des dünnen Durchschlagpapiers füllte die Stille im Zimmer aus, nur vom Wohnzimmer her drang leise eine Frauenstimme aus dem französischen Spielfilm herüber. Jetzt mussten sie nur noch warten, bis es wieder klingelte. Mari würde überrascht sein.
Stattdessen kam der Schlag. Die Wucht ließ seinen Oberkörper einmal vor und zurück wippen. Etwas Großes und Schweres musste ihn von hinten getroffen haben. Der Schmerz drang spitz und stechend in seinen Rücken ein und breitete sich in Wellen in seinem Körper aus. In seinen Fingern und Zehen schienen ihn winzige Nadeln zu stechen. Die Welle hinterließ überall Taubheit. Sein Körper schlief langsam ein. Die Wurzel seiner Zunge begann anzuschwellen und gegen seinen Gaumen zu drücken. Er bildete sich Gerüche ein, die es hier nicht geben konnte. Mandeln und Veilchen. Er schmeckte die Säure, die aus seinem Magen heraufdrang. Die Überraschung ging in eine träge Schwere über, dazwischen durchlitt er einen Augenblick der Fassungslosigkeit. Wie ein hämisches Echo hallte Sinuhes berühmter Ausspruch durch seinen Kopf.
Das ist der Geschmack des Todes.
Es gab nun keinen Zweifel mehr darüber, auf welchem Wort der Satz zu betonen war. Die wissenschaftliche Diskussion war beendet. Dass er einmal solche Gewissheit erlangen würde, hatte er nicht erwartet.
Das war alles. Weiter kamen seine Gedanken nicht. Carl Petersson drehte den Kopf zur Seite. Mari stand schweigend da und starrte ins Leere. Sie hatte den Blick von ihm abgewandt. Wut, Schrecken, er las beides in ihren Augen. Warum sah sie ihn nicht an? Er griff sich an den Rücken und tastete, bis er kaltes Metall spürte. Ohne zu begreifen, tastete weiter. Ein unbekanntes Ziel zog seine Finger an, bis seine Hände in ihrer Verdrehung zu zittern begannen.
Der Brieföffner. Mari.
Mari hatte ihm die Klinge in den Rücken gestoßen. Aber er hatte doch einen dumpfen Schlag gespürt! Jetzt erst begriff er, wirklich erst jetzt.
Seine Arme erschlafften nun. Es war ihm nicht gelungen, die Klinge herauszuziehen, obwohl sie nicht so tief in ihm zu stecken schien. Sein lautes Ächzen schreckte Mari aus ihrer Starre auf. Sie tat einige richtungslose Schritte im Zimmer, riss den Aktenschrank auf, wandte sich aber wieder ab und rannte hinaus, um sogleich mit ihrer Sporttasche zurückzukehren. Im Lauf fiel sie vor dem Aktenschrank auf die Knie und rutschte noch einige Zentimeter weiter. Hastig kramte sie in den Fächern herum. Sie entdeckte die Schuldscheine mit ihrer Unterschrift darauf und stopfte sie in die Tasche. Sie entdeckte das Geld und packte alle Bündel dazu. Papiere, für die sie sich nicht interessierte, glitten unbeachtet zu Boden. Sie kümmerte sich nicht darum.
Jetzt sah er, was er nicht begriffen hatte, jetzt sah er all ihre Gedanken in dem, was sie tat.
Er konnte den Kopf inzwischen nicht mehr bewegen und nahm sie nur noch aus den Augenwinkeln wahr. So klar und entschieden hatte er sie noch nie gesehen. Mit kalten Augen blickte sie sich im Zimmer um. Dann riss sie das Telefon aus der Ladestation und rannte wieder aus dem Zimmer, eilte durch die Räume und warf ihre Sachen in die Tasche.
Auf einmal stand sie mitten im Raum, jetzt war sie angezogen. Sie trat hinter ihn und versuchte, die Klinge aus seinem Rücken zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Mari gab auf und stürmte hinaus. Mit harten Schritten kehrte sie erneut zurück und wischte den Griff des Brieföffners, der noch immer in seinem Rücken steckte, mit einem Spüllappen ab. Anschließend warf sie den Lappen als Beleidigung auf den Tisch und verschwand aus dem Zimmer.
Carl Peterssons Gedanken erlahmten. Er war viel zu weit gegangen mit ihr, das musste er sich nicht mehr eingestehen. Es lag nun offen da. Der gelbe Lappen dicht vor seiner Nase stank modrig. Er hatte ihn verdient.
Er würde sie nie mehr wiedersehen. Er verstand und er verstand nicht. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Sie verriegelte es gewissenhaft. Einmal, zweimal drehte sie den Schlüssel herum und zog ihn heraus.
Damit war das letzte Geräusch verklungen. Carl Petersson saß allein an seinem Schreibtisch und wusste nicht, ob er leben oder sterben würde.
Beim ersten Piepsen des Weckers war sie hellwach. Linda Cederström öffnete die Augen, und ihr erster Gedanke war wie an jedem Morgen: Mama ist tot.
Vor vier Jahren nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter war es wie ein notwendiges Mantra gewesen, um die Veränderung in ihrem Leben an jedem neuen Morgen einzuüben, bevor sie aufstand. Aber sie war es nie mehr losgeworden.
Heute blieb keine Zeit, ihre liebste Erinnerung dagegenzusetzen. Sie atmete tief durch. Sie hatte gelernt, mit dem heutigen Tag zu leben wie ein Armenier mit dem nächsten Erdbeben.
Es war finster im Zimmer. Sie richtete sich auf und fühlte eine Leere, wie sie im Magen zerrt, wenn man zu kurz geschlafen hat.
Ihr Plan! Ihr schauderte davor. Dennoch ging sie alle Stationen noch einmal in Gedanken durch, bevor sie die Decke von sich riss, aus dem Bett sprang und sich im Dunkeln zur Küche tastete. Dort knipste sie die Tischlampe an, füllte eine Tasse halbvoll mit Milch und erwärmte sie zwei Minuten und zwanzig Sekunden in der Mikrowelle. Diese Zeit nutzte sie, um Wasser im Sieder zu erhitzen und zwei Löffel Kaffee in den Filter zu schaufeln. Sie ließ das Kaffeewasser durch den Filter in die heiße Milch rinnen. Linda war wach und aufmerksam. Das musste an der Aufregung liegen, vermutete sie. Alle Handgriffe verrichteten sich wie von selbst, nachdem sie vor dem Einschlafen jeden einzelnen minutiös durchgeplant hatte, auch das Kaffeekochen.
Linda nahm die Tasse mit ins Bad, stellte sie auf der Ablage über dem Waschbecken ab und trank von Zeit zu Zeit daraus. Eine Viertelstunde später waren ihre Haare trocken genug, um damit ins Freie gehen zu können. In ihrem Zimmer lagen die Kleidungsstücke in der Reihenfolge auf dem Boden ausgebreitet, wie sie hineinschlüpfen musste. Einen Augenblick lang betrachtete sie die Sachen, wie sie so dalagen. Wie eine in Szene gesetzte Gebrauchsanweisung sahen sie aus.
Im Flur hatte sie am Abend sogar die Schuhe so aufgestellt, dass sie in Laufrichtung hineinsteigen konnte, und die Handschuhe klemmten in der Klinke der Haustür. Es war zwar nur Spaß gewesen, als Papa sie ermahnt hatte, dass alles viel schneller ginge, wenn sie sich am Morgen nicht immer so treiben ließe, doch nun war sie heilfroh, dass sie nicht im Schrank nach den Handschuhen wühlen musste. An anderen Tagen musste sie das oft tun.
Sie trat fertig an die Wohnungstür und war sich sicher, viel besser in der Zeit zu liegen, als sie vorausberechnet hatte. Damit war also bewiesen, dass Linda Cederström konnte, wenn sie wollte.
Um in Papas Worten zu sprechen.
Unten vor der Tür gab es Anlass zu seufzen. Der Schnee! Endlich war er da! Ausgerechnet jetzt, wo sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren durfte. Die Flocken wirbelten nicht in der Luft herum, sie fielen schnell und in geraden Bahnen vom Himmel herab. Alles war bedeckt, man konnte keine Formen mehr erkennen.
Nichts war zu hören, nur das leise Knistern der Flocken. Und sie.
Im Traum streckte Kjell seine Arme aus und griff nach den nach den Brüsten, die seine Kollegin Sofi Johansson ausnahmsweise in dieser Szene trug. Sie lachte dabei und warf sich ihm entgegen. Das alles wirkte so natürlich. Nur ihr Lachen, das irritierte ihn ein wenig. Es klang piepsig und wollte kein Ende nehmen. Es dauerte noch einige Momente, bis er darauf kam, dass das Telefon klingelte. Er tappte danach und fand es auf dem Fensterbrett, das er vom Bett aus erreichen konnte. Er konnte alles in seinem Schlafzimmer vom Bett aus erreichen.
Es war Sofi Johansson. Ihre Melodie war die Waldsteinsonate. Kjell drückte auf den grünen Knopf.
„Guten Morgen“, flüsterte sie mit ihrer tiefen Morgenstimme. „Es ist Viertel vor drei, und ich bin gleich bei dir. Wir müssen nach Vasastan. Die Kripo ist schon da.“
„Ja.“ Seine Stimme klang belegt, und er musste sich mehrmals räuspern, bis sie endlich trug. „Ich stehe dann an der Straße.“
„Ich bin jetzt bei der Brücke“, sagte sie und legte auf.
Das mit den Brüsten tat ihm sogleich leid. Es musste mit der trockenen Heizungsluft zusammenhängen, dass er plötzlich von Brüsten träumte und sie dabei auch noch vergrößerte. Er war also auf der untersten Stufe angelangt, die man beim Träumen erreichen konnte. Er hatte nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde.
Kjell riss beide Fensterflügel auf und ließ die Kälte herein. Sie biss nicht in die Haut, aber alles, was in dem Zimmer aus Kunststoff oder elektrisch war, knisterte und knackte. Er lehnte sich hinaus und machte einige tiefe Atemzüge. Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie waren so klumpig und schwer, dass er es spürte, wenn eine davon auf seinem Kopf landete. Er wohnte auf Reimersholme mitten in der Stadt. Jenseits des Wassers sah er die Scheinwerfer eines Autos, das sich auf der Ringstraße durch den Schnee kämpfte. Der Lichtkegel reichte gerade mal zwei, drei Meter weit, bevor er seine Kraft verlor. Der Wagen war in einen diffusen Schein gehüllt, denn neblig war es obendrein. Kjell blickte nach unten auf den Rasen vor dem Haus. Er wollte abschätzen, wie hoch der Schnee schon lag. Der Zaun am Rosenbeet war dreißig Zentimeter hoch und so zugeschneit, dass ein Unwissender auf der Nase landen würde.
Am Abend war er früh ins Bett gegangen und fühlte sich jetzt ausgeschlafen. Routiniert stieg er in die weiche braune Kordhose, die über dem Stuhl hing, und sah sich nach einem Oberteil um. Ein frisches Hemd war nur für den Preis eines mauerndurchdringenden Quietschens der Schranktür im Flur zu bekommen. Aber auf dem Stuhl entdeckte er den Pulli, der ihm gerade recht kam. Im Büro wartete noch ein frisches Oberhemd. Da konnte er später wechseln. Er schlich ins Bad, putzte sich die Zähne und reckte sein Kinn zum Spiegel. Die nächste Rasur konnte auf jeden Fall bis zum Abend warten. Kjell drehte das kalte Wasser auf und schöpfte es sich dreimal ins Gesicht. Sein Haar war lag ausnahmsweise so, wie er es sich wünschte. Es würde ein guter Tag werden.
Draußen folgte er dem schneeschaufelbreiten Pfad bis zur Straße. Der Schnee gab knautschend nach. Bei Umberto im Hausmeisterschuppen brannte Licht, und in einiger Entfernung schippte ein Mensch um sein Leben. Ob sie in der Innenstadt schon räumten? Er fragte sich, wie lange sie bis Vasastan brauchen würden. Das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Ringstraße und der Westbrücke war verstummt. Es war wärmer, die Temperaturen waren in wenigen Stunden stark gestiegen. Seine Schätzung lag bei fünf Grad unter Null.
Einige Minuten lang stand er da und fand, dass die Baumstämme jetzt alle kohlschwarz aussahen. Wo blieb Sofi? Er warf zwei Schneebälle auf das Stoppschild, doch sie lösten sich weit vor dem Ziel in weiße Pulverwolken auf. Dann begann er, langsam aber sicher auf der Stelle zu stampfen, bis er aus der Ferne den Motor quengeln hörte. Bald darauf hielt Sofi neben ihm, die Beifahrertür wurde beherzt von innen aufgedrückt. Er stutzte. Aus dem Wagen kletterte seine Tochter. Sie hatte Schnee auf dem Kopf, und weiße, runde Klumpen hingen in ihren langen Haaren wie Weihnachtsbaumkugeln.
„Linda?“, fragte er. „Was machst du hier?“
Sie drängte sich wortlos an ihm vorbei. So in Rage hatte er sie noch nie erlebt. Ihre Hosenbeine waren weiß bis zu den Knien hinauf und der Stoff steifgefroren. Linda lief schwerfällig, stampfte und taumelte, immer wieder trat sie leise fluchend und jammernd gegen den Schnee, der in der Luft zerstob. Sie verschwand im Hauseingang.
Linda war siebzehn und Sofi fünfundzwanzig.
Er stieg in den Wagen und begrüßte Sofi. Sie fuhr sofort los. Gespannt wartete er auf eine Erklärung.
„Ich habe sie am Hornstull auf der Straße laufen sehen.“ Ohne Grund flüsterte sie. „Sie wollte in die Schule.“
Er lachte herzlich. Sofi konnte sich nicht entscheiden, ob sie Linda bedauern oder mitlachen sollte.
„Das passiert mir aber auch manchmal“, sagte sie ernst. „Dass ich mich in der Zeit vertue.“
Er betrachtete sie ungläubig von der Seite. „Sie hat alles durchgeplant, damit sie es rechtzeitig schafft. Das muß ihre Nerven überfordert haben.“
Jetzt begann sie zu lachen. Es klang tief.
„Zuerst wollte sie mir gar nicht glauben. Sie war schon völlig erschöpft, weil sie die ganze Strecke durch den Schnee gestapft ist. Wir müssen sie später anrufen, damit sie nicht verschläft. Sie war völlig verzweifelt und sauer auf sich. So war sie noch nie.“
Er stellte den Wecker seines Telefons auf sechs Uhr. Ausgerechnet heute, wo sie den Test hatte. „Kannst du schon etwas sagen?“
„Muss ein Toter sein.“
„Aber was geht uns das an?“
„Mehr weiß ich nicht, aber der Kriminaldienst hat ausdrücklich uns angefordert.“
Sofi stammte aus Värmland. Das Fahren im tiefen Schnee lag ihr also im Blut. Kjell genoss die Fahrt durch die Dunkelheit und die leeren Straßen. Auch die Räumfahrzeuge waren noch nicht ausgerückt. Von nun an schwiegen sie.
Die Heizung lief auf der untersten Stufe. Er stellte sie ganz ab. Das Gebläse hatte die warme Luft im Auto verteilt, die nach Sofi roch. Ihre Jacke lag auf der Rückbank. Sie trug einen schwarzen Pullover und hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht, während sie aufmerksam auf die rutschige Straße sah und sich mehrmals zu ihm drehte. Ihre dunklen Haare hatte sie nach dem Aufwachen nass gekämmt, und an den Ansätzen hatten sich feine Strähnen gebildet wie nach einem Tag am Strand.
Nach zwanzig Minuten bogen sie in die Västmannagatan in Vasastan ein. Hier gab es auf einmal zahlreiche Reifenspuren. Das Haus konnten sie schon von weitem an den Fahrzeugen ausmachen, die davor in zweiter Reihe parkten. Zwei Volvos und der Transit von der Spurensicherung. Sofi parkte dahinter.
Eine Frau mit kurzen, blondgefärbten Haaren trat aus dem Hauseingang. Sie mochte Mitte vierzig sein und trug nur einen roten Rollkragenpullover und Jeans. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und löste den rechten nur, um Kjell und Sofi schlotternd die Hand zu reichen. „Viktoria Hammarfors. Mordkommission, Kriminalpolizei Stockholm.“
„Das ist Sofi Johansson, und mein Name ist Kjell Cederström.“
Viktoria nickte und wandte sich dem Eingang zu. Schweigend folgten ihr Kjell und Sofi in den vierten Stock.
„Wo ist eigentlich die Presse?“, fragte Viktoria oben in der Wohnung. „Wir sind doch schon eine ganze Weile hier, und der Rettungswagen stand vorhin auch vor dem Haus.“
„Die Zentrale hat ein Ablenkungsmanöver gestartet“, erklärte Sofi. „Das ist bei der Reichskrim üblich. Aber bei diesem Wetter gehen die vielleicht gar nicht vor die Tür.“
„Es ist so“, begann Viktoria, nachdem sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte. „Hinten im letzten Zimmer liegt ein Toter, um die fünfzig. Wir glauben, er wurde erstochen. Der Notarzt war gerade hier. Vor zwei Stunden hat ein Nachbar bei der Einsatzzentrale angerufen. Er heißt Robert Sahlin und wohnt eine Etage tiefer. Eine halbe Stunde nach dem Anruf waren wir da.“
Zwei Männer traten aus der Küche. Sie trugen Plastikhandschuhe und gehörten anscheinend zu Viktoria. Man begrüßte sich durch Nicken.
„Nachdem wir angekommen waren, haben wir Meldung an die Einsatzzentrale gemacht. Kurz darauf kam die Anordnung, dass wir auf die Reichsmord warten sollen.“
Sofi zog ihr Telefon aus der Tasche und rief die Zentrale an. „Hier ist Inspektorin Sofi Johansson von der Reichsmord. Wir sind jetzt da, wissen aber nicht, ob wir oder die Kripo hier übernehmen sollen.“ Sie lauschte eine halbe Minute und legte dann auf. „Die wissen es auch nicht. Der Computer hat diese Anweisung gegeben, nachdem sie den Namen und die Adresse eingegeben haben.“
Kjell seufzte. „Dann übernehmen wir. Am besten bleibt ihr da, dann könnt ihr übernehmen, wenn es sich als Irrtum herausstellt. Gehen wir nachsehen.“
Sie durchschritten den langen Flur. Kjells erster Blick fiel auf die Bücherregale, die die Wände zu beiden Seiten säumten. Am Ende des Flurs lag das Arbeitszimmer. Dort standen an zwei Wänden weitere deckenhohe Bücherregale und in der Mitte ein großer Schreibtisch. Daran saß ein Mann. Mit dem Oberkörper und seinem Kopf lag er auf der Tischplatte, die vor Papieren nur so überquoll. An der linken Ecke der Tischplatte stand ein großer, flacher Bildschirm. Der Computer summte. Das Gesicht des Mannes konnte man nicht sehen, nur das dichte, graumelierte Haar seines Hinterkopfs.
Neben dem Stuhl, auf dem der Tote saß, kniete Per von der Technischen auf dem Boden. Er richtete sich auf und begrüßte Kjell und Sofi durch schlaffes Zuwinken. Er trug seinen braunen Plastikoverall, den er Benny nach der Trennung von ABBA abgekauft haben musste. „Willkommen bei Agatha Christie“, brummte er. „Das ist die Leiche und hier die Einstichstelle.“ Er deutete auf eine Stelle am Rücken des Toten, die Kjell und Sofi nicht sehen konnten, weil sie nicht so weit in das Zimmer hineintreten durften. Per benutzte dazu sein blaues Idiotenklebeband, mit dem er auf dem Boden markierte, wo an einem Tatort gefälligst zu gehen und zu stehen war. „Die Tatwaffe ist vermutlich ein Brieföffner, er liegt in der Spülmaschine. Hier wurde erst vor kurzem Hausputz gemacht. Gute Sache für alle Beteiligten.“
Sie durften sich der Leiche noch nicht nähern. Deshalb nutzte Kjell die Wartezeit, um den Raum auf sich wirken zu lassen. Die Bücher in den Regalen ließen ahnen, dass es sich bei dem Toten um einen Wissenschaftler handelte. Soweit er das ermessen konnte, ging es um Altertumswissenschaft. An den beiden Wänden ohne Regale hingen eine Kreidetafel und mit der Hand beschriftete Kartonagen voll fremder Schriftzeichen. Einiges davon war Griechisch, anderes Hieroglyphen, jedoch keine ägyptischen. Die Zeichen bildeten augenscheinlich keine Wörter, sondern waren zu Tabellen angeordnet, die einem Periodensystem ähnelten. Neben den Regalen und dem Tisch gab es noch einen Büroschrank, dessen Türen geschlossen waren. Der Parkettboden glitzerte wie eine Eisbahn.
„War das mit der Tatwaffe denn ernst gemeint?“, erkundigte sich Sofi.
Per sah auf und nickte. „Sehe ich aus wie ein Zirkusclown?“
Per war eigentlich immer so ein Wüstling. Der liebe Gott hatte ihm einen so militanten Zynismus auf die Zunge gelegt, dass sich die Mitglieder der Gewaltdezernate einen Tatort ohne seine barschen Kommentare und sein Herumpoltern schon gar nicht mehr vorstellen konnten. Seine Liebenswürdigkeit bewies er durch andere Dinge wie prompte Anfahrten und kräftiges Zupacken, durch alles also, wofür man seine Zunge nicht benötigte. Wer in Stockholm einen gewaltsamen Tod gestorben war, musste danach auch noch Pers schlechte Laune ertragen.
„Du siehst aus wie ein Tanzbär, Per!“, fand Kjell, ohne dafür den Blick von dem Plakat an der Wand lösen zu müssen.
„Tanzper“, flüsterte Sofi.
Kjell und Sofi lachten.
„Leckt mich einfach“, brummte Per und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
In der Küche stand die Luke der Spülmaschine offen, die beiden Laden waren herausgezogen.
„Als wir die Wohnungstür öffneten, lief die Maschine“, sagte Viktoria. „Nachdem wir den Toten entdeckt hatten, haben wir sie sofort ausgeschaltet und geöffnet. Der Brieföffner lag im oberen Fach.“
Die Maschine quoll über, sie enthielt die übliche Haushaltsladung: Teller, Tassen, Gläser und Besteck. Alles war noch schmutzig und mit einem weißen Film verschmiert. Kjell kratzte an einem Teller. Es schien nur die Waschlauge zu sein.
„Wir haben den Inhalt natürlich sofort durchsucht und dabei den Brieföffner entdeckt.“
Er lag auf dem Küchentisch in einem bereits beschrifteten Biopack für das Labor. Kjell öffnete die Tüte und inspizierte den Inhalt. Die Klinge des Brieföffners war zwanzig Zentimeter lang. Blut klebte daran. Die Spitze war geschliffen und wie eine Harpune eingekerbt. Damit konnte man wohl Paketbänder durchtrennen.
Viktoria zuckte mit den Schultern. „Wir wissen nicht, wann die Maschine eingeschaltet wurde, aber es dampfte stark, als ich die Luke öffnete.“
Der Täter hatte eine ganze Packung Spülmittel auf den Boden der Maschine gekippt. Das war nicht sehr klug gewesen, denn das Granulat hatte den Wasserzulauf und den Abfluss verstopft. Die Maschine hatte das Programm kurz nach dem Start abgebrochen und das Wasser den Brieföffner gar nicht erreicht.
„Lass uns noch einmal von vorne beginnen“, bat Kjell. „Und beschreib nicht nur die Tatsachen, sondern auch deine Eindrücke.“
Viktoria war eine Notizblockpolizistin. So wie Sofi. Wenn Sofi abends nach Hause kam, schrieb sie noch eine Stunde lang Tagebuch, als ob sie tagsüber nicht genug schreiben musste. Und am Morgen beim Frühstück schrieb sie Listen mit Dingen, die zu erledigen oder in ihrem Leben wichtig oder unwichtig waren.
Um 1 Uhr 32 hatte ein gewisser Robert Sahlin, dessen Wohnung schräg versetzt unter der des Toten lag, die Notrufzentrale angerufen: Er höre verdächtige Geräusche und Schreie. Die Telefonistin fragte, was das für Geräusche seien, und Sahlin antwortete, jemand renne durch die Wohnung, er spüre auch Erschütterungen und glaube sogar, einen Schuss gehört zu haben. Er klang besorgt und nannte der Telefonistin Stockwerk und Namen des Toten. Viktoria und ihre Kollegen fanden die Wohnungstür angelehnt. Aus der Spülmaschine drangen regelmäßig wiederkehrende Kratzgeräusche. Nirgendwo brannte Licht außer der Schreibtischlampe im Arbeitszimmer. Der Computer war eingeschaltet. Viktoria und ihre Kollegen überprüften sogleich alle Räume und öffneten mit einigem Unbehagen die Luke der Spülmaschine, ohne zu wissen, was sie darin erwarten würde.
„Wart ihr schon bei diesem Sahlin?“, fragte Sofi, die soeben eine frische Liste in ihrem Block begonnen hatte.
„Bisher nicht. Die Einsatzleitung hat ja dauernd angerufen, und wir waren zuerst gar nicht sicher, ob der Mann wirklich tot ist. Die Einstichstelle hat erst Per entdeckt.“
Kjell stieg mit Sofi in den dritten Stock hinab und klingelte an Sahlins Tür. Es war schon verwunderlich, dass er sich bisher nicht zu erkennen gegeben hatte, fand Kjell. Er war ja wohl nach dem Anruf nicht schlafen gegangen. Niemand öffnete. Sie sahen einander verwundert an.
„Wir müssen unbedingt nachsehen“, fand Sofi. „Vielleicht wurde er in die Sache verwickelt.“ Sie eilte wieder nach oben und kehrte nach einer Minute mit Werkzeug aus Pers Sortiment zurück. Inzwischen hatte Kjell an der Tür gehorcht, aber keine Geräusche dahinter ausmachen können.
„Die Einsatzzentrale besteht darauf, dass der Anruf tatsächlich von Sahlins Anschluss kommt“, sagte Sofi. „Viktoria hat schon von der Straße aus nachgesehen, ob innen Licht brennt. Alles dunkel.“
„Dann brechen wir auf.“
Sofi kniete sich vor das Schloss und versuchte es mit einem dünnen Metallschaber. „Satan auch!“, keuchte sie. „Die ist abgeschlossen. Ich stoße gegen den Bolzen.“ Jenseits der Tür klingelte ein Telefon. „Das ist die Zentrale, sie versuchen es immer wieder.“
Kjell lehnte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Flurwand, stieß sich ab und trat von unten mit der Schuhsohle gegen das Schloss. Die Tür gab oben und unten etwas nach, hatte also keine zusätzlichen Sicherheitszapfen, die einem die Schulter brechen konnten. In diesem Moment kamen Viktorias Kollegen. Zu dritt traten sie gegen das Schloss, bis es brach. Sie prüften die Zimmer. Niemand war in dieser Wohnung, auch der Kühlschrank war bis auf Haltbares wie Ketchup und Senf leergeräumt. Das Bett war abgezogen. Kjell nahm mit den Fingerspitzen den Telefonhörer ab und drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Am anderen Ende meldete sich die Polizeizentrale. Er kratzte sich am Kopf und wandte sich an den jüngeren der beiden Männer.
„Geh hinauf zu Per und hol ein elektronisches Siegel für die Tür. Per soll sich die Wohnung gleich ansehen, sobald er oben mit dem Gröbsten durch ist.“ Dann wandte er sich an den anderen. „Wir haben bestimmt das ganze Haus aufgeweckt. Jetzt müssen wir damit rechnen, dass jemand die Presse anruft. Geh hinunter zum Klingelbrett und entferne beide Namensschilder. Und die an den Wohnungstüren und Briefkästen entfernst du auch. Ruf bei der Telefongesellschaft an und lass die Nummern aus allen Registern entfernen. Anschließend klingelt ihr bei den Nachbarn. Fangt im dritten und vierten Stock an und erledigt dann den Rest. Sobald die Post öffnet, leitest du alle Sendungen an die beiden Namen zu uns ins Präsidium um. Die Namensschilder müssen bis um neun Uhr mit Phantasienamen ersetzt werden. Und eine neue Tür brauchen wir auch.“
Die beiden nickten angestrengt und versuchten, sich alles zu merken. Inzwischen lugten die ersten Gesichter aus geöffneten Wohnungstüren. Viktorias Kollegen machten sich auf den Weg zu den aufgescheuchten Nachbarn. Sie baten einen nach dem anderen, wieder hineinzugehen und zu warten.
„Ich will mir jetzt das Zimmer ansehen“, murmelte Kjell.
Zurück in der Wohnung begann er, die die Bücherregale im Flur zu studieren, die beide Seiten des Ganges bedeckten. Er ließ sich bei seiner Inspektion ausgiebig Zeit. Die Themen waren Archäologie, Kunstgeschichte, antike Sprachen und Geschichte der Antike. Zudem befand sich eine Reihe von materialkundlichen Werken darunter, Papyrus, Stein, Metall. Dazwischen steckten aber auch allerlei andere Themen. Sofi zog einen dicken Band heraus und zeigt ihm den Titel: Feuer, Frauen und gefährliche Gegenstände. Sie schlug es auf.
„Was Kategorien über den menschlichen Geist verraten … ein Buch über … Semantik“, las sie grinsend und quetschte es wieder ins Regal. Es war leichter, die Bücher herauszuziehen als wieder hineinzubekommen. Obwohl des Besitzer nicht mehr schimpfen konnte, war sie sehr behutsam.
Kjell, der klassische Literatur studiert hatte, war vor siebzehn Jahren durch eines der ersten Quereinsteigerprogramme für Geisteswissenschaftler bei der Polizei gelandet. Davor waren nur Techniker und Juristen gebraucht worden. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass er ausgerechnet einen Beruf wählen musste, über den man in der Antike nur verständnislos den Kopf geschüttelt hätte, aber alles ist möglich, wenn man Vater einer Tochter wird und Geld braucht. Er versuchte, seinen Stolz dadurch zu wahren, dass er auf patrizisch unbeteiligte Weise durch den Berufsalltag spazierte. Immer gelang ihm das nicht. Nur die Allerbesten konnten ihre Gravitas bewahren, während sie eine Tür eintraten.
Bald erschienen fünf Männer, um die Leiche abzuholen. Kjell beobachtete, wie sie die Leiche anhoben. Oberkörper und Kopf hatten bisher auf der Tischplatte gelegen. Der Anblick des Toten war zu ertragen, eingebettet in diese Szenerie wirkte er beinahe malerisch, jedenfalls wenn man es mit dem armen Afrikaner am Samstag in der U-Bahn-Station verglich.
Unter dem Toten kamen noch mehr Unterlagen und Papiere auf der Tischplatte zum Vorschein. Sie maß gut zwei Quadratmeter und war völlig damit bedeckt. Der Tod hatte Carl Petersson beim Schreiben und Denken überrascht. Kjell wandte sich an Per.
„Ist der wirklich mit der Stirn dort aufgekommen, oder wurde er abgelegt?“
„Sieht nach einem Aufprall aus. Halb sank er hin, halb stieß man ihn, hehe!“
Wenn es wirklich hier und so passiert war, musste der Mörder hinter Petersson gestanden haben. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, verfolgte Kjell jedoch zunächst nicht. Ihm fiel einfach nichts ein.
Der Anblick des Zimmers und vor allem des Tisches hatte etwas von einem Obstarrangement.
Per deutete auf die Telefonladestation auf dem Schreibtisch. „Das Telefon fehlt, ich hab schon gesucht.“
Die Männer betteten Peterssons Leiche in den Sarg. Per entfernte auch den Stuhl und schlug ihn in Plastikfolie ein. Kjell holte sich einen Küchenstuhl und nahm am Schreibtisch Platz. Sofi stellte sich schräg hinter ihn. Er wollte alles mit Muße betrachten und in sich aufnehmen. An der Wand hingen Skizzen und Tabellen. Es waren solche, wie man sie beim Entziffern von Schriften verwendete, eine Auswertung über die Häufigkeit eines Zeichens oder die Zuordnung eines Lautwertes zu einem Zeichen. Während seines Studiums hatte Kjell sich mit der Entzifferung der mykenischen Schrift beschäftigt, und das ähnelte dem, was er hier sah. Auf dem großen Plakat direkt vor dem Schreibtisch waren spiralförmig angeordnete Zeichen zu sehen. Kjell wusste, was das war.
Er überflog die Papiere auf der Tischplatte. Auch hier tauchten die Zeichen aus der Spirale wieder auf. Petersson hatte an dem Geheimnis dieser Spirale gearbeitet, als ihn der Tod überkam.
„Was sind das alles für Sachen?“, fragte Sofi.
Kjell zeigte auf die Spirale, genauer gesagt waren es zwei, nämlich die Vorder- und Rückseite. „Stell dir vor, Albert Einstein wäre an seinem Schreibtisch erstochen worden, während er gerade einen seiner Aufsätze zur Relativitätstheorie verfasste.“ Er wusste nur zu gut, wie er Sofi aufwühlen konnte. Das war bei ihr ganz einfach.
Sie sah ihn erstaunt an. In Ihrem Blick lagen wie erwartet Skepsis und Widerwillen. „Das wäre nicht gut. Dann gäbe es ja keine Computer und keine Musik-CDs.“
Gar kein so schlechter Gedanke, schoss es ihm durch den Kopf. Zudem ein gerechter. Der arme Bach war über einer seiner besten Fugen gestorben, während Einstein nach der Relativitätstheorie den Rest seines Lebens nur noch herumgelungert hatte. Kjell wäre es umgekehrt lieber gewesen. „Und keine Mondlandung“, ergänzte er Sofis Auflistung der wirklich wichtigen Dinge im Leben der Menschen.
Sie überlegte kurz. „Nää“, antwortete sie dann und klopfte ihm von hinten auf die Schulter. „Bis zum Mond schafft man es auch mit Newton. Aber deine neue Mikrowelle könntest du dann vergessen.“
Auf die würde er nie mehr verzichten wollen. Es gab wirklich genug Bachfugen. Er deutete auf die Spiralen. „Der Diskos von Phaistos. Er kommt aus Kreta und ist dreieinhalb Jahrtausende alt. Die Zeichen wurden spiralförmig mit Stempeln in den Ton gedrückt.“
„Und was steht da?“
„Das weiß kein Mensch! Auch nicht, ob es Griechisch ist oder eine andere, ältere Sprache. Es ist eines der größten Geheimnisse der Altertumswissenschaft.“
„Glaubst du, dass Petersson …?“
Kjell schüttelte den Kopf. „Es hat Hunderte von Theorien gegeben. Er hat es sicher auch versucht, das sehen wir ja hier. Aber ich glaube nicht, dass er es geschafft hat, bis ich die Lösung vor mir sehe. Aber dann hätte sich das Herkommen für uns ja gelohnt.“
„Jaaa“, fand Sofi und legte die Spitze ihre Zeigefingers auf ihre Lippen. „Aber Petersson lag immerhin tot mitten in seinem Deutungsversuch.“
Er drehte sich zu ihr um und sah ihr ernst in die Augen. „Welchen Eindruck hast du von diesem Raum?“
Sofi biss sich nachdenklich auf die Lippe und ließ ihren Blick umherschweifen.
„Du meinst wohl die ganzen Details wie Sahlins Wohnung, die Spülmaschine und das ganze Ambiente hier.“
Er nickte.
„Irgendwas stimmt nicht“, begann sie. „Jemand hat Petersson den Brieföffner in den Rücken gestoßen. Jemand, den er so gut kannte, dass er sich hinter ihn stellen konnte, während er am Schreibtisch arbeitete. Petersson schlug mit dem Gesicht auf die Platte.“ Sofi unterbrach sich, bis sie merkte, dass er nicht bereit war, in Peterssons Rolle zu schlüpfen und den Aufprall nachzuspielen. „Der Täter zog die Klinge heraus, brachte sie zur Spülmaschine, schaltete sie ein und verließ dann die Wohnung. Er besaß einen Schlüssel zu Sahlins Wohnung und rief von dort den Notruf. Vielleicht war das Telefon hier schon gar nicht mehr da. Aber wieso dringt er in die andere Wohnung ein? Hmm, Sahlin könnte es auch selbst getan haben. Vielleicht hat er den Täter auch zu stellen versucht.“
Kjell seufzte. „Schau dir mal den Computer an. Er läuft noch.“
Er räumte seinen Platz für Sofi, die sich nach dem Hinsetzen liebevoll den Rock glattstrich und dann den Knopf am Monitor drückte, den Per vorhin ausgeschaltet hatte.
Sie brauchte eine Weile, um einen Eindruck zu gewinnen.
Ein Menüfenster war geöffnet. Sie klickte mit der Maus auf „OK“. „Der wählt sich in einen Server ein!“
Auf dem Gehäuse des Computers lag ein Kartenlesegerät, an dem jetzt ein rotes Lämpchen aufleuchtete.
Auf dem Bildschirm erschien eine weitere Meldung. Sie forderte sie auf, ein Passwort eingeben, das sah sogar Kjell, ohne dass Sofi es ihm erklären musste.
„Probier doch seinen Namen“, schlug er vor. „Oder … Diskos.“
„Lieber nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass man nur drei Versuche hat“, sagte sie und sah auf das Lämpchen. Sie zog die Karte aus dem Lesegerät und deutete auf den winzigen Chip, der darauf klebte. „Das ist ein hardwarecodiertes Passwort. Die Karte ist von der Handelsbank. Aber das Programm hat damit nichts zu tun.“ Sie zog die Karte aus dem Schlitz. Auf dem Bildschirm erschien eine Warnung, die Karte möglichst bald wieder reinzustecken. Sofi gehorchte. Aus alter Erfahrung hob sie Papiere und Notizblöcke hoch und wurde fündig. „Da ist es ja“, rief sie entzückt.
Unter der durchsichtigen Schreibtischunterlage lag ein Zettel. Darauf standen die Daten einer Bankverbindung in Stockholm, wahrscheinlich Peterssons Konto, und: „Serverpasswort, Stand: 22. Nov.“
Besser schien man es nicht haben zu können.
Sie starrten auf das, was auf die Überschrift folgte. Durch die Entdeckung hatten sie nicht gerade viel gewonnen. Das Passwort selbst war ein Block aus fremdartigen Zeichen, ein Gitter aus fünfzig mal fünf Zeichen, wie sich nach dem Abzählen herausstellte. Es war eine handschriftliche Aufzeichnung, die man beim Fotokopieren verkleinert hatte.
„Weißt du, was das ist?“, fragte Kjell.
„Hieratisch“, antwortete sie. „Ich glaube, dass es Hieratisch ist.“
„Jetzt erstaunst du mich aber.“
Sie versuchte, ihr Lächeln zu verbergen.
Kjell wusste, dass Sofi mit fünfzehn einen ganzen Sommer lang in Kairo gelebt hatte, mehr aber auch nicht. Sie war bei diesem Thema sehr verschwiegen. Kjell glaubte, dieser Sommer sei Sofis ganz persönlicher Schatz, den sie manchmal gerne aufblitzen ließ. Aber sie würde die Truhe nie ganz öffnen.
In ihrer Akte stand, dass sie fließend Arabisch sprach.
„Kannst du etwas lesen?“, fragte er.
„Nein, ich erkenne nur, dass es altägyptische Schreibschrift ist. Lesen kann ich das nicht.“
Die Zeichen des Gitters waren jedoch keine der üblichen Hieroglyphen, wie man sie auf Tempelmauern fand, sondern eine Handschrift, mit der ägyptische Schreiber auf Papyrus zu schreiben pflegten.
Kjell wusste nur, dass man Jahre brauchte, um so etwas flüssig lesen zu können. „Wir könnten natürlich eine Zeichenliste heranziehen. Dann können wir die Zeichen vielleicht transkribieren.“
„Aber es gibt dabei immer noch ein großes Problem. Ich habe hier ja eine westliche Tastatur, und der Server erwartet eine Eingabe, die aus lateinischen Buchstaben und Zahlen besteht.“
„Man kann das nicht so eindeutig übertragen?“
„Es existieren so viele Umschriftsysteme. Deutsch, englisch, französisch. Und dann gibt es da noch ein anderes Problem. Das Gitter hat fünfzig Zeilen mit jeweils fünf Zeichen, also 250 Zeichen, aber man kann nur fünfundvierzig Stellen eingeben.“
Sie entschieden sich, die Lösung dieses Problems zu vertagen. Sofi verschaffte sich einen flüchtigen Überblick über den Inhalt des Computers. Einige Dokumente lagen auf der Festplatte, auf den ersten Blick handelte es sich um wissenschaftliche Aufsätze und Notizen.
„Der Server steht auf jeden Fall im Nahen Osten. Die Nummernadresse deutet auf Ägypten hin.“
Er trat zwei Schritte zurück und betrachtete den Tisch, den Computer, Sofis Hinterkopf und ihren Rücken. „Kannst du die Festplatte kopieren? Wir lassen alles so stehen, in dieser Umgebung und Anordnung. Hier stimmt irgendetwas nicht.“
Kjell und Sofi trafen um kurz vor sieben und lange vor der Dämmerung im Polizeigebäude in der Polhemsgatan in Kungsholmen ein. Nur wenige Fenster waren um diese Zeit schon erleuchtet, doch nachdem sie die Sicherheitstür zu ihrem Büro passiert hatten, sahen sie ihre beiden Kollegen bereits bei der Arbeit. Barbro arbeitete schon seit einer Stunde. Henning war erst vor wenigen Minuten angekommen. Er wohnte weit im Süden der Stadt in Huddinge und hatte deshalb die ersten beiden Stunden nach Sofis Weckruf auf der Schnellstraße im Schneegestöber verbracht.
Wie immer begannen sie den Arbeitstag mit der Morgenandacht. So nannte Barbro die Frühbesprechung. Henning sagte meist nur „Kaffee“ dazu, wenn er überhaupt sprach. Die Taktische war eine von drei Sonderermittlungsgruppen der Reichsmordkommission, die die Reichspolizeileitung vor kurzem gebildet hatte. Die Gruppen hatten jeweils eigene Schwerpunkte, in der Hierarchie standen sie nicht nur über allen anderen Kommissionen, sondern auch über den lokalen Polizeieinheiten im ganzen Land. Die taktische Gruppe von Kommissar Kjell Cederström beschäftigte sich mit besonderen Gewaltverbrechen. Sie zeichneten sich nicht durch ihre Brutalität aus, sondern durch die Komplexität der Ermittlung und die schwierige Beweisführung. Da musste man taktisch ans Werk gehen, daher der Name. Der größte Teil der Fälle waren Nachermittlungen, bei denen die Gruppe erfolglos abgeschlossene Hauptermittlungen der regulären Kommissionen aufnahm. Der Auftrag kam in der Regel vom Generalankläger oder dem Justizkanzler, zu einem früheren Zeitpunkt auch von der Reichskriminalleitung selbst.
Das Polizeigebäude, den Sitz zahlreicher Polizeiinstitutionen, bildete eine Vielzahl von Gebäuden mit unterschiedlichem Baujahr und Aussehen. Sie hatten miteinander nur gemein, alle zur falschen Zeit erbaut und so hässlich zu sein, dass sich die Angestellten auf den Winter freuten, wenn sie das Gebäude bei Dunkelheit betreten und wieder verlassen konnten. Der Architekt musste sich nach einer Normandiereise in früher Jugend offenbar in der Tradition deutscher Gefechtsbunkerkonstrukteure gesehen haben. Der Komplex erstreckte sich vom Kronobergspark mehrere Blocks weit bis hin zum Rathaus. Die Gruppe residierte in einem der oberen Geschosse des Vorderhauses mit Blick auf den Park. Sie hätten ein noch größeres Büro zwei Häuser weiter bekommen können, aber dann wären alle dreißig Minuten Hubschrauber einen halben Meter über ihrem Kopf gelandet und gestartet. Von hier aus konnte Kjell sogar das Sankt-Erik-Gymnasium zwei Straßen weiter sehen. In der Etage kursierte der Witz, dass Linda ausgerechnet dieses Gymnasium besuchte, damit Vater und Tochter sich den ganzen Tag zuwinken konnten. Aber die Wahrheit war, dass Linda diese Schule gewählt hatte, weil sie einen Kunstzweig anbot und von allen Stockholmer Gymnasien am wenigsten Physik.
Das älteste Mitglied der Gruppe war Henning Larsson. Er würde demnächst fünfzig werden und zugleich auch Kommissar. Henning blickte auf ein rauhes Leben zurück, war in jungen Jahren im Sommer zur See und im Winter Taxi gefahren. Dabei war er auch noch zwanzig Jahre lang schlecht verheiratet gewesen. Das hatte ihn am meisten gegerbt. Seit zwei Jahren war er umso glücklicher geschieden und entfaltete sich in seiner alten Dreizimmerwohnung, die er jetzt ganz für sich allein hatte. Seine Ehe war nicht gerade explodiert, ihr Ende hatte mehr einem Schlauchboot geglichen, das unbemerkt gegen einen spitzen Stein aufläuft. Auch beruflich war sein Stern lange Zeit gesunken, bevor Kjell ihn zu Beginn des Jahres in die Gruppe berief. Im Hinblick auf seine Körperfülle und seinen Spürsinn wäre es mühsam und teuer gewesen, ihn in Gold aufzuwiegen. Er war karg an Worten, aber im Gegensatz zu Sofi verbarg sich hinter seiner Schweigsamkeit nichts, was er zurückhielt.
Sofi Johansson war ein leiser Mensch. In ihrem zehnten Lebensjahr hatte das Jugendamt sie aus Karlstad in Westschweden zu einem älteren Bauernpaar ins hintere Värmland gebracht, wo sie den Rest ihrer Kindheit gelebt hatte. Wer wie ihre Pflegeeltern vierzig Jahre verheiratet ist und einen Hof führt, auf dem sich Jahr ein, Jahr aus alle Verrichtungen wiederholen, spricht nicht viel, und so war daher auch Sofi. Woher die üppigen Brüste stammten, die er ihr in der Nacht angedichtet hatte, würde für immer ein Rätsel bleiben. Im Gegenteil, Gott war bei Sofis Erschaffung vorsichtig und feinsinnig ans Werk gegangen, und um Sofi schwebte eine Wolke von Unantastbarkeit. Ihr stilles Wesen ließ ihren schlaksigen Körper grazil wirken, jedenfalls solange sie keinen Schraubenzieher in die Hand nahm, was ein-, zweimal am Tag passieren konnte. Sie war dunkel, man nahm an, dass ihr leiblicher Vater aus einem Land im Süden stammte, aber dieses Geheimnis hatte ihre Mutter mit ins Grab genommen.
Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Sofi Johansson eigentlich viel zu jung für die Reichsmordkommission und die Taktische. Ihre Altersgenossen arbeiteten allesamt noch bei der Schutzpolizei oder als Anfänger bei der lokalen Kripo. Kjell hatte sie im Frühsommer auf einer Großbesprechung unter den anderen Anwärtern entdeckt und wie einen Goldschatz aus ihrem Revier in Norrmalm geborgen. Ausgerechnet Norrmalm, hatte er gesagt, da gehört sie ja nun wirklich nicht hin.
Barbro Setterlind fiel das rötlichblonde Haar in leichten Kurven gerade so über die Schultern. All ihre taillierten Blusen mündeten oben in einem hohen Kragen, der Barbros Hals noch schmaler wirken ließ. Sie wirkte mit ihren dünnen Lippen und ihrem Parfüm, das einem das ganze Jahr über gnadenlos Frühlingsgefühle aufzwang, ein wenig hart und fleischlos. Dagegen standen ihre kastanienbraunen Augen und die karibische Gelassenheit, mit der sie den Alltag wie von einem Hochsitz aus an sich vorbeiziehen ließ.
Sie war vierunddreißig Jahre alt und gemäß ihres Zehnjahresplans noch für mindestens sieben Jahre unverheiratet. Der laufende Zehnjahresplan sah nur Emelie vor, ihre zweijährige Tochter. Barbro und Emelie wohnten in einer Etage am Strandvägen über der Wohnung ihrer Eltern, denen das ganze Haus gehörte sowie große Teile vom Rest der Welt. Der abgelaufene Zehnjahresplan war ganz auf Männer ausgerichtet gewesen und hatte ihren Kollegin entsprechende Spitznamen eingebracht, doch Emelies Geburt schien Barbro auf andere Gedanken gebracht zu haben. Ihre Freizeit verbrachte die Tochter aus Stockholms Oberschicht nun mit ihrem zwanzig Jahre älteren Kollegen Henning, mit dem sie auch das Büro teilte. Kjells erste Sorge, ob sich zwei in allen Punkten so unterschiedliche Menschen vertragen könnten, hatte sich bald verflüchtigt. Der Frühling hatte eine gegenseitige Rücksichtnahme zwischen ihnen entstehen lassen, die der Sommer und der Herbst in eine Freundschaft verwandelt hatten. Er hoffte, dass der Winter nicht auch noch Liebe daraus machte.
Gestern Abend waren die vier wie jeden Montag nach der Arbeit ins Schwimmbad im Keller des Polizeihauses gegangen. Erst im Sommer waren aus gelegentlichen Abstechern ins Kellerbad regelmäßige montägliche Schwimmabende geworden. Weil der Arzt Henning zu mehr Bewegung riet, hatte sich Henning für Triathlon entschieden. Morgens radelte er einen halben Kilometer zum Pendelzug und und schlenderte vom Centralen zum Präsidium. Das lag genau eine Zigarettenlänge entfernt. Im Sommer ließ er sich gern zur Abendsonne ausgerichtet bis zur Dreißigmeterboje am Smedsudden treiben, an Winterabenden unten im Schwimmbad bis zur Wendemarke. Zu Beginn waren Kjell und Henning unter sich gewesen. Kurz darauf stieß auch Sofi dazu und am Ende sogar Barbro, aber nur, um nichts zu verpassen. So war es auch mit den Träumen bei ihm losgegangen, die ihn immer in der Nacht von Montag auf Dienstag befielen. Sofi im Badeanzug war eine Heimsuchung für Männer ohne Gelegenheit. Während sie schwammen, war das alles erträglich, aber im Nachhinein durfte man lieber nicht an sie denken. Normalerweise dachte er dann an ihren Rücken mit seinem lieblichen Muskelspiel, und zwar deshalb, weil sie immer ein bisschen schneller schwamm als er. Von allen Frauen hatte sie den allerschönsten.
Sein Drang zu schwimmen war in diesem Sommer erwacht, der unerträglich heiß gewesen war. Unter den Arbeitnehmern dieser Welt gehörte er neben Muscheltauchern in der Ägäis zu den wenigen, die theoretisch zu ihrem Arbeitplatz hätten schwimmen können. Nach einem heißen Arbeitstag brauchte er nur die Polhemsgatan bis zum Norr Mälarstrand hinunterzuschlendern und dort ins Wasser zu steigen. Wenn ihn unterwegs keine Schiffsschraube erwischte, konnte er in Långholmen dem Wasser wie Aphrodite entsteigen. Auf dem verbleibenden Fußweg hatte man fünf Minuten Zeit, um zu trocknen, bevor man daheim in den kühlen Lift stieg. Das hatte er im Sommer viermal gemacht. Jedes Mal musste Linda ihm auf dem Fahrrad wie eine Ballonfahrtbegleiterin über die Brücke folgen, seine Kleidung und Tasche auf dem Gepäckträger. Wenn er in Långholmen an Land ging, hatte sie immer schon auf ihn gewartet.
Kjell kochte Kaffee, Sofi holte Brötchen und Zimtschnecken aus der Cafeteria. Die Gruppe besaß zwei Büros und einen großen Besprechungsraum, den sie auch für die Pausen nutzte. Kjell erzählte Barbro und Henning vom Tatort, enthielt sich dabei jedoch jeder Vermutung, was dort geschehen sein könnte.
Auch Barbro hatte viel zu berichten. Seit ihrer Ankunft im Präsidium hatte sie sich mit der Identität und den Lebensumständen von Carl Petersson beschäftigt. Er war 1955 in Norrköping geboren worden und hatte gleich darauf die Taufe und die Personenkennummer 550812–1935 empfangen. Nach dem Studium der Orientalistik und Archäologie hatte er es rasch zu internationalem Renommee als Forscher gebracht.
Doch es gab einen harten Bruch in seinem Leben. Vor zwölf Jahren hatte er all das restlos verspielt, was er sich aufgebaut hatte. Mehr wusste Barbro noch nicht, aber Petersson hatte bis dahin eine Professorenstelle in Uppsala innegehabt, von der er dann freiwillig zurückgetreten war.
Die Reichskriminalpolizei führte eine Akte über Petersson, und Barbro hatte auch bereits das Dossier erhalten, das die Säpo, der schwedische Staatsschutz und Geheimdienst, über ihn führte. In beiden Akten wurde Petersson mit Antiquitätenschmuggel in Verbindung gebracht. Vor allem ging es jedoch um die Fälschung von Antiquitäten. Man wusste bisher nur, dass Petersson sowohl über das Fachwissen als auch über die Kontakte in beide Richtungen verfügte, um in diesem Geschäft mitmischen zu können.
Für die westlichen Polizeiorganisationen war das natürlich nicht genug gewesen, um ihm etwas nachweisen zu können. Zudem gab es auch berechtigte Zweifel daran. Die Ägypter hatten Petersson schon 1989 ein Grabungsverbot erteilt, nachdem man einen französischen Mitarbeiter aus einem seiner Grabungsteams an der jordanischen Grenze mit dem Kopffragment einer Königsstatue aus herrlichem Rosengranit im Kofferraum erwischt hatte. Im Jahr 1992 erteilte Ägypten Petersson dann ein generelles Einreiseverbot.
„Das muss man bezweifeln“, bemerkte Sofi. „In seiner Küche hängt ein Foto von ihm, das ihn vor dem Ägyptischen Museum in Kairo zeigt. Dieses Bild kann erst Ende der neunziger Jahre nach dem Anschlag entstanden sein.“
Barbro nickte. „Das behaupten die von der Säpo auch. Es ist nicht bekannt, ob er sich durch Bestechung den Weg ins Land zurückgekauft hat oder ob es andere Abmachungen gibt.“
Kjell entschied, dass sie sich an den Amtsnachfolger von Petersson in Uppsala wenden sollten, um herauszufinden, was vor zwölf Jahren zu Peterssons Rücktritt geführt hatte. Sofi wollte das übernehmen.
„Der Tatort selbst gibt uns eine Reihe von Rätseln auf“, meinte Kjell. „Da wird dieser Mann nach all seinen Abenteuern in fernen Ländern zu Hause an seinem Schreibtisch in seinem Morgenmantel ermordet.“
„Wie war denn der Rest der Wohnung?“, wollte Barbro wissen.
„Der Flur ist ein langer Schlauch, die Zimmer sind wie an einer Kette daran aufgesäumt.“ Kjell skizzierte den Grundriss auf einem Blatt Papier. „Eigentlich recht schön. Der Eingang liegt in der Mitte, nach links am einen Ende des Flurs kommt man zum Arbeitszimmer, in der anderen Richtung ist das Wohnzimmer, dazwischen Küche und Schlafzimmer. Das ist im Vergleich zu den anderen Zimmern klein. Man kann das Bett auf vernünftige Weise nur vom Fußende aus betreten, muss also hineinhechten oder draufkrabbeln. Sonst sah es so aus wie bei mir, wenn man Linda und ihre Bilder einmal wegrechnet. Eine geschmackvolle Mischung aus Büchern und ein paar Möbeln.“
Sofi und Barbro grinsten sich an.
„Glaubst du, er hat allein dort gewohnt?“, fragte Sofi und wischte sich mit dem Finger über die Nasenspitze, um die Grimasse aus ihrem Gesicht zu verscheuchen.
„Warum sollte er nicht?“
„Die Wohnung war so sauber. Bis auf die Küche war alles frisch geputzt. Ist dir das nicht aufgefallen?“
„Doch, nirgendwo Staub.“
„Kjell hat ja auch eine Putzfrau“, erwiderte Barbro lachend. „Oder sogar zwei, wenn man Linda dazurechnet.“
Sie saßen noch eine halbe Stunde zusammen. Das Gespräch wendete sich dem sonderbaren Passwort und dem Computer zu. Der Zettel mit dem Passwort war ein langer Papierstreifen und hatte das Format eines Kassenbelegs, wie man ihn am Ende eines Weihnachtseinkaufs im Supermarkt in die Hand gedrückt bekommt. Darauf standen fünfzig Zeilen mit je fünf Hieroglyphen, ein ordentliches 50×5-Gitter mit Trennlinien, die mit dem Lineal gezogen waren. Offenbar hatte Carl Petersson die Zeichen mit der Hand geschrieben, denn einige wiederholten sich zwar, sahen aber nie ganz identisch aus. Der Vergleich mit anderen Notizen legte nahe, dass die Hieroglyphen aus seiner Hand stammten, aber man konnte sich dabei nicht so sicher sein wie bei einer normalen Handschrift.
Dieses Rätsel würde zu Sofis Aufgaben gehören, denn es kam nicht nur ihrer Neigung für Ägypten entgegen, vor allem brachte sie alle Fähigkeiten in Mathematik und EDV mit. Sofi keine angelernte Computerspezialistin wie die meisten IT