Die Schutzflehenden - Daniel Scholten - E-Book

Die Schutzflehenden E-Book

Daniel Scholten

0,0

Beschreibung

Ein Sommerabend in Stockholm: Die Tochter von Justizkanzler Rosenfeldt stürzt aus dem Fenster ihres Apartments. Im Schlafzimmer stößt die Polizei auf den Briefwechsel zweier Liebender, der nur aus Zitaten aus antiken Tragödien besteht. Bei der Identifizierung behauptet der Vater, dass die Tote nicht seine Tochter Josefin ist. Niemand weiß, wer die junge Fremde ist. Nur eines steht fest: Sie hat die Identität der Tochter von einem der wichtigsten Staatsmänner Schwedens übernommen. Whodunit-Krimi. »Das ist fein und mit Respekt gemacht und entspricht dem groß angelegten Spiel mit dem Rätselhaften, das Scholten betreibt.« - Tobias Gohlis, Die Zeit »Kommissar Cederström mit seinem Team ist A-Klasse, der Stil rasant, die Story frisch. Bitte mehr davon!« - Alex Dengler, Bild am Sonntag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Daniel ScholtenDie Schutzflehenden

Impressum

Dritte Auflage. Die Originalausgabe erschien 2008 bei Random House unter dem Titel ‚Die falsche Tote‘. Die Bände dieser Reihe können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

2020 Bright Star Books. All rights reserved.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Der Umfang dieses Werks entspricht 375 Standardseiten.

ISBN 9783948287221

Build: 20200630050025

Unique ID: DSF_9783948287221_20200630050025

Dieses Werk ist auch als Printausgabe unter der ISBN 9783948287238 erhältlich.

Verlag und Hersteller: Bright Star Books in der ASE GmbH, Ingolstadt, [email protected]

Inhalt

Impressum

Inhalt

Karten

1

Süden der Bretagne

Kapitel 1

Donnerstag, 2. August, Stockholm

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Freitag, 3. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Samstag, 4. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Sonntag, 5. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Montag, 6. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Dienstag, 7. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Mittwoch, 8. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Donnerstag, 9. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Freitag, 10. August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Karten

Karte von Stockholm

Süden der Bretagne

1

Dort musste es sein. Josefin fuhr von der Straße ab und ließ den Wagen langsam auf die Wiese rollen. Noch bevor er ganz stillstand, öffnete Clément die Tür und sprang hinaus. Mit den Augen gab er ihr ein Zeichen, dass er nachschauen wolle.

Josefin zog den Schlüssel ab und pustete die Luft aus ihren Lungen. Ihr Blick folgte Clément, als er über den ausgedörrten Rasen auf die Stelle zuschlenderte, wo sich der Wald zu eine dunklen Loch öffnete. Kurz darauf hatte es ihn verschluckt.

Sie drückte die Tür auf. Sofort brannte die Mittagssonne auf ihrem ausgestreckten Arm. Beim Aussteigen war es, als prallte sie gegen die Mittagshitze, die nach nichts roch und nach nichts schmeckte. Josefin schützte ihre Augen mit der Hand und versuchte, Clément zu erspähen, doch das Licht ließ allen Dingen nur die Wahl, zu erblassen oder schwarz zu werden.

Clément störte es nie, wenn er auf sie warten musste, aber dennoch zwang sie sich, ihn rasch einzuholen. Staunend betrat sie den Wald. Obwohl die Stämme dicht beieinander standen und die Wipfel der Bäume sich zu einem kompakten Dach zusammenfügten, war es gar nicht finster. Die Luft war nur ein wenig kühler als draußen und roch nach dem trockenen braunen Erdboden. Anders als zu Hause gab es kaum Grün auf dem Boden, und es ragten auch keine Felsbrocken aus der Erde hervor. Die Öffnung war der Beginn eines geraden Weges, der wie ein ausgetrocknetes Bachbett tief in die weiche Erde eingesunken war. Hundert Schritte weiter hatte Clément seinen Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete die Baumkronen.

Es war so still. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es kein Summen und Flirren von Insekten gab und auch keine Vögel. Das lag vielleicht an der Mittagszeit, aber trotzdem fühlte sie, dass die Zeit diesen Wald verlassen hatte.

Clément war nie ungeduldig. Weil er auf nichts wartete, wusste sie. Deshalb verbrachte sie die Sommer so gerne mit ihm. Seit der Kindheit. Manchmal küssten sie sich. Sie tat es vor allem, weil sie die Unkompliziertheit, mit der sie es manchmal taten und manchmal nicht, so unglaublich fand und unbedingt auskosten wollte. Er jedoch, weil es im schmeckte.

Als sie ihn erreichte, lächelte er nicht. Sonst tat er das immer, deshalb deutete sie es so, dass auch er die Geschlossenheit dieses Waldes spürte. Ob das auch so war, wenn man von seiner Geschichte gar nichts wusste? Den Geist des Ortes hatten die Römer das genannt. Josefin glaubte daran.

Der Weg setzte sich in gerader Linie fort, in alle Unendlichkeit, wie es schien, wie ein Bild, das den Betrachter verwirren soll. Dabei war der Wald gar nicht so groß.

Sie folgten schweigend dem eingesunkenen Weg, an dessen Kanten die Wurzeln der Bäume in die Luft ragten. Es bereitete ihr kein Unbehagen, immer tiefer in dieses Bild zu gehen. Aber dass sich der Wald überhaupt nicht veränderte, wunderte sie. Als wiederholte er sich dauernd. Zu Hause, im fortschrittlichsten Land der Welt, wandelte sich sogar der Wald auf Schritt und Tritt, wenn man ihn durchstreifte. Dort zeigte er einem dauernd neue Bilder, die einen zum Weitergehen anspornten.

Nach einer Viertelstunde blieben sie stehen und blickten zurück. Der Lichtpunkt des Eingangs war verschwunden. Josefin zog die Wanderkarte aus ihrer Gesäßtasche und studierte sie. Der Hinkelstein hätte längst kommen müssen. Es gab auch keinen Zweifel, dass es nur diesen Weg gab, obwohl er inzwischen nicht mehr so tief im Boden lag, und man ihn leicht verlassen könnte.

„Druiden gibt es auch nicht“, murmelte Clément in seinem rollenden bretonischen Französisch. Dann blickte er wieder hinauf in die Baumkronen.

Der die Bäume kennt, schoss es Josefin durch den Kopf, „dru“ war ein altes indogermanisches Wort für Baum oder Holz, das hatte sie in ihrem Griechischbuch entdeckt. Und „uid“, das stand für „wissen“ und gehörte zum selben Wortstamm. Wie Caesars vidi, ich habe gesehen.

Wer gesehen hat, der weiß. Erst wollte Josefin es Clément erzählen, doch er interessierte sich nicht dafür, wie die Dinge zusammenhingen, er wollte sie lieber spüren, und es hätte ihm nichts ausgemacht, wenn die Dinge gar nicht miteinander verbunden, sondern einfach nur für sich da gewesen wären.

Er entdeckte etwas am Boden und ließ sich auf die Knie sinken. Eicheln waren das. Sie lagen dort in Scharen. Clément begann, den vorderen Saum seines T-Shirts hochzuziehen und die Eicheln einzusammeln. Das Hemd benutzte er als Tragetasche.

„Willst du die alle mitnehmen?“

Er nickte. „Das ist doch ein schönes Geschenk, wenn du wieder nach Hause fährst. Dann haben alle deine Freunde bald eine Eiche aus dem Druidenwald in ihrem Garten stehen.

Josefin lächelte, bis Clément sich wieder dem Boden zuwandte. Dann ließ sie ihren Blick umherschweifen. Diese Verschlossenheit. Und trotz der Bäume wirkte der Wald leer. Wie ein leeres Säulengebäude. Auf einmal fiel es ihr ein. Das Mädchen. Das dunkelhaarige Mädchen aus Stockholm. So eigenartig war sie gewesen. Bei dem Treffen hatte sich Josefin gefragt, was mit ihr nicht stimmte. Aber jetzt wusste sie es. Ihre Augen, hinter ihnen schien eine Leere zu sein, die dieser hier glich. Als hätte sich die Seele weit nach hinten zurückgezogen. Wie immer wieder in den letzten Tagen fragte sich Josefin, ob es ein Fehler gewesen war, Kontakt zu ihr aufzunehmen.

In Gedanken hatte sie begonnen, auf und ab zu laufen. Da entdeckte sie die kleine Öffnung zwischen den Büschen und spürte sogleich den Drang hineinzuschlüpfen. Es war kein Weg, wie sich bald herausstellte, eher eine natürliche und zufällige Lücke. Nadeläste strichen über ihren Bauch. Hinter den ersten Büschen öffnete sich der Durchgang zu einem bemoosten Pfad. Sie ging weiter, obwohl sie sich immer wieder mit den Haaren verfing und über Wurzeln stolperte.

Dann weitete sich das Gestrüpp zu einer Lichtung. Der Weg war hier zu Ende. Josefin blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihr lag ein kleiner Weiher. Die Strahlen der Sonne schienen über dem Wasser in der Luft zu stehen. Josefin hörte ein Flirren, dessen Herkunft sie nicht ausmachen konnte. Das Wasser roch brackig und nach Moor.

Es war eine gedrängte Welt hinter unsichtbaren Mauern. Sie hatte die klare Erkenntnis, dass sie hier nicht sein durfte. Aber sie konnte sich nicht bewegen, geschweige denn umdrehen und zurückgehen. Dann bemerkte sie die Gänse. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und trieben lautlos auf dem Wasser. Graugänse. Josefin starrte auf das lautlose Gleiten. Im selben Augenblick begannen die Vögel, mit den Flügel zu schlagen und zu schnattern. Sie war zu benommen, um die Tiere zu zählen, aber es mussten fünf oder sechs sein. Die Gänse schlugen dicht über der Wasseroberfläche mit den Flügeln und erhoben sich dann in die Luft.

Die Idylle konnte sie nicht erfreuen. Sie stand einfach nur da und brauchte eine ganze Minute, bis sie sich dem Ort wieder entziehen konnte. Er zerrte an ihr und wollte sie festhalten. Etwas ganz und gar Fremdes war hier. Sie wusste nicht, ob es gut oder böse war. Oder ob sie gut oder böse war.

Als sie zu Clément zurückkehrte, kniete er immer noch an derselben Stelle. Die Vorderseite seines Hemdes bog sich durch. Mehr als hundert Eicheln musste er darin gesammelt haben.

Wohin die Gänse wohl geflogen waren? Vielleicht kamen sie sogar aus Schweden. Sie erzählte Clément nicht, was sie erlebt hatte. Das Bild und die Frage begleiteten sie auf dem ganzen Rückweg bis zum Ausgang des Waldes. Erst dort glaubte sie, sich ganz aus dem Sog befreit zu haben. Als sie die Wiese und das Licht erreichten, wusste sie es. Sie erinnerte sich an ihre Ferien bei Großmutter und daran, dass sie dort nie die alten japanischen Nils-Holgersson-Folgen im Nachmittagsprogramm ansehen durfte. Aber sie konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern, den Großmutter ihr genannt hatte.

Am Wagen nahm sie ihr Telefon aus der Ablage und klappte es auf, um sich zu vergewissern, dass die Zeit nicht vielleicht doch stehengeblieben war. Ihr war ein Anruf entgangen. Josefin prüfte, wer der Anrufer gewesen war. Es war die Nummer des Mädchens.

Donnerstag, 2. August, Stockholm

1

Das Wasser duftete schon nach fliehendem Sommer. Dafür sorgte der kalte und ziehende Wind, der ihm von hinten um die Ohren strich. Am Himmel streckten sich hochschwebende Wolken über ganz Uppland. Für ihn war das schon der Herbst. Doch sobald er die Nase wieder ins Wasser tauchte, war sie wieder da, die gestaute Hitze. Sie ließ das Wasser wie Gemüsesud schmecken.

Leichte Wellen trieben über die Oberfläche. Immer wenn er ein Wellental durchquerte, tauchten die Ufer am Horizont ab und die Geräusche der Stadt verstummten. Dann war nur noch das Schwappen zu hören. Eine kalte Strömung streifte seine Hüfte.

Linda hockte auf dem länglichen Felsvorsprung über dem Sandstrand. Dort erwartete sie ihn immer. Er entdeckte sie, als ihn eine weite, flache Welle nach oben trug. Linda hatte die Knie zur Brust gezogen und die Arme darauf gebettet. Das schräge Licht der Abendsonne ließ ihre linke Seite gold glänzen, die rechte lag im Dunklen.

Sie regte sich nicht und hatte ihn noch nicht bemerkt, obwohl er bestimmt zu sehen war. Wenn man aufmerksam auf das Wasser schaute. Er verhielt sich still, bis er sich ganz sicher sein konnte. Er wollte keiner Fremden zuwinken und dann auf sie zuschwimmen. Vier Züge später sah er auch das Fahrrad aufblitzen, das neben ihr lag. Da winkte er. Nach mehreren nun schon kraftlosen Atemzügen bemerkte sie ihn auf einmal, hob die Arme und winkte, als wäre er von ihnen beiden der Orientierungslose.

„Nur noch ein bisschen, Papa! Jetzt hast du es gleich geschafft!“

Er schluckte Wasser. Auf der Wiese klappten ein halbes Dutzend Frauenoberkörper hoch. Die Feierabendsonnenden formten mit ihren Händen einen Blendschutz vor der Stirn, um dabeizusein. Bis Papa es geschafft hatte.

Mit letzten Kräften erreichte er das Ufer. Wegen der Aufmerksamkeit, die Linda ihm verschafft hatte, konnte er sich nicht wie ein schlaffer Lappen neben sie auf den Fels fallen lassen und keuchen, sondern musste kurz vor dem Anlanden einen eisernen Tonus seines Körpers herbeiführen, wofür ihm vor allem mentale Entschlossenheit zur Verfügung stand. Gleichzeitig musste er so aus dem Wasser steigen, dass ihm seine Haare nicht stumpfsinnig auf der Stirn klebten.

Sie reichte ihm das Handtuch. „Ich hab schon geglaubt, dass du schlappmachst."

Er war mit Henning vom Büro aus die Polhemsgatan hinuntergeschlendert. Am Smedsudden waren sie ins Wasser gestiegen und hatten im brusttiefen Wasser stehend noch eine Viertelstunde über ihre neue Kollegin gesprochen. Das war Sofi. Sie hatte vor einigen Wochen bei der Gruppe begonnen. Henning hatte dabei eine Dose Bier getrunken. Den ersten Schluck so zu messen, dass die Dose danach aufrecht neben einem im Wasser treibt, das war nur eines der Talente, die Gott Henning mit auf den Weg gegeben hatte. Sein wichtigstes allerdings, wie er selbst fand. Er schwamm nie weiter als die dreißig Meter bis zur roten Boje. Die Bojen markierten nicht etwa das Ende des Badestrands und den Beginn des schiffbaren Wassers, wie viele glaubten, sondern genau die Distanz zum Strand, wo das Bier zur Neige ging und es für Henning Zeit war, das Steuerruder herumzureißen und sich wieder ans Ufer anschwemmen zu lassen.

Für Kjell jedoch begann bei der Boje der Heimweg über den Fjord. Jenseits der Wassers lag Långholmen. Dort war das Wasser tief und kalt. Er hatte einen Neunstundentag hinter sich, und noch bevor er dem Stimmengewirr am Smedsudden ganz davongeschwommen war, waren ihm die Arme schwer geworden. An anderen Tagen hingegen konnte er noch viel weiter schwimmen. Linda war immer dafür zuständig, mit seinen Sachen im Korb über die Brücke zu radeln und am Ziel auf ihn zu warten.

Heute wollte er nur noch ein Glas Wein mit ihr auf dem Balkon trinken, vielleicht das eine oder andere Wort über den Ernst des Lebens an sie richten, der morgen früh für sie beginnen würde, oder, noch besser, es einfach lassen.

Er nahm die frische Baumwollhose, die Linda ihm mitgebracht hatte, aus dem Fahrradkorb. Und an ein frisches T-Shirt hatte sie auch gedacht.

„Kjell Cederström?“

Kjell und Linda wandten sich gleichzeitig um. Zwei uniformierte Schutzpolizisten standen da, ein Mann und eine Frau, unter deren Kappe ein geflochtener Zopf herausragte. Kjell nickte. Was blieb ihm anderes übrig? Den Wagen hatte er vorhin schon oben vor dem roten Holzhaus stehen sehen. Davor stand ein kleiner Junge in Badehose und versuchte herauszufinden, ob sein Eis bis zum Stiel in seinen Mund passte. Der Kleine hatte es geschafft, er röchelte vor Erkenntnis.

„Wir haben Anweisung, dich so schnell wie möglich nach Vasastan zu bringen“, sagte der Mann, der einen Schritt nach vorn getreten war. Man sah dem Duo an, dass sonst immer die Frau redete, doch jetzt schielte sie nur auf Kjells dunkelblaue Badehose. Zum Glück hatte Linda nicht die rote mitgebracht. Auch der Mann blickte auffällig milde drein, als kämpfte er mit dem Grinsen.

Ein Scherz, überlegte Kjell, einer von der Art, wie man ihn bei der Polizei liebte. Er ließ sich von Linda sein Telefon reichen. „Barbro hat euch geschickt, oder?“

Die beiden schüttelten den Kopf, während Kjell sich das Telefon ans Ohr hielt. Nach dem zweiten Tuten nahm Barbro ab. Er schilderte die Lage.

„Steig sofort in den verdammten Wagen!“, herrschte Barbro mit einer Stimme, die es wirklich ernst meinte. „Die Reichsleitung hat Protokoll 12 angeordnet. Die Säpo hat schon ganz Birkastan abgeriegelt.“

2

Kjell konnte nirgendwo ein Auto fahren sehen. Die Straßen um den Vasapark waren vom Sankt-Eriksplan bis zum Odenplan so leer, dass man wie in tiefer Nacht von überall her die Ampelkästen summen und ticken hörte.

Der Streifenwagen hatte ihn bei der Sigtunagatan abgesetzt, einer kurzen Verbindungsstraße, die sonst immer still dalag. Während an ihren Enden der Verkehr und das Leben über die Odengatan und den noch größeren Karlabergsvägen vorbeirauschten, geschah hier kaum etwas anderes als Wohnen und Parken. Jetzt hatte sich das alles verkehrt. Die Abendsonne bestrahlte das Gewimmel aus Polizisten und wild auf der Straße abgestellten Fahrzeugen, während auf der Odengatan kein einziges Auto fuhr. Das war nur mit einer verordneten Rotschaltung der umliegenden Kreuzungen zu schaffen.

Erstaunt blickte Kjell in die etwa zweihundert Meter lange Straße. An beiden Enden verriegelten Polizeifahrzeuge die Einfahrt. Im Alkoholladen an der Ecke brannten noch die Lichter, obwohl die ja immer schon um sieben Uhr zumachten. Drei Männer, deren Gesichter Kjell nicht kannte, standen darin und hatten sich in ein Gespräch mit den Verkäuferinnen vertieft. Die Sicherheitsabteilung, vermutete Kjell.

Er wusste noch immer nicht, was geschehen war. Aber nach Barbros Auskunft, dass Protokoll 12 auf ihn warte, worin er ein kleines und sich schnell drehendes Rädchen war, konnte es nur um einen Anschlag auf einen Minister oder etwas Ähnliches gehen. Die beiden Zivilisten, die mit den Schutzpolizisten die Straßensperre bewachten, mussten auch von der Säpo sein. Sie ließen Kjell anstandslos passieren, als er sich auswies.

Obwohl von Jugendstil bis zur Gegenwart jeder Stil in dieser Straße vertreten war, wirkte die Häuserfassade monoton. Das Zentrum der Ansammlung lag vor dem graubraunen Haus mit den erbsengrünen Fensterrahmen. Die Polizeifahrzeuge waren konzentrisch um den Hauseingang geparkt wie Pfeile um ein Sonderangebot. Kjell konnte Barbro an ihrem rötlichblonden Haar unter dem Dutzend ausmachen, das vor dem Eingang herumstand. Sie wurde auch sogleich auf ihn aufmerksam, anscheinend hatte sich schon die erste Unruhe in ihr ausgebreitet. Die aufwendige Frisur vom Nachmittag hatte sie inzwischen für einen Pferdeschwanz aufgegeben. Mit einem Schreibbrett in der Hand kam sie auf ihn zu.

„Endlich! Wo bleibst du!“

„Ich war schwimmen. Was ist mit Henning?“

„Der muss auch jeden Moment eintreffen.“ Barbro deutete mit der freien Hand auf den Hauseingang, dessen Tür offenstand und Einblick in den Flur gab. Er erkannte den üblichen halbherzig-protestantischen Jugendstil mit Schachbrettboden und der obligatorischen Schneckenhaustreppe.

„JK-1“, sagte Barbro. „Josefin Rosenfeldt. 21 Jahre. Aus dem vierten Stock gestürzt. Die Leiche ist schon weg.“

Überall um sie herum knisterten Funkgeräte, die Gespräche waren jedoch schon abgeebbt. Für die Träger aller hohen Verfassungsämter und deren Angehörige gab es einen Code, damit es bei der Arbeit nicht zu Verwechslungen kam. Das hatte sich die Säpo in ihrer gedanklichen Kargheit so ausgedacht. Der Partner eines Amtsträgers trug immer eine Null im Code, und die Kinder wurden wie bei den alten Römern durchnumeriert.

Josefin war das älteste Kind des Justizkanzlers.

„Warum wurde sie schon weggebracht? Wie lange seid ihr schon hier?“

Barbro sah auf die Uhr. „Etwa vierzig Minuten. Es gab zwei Zeugen. Eine Passantin hat beobachtet, wie das Mädchen auf dem Gehsteig aufschlug. Und dann gibt es noch eine andere junge Frau, die kurz darauf hinzukam, und die Tote gleich erkannte. Anscheinend ist sie die Mitbewohnerin. Die Sanitäter haben ohnehin alles kontaminiert. Der Säpo war es zu riskant, weil man die Leiche von weitem sehen konnte. Es gibt aber genug Fotos.“

„Welche Priorität hat der Justizkanzler?“

„Das Justizkanzleramt hat eigentlich nur Stufe drei, aber kurz nachdem Rosenfeldt es übernommen hat, hat die Säpo ihn auf zwei hochgestuft.“

Barbro blätterte hilflos in den Unterlagen auf ihrem Klemmbrett. Sie musste die Papiere erst vor kurzem bekommen haben.

Kjell kniff sich in die Nasenspitze. Das wunderte ihn alles nicht. Wenn man bedachte, was Rosenfeldt seit seinem Antritt alles gesagt und getan hatte, fand er es sogar erstaunlich, dass nicht längst etwas passiert war.

Der Justizkanzler war einst der Jurist des Königs gewesen, heute der der Regierung. Aber das war nur die formale Definition, denn eigentlich schützte der Justizkanzler die Bürger und die freiheitliche Grundordnung vor dem Staat. Wie sehr sich der Justizkanzler vor das Volk stellte, hing immer davon ab, wer dieses Amt gerade ausübte. Rosenfeldt jedenfalls war mit mehr Feuer und Flamme an die Arbeit gegangen als je einer zuvor. Als Justizkanzler überwachte er die Pressefreiheit, alle Juristen im Land und das Verhalten der Behörden gegenüber den Bürgern. Dazu zählten auch Kjell und der Rest der Reichsmordkommission.

Barbro hatte endlich gefunden, wonach sie gesucht hatte. „Rosenfeldt nimmt aber keinen Personenschutz in Anspruch, die Kinder auch nicht. Sie haben nur geschützte Adressen.“

„Wo ist der JK jetzt?“

„Ferien in Frankreich. Ist schon verständigt.“

„Ist die Familie auch dort?“

„Es gibt nur die Kinder. Der Sohn hat eine eigene Wohnung in Söder, und Josefin wohnt hier.“

Auf einmal stand Henning bei ihnen. Er musste vom anderen Ende der Straße gekommen sein. „Verdammte Leckmichscheiße. Ich hätte mich an der verrottenden Boje festketten sollen.“ Das war der erste Eindruck des weit über Huddinge hinaus bekannten Schimpfwortsynkratikers.

Sie stiegen in den Einsatzbus und nahmen am Tisch Platz. Barbro wiederholte alles noch einmal. Henning fluchte wieder und blickte durch das vergitterte Fenster des Wagens an der Hausfassade hinauf, die braun und grau war.

„Der Anruf kam um 18 Uhr 37 von einer Passantin“, begann Barbro ihren Rapport. „Ihr Name ist Annika Sandell. Sie hat die Leiche auf dem Gehweg entdeckt und ein wenig verwirrt gewirkt. Deshalb wissen wir nicht genau, ob sie auch den Aufprall mitbekommen hat oder nicht. Sie wird gerade vorne im Sabbatsberg untersucht und dann nach Hause gebracht. Lasse hat aus der Fließgeschwindigkeit des Blutes auf dem Pflaster errechnet, dass die Frau gleich nach dem Aufprall angerufen haben muss. Sonst haben wir bisher keine Augenzeugen für den Sturz gefunden.“

Der Notarzt war um 18 Uhr 41 eingetroffen und konnte nach wenigen Sekunden den Tod feststellen. Eine Minute später war auch der erste Streifenwagen dagewesen und nur zehn Minuten darauf das erste Säpo-Pärchen. Der Staatsschutz überwachte alle Notrufe. Als die Adresse genannt wurde, hatte man dort sogleich Alarm ausgelöst.

„Während die Sanitäter und die beiden Polizisten sich um die Leiche kümmerten, kam eine junge Frau die Straße entlang, mit zwei vollen Tüten vom Alkoholladen in der Hand. Die Flecken vor dem Haus sind fast alles Weinflecken und erst da entstanden. Anscheinend ist sie die Mitbewohnerin oder Untermieterin. Sie erlitt zwar einen Zusammenbruch, hat die Tote aber sofort erkannt und identifiziert.“

„Und dann gab’s gleich Reichsalarm.“ Henning klatschte in die Hände. „Haben den die Säpo-Leute ausgelöst?“

Barbro nickte. „Wir wussten, dass die JK-Tochter hier wohnt, amtlich ist sie aber beim Vater gemeldet und bekommt die Post über ein Postfach. Das wird vor allem wegen verrückter Briefeschreiber so gemacht. Befürchtungen, dass hier jemand aufkreuzen könnte, gab es eigentlich nicht.“

Kjell nickte zufrieden. Im Haus ihrer vornehmen Eltern hatte es offenbar so viele Stehempfänge gegeben, dass es Barbro keine Mühe bereitete, auch diesen hier zu organisieren. Die Gruppe bestand erst seit kurzer Zeit, und dies war der erste Fall, der nicht mit einer abgegriffenen Akte begann. Bisher hatten sie nur im sechsten Stock des Polizeigebäudes in Kungsholmen gesessen und ältere Fälle nachermittelt, die irgendwo steckengeblieben waren. Dann hatten sie in der Akte geblättert, noch einmal mit den Zeugen gesprochen und am Ende die ursprünglichen Ermittler angerufen, um ihnen Vorwürfe zu machen.

„Gibt es schon eine Entscheidung, was wir mit der Presse machen?“, fragte er.

„Das erledigt Sten. Die Mitbewohnerin ist Isländerin, Sesselja Ragnarsdóttir ist ihr Name. Sie sei um halb sieben zum Alkoholladen vorne an der Ecke aufgebrochen, behauptet sie. Zurückgekommen ist sie um 18 Uhr 47, da war die Funkstreife bereits da. Also muss sie ganz kurz vor dem Sturz aufgebrochen sein.“

„Hmm“, summte Henning. Das tat er immer beim Mitnotieren. „Was haben sie davor gemacht? Ist da schon etwas bekannt?“

„Sie haben gekocht und ein Glas Wein getrunken. Angeblich haben sie auch am offenen Fenster gestanden, wegen der Sonne. Sesselja brach dann auf, um Nachschub zu holen, bevor der Laden schließt.“

Es kratzte laut, als Henning sich mit der flachen Hand die Wange rieb. Er musste sich zweimal am Tag rasieren, und heute hatte man ihn kurz vor der Abendrasur abgefangen und wie eine Spielfigur wieder auf den Anfangspunkt zurückgestellt. „Es kann also sein, dass Josefin Rosenfeldt während meines Feierabends angetrunken aus dem Fenster kippt und dabei versehentlich Reichsalarm auslöst, im Fall sozusagen.“

Barbro schüttelte den Kopf. „Wir haben inzwischen einen Zeugen gefunden. Bo Eriksson wohnt nebenan und stand unter der Dusche. Sein Bad grenzt direkt an Josefins Flur. Zuerst hat er gehört, wie die Tür zugeschlagen wurde. Da muss Sesselja zum Einkaufen aufgebrochen sein. Kurz darauf klingelte es jedoch. Und Bo Eriksson hat auch gehört, wie jemand zur Tür lief und die Klinke drückte. Nur, zugeschlagen wurde die Tür nicht wieder. Das hat ihn noch gewundert, er hatte sich auf einen Knall gefasst gemacht, weil die Geräusche im Badezimmer wegen der Wände und der freien Rohre sehr laut sind. Jedenfalls war die Tür geschlossen, als die Polizei ankam. Aber nicht verriegelt.“

„Das kann der alles aus Geräuschen heraushören?“, wunderte sich Kjell. „Während er duscht?“

Barbro zuckte mit den Schultern.

„Kann diese Mitbewohnerin noch einmal zurückgekehrt sein? Hat sie vielleicht das Geld vergessen?“

„Die Aussage des Nachbarn ist noch ganz frisch. Da hatten sie Sesselja schon weggebracht.“

„Rufen wir Sten an.“

Barbro nahm den Hörer des Telefons, das in der Tischplatte eingebaut war, und reichte ihn Kjell. Sofort nahm am anderen Ende jemand ab und bat Kjell zu warten. Er schaltete den Lautsprecher ein.

Der Reichskriminalchef meldete sich grußlos. „Hör gut zu, Cederström. Ihr haltet euch nur an die Spuren am Tatort, wie wir es im Protokoll festgelegt haben. Den ganzen Rest überlassen wir der Säpo.“

„Ja ja.“

Es bedurfte einiger Anstrengung und war ein altmodisches Gefühl, das dicke Spiralkabel des Hörers davon abzuhalten, ihm den Hörer aus der Hand zu ziehen.

„Ich habe gerade mit dem JK gesprochen“, sagte Sten. „Wir schicken einen Jet nach Frankreich und biegen es so hin, dass er nicht vor morgen früh ankommt. Sonst werden sie in Solna mit der Leiche nicht rechtzeitig fertig.“

„Was unternimmst du gegen die Presse?“

„Unten läuft gerade eine Pressekonferenz wegen des ithyphallischen Supermans aus Valla Torg. Das haben wir eilig organisiert.“

„Ithyphallisch ist klar“, murmelte Henning dazwischen. „Aber wer ist Superman?“

Barbro blickte milde drein. „Mit erigiertem Glied heißt das.“

„Alle von den Abendzeitungen sind zur Pressekonferenz gekommen und hören brav zu“, fuhr der Reichskriminalchef am anderen Ende der Leitung fort. „Die Kontaktleute lancieren zudem für die Redaktionen der Tageszeitungen, dass wir in der Nacht gegen die Betreiber der illegalen Downloadseite im Internet losschlagen. Dann denken die alten Hasen, dass Superman nur eine Ablenkung dafür war.“

„Könnt ihr die Aktion wirklich durchziehen?“, fragte Kjell. „Wir brauchen mehrere Tage Vorsprung. Ihr solltet gegen elf eine abgewandelte Kurzmeldung nachschieben. Wer weiß, wie viele Leute hier aus dem Fenster glotzen und sich wundern.“

„Wir haben uns für einen betrunkenen Kleintransporter entschieden, der eine junge Frau angefahren hat. Das erklärt, warum wir die Straße sperren mussten. Wir schicken noch einen Abschleppwagen vorbei.“

Kjell beendete das Gespräch mit der Begründung, einen Blick in die Wohnung werfen zu wollen.

„Superman hätte wahrscheinlich gereicht“, fand Barbro. „Der ist lustig genug. Die Abendzeitungen bringen ihn bestimmt auf dem Titel.“

In der letzten Nacht hatte ein arbeitsloser Heizungsmonteur sich sein Superman-Kostüm übergestreift, in das er im Schritt ein Loch geschnitten hatte. So war er auf den Schlafzimmerschrank geklettert, während ihn seine Frau auf dem Bett mit geöffneten Beinen erwartete. Die Sommerhitze und der Alkohol hatten dem Heizungsmonteur aber nicht nur diese Idee eingegeben, sondern auch verhindert, dass Superman die Flugbahn richtig berechnete. Statt in seiner Frau war Superman nämlich mit der Schläfe voran auf dem Bettpfosten gelandet, was ihn augenblicklich nicht nur all seiner übermenschlichen sondern auch seiner menschlichen Kräfte beraubt hatte.

„Sofi? Habt ihr sie schon erreicht?“

Barbro grinste. „Sie ist oben.“

Kjell stieg aus dem Wagen und betrat das Haus. Im Flur musste er Schutzkleidung anlegen. Die Treppe wand sich so eng hinauf, dass sich die Entgegenkommenden wie auf einer einspurigen Passstraße arrangieren mussten. Hier sah man bereits die Techniker in ihren weißen Overalls am Treppengeländer arbeiten. Das hatte Barbro nach der eigenartigen Aussage des Nachbarn gleich veranlasst. Das Treppenhaus roch nach feuchter Kellerluft. Sonst war es ganz schlicht und frei von Messing, wie man ihn sonst in so vielen Treppenhäusern fand.

Kjell war gespannt, was Sofi oben erreicht hatte. Barbro und Henning waren als Gründungsmitglieder der Gruppe von Anfang an dabei gewesen. Beide hatten davor jahrelang bei der Kriminalpolizei gearbeitet, Henning in der Mariawache in Söder und Barbro beim Betrug. Sofi hingegen gehörte erst seit kurzem Mitglied der Gruppe. Und sie war jung dazu. Zuvor hatte sie eine Zeit lang bei der Schutzpolizei in Norrmalm verbrecht, doch das war kaum der Rede wert. Die anderen Bewerber hatten zwar viel mehr Erfahrung besessen, aber das konnte der Arbeit mehr schaden als Unerfahrenheit, wenn man sich auf all die voreiligen Schlüsse verließ, auf die man jahrelang hereingefallen war. Dass viele bei der Polizei so dachten und arbeiteten, lag an der Art, wie man als Polizist seine Tage verbrachte. Wie bei vielen anderen Berufen auch bestand das Spektrum eines normalen Polizisten aus nur wenigen Erlebnissen, Erfahrungen und Methoden, die sich immer wiederholten.

Dies war Kjells Folgerung nach zwanzig Jahren und achtzehn Treppenstufen. Im dritten Stock schwebte ein leichter Chlorgeruch, den das Indikatormittel verbreitete, mit dem die Techniker das Geländer bearbeiteten. Die Hektik des Treppenhauses hörte im vierten Stock mit einem Schlag auf. Hier durfte inzwischen niemand mehr herauf außer den Technikern, und dabei sprachen sie nie mehr als das Nötigste.

„Darf ich rein?“

Eine Frau mit Plastikhaube über dem blonden Haar nickte und deutete mit dem Fingern den Weg vor, auf dem er sich durch den Flur und das Zimmer zu halten hatte. Die Wohnung begann mit einem engen Flur, der durch die Kleiderstange in der Nische noch enger wirkte. Zwischen die Wände waren so viele Jacken gequetscht, dass es ein Wagnis war, einen Bügel herauszunehmen. Dazuhängen konnte man beim besten Willen nichts mehr. Die Techniker hatten mit Plastikplanen abgedeckt, was noch vor ihnen lag. Rechts ging ein Badezimmer mit himmelblauen Fliesen ab. Kjell bewegte sich behutsam durch das Zimmer. Die Wände waren hüfthoch vertäfelt, der weiße Lack auf dem Holz begann langsam zu vergilben. Kjell sah sich die Wohnung immer so schnell wie möglich an, denn sobald die Techniker mit allem fertig waren, ließen sie eine ewige Stille am Tatort zurück, die sich auch auf seine Gedanken legte und verhinderte, dass er sich wie ein unsichtbarer Beobachter der vorangegangenen Ereignisse fühlen konnte.

Beim Durchstreifen des Tatorts wollte nicht gestört werden. Die zur Straße liegende Wand teilte sich in zwei Hälften. Links standen Spüle und Herd, rechts war die Wand vor dem Fenster leer, so dass man sich hinauslehnen konnte. Techniker beschäftigten sich mit dem Geländer. Måns klebte die Kontaktfolie auf das Geländer, zog sie wieder ab und übergab sie seinem helfen, die den Streifen beschriftete und in sein Album einklebte. Der andere Kollege kniete nur da und zog immer neue Streifen von der Rolle. So würde das stundenlang gehen. Die Konzentration auf das Fenster ließ keinen Zweifel daran, dass Josefin Rosenfeldt von dort hinabgestürzt war. Das Fenster musste nachträglich bis zum Boden verlängert worden sein, aber nach dem Zustand des weißen Haltegitters zu urteilen, lag das schon einige Jahre zurück. Als einziges Möbelstück stand ein Tisch in der Mitte des Raumes.

Auf einmal erklang Sofis Stimme im Nebenzimmer. Kjell schritt zum Türrahmen und sah sie zusammen mit Lasse vor einem Bett auf dem Boden sitzen.

„Sofi“, überraschte er sie von hinten. „Was machst du da?“

Sie fuhr herum.

„Kjell! Wir haben was!“

„Wo ist Per?“

„Urlaub!“, sagte Lasse, Pers dreißigjähriger Assistent, der für immer die Nummer zwei bleiben würde. Sein zwei Meter langer Körper war so schlaksig, dass er rückgratlos wirkte. Das schlug sich auf sein Selbstvertrauen nieder. „Er ist mit einer Bekanntschaft auf dem Götakanal unterwegs. Hat sich ein Boot gemietet.“

Deswegen wirkten hier auch alle so orientierungslos, dachte Kjell. Pers Gemotze am Tatort war sonst immer der rote Faden der Techniker bei ihrer Arbeit.

Lasse hielt ein Kuvert mit der Pinzette hoch. Es war so winzig und rot, dass man es nur als Gruß an Weihnachtsgeschenke kleben oder darin Liebesbriefe beim Sportunterricht zustecken konnte.

„Erst dachte ich, dass der Täter es hier unter das Kopfkissen gesteckt hat“, sagte Sofi. „Aber es muss schon länger dort gelegen haben.“

Lasse nickte und steckte das Kuvert in ein transparentes Biopack. „Es ist zugeklebt. Das können wir erst im Labor öffnen.“

Kjell fragte sich, von welchem Täter Sofi da sprach. „Wie lange seid ihr schon dran?“

„Halbe Stunde“, behauptete Sofi.

„Barbro sagt aber, du warst einer der ersten.“

„Vielleicht bin ich auch schon länger hier.“

„Ich hatte gesagt, du sollst nach Hause gehen.“

Sie hatten alle einen langen Tag im Büro hinter sich. Kjell musste Sofi den Feierabend immer befehlen, weil sie in ihrem Anfängerehrgeiz sonst einfach sitzenblieb. Auch diesmal musste sie trotz ihres Versprechens noch viel länger geblieben sein, weil sie sonst den Alarm nicht mehr mitbekommen hätte.

Noch im Türrahmen stehend begann er, sich im Zimmer umzusehen. In dem schmalen Bett konnten nie und nimmer zwei Menschen zusammenliegen, wie sehr sie sich auch liebhatten. Den Schreibtisch hatte sich Josefin ganz einfach wie beim Tapezieren aus einer Holzplatte und zwei Böcken hergestellt. Darauf stand Sofis Computer und lief.

Sie rappelte sich vom Boden auf, was ihr wegen der Plastiksäckchen über ihren Füßen und der Folie auf dem Boden einige Mühe bereitete. „Hast du das hier gesehen?“ Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand, die er noch gar nicht entdeckt hatte. „Es ist Burt.“

Kjell drehte sich herum. Es musste Jahrzehnte zurückliegen, dass Kjell eine Fototapete gesehen hatte. Burt Reynolds war jung, nackt und behaart wie eine Kokosnuss. Er lag auf einem Eisbärenfell, sein Ellenbogen verdeckte geschickt seine Scham. Zwischen den Fingern qualmte ein dünnes Zigarillo und davor stand einem klobigen Aschenbecher aus Glas. Kjell wusste nicht, ob Sofi erst seit einer halben Stunde Burt-Reynolds-Fan war, aber sie schien die Tapete zu mögen. Entscheidungen, ob Männeroberkörper behaart oder unbehaart sein mussten, wurden bei der Reichskrim immer am Kaffeeautomaten zwischen Aufzug zwei und der Damentoilette gefällt, und da ging er nie hin.

„Ich wäre auch aus dem Fenster gesprungen, wenn ich so eine Tapete in meinem Wohnzimmer hängen hätte“, kommentierte Kjell den Anblick. „Gibt’s außer diesem Motiv noch andere Spuren?“

Sofi probierte mehrere Blickrichtungen aus und vermied Augenkontakt. Offensichtlich verstand sie langsam, warum er so ungehalten war. Ganz sicher war sie die ganze Zeit mit Lasse auf dem Boden herumgekrochen und hatte sich alles von ihm zeigen lassen. Dabei war ihre einzige Aufgabe, hier den Überblick zu behalten und Informationen nach unten zu liefern.

„Ich bin schon fertig und hab nur auf dich gewartet. Ich habe mit dem Nachbarn geredet.“

„Schon gehört.“

„Sie haben ihn gleich weggebracht. Wer da geklingelt hat, wissen wir noch nicht.“

„Ist das alles?“

„Sonst deutet nichts darauf hin, dass jemand hier gewesen ist. Jenna aus der Technischen macht das Abdruckmuster am Fenster. Im Zimmer war es unordentlich. Kein Computer, kein Telefon und keine Dokumente. Bestimmt ist jemand hiergewesen.“

Kjell nickte. „Fahr ins Präsidium und bereite das Dossier vor.“

„Okay.“ Sie legte zwei Schritte zum Tisch zurück, schnappte sich ihren Computer und klappte ihn so laut zu, wie sie glaubte, dass es ihre aufflammende Wut angemessen zum Ausdruck brachte. Und dann war sie auch schon weg. Es war eine grausame Entscheidung, sie jetzt wegzuschicken, wo das Leben gerade ihren Lieblingsgeschmack angenommen hatte. Aber er wollte für die kommenden Tage von vornherein die Weichen erzieherisch richtig stellen.

Nachdem Lasse das Bettzeug verpackt hatte, wanderte er mit seinen Geräten hinüber in das Zimmer der Mitbewohnerin, das sonst noch niemand betreten durfte. Kjell blieb allein zurück und setzte seine Erkundung mit den Augen fort, ohne sich von dem Punkt zu bewegen, wo er stand. Die Fototapete stammte nicht von der einundzwanzigjährigen Josefin, sie musste schon viel länger an dieser Wand kleben und hatte von den Möbeln früherer Bewohner schon einige Schrammen abbekommen. Viel interessanter fand Kjell das Plakat, dass Josefin über ihrem Schreibtisch aufgehängt hatte. Darauf blickten zwei Frauen den Betrachter ernst an. Sie trugen beide sehr akkurate Frisuren, und so graphisch gestaltet war auch der Rest an ihnen und dem Layout. „Schlag zurück!“, stand als großer Schriftzug darunter. „Die vierte Schwesternschaft.“

Kjell rief nach Lasse und fragte, wie lange das Plakat schon dort hing.

„Noch nicht lange“, bekam er zur Antwort. „Sieht ganz neu aus.“

3

Annika Sandell schien gar nicht zu bemerken, wie der Korbstuhl unter Hennings Gewicht knirschte. Deshalb gab Henning Larsson seine entschuldigende Miene auf und konzentrierte sich ganz auf das Gesicht der Frau. Die bleiche Spätabendsonne beleuchtete es auf eine ganz wahrhaftige Weise. Obwohl man daraus jedes einzelne Jahr ablesen konnte, schien es in all der Zeit nicht viel gegeben zu haben, was sie bereuen oder wovon sie sich erholen musste. So jung, wie sie mit ihren dreiundfünfzig Jahren aussah. Ihre Wohnung im Karlabergsvägen hatte sie aus ihrer ersten oder zweiten Ehe gerettet, wie sie ihm an der Tür schon erzählt hatte. Wegen des defekten Aufzugs hatte er bis in den fünften Stock laufen müssen, und dort hatte das Blut so in seinen Ohren gerauscht, dass er sie noch einmal von vorn beginnen lassen musste, nachdem sie ihn auf den Balkon geführt hatte. Es war eigentlich keine so gute Idee, hier draußen zu sitzen, wo alle acht Minuten direkt unter ihnen der 47er an der Ampel darauf wartete, rechts abbiegen zu dürfen.

„Am besten beginnst du weit davor“, sagte er zuallererst.

Seine Zunge brannte. Annika Sandell hatte vergessen, ihm etwas anzubieten, und Henning glaubte, dass auch viel geringere Störfälle in ihrem Alltag dazu führten, dass alles andere mit einem Schlag seine Bedeutung verlor, ein einlaufendes Schaumbad zum Beispiel.

Henning bat um ein Glas Wasser. Während Annika es aus der Küche holte, betrachtete Henning die Kuppel der dicken Gustav-Vasa-Kirche auf der anderen Straßenseite. Annika schien nicht so robust zu sein und würde wohl noch einmal einen Psychologen brauchen. Offenbar hatte sie sonst keinen Menschen.

Nach ihrer Rückkehr trank Henning sein Glas in einem Zug leer. Annika füllte es sogleich wieder. Dabei huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ich hatte heute meinen ersten Arbeitstag. In einer Anwaltskanzlei. Ich war vier Jahre ohne Arbeit.“

„Mit welchen Fähigkeiten kannst du denn glänzen, wenn du in deinem Alter noch eine Stelle gefunden hast?“

Sie lachte, und es klang nicht, als überraschte sie die Frage. Die hatte sie sich wohl auch schon ein- oder zweimal gestellt. Dann wurde sie mit einem Schlag ernst.

„Erfahrung“, sagte sie überzeugend. „Als ich in der sechsten Klasse war, ist etwas Besonderes passiert.“

Mit ‚weit davor‘ hatte Henning den Moment gemeint, als sie am frühen Abend aus der U-Bahn gestiegen war. Auf keinen Fall aber die sechste Klasse.

„Jemand warf ein Kronenstück durchs Klassenzimmer“, fuhr sie fort. „Ich habe den Flug der Münze genau verfolgt. Erstaunlich war, dass ich die Münze schon verschwommen auf der Stelle am Boden liegen sah, wo sie erst Sekunden später auftraf. Als könnte ich in die Zukunft sehen, verstehst du?“

Annika suchte in Hennings Gesicht nach einer Bestätigung. Nicht nur seine Zunge, auch der Magen brannte, vor Hunger. Am Mittag war er durch die Hölle des Salatbuffets gegangen und hatte seit drei Uhr nur noch an die sechs hartgekochten Eier und das Glas Mayonnaise in seinem Kühlschrank zu Hause denken können. Im Geist ging er die Route zurück zum Präsidium durch und überlegte, wo er auf dem Weg anhalten und sich etwas Triefendes besorgen könnte.

„Solche Erlebnisse habe ich seitdem oft. Erst später habe ich begriffen, dass ein Fehler im Gehirn daran schuld ist. Wenn sich Dinge schnell bewegen, gerät mein Zeit- und Wahrnehmungsempfinden durcheinander.“

Henning zückte seinen Block als Zeichen, dass er verstand. „Du arbeitest in der Hamngatan, nicht wahr?“

„Das Wetter war so schön. Ich bin die Drottninggatan hochgeschlendert und durch den Vasapark.“

„Du bist also vom Park aus in die Sigtunagatan gegangen. Wo warst du genau, als du die Tote bemerkt hast?“

„Weiter vorn, beim roten Haus.“

„Das sind etwa vierzig Meter. Auf derselben Straßenseite?“

Sie nickte.

„Lag sie oder fiel sie noch? Da war deine Aussage an Ort und Stelle noch unklar.“

„Also … ich habe sie liegen sehen, und dann kam sie erst. So ist es in meinem Gehirn. Ich kann sie aber erst unterhalb der Fenster im zweiten Stock gesehen haben. Ich hab ja nicht hochgeblickt.“

„Du hast also das Bild des Aufpralls in deinem Kopf?“

„Das kann aber täuschen. Ist mir schon oft passiert, dass mein Gehirn eine Vorgeschichte kennt, die ich gar nicht erlebt habe.“

„Was hast du dann gemacht?“

„Ich blieb stehen und starrte hin. Irgendwie habe ich wohl mein Telefon aus der Handtasche geholt und angerufen.“

Die Zeitangaben sprachen dafür, dass Annika Sandell den Aufprall wirklich gesehen hatte. Und weil es nur die letzten fünf Meter des Falls gewesen sein konnten, war auch ihre Sinnestäuschung verständlich. Dass ein Mensch nur einige Meter entfernt auf die Straße aufschlägt, wäre für jeden ein unerwartetes Ereignis, und das Gehirn wird zunächst versuchen, den Eindruck zu korrigieren. Das hatte Henning schon oft in seiner Laufbahn erlebt, zuletzt am zwölften Mai, als Hammarby in der letzten Minute ein Tor von Djurgården bekam. Erst am vierzehnten Juni hatte Hennings Gehirn eingesehen, dass es wirklich so gewesen war.

4

Als Ermittlungsleiter hatte Kjell sich wie immer selbst am meisten Arbeit aufgebürdet. Er saß im Keller des Rückgebäudes, wo die Tatorttechnik ihr Labor hatte, neben der lichtblonden Jenna Evaldsson, einer noch recht jungen Frau. Ihre Haut war ebenso hell wie ihr Haar, und auf ihrem Gesicht und vor allem auf den Wangen lag eine permanente Schamesröte.

Kjell glaubte jedoch, dass sich Jenna Evaldsson so gut wie nie schämte. Das Licht im Labor war genormt. Deshalb kamen im Sommer viele her, um sich ein objektives Bild über ihre Sommerbräune oder die Schatten unter den Augen zu machen, denn das Normlicht zeigte die Dinge in ihrer wahren Farbe. Kjell und Jenna kannten sich nur bei Normlicht, in der Sonne und im Regen sah sie vielleicht anders aus. Ihre Aufgabe war es, aus all den Spuren vom Tatort eine erhellende Skizze und ein Bewegungsschema der Tat zu erstellen.

Den Grundriss der Wohnung hatte sie bereits beendet, jetzt zeichnete sie alle Spuren ein. Jenna war ein ganz leiser Mensch, der bei allem, was er tat, nur angenehme Geräusche produzierte. Soweit er das wusste, war sie verheiratet. Bestimmt glücklich.

Während die Tatortskizze vor seinen Augen entstand, entstand auch ein erstes umfassendes Bild in Kjells Kopf. Alles hatte sich in dem mittleren Zimmer abgespielt, von dem nach links und nach rechts die Zimmer der beiden Frauen abgingen.

Schräg durch dieses Zimmer führte eine Linie vom Flur bis zum Fenster, das nach der Aussage der Isländerin den ganzen Nachmittag über geöffnet gewesen war. Am Boden hatten sie so gut wie keine verwendbaren Spuren gefunden, die Suche am Fenster würde mehr einbringen. Jenna überspielte die Daten des Daktyloskops auf den Computer. Inzwischen konnte man damit nicht nur Fingerabdrücke auf einfache Art scannen, das Gerät ermittelte auch die Trägersubstanz. Und deshalb konnte Jenna immer schon sehr bald sagen, welcher Abdruck wie alt sein musste und welche Abdrücke zur gleichen Zeit entstanden waren. Wenn sich jemand im Bad die Hände eingecremt und dann im Wohnzimmer den Fernseher eingeschaltet hatte, dann wusste Jenna das. Leider traf Kjell meist nur dann auf schmierige Hände und aufgeweichte Feldwege, wenn sich gar kein Verbrechen ereignet hatte.

Aus den Kommentaren, die sich die Techniker immer wieder zuriefen, war nichts Gutes für eine Täterspur zu erhoffen. Jenna schloss die Strecke zwischen Tür und Fenster ab und drehte nun ihren Tuschestift mit betonter Endgültigkeit zu.

„An der Tür und am Fenster nur die beiden Frauen“, sagte sie und reckte sich auf ihrem Sitzball. Ihre Stimme zwitscherte immer ein wenig. „Es gibt Fingerabdrücke recht weit oben an den Fensterbalken, auf dem Geländer allerdings keine Schuhabdrücke.“

„Also ist sie nicht hochgestiegen?“

„Sicher nicht. Das Geländer war recht staubig und verrußt, da hätten wir ein Profil finden müssen. Aber sie hat darauf gesessen.“

„Und auf dem Boden? Gibt es da Fußspuren?“

„Es wurde gelaufen. Immerhin, oder?“

„Gibt es irgendwas, was von einem Eindringling stammen könnte?“

Jenna warf einen Blick zum hinteren Teil des Raumes, wo neun Techniker an Leuchtgeräten saßen und die Klebefolien nach Partikeln absuchten. Anscheinend war die Ausbeute bisher gering. Jenna zuckte mit den Achseln.

Während er im Lift hinauffuhr, spürte Kjell einen beklemmenden Druck auf seiner Brust. Inzwischen waren drei Stunden vergangen, aber außer der Aussage des Nachbarn sprach nichts für einen Eindringling. Als er die Glastür aufdrückte, die die Räume der Gruppe vom Gang abtrennte, roch er frischen Kaffee. Er warf einen Blick in sein Büro, das er sich mit Sofi teilte, und in das von Henning und Barbro. Sogar der Besprechungsraum war leer und auch die Strahlenhölle, wie sie die winzige Kammer nannten, die nur Sofi je betrat. Darin arbeitete ihr bester Freund, der Zentralrechner, vor sich hin.

Kjell sah auf die Uhr. Für die erste Besprechung nach dem Tatort gab es meist nur eine grobe Uhrzeit, weil davor jeder einiges zu erledigen hatte. Im Besprechungsraum goss er sich eine Tasse Kaffee ein und nahm am Tisch platz. Sofi hatte das Dossier bereits fertig und einen Stapel Kopien auf den Tisch gelegt. Ein Brummen riss ihn aus der Lektüre. Sofi stand mit ihrer Ultraschallzahnbürste im Mund in der Tür und sah ihn erstaunt an.

„In zehn Minuten!“, gurgelte sie und verschwand auf die Toilette.

Obwohl sie erst vor kurzem zur Gruppe gestoßen war, hatte sie sich offenkundig schon gut eingelebt, musste Kjell zugeben. In Momenten wie diesem stellte er sich Sofi als Streifenpolizistin vor. Das kostete ihn einige Mühe, weil es die Aufgabe der Schutzpolizei war, die Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. Sofis Wesen war in die Gegenrichtung ausgelegt.

Während sie noch am Anfang stand, hatte man Henning Larsson an seinem früheren Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei in der Mariawache längst abgehalftert, als der neue Reichskriminalchef Sten Haglund eine neue autonome Ermittlungsgruppe in Leben rief. Larsson sei weder teamorientiert noch multitaskingfähig, hatte Hennings Chefin behauptet. Begeistert hatte Kjell ihn gleich mitgenommen und es seitdem keine Sekunde lang bereut. Acht Tage, bevor Henning Larsson an die Spitze der schwedischen Polizei befördert wurde, hatte sich seine Frau von ihm getrennt, nachdem sie sich fünfundzwanzig Jahre lang mehr vom Leben und von Henning erhofft hatte. Sie war gegangen, um mit einem Fahrkartenschaffner von der Tvärbana zusammenzuleben und um ihren Lebensunterhalt zu halbieren statt zu verdoppeln. Die Zeit war eben ein langes durchhängendes Seil, dachte Kjell, und ab und zu war ein dicker Knoten darin. Henning war als unermüdlicher Wühler und genialer Aktenführer für ihn unverzichtbar, und inzwischen benutze Barbro ihn in der Freizeit auch als Bamsebär.

Auch sie war in ihrer ehemaligen Abteilung havariert, weil sie sich geweigert hatte, sich von Sten den schlappschwänzigen Tove Alfvén als neuen Chef vor die Nase setzen zu lassen. Das nahm Sten Barbro immer noch übel, aber Barbro ließ solcher Ärger kalt. Ihr Vater hatte sich nur für das Großunternehmen, das er selbst von seinem Vater bekommen hatte, erwärmen können, nicht aber für seine Tochter. Trotz einer beunruhigenden Risikoanalyse von fünfzig Prozent war er nach ihrer Geburt doch geschockt gewesen, dass Barbro ein Mädchen war. Dafür aber konnten sich andere Männer für Barbro erwärmen. Davon hatte sie sich selbst jahrelang jede Nacht überzeugen müssen. In dieser Zeit hatte sie auch ihre Gelassenheit entwickelt, oder besser, sie sich wie eine feuerfeste Schürze übergezogen, und trug sie seitdem ständig vor sich her.

Sofi kehrte in den Besprechungsraum zurück und kramte in ihrer Tasche, die unbemerkt neben Kjell auf dem Stuhl gelegen hatte. Unter den Kleidungsstücken, die beim Wühlen zutage kamen, sah Kjell weiße Schuhe aufblitzen.

„Du machst Ballett?“

Statt zu antworten, zog sie den Reißverschluss ihrer Tasche mit einem lauten Ratschen zu. Jetzt hatte er also nach acht Wochen schon das dritte ihrer neunundneunzig Geheimnisse herausbekommen, die anderen beiden waren auch Zufallstreffer gewesen. Sie verbarg sie nämlich sehr geschickt. Sofi konnte sich natürlich denken, dass er sich um ihre Vergangenheit gekümmert hatte, bevor er einer so unerfahrenen Polizistin dazu verhalf, fünfzehn Jahre Dienstzeit zu überspringen und mit Mitte zwanzig bei der Reichsmord zu arbeiten. Sie war von komplexer Herkunft, vom Vater hatte sie nur das schwarze Haar, das jedes Licht verschluckte, und hartnäckiges Nachfragen geerbt. Nach ihrer Geburt hatte die Mutter ihre Anstellung als Reichstagsstenographin in Stockholm gekündigt und war nach Karlstad in Westschweden zurückgekehrt. Auch Sofi schrieb schneller als der Wind. Wie sie das gelernt hatte, war Kjell jedoch ein Rätsel. Sofi war acht gewesen, als man die Mutter in ein Sanatorium hatte bringen müssen. Sofi verschlug es zu Pflegeeltern, einem älteren Bauernpaar im hintersten Värmland mit erwachsenen Kindern. Das Schnellschreiben konnte sie nicht mehr von ihrer Mutter gelernt haben, ganz sicher aber auch nicht von dem älteren Bauernpaar.

„Bist du gut?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wie lange machst du das schon?“

„Seit gestern.“

Er grinste, weil er das neueste Geheimnis nach nur einem Tag herausbekommen hatte. Sofi wollte diesen Teil ihres Lebens nicht durch Preisgabe beflecken. „Das passt zu dir“, sagte er.

„Hab ich vorhin irgend etwas falsch gemacht?“

„Wir dürfen uns nur nicht verfransen. Hast du das Poster gesehen?“

„Es gibt keine Vierte Schwesternschaft. Ich habe es schon überprüft.“

„Für mich sieht das eher nach Modedesign aus. Hast du bemerkt, wie aufwendig das Poster gestaltet ist?“

Sofi nickte. „Es könnte ein neues Modelabel sein. Dann wäre die Botschaft nur ein Image. Kleidung für Frauen über zwanzig, die erfolgreich und rebellisch zugleich sind, oder so einen Quatsch.“

Wer einem Ausländer etwas ganz und gar Schwedisches nennen müsste, würde wohl inzwischen zu den Schwesternschaften greifen. Davon gab es inzwischen mehr als Volvos und Elche. Die amerikanische Idee der Mädchenbanden war hier auf fruchtbaren Boden gefallen, so wie alles Amerikanische in Schweden auf fruchtbaren Boden fiel. Schweden unterschied sich von anderen Ländern vor allem darin, dass auch Frauen über zwanzig Schwesternschaften bildeten oder erhielten, und hier ging es nicht um Jugendbandenkriminalität.

„Am besten spricht du mal mit Karin Hellqvist“, überlegte er. „Die leitet seit April das Dezernat für Jugendbanden in Huddinge. Wenn es wirklich eine Vierte Schwesternschaft gibt, dann kennt Karin sie.“

„Sie kennt sie nicht.“

Ihm fiel auf Anhieb kein Lob für Sofi ein. Er musste sie häufiger loben.

„Ich könnte mal die Läden bei mir in Söder abklappern. Da kaufen solche Leute ihre Sachen.“ Sie drehte den Kopf und musterte sein weißes Hemd und die hellbeige Hose. „Du siehst ein bisschen aus wie Miami Vice, weißt du?“

„Linda war das. Barbro hat mich für Jeremy Irons gehalten.“

Die Tür flog auf. Es war Sten Haglund, der Reichskriminalchef. Er streifte sich das Baumwolljackett ab, das er zu jeder Jahreszeit trug und das große Ähnlichkeit mit der Fußmatte von Kjells Nachbarin, Frau Jansson, hatte.

„Rosenfeldt ist in Sicherheit“, sagte er. „Die französische Polizei passt auf ihn auf.“

„Wie war die Besprechung?“

„Martina Kihl, die neue Staatssekretärin im Justizministerium, hat die Geheimhaltung in Frage gestellt.“

„Und?“

„Kullgren und der Rest der Säpo haben sie mundtot gemacht. Der Minister ist sowieso dafür.“

„Wieso stellt sie das in Frage?“, wollte Sofi wissen.

„Wenn es später veröffentlicht wird, kann sie behaupten, dass sie dagegen war, aber überstimmt wurde“, erklärte Kjell.

„Möchtest du Kaffee haben?“, fragte Sofi den Reichskriminalchef. „Die anderen kommen noch.“

„Wir bleiben natürlich bei der Geheimhaltung“, fuhr Sten beim Umrühren fort. „Wenn wir bekanntgäben, dass die JK-Tochter tot ist, würden wir sie alle aufschrecken. Wenn man nur wüsste, womit man es hier zu tun hat.“

„Mit einem Unfall“, sagte Kjell und genoss die fragenden Blicke. „Möglichkeit A, sie fällt aus dem Fenster und ihr einziger Besucher ist die Schwerkraft. Möglichkeit B, die Schwerkraft hat einen Komplizen.“

„Niemand darf wissen, dass wir den Nachbarn haben!“, schoss es aus Sofi hervor.

Endlich konnte er loben! „Ganz richtig, Sofi. Niemand darf wissen, dass wir von dem Türklingeln wissen. Wenn Möglichkeit B zutrifft, sollte es wie Möglichkeit A aussehen.“

Sten kratze sich an dem Silberreif, den die Natur ihm noch auf dem Kopf gelassen hatte. Sofi erinnerte daran, dass es bisher keine Spur für einen Eindringling gab.

„Die wird es wohl auch nicht geben“, da war sich Kjell sicher. „Bei Verbrechen dieser Art braucht man nicht darauf zu hoffen. Was hast du herausgefunden?“

Sofi trug ihr Dossier vor. Josefin Rosenfeldt war einundzwanzig Jahre alt und in Uppsala geboren. Fünf Jahre nach ihrer Geburt war die Mutter gestorben, und Lennart Rosenfeldt hatte seine Dozentenstelle für Juristik in Uppsala aufgegeben, um eine Abteilung im Justizministerium zu leiten. Die Familie zog nach Stockholm und wohnte seit vier Jahren in einer großen Wohnung am Norr Mälarstrand. Das war vom Präsidium aus nur die Straße hinunter zum Wasser. Sozialdemokratie hin oder her, die Kinder waren allesamt in Bromma zur Schule gegangen, natürlich einige Jahrgänge nach den Prinzessinnen. Und noch einige Jahrgänge nach Barbro Setterlind.

„Offiziell wohnen die immer noch alle da“, schloss Sofi ihren Vortrag. „Soll ich mal die Liste der Feinde des JK vorlesen?“

„Nein“, sagte Kjell. „Das macht die Säpo. Vielleicht hat Kullgren ja schon einen verdächtigen Kurden, den er der Öffentlichkeit präsentieren kann.“

Protokoll 12, an dessen Entwicklung Kjell beteiligt gewesen war, sah eine konkurrierende Ermittlung vor. Während die Säpo sich die Staats- und JK-Feinde vornahm, sollte die Taktische Einheit der Reichsmord wie bei einem normalen Verbrechen von der Tat selbst ausgehen und den Spuren folgen. Kjell hatte da so seine Vermutungen, wollte sich die Liste bei Gelegenheit aber trotzdem ansehen.

„Es gibt ungewöhnliche Geldabhebungen von Josefins Konto“, fuhr Sofi fort. „Das habe ich Henning hingelegt.“

Sie hörten Schritte und eine Tür zufallen. Das sensationellste dreieiige Zwillingspaar der Welt traf ein, wie Barbro es nannte. Sie schritt zielstrebig zur Kaffeemaschine, während Henning seiner Sehnsucht nach Bier folgte und auch eine Flasche für Sten aus dem Kühlschrank nahm.

„Es gibt Neuigkeiten“, sagte Barbro. „In der Wohnung des Bruders wurde zweifelsfrei eingebrochen. Er ist verschwunden. In Josefins Zimmer haben sie eine halbe Million in bar gefunden. Das Geld lag im Kleiderschrank.“

„Warst du bei der Isländerin?“, wollte Kjell wissen.

„Frag nicht, du! Sie mussten sie sedieren. Ich hab immerhin erfahren, dass sie es nicht war, die geklingelt hat. Im übrigen glaubt sie an Selbstmord.“

„Selbstmord?“

„Josefin soll sehr verschlossen und ängstlich gewesen sein. Beinahe depressiv. Nur ausgerechnet heute soll sie fröhlich gewesen sein. Die beiden waren im Vasapark. Vielleicht irrt sie sich, sie kannten sich ja noch nicht so lange.“

„Wieso wohnt sie überhaupt dort?“

„Sie hat von Island aus eine Wohnung gesucht. Weil das schwedische Immobiliensystem sehr undurchsichtig ist, hat sie bei einer Frauenberatung angerufen, wo Josefin anscheinend gearbeitet hat. Und Josefin hat ihr freimütig angeboten, vorübergehend bei ihr zu wohnen.“

„Ich war auch noch bei der Eskimofrau in Solna“, sagte Henning. „Ich habe immer geglaubt, sie ist die Putzfrau.“

„Die Gerichtsmedizinerin?“, lachte Sofi. „Sie hat die Urlaubsvertretung für Hans.“

„Man sagt auch nicht Eskimo, sondern Inuit“, fand Barbro.

„Himmel, da redet man sich um Kopf und Kragen.“ Henning nahm einen Schluck. „Warum darf man nicht Eskimo sagen?“

„Das heißt Fleischfresser.“

Henning verstand nicht, was daran beleidigend sein sollte, und zuckte mit den Schultern. „Bei der Inaugenscheinnahme konnte sie nichts finden. Sie ruft an, wenn die Obduktion beendet ist. Aber nicht vor fünf Uhr. Sie muss erst die Leiche herrichten, bevor sie den Bericht verfassen kann, weil der JK am Morgen eintrifft.“