Aus der Zwischenwelt - Bernd Heidbreder - E-Book

Aus der Zwischenwelt E-Book

Bernd Heidbreder

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Beschreibung

26 Jahre lang ist Bernd Heidbreder auf der Flucht vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden. Man wirft ihm vor, 1995 in Berlin versucht zu haben, den Ausbau eines alten DDR-Gefängnisses zu einem Abschiebeknast zu verhindern. Der Anschlag misslang und Bernd setzte sich ab. Nach vielen Jahren der Illegalität wird er 2014 im beschaulichen Mérida in Venezuela verhaftet. Nach zwei Jahren kommt er frei, eine Auslieferung nach Deutschland wird abgelehnt. Aber die brutalen Haftbedingungen haben ihre Spuren hinterlassen: Bernd wird krank und stirbt 2021. Unglücklicherweise klauen die Angestellten des Beerdigungsinstituts Bernd den Obolus, den ihm seine Angehörigen unter der Zunge versteckt hatten, damit er den Fährmann Charon fürs Übersetzen in die Unterwelt entlohnen kann. Nun sitzt er in der ›Zwischenwelt‹ fest und irrt am Ufer des Totenflusses entlang. Hier trifft Bernd auf alle möglichen Gestrandeten, die wie er nicht übersetzen können oder wollen, und es entstehen skurrile Bekanntschaften. Um sich und den anderen die Zeit zu vertreiben, erzählt er ihnen seine Geschichte. Wie er in Kontakt zu Autonomen in Berlin kam, sich in ihren Kreisen engagierte und radikalisierte, sich gegen die erstarkenden Nazis wehrte und Teil eines großen Zusammenhangs wurde, in dem die Interessen der Einzelnen immer mehr mit denen des Kollektivs verschwammen. Es ist ein aufregendes und gefährliches Leben, aber Bernd fühlt sich darin geborgen. Und er verliebt sich.

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Bernd Heidbreder, ehemaliges Mitglied der »Autonomen« in West-Berlin, nach einer kurzen und vollkommen erfolglosen Karriere als Polizeiwachtmeister. Ab 1995 selbst auf der Flucht vor der Polizei, nachdem ihm die Beteiligung an einem versuchten explosiven Rückbau eines Abschiebegefängnisses angelastet wird. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas unterwegs, bis er 2021 in Venezuela stirbt. Zurzeit ist er in der ›Zwischenwelt‹, wo er an den Ufern des Totenflusses auf seine Überfahrt in die Unterwelt wartet.

Bernd Heidbreder

Aus der Zwischenwelt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Bernd Heidbreder: Aus der Zwischenwelt

1. Auflage, Oktober 2023

eBook UNRAST Verlag, Februar 2024

ISBN 978-3-95405-183-0

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Vorwort des Lektors

Dark Age

Kinderbauernhof

Plünderung

1 Mai

Antifa

Veränderung

Projekt Nummer Siebenunddreißig

Auswertung

Der Katzentisch

Hamburg

Randale

Knast

Jenseits der Mauern

Frenesi

Reorganisation

Offensive

Zwischen Erfurt und Gera

Repression

Trennung

Und wieder Neuanfang

Knapp daneben ist auch vorbei

Vorwort des Lektors

Totgesagte leben länger! Wer kennt ihn nicht, diesen beliebten Szene-Spruch, der nicht nur auf diversen Plakaten und Transpis zu lesen war, um wahlweise eine Untergrundzeitschrift oder ein besetztes Haus zu schmücken. Wütend, trotzig, hingerotzt. Vor allem um aufzuzeigen »Wir sind noch da! Wir bleiben! Uns wird es immer geben! Wir lassen uns nicht kleinkriegen!« Oftmals aber auch als schlechte Einleitung für einen nörgelnden Szene-Artikel, der spannend aufmacht, sich aber dann genau ins Gegenteil verkriecht und einen stirnrunzelnd in eine bleiwüstenhafte Tristesse führt. Und jetzt auch noch zu Beginn eines Vorworts?!

Doch trotz allem: Ja, Totgesagte leben länger! Schließlich haben wir dieses Buch einem Totgesagten zu verdanken, der jetzt endlich Zeit fand, uns seine Geschichte, seine Erlebnisse und Abenteuer, seine Motivation, seine Zweifel – aber auch so manch frustrierende Plenumsminute am Küchentisch seiner WG – zu schildern.

Also noch ein Buch über die guten alten Zeiten der autonomen Szene, der aufmüpfigen 80er- und 90er-Jahre? War früher denn wirklich alles anders? Nein. War früher denn alles besser? Natürlich nicht. Und dennoch: Rückblickend scheinen die Fronten oft geklärter, viele Positionen eindeutiger. Radikale Forderungen, die sich aus einer mehr oder weniger konkreten Utopie speisten, hatten ihren zentralen Platz in den Herzen und Kämpfen, während viele heutzutage oftmals nur noch den bürgerlich-demokratischen Status quo gegen etwas noch Schlimmeres, das da im Stechschritt am Horizont aufmarschiert, verteidigen wollen.

Und so versucht heute jede Teilbewegung möglichst divers alles und jeden mitzunehmen. Was zunächst ganz löblich klingt, sieht dann konkret so aus: Bunt, freundlich, mit Popmusik untermalt und immer schön instagramtauglich wird da den Faschisten auf den letzten Metern vor der Regierungsbeteiligung der Daumen kollektiv nach unten entgegengestreckt.

In den 1980er- und 1990er-Jahren war das noch anders. Natürlich konnte auch damals jeder seine Form des Widerstands wählen, aber die Autonomen™ wollten eben gar nicht alle abholen, sondern ihr Ding machen: Radikal, subversiv und kämpferisch Nazis, Kapital und sonstige Grausamkeiten aus der Stadt jagen. Und ob es für rechte Strukturen nachhaltig bedrohlicher ist, einem bunten, buhenden Haufen gegenüber zu stehen oder aus Angst vor einer Tracht Prügel zurück zu den Autos zu rennen, die man dann aber nur noch demoliert wiederfindet, kann sich die geneigte Leserin vermutlich selbst beantworten.

Aber natürlich gibt es noch andere Unterschiede zu der Zeit, in der der real existierende Sozialismus um sein Überleben kämpfte, auch wenn er natürlich alles andere als ein real existierender Sozialismus war. Der damals allgegenwärtige und dann zusammenbrechende Konflikt der Systemblöcke prägte und beeinflusste auch in der Linken einen nicht kleinen Teil des politischen Diskurses. Dazu bewaffnet kämpfende Gruppen, die für Panik unter den Herrschenden sorgten und der linksradikalen Szene so manche kritische Solidarität aber auch einiges an Distanzierung abverlangten. Wer kann sich solche Zustände heute noch konkret vorstellen?

Aber genug der etwas romantisierenden Worte vergangener Tage. Denn Zeiten und Menschen ändern sich und letztlich ist alles erklärbar. Einigen wir uns aber auf Folgendes: Es fehlt heute auch und gerade weil die Zeiten noch finsterer scheinen als noch vor ein paar Jahrzehnten an Entschlossenheit und Militanz. Letztere ist dabei nicht mit platter Gewalt zu verwechseln, sondern vielmehr als Synonym für eine kämpferische und kluge Taktik zu sehen. Machen wir es uns aber auch nicht zu einfach. Der Staat und vor allem der Repressionsapparat, der damals wie heute Faschisten schützt, strukturelle Gewalt ausübt und Ausbeutung sichert, hat massiv dazugelernt. Eine allgegenwärtige Überwachung, die, im Gegensatz zu den Zeiten des Volkszählungsboykotts heute bereitwillig und frohlockend von den meisten Überwachten mitgetragen wird, erleichtert die sich ständig verschärfende Repression. Selbst bürgerliche Klimaaktivist*innen, die friedlich auf den Straßen sitzen und sich vom autoritär-reaktionären Mob brav am Schopfe über den Asphalt ziehen lassen, werden teils monatelang in den Knast gesperrt.

So ist das, was Bernd Heidbreder in den folgenden Seiten erlebt und erzählt eben nicht nur eine unterhaltsame Geschichte von früher bzw. aus der Zwischenwelt, sondern beinhaltet auch einiges an Rüstzeug, Tipps und Tricks, die auch für das Hier und Heute, das Morgen und Übermorgen noch von Bedeutung sein können. Getreu dem alten Motto »Wir gehen nicht unter in unseren Niederlagen, sondern in den Kämpfen, die wir nicht führen!«

Bleibt für die Lesenden noch abschließend eine Frage zu klären, die nach der Lektüre des Buches in den Sinn kommen könnte. Haben denn alle beschriebenen Aktionen tatsächlich stattgefunden? Im Grunde ja. Aber haltet euch nicht an Details oder gar Namen auf, hier wurde einiges wild durcheinandergepuzzelt und so Manches auch ausgedacht und dazuerfunden, damit die Strafverfolgungsbehörden auch nach all der langen Zeit nicht auf dumme Gedanken kommen. Denn egal ob wilde 1980er, postautonome Moderne oder Zwischenwelt: Anna und Arthur halten’s Maul!

Thomas Billstein

betreibt in den sozialen Medien mit radicalpast einen Mikroblog über die Geschichte autonomer und linker Bewegungen

– 1 –

Ich musste erst sterben, bevor ich dazu kam, meine Geschichte zu erzählen. Schon lange spukte mir der Gedanke im Kopf herum, aber stets war anderes wichtiger, immer kam etwas dazwischen. Und immer wieder dachte ich mir, dafür sei auch später noch Zeit. Bis meine Zeit dann plötzlich abgelaufen war.

Ganz und gar unerwartet, innerhalb weniger Wochen, zerfraß eine heimtückische Krankheit meinen Körper und ließ einen leblosen Haufen Haut und Knochen übrig, zur Einäscherung verdammt. Vor meiner Fahrt über den Totenfluss hatten meine Angehörigen noch den Weitblick, mir eine Münze unter die Zunge zu legen, ein Obulus, um dem Fährmann Charon die Passage in die Unterwelt zu entlöhnen. Aber mein Tod fand in Venezuela statt, wo die materiellen Nöte so groß wie die moralischen Bedenken klein sind, und eh ich mich versah, hatte sich ein Angestellter des Beerdigungsinstituts den Golddukaten stibitzt. So kam ich nicht nur körper-, sondern auch gänzlich mittellos zwischen den Welten an. Der Fährmann, ein kluges aber auch sehr gieriges Wesen, weigerte sich prompt, mich über den Acheron zu setzen und ins Reich der Toten zu bringen. Da könne ja jeder kommen, er sei nicht die Heilsarmee, ich solle mir etwas einfallen lassen. Leicht gesagt. Wie kommt man in der Zwischenwelt an Gold?

So sitze ich nun hier zwischen den Welten fest, als körperloser Geist, ganz unbelastet von den Mühsalen der Materie, die mich im fleischlichen Leben stets begleiteten. Und mit sehr viel Zeit. Zeit, die ich jetzt endlich nutzen will, um die Geschichte meines Lebens zu erzählen.

Dark Age

Mein Leben war dunkel, bevor ich in Berlin meinen Weg zum Licht fand. Meine Kindheit in einer kleingestrickten Arbeiterfamilie: düster mit wenig Sonne. Die Jahre im Gymnasium, schattig. Dann zwei Jahre bei der Polizei, zu denen ich von den Eltern genötigt wurde, als Ersatz für den Wehrdienst: Ein schwarzes Loch, von dem mir vor allem die Erfahrung menschlicher Abgründe blieb. Ich schaffte es mit Mühe, mich dort wieder heraus zu winden. Und nur gegen den erbitterten Widerstand der Familie, insbesondere meines Bruders, der freiwillig den Beruf des Wachtmeisters ergriffen hatte und dem mein Ausstieg aus dem Korps wie ein Verrat erschien. Ich griff zu einem Trick: Ich trank so viele Liter scharfen Essig, bis mein Magen kollabierte und ich als berufsunfähig entlassen werden musste. Laut dem nicht völlig unzutreffenden Befund des untersuchenden Arztes hatte ich den Stress im Dienst nicht verkraftet, was mir eine schöne Abfindung einbrachte. Leider blieb mir auch für viele Jahre ein chronisches Sodbrennen erhalten, als beständige Erinnerung an diese finstere Zeit.

Ausgestattet mit diesen ungewohnt üppigen finanziellen Mitteln begann ich 1984 meine Zeit als Gruftie. Ich eröffnete eine Kneipe in Köln, wo ich für andere schwarz Gekleidete düstere Musik auflegte und dunkles Bier ausschenkte. Eine beschauliche Epoche begann, die gerne ewig hätte dauern können, wäre mir nicht das Finanzamt dazwischen gekommen. Da ich mich weigerte, Steuern zu zahlen oder auch nur die immer häufiger eintreffenden Schreiben des Fiskus zu öffnen, geschah bald das unvermeidliche: Meine Einkünfte wurden geschätzt, und auf die vermuteten phantastischen Gewinne, die ich mit meiner Kaschemme erzielt haben sollte, wurden Steuern erhoben. So viel, dass sie bei Weitem den Wert der Einrichtung überstiegen. Der Laden wurde verpfändet, ich musste einen Offenbarungseid leisten und verblieb mit einer Schuld an den Staat, die ich Zeit meines Lebens nicht mehr würde abzahlen können. Ich habe es allerdings, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch nicht versucht.

Ein weiterer Neuanfang wurde also fällig. Zu meinen Eltern wollte ich nicht zurück, beruflich war ich gescheitert, in Köln sah ich kein Land mehr. Berlin war damals die Hauptstadt der Grufties, alle düsteren Geister der Republik schienen sich Mitte der Achtzigerjahre dort zu versammeln und zu Klängen von experimenteller Musik den Untergang herbei zu tanzen. Mehrere Bekannte waren bereits dorthin gezogen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. So fiel die Entscheidung leicht. Ich konnte direkt bei Leuten aus meiner Gegend unterkommen. In deren Ladenwohnung, die zur Straße hin eine Änderungsschneiderei unterhielt, baute ich mir ein Hochbett. So hausten wir ein paar Monate lang zu fünft und bitterarm in furchtbar beengten Verhältnissen. In der Wohnung gab es zwar mehrere Kachelöfen, aber alle waren so defekt, dass sie kaum zu befeuern waren. Die wenigen Male, in denen wir für ein paar Briketts Geld hatten, füllte sich die Wohnung sofort mit giftigen Schwaden, so dass wir es vorzogen, in Decken gewickelt in der Küche zu sitzen, wo wir alle vier Flammen des Gasherdes aufdrehten. Damals wussten wir noch nicht, wie man die klobigen Gaszähler mit Hilfe eines Rohres überbrücken kann. So wurden die Rechnungen bald so kostspielig, dass es nicht mehr in Frage kam, sie zu bezahlen. Es war absehbar, dass das Gas abgestellt werden würde. Thorsten, der bei uns wohnte, wachte in diesem Winter einmal mit Schmerzensschreien auf. Seine Zehen waren vor Kälte blau angelaufen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie verloren.

Die Situation war somit alles andere als nachhaltig. Als im Februar 1986 auch noch der Hausbesitzer eine Mieterhöhung wollte, nahmen einige von uns das zum Anlass, nach einer neuen Bleibe zu suchen. Fred war mit mir zusammen aufs Gymnasium gegangen, wir hatten miteinander abgehangen, seit wir pubertierten. Seine Freundin Nathalie kam aus dem Elsass, sie war die erste, die die Initiative ergriff. Sie machte sich Sorgen, dass die prekären Verhältnisse ihrer fünfjährigen Tochter Juliette schaden könnten. Sie war es, die bei einem unserer Streifzüge durch Kreuzberg auf ein heruntergekommenes Haus in der Ratiborstraße aufmerksam wurde, in dem offenbar mehrere Wohungen leer standen. Wir sprachen mit einem der Bewohner, einer verwegen scheinenden, ganz in schwarz gekleideten Gestalt, der uns erst schroff anging, was wir hier zu suchen hätten, aber schnell auftaute, als er sich überzeugt hatte, dass wir keine Polizisten in Zivil seien. Alex, wie er sich vorstellte, informierte uns, dass der Hausbesitzer den meisten Mietparteien gekündigt habe, weil er hoffe, das Haus leer zu bekommen und komplett zu sanieren. Alex selbst dachte aber nicht daran, auszuziehen. Mit Hilfe eines Anwalts vom Mieterverein hatte er den Besitzer mit einer Reihe von Mängelbescheiden überzogen und zahlte nur noch eine lachhafte Restmiete.

»Ihr könnt hier einziehen, wenn ihr euch meiner Strategie anschließt, den Hausbesitzer in die Knie zu zwingen«, verkündete uns Alex großherzig.

»Aber wie sollen wir zu einem Mietvertrag kommen, wenn der Hausbesitzer das Gebäude doch leer bekommen will?«, wandte Nathalie ein.

»Das geht so. Ihr zieht ein und überweist monatlich die übliche Miete auf das Konto des Besitzers. Die Belege hebt ihr auf. Er wird euch das Geld nicht zurück überweisen, weil er dafür zu gierig ist und weil er sich sowieso um nichts kümmert. Nach drei Monaten habt ihr dadurch de fakto den Anspruch auf einen Mietvertrag. Danach fangt ihr an, dem Hausbesitzer Mängelbescheide zu schicken. Zum Beispiel, weil ein Fenster nicht richtig schließt. Vier Wochen nach dem ersten Bescheid schickt ihr den nächsten, jetzt mit einer Frist, das Fenster zu reparieren. Nach Ablauf der Frist kündigt ihr ihm an, die Miete um 10 % zu mindern, wenn die Reparatur nicht in Wochenfrist erfolgt. Ab dann zieht ihr den entsprechenden Betrag von der Miete ab. Dann macht ihr mit dem nächsten Mängelbescheid weiter, zum Beispiel, weil der Kachelofen nicht zieht oder weil das Außenklo nicht funktioniert. Auf diese Art habe ich meine Miete von ursprünglich 240 auf mittlerweile 16,50 Mark gesenkt. Bei dem Betrag will ich es auch vorerst belassen, das erscheint mir angemessen.«

Wir waren beeindruckt. Bisher hatten wir Hausbesitzer als eine unangreifbare Instanz erlebt. Kleine Tyrannen, die mit ihrem Eigentum nach Gutdünken verfahren. Dass man derart mit ihnen umspringen könne, war uns neu.

»Klingt ja super, aber wie kommen wir an die Schlüssel für die Wohnung?«, wollte ich wissen.

Alex verzog den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Kein Problem. Wenn ihr euch entschieden habt, kauft ihr einen Schließzylinder in einer Eisenwarenhandlung und kommt zu mir.«

Wir brauchten nicht lange, bis unser Beschluss fest stand. Wir redeten mit Fred, der in der alten Wohnung auf Juliette aufgepasst hatte. Er war sofort einverstanden. Noch am gleichen Nachmittag besorgten Nathalie und ich im Baumarkt den Zylinder und klopften wieder an Alex’ Tür. Eine Frau Mitte zwanzig mit kurzen roten Haaren öffnete leicht zerzaust, wir hatten sie wohl gerade geweckt. Wir erklärten unser Anliegen, und sie bat uns herein, ohne sich vorzustellen. Alex sei nicht da, er komme aber bald wieder. Sie platzierte uns an den Küchentisch, forderte uns auf, Kaffee zu machen, und verzog sich in ein Zimmer.

Ich stupste Nathalie an. Die Wände der Küche waren tapeziert mit Plakaten wie aus einer anderen Welt. Lauter Begriffe, Namen, Orte, unter denen wir uns nichts vorstellen konnten. »Waffen für El Salvador«, »Lebt und lest Radikal«, »Vergewaltiger wir kriegen euch«, »Hafenstraße verteidigen«. Klang alles sehr platt. Nur mit einem der Poster konnte ich mich spontan identifizieren. »Keinen Fussbreit den Faschisten!«, stand da. Nazis kannten wir auch. In der Provinz hatten wir gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen, wo immer das ging. Manchmal ging es nicht, und dann endete es mit Demütigungen und Schlägen. Selbst in meine vollkommen unpolitische Kneipe hatten sie sich einmal verirrt, sich schrecklich aufgeführt und schließlich einem Rosenverkäufer, den sie als Ausländer klassifiziert hatten, seine Ware zertreten und ihn hinausgeprügelt. Meine zaghafte Aufforderung, doch bitte meine Kundschaft nicht zu belästigen, brachte mir eine Ohrfeige und ein paar zerschmissene Biergläser ein.

»Die meinen wohl, sie müssten die Welt retten«, versuchte ich zu blödeln, aber Nathalie wies mich zurecht. »Immerhin wollen sie etwas anderes als meine Alten«, befand sie. »Und dass sie was gegen Vergewaltiger haben, ist doch erfreulich.«

Ich hielt lieber den Mund. Wir wollten ja die Wohnung. Wir warteten eine Stunde, aber Alex kam nicht zurück. Irgendwann tauchte die Frau wieder aus ihrem Zimmer auf und setzte sich zu uns. Sie stellte sich als Hanna vor.

»Habt ihr keinen Kaffee gemacht?«, fragte sie verwundert.

»Wir wussten ja nicht, wo er steht, und wollten nicht …«, wandte Nathalie ein.

»Papperlapapp!«, raunzte sie, »Alle Küchen funktionieren gleich.«

Während sie mit der Maschine hantierte, hörte sie sich unsere Geschichte an. »Wann Alex wieder kommt, weiß ich nicht, das kann dauern. Aber das Austauschen des Zylinders ist eh mein Job, dafür brauchen wir ihn nicht.«

Sie verschwand wieder im Zimmer und kam bald mit einem Akkubohrer, einem Schraubenzieher, einem Haken und einer selbstgebauten Metallvorrichtung zurück, die sich als Abzieher herausstellte.

»Los gehts«, kommandierte sie. »Welche Wohnung wollt ihr? Wir haben zur Auswahl: Ein Ladenlokal zur Straße, eine im dritten Stock, eine im vierten Stock.«

Wir entschieden uns für die Wohnung ganz oben. So nah wie möglich an der Sonne.

»Kannst du mir helfen?«, fragte Hanna Nathalie. Mich schickte sie zum Schmiere stehen einen Treppenabsatz tiefer. Ich konnte sehen, wie sie in den Schließzylinder der Wohnungstür ein Loch bohrte. Darauf setzte sie den Abzieher und drehte eine Schraube in das Loch. Zusammen mit Nathalie drehte sie an der Vorrichtung, was offenbar einiges an Kraft kostete. Ich bot meine Hilfe an.

»Wir machen das schon«, fauchte Hanna, »konzentrier’ dich aufs Aufpassen.«

Es gab ein Knirschen, dann einen kleinen Knall, und sie hielt den Abzieher in der Hand. Der Schließzylinder war in der Mitte auseinandergebrochen. Sie stieß mit dem Schraubenzieher die verbleibende Hälfte des Zylinders nach innen und öffnete mit dem Haken, einer Art Dietrich, die Wohnungstür.

»Voilá«, sagte sie stolz, »fühlt euch wie zu Hause«.

Während sie den neuen Zylinder in die Tür schraubte, inspizierten Nathalie und ich die Örtlichkeiten. Zwei Zimmer, eines davon groß, und ein recht kleines. Eine Küche. Kein Bad. Bunte Tapeten mit blumigen Ornamenten. Ein abgetretener Teppichboden mit undefinierbaren dunklen Stellen. Ein Geruch von Schimmel lag über allem.

»Und, wie gefällt sie euch?«, fragte Hanna.

Ich verzog das Gesicht und wollte anheben zu mäkeln, aber Nathalie kam mir zuvor. »Großartig«, fand sie. »Leider ein bisschen klein. Ich habe ein Kind, und Fred kommt ja auch mit.«

»Ist doch kein Problem, dann nehmt ihr noch die Wohnung im dritten Stock mit dazu.«

Das wurde ja immer besser! »Aber wir haben keinen zweiten Schließzylinder«, fiel mir ein.

»Nicht schlimm, ich habe noch einen da. Den schenk ich euch, hab’ ich eh geklaut.«

Wir wiederholten die Prozedur ein Stockwerk tiefer. Während Hanna den zweiten Schließzylinder suchen ging, inspizierten Nathalie und ich die andere Wohnung. Sie war fast identisch mit der Wohnung darüber, nur die Tapeten waren ein bisschen weniger bunt.

Nathalie begann Pläne zu machen. »Erstmal alles streichen, die gammeligen Böden raus und gut durchlüften, dann sieht das hier schon ganz anders aus. Wir könnten eine der Küchen gemeinsam nutzen, aus der anderen machen wir ein Badezimmer.« Mir war alles recht. Hauptsache, ein eigenes Zimmer. Ich entschied mich für das große im obersten Stock. Nathalie wollte das große Zimmer im dritten, das kleine daneben würde Kinderzimmer, und Fred würde sich mit dem kleinen Raum im vierten begnügen müssen.

So begann unsere Zeit in der Maschine. Erstaunlicherweise war das Haus von Hanna so getauft worden, ich erfuhr nie, warum. Überhaupt hatten diese Leute die Gewohnheit, allen möglichen Orten und Personen verwirrende Namen zu geben. So wurde Alex immer nur DerKommissar genannt, wenn in seiner Abwesenheit über ihn geredet wurde. Ein anderer Freund des Hauses, der fast täglich ein und aus ging, hieß DerFinne, obwohl seine Herkunft doch ganz offensichtlich türkisch war. Die Autowerkstatt, die Alex im Hinterhof betrieb, hieß aus unerfindlichen Gründen Weinkeller. Selbst die Sackkarre, laut Hanna bei einem Großeinkauf für eine Soliparty bei Getränke Hoffmann ›übrig geblieben‹, hatte einen Namen. Sie hieß Andreas Baader.

All das war jedoch nicht mein Problem. Ich richtete mein Zimmer gemäß meines derzeitigen Geschmacks ein: dunkel. Die Tapeten ließ ich an den Wänden, anstatt sie weiß zu überstreichen, wie Nathalie es vorgeschlagen hatte. Die Fenster verhing ich mit Decken, so dass keine Lichtstrahl eindringen konnte. Als Beleuchtung brachte ich mehrere Neonröhren an, die ich schwarz lackierte, so dass der Raum in behagliche Düsternis getaucht war. Aus meiner überdimensionierten Stereoanlage, die ich vor dem Gerichtsvollzieher in Köln hatte retten können, klangen dumpf die depressiven Gesänge von Joy Division. Ich fühlte mich wohl.

– 2 –

Ich habe festgestellt, dass ich hier nicht alleine bin. Ich war auf der Suche nach einer Brücke oder einer seichten Stelle am Ufer des Totenflusses entlang geschlendert, wo ich hoffte ohne die Hilfe des Fährmannes auf die andere Seite gelangen zu können. Ohne Erfolg. Der Fluss ist breit wie ein Meer, nur ganz weit entfernt kann man schemenhaft das andere Ufer erahnen. Oder ist das nur eine Nebelwand? Ich wollte es schwimmend versuchen, aber kaum bin ich bis zur Hüfte ins tiefschwarze Wasser gestiegen, muss ich feststellen, dass ich wie ein Stein nach unten gezogen werde. Erschrocken krabble ich zurück ans Ufer. Ein magerer Jugendlicher steht dort, der mich spöttisch beobachtet, gekleidet im typischen Outfit der Malandros, der kriminellen Subkultur von Medellín.

»Vergiss es, du Pfeife«, lacht er mich aus, »wie willst du denn schwimmen, wenn du keinen Körper mehr hast?«

Ich versuche, nicht auf das hässliche Einschussloch zwischen seinen Augen zu starren. Fehlender Kinderstube begegnet man bekanntlich mit überlegener Höflichkeit.

»Sehr angenehm, Bernd«, antworte ich ihm auf seine Rüpelei. »Ich wollte ja gar nicht schwimmen, sondern mich nur etwas erfrischen.«

»Ja, na klar, ist ja auch so heiß hier« blödelt er. Erst jetzt fällt mir auf, dass es in der Zwischenwelt überhaupt keine Temperatur zu geben scheint. Das Wasser hatte sich nicht kalt angefühlt, und jetzt, wo ich durchnässt vor dem Racker stehe, hätte ich nicht sagen können, dass ich das als unangenehm empfunden hätte. Es fühlt sich einfach überhaupt nicht an.

»Bist wohl neu hier?«, will er wissen. »Mach dir nichts draus, das kommt schon noch. Am Anfang stellen sich alle blöd an mit der Körperlosigkeit.« Und dann wird er fast ein bisschen freundlich: »Willkommen in der Zwischenwelt. Ich bin der Paisa. Ich bin schon seit gut zwanzig Jahren hier.«

»Und du hast in der ganzen Zeit keinen Weg gefunden, um ins Totenreich zu kommen?«

»Vergiss es, Charon ist ein harter Hund. Ohne Bezahlung kommt hier niemand rüber.«

»Und gibt es noch andere wie du und ich? Leute, die hier fest sitzen?«, will ich wissen.

»Ohne Ende. Alles voll. Sie haben sich nur etwas verteilt, Raum ist hier ja unendlich. Das hier ist der karibische Abschnitt, die Leute bleiben eben gerne unter ihresgleichen. Dass Du mit deinem Gringogesicht ausgerechnet bei uns gelandet bist, wundert mich ja ein wenig.«

»Ich habe die letzten zwanzig Jahre in Venezuela gelebt«, erkläre ich.

»Na ja, wenn du meinst. Reden tust du aber immer noch wie ein Gringo«.

Mir fällt auf, dass ich überhaupt kein Problem damit habe, ihn zu verstehen, obwohl er einen schrecklichen Medelliner Dialekt spricht. Anscheinend fallen mit der Körperlosigkeit auch die sprachlichen Schranken.

»Und wie lange bleiben die Toten hier, wenn sie kein Geld für den Fährmann haben?«, will ich wissen.

»Endlos. Manche sitzen schon seit Jahrhunderten hier. Die Gewiefteren schaffen es manchmal, einem arglosen Neuankömmling die Münze zu klauen, um ihre eigene Überfahrt damit zu bezahlen, aber das ist nicht so einfach. Wenn der Fährmann das mitbekommt, gibt es Ärger.«

»Und eine weniger ehrrührige Methode, um rüber zu kommen, gibt es nicht?«

»Wenn du Glück hast, kannst du einem Bonzen, dem sie gleich mehrere Münzen beigelegt haben, eine abschwatzen. Aber auch das ist nicht so einfach. Die Reichen geben nicht gerne ab.«

»Und du? Hast du irgendwelche Aussichten auf eine Überfahrt?«

»Nö, ich habe die Arschkarte gezogen. Die meisten meiner ärmeren Landsleute konnten mit Pablo Escobar übersetzen, als der hier durchgekommen ist. Der hatte ganze Rollen von Goldmünzen dabei, als er hier ankam, und hat sämtliche Sicarios von Medellín mitgenommen, die hier abhingen. Aber ich selbst kam dafür viel zu spät. Als ich erschossen wurde, war der Patrón schon seit Jahren tot. Und seine Nachfolger waren alles Geizhälse, die interessieren sich nicht für einen mittellosen Auftragsmörder.«

Na prima! So wie es aussieht, kann ich mich auf einen längeren Aufenthalt in der Zwischenwelt einstellen. Ich mache es mir am Fuß eines versteinerten Baums bequem und werfe Steinchen ins Wasser. Der Paisa schickt sich an davonzuschlendern, aber jetzt traue ich mich doch zu fragen:

»Sag mal, wie bis du eigentlich zu deinem Loch im Kopf gekommen?«

»Ach, das war ein Arbeitsunfall. Ich wurde engagiert, um den Leiter des Rauschgiftdezernats von Medellin auf dem Weg zum Büro zu erschießen. Aber über seine Freunde vom Cartel hat er davon Wind bekommen, und hat seinerseits zwei Sicarios angeheuert, um mich auszuschalten.«

»Na, die werden sicher auch bald hier vorbeikommen« mutmaße ich.

»Schon längst passiert. Keine drei Wochen nach mir sind auch sie eingetrudelt. Aber sie waren gut bestückt und konnten gleich übersetzen.«

»Und gab es da keine Abrechnung zwischen euch?«

»Aber ich bitte dich, das waren gute Bekannte. Die haben auch nur ihren Job gemacht. Unter Kollegen nimmt man sich so was doch nicht übel. Wir sind schließlich Profis.«

Es ist schön zu sehen, dass es noch Menschen mit Arbeitsethos gibt.

»Und was machst du jetzt?«

»Ich habe mein Plätzchen dort oben zwischen den Felsen. Es gibt etwas weiter den Fluss hoch eine ganze Community von Latinos. Aber ich bin dort nicht so gerne, weil dort auch mehrere von meinen früheren Aufträgen abhängen, die mir ihr Ableben noch nicht verziehen haben. Nicht alle sehen das so gelassen wie wir vom Fach. Außerdem sitzen dort auch die Präsidenten, und die hören nicht auf zu labern. Das nervt.«

»Welche Präsidenten denn?«

»Na Chávez, und die Brüder Castro.«

»Du meinst Raúl Castro? Du irrst dich, der lebt doch noch!«

»Na klar, wenn du meinst.« Er grinst über beide Ohren und trollt sich.

Ich glaube, ich muss mir das mal anschauen.

Kinderbauernhof

Es war im Frühjahr 1987, als mir zum ersten Mal schwante, in was für ein Nest ich da geraten war. Wir vier Neuzugänge hatten uns ganz gut eingelebt in der Maschine. Nathalie hatte sich schnell mit Hanna angefreundet, die ihr geholfen hatte, die neue Wohnung bezugsfertig zu machen. Stundenlang saßen sie miteinander in der Küche im dritten Stock, tranken Unmengen von Kaffee und brachten Juliette neue Sachen bei. Hanna, die ein Händchen für technische Fragen hatte, schien ganz besessen davon, der Kleinen ihr handwerkliches Geschick zu vermitteln. »Schau mal, Julie, das ist eine Ratsche. Hier steckt man die Nüsse drauf, und hier kann man sie umstellen.« So ging das den ganzen Tag. Die Fünfjährige stieg begeistert darauf ein. Im Kinderladen wurde so etwas nicht vermittelt.

Fred, offiziell als Student der Philosophie in der FU eingeschrieben und von seinen Eltern dafür mit einer monatlichen Überweisung gefördert, praktizierte in Wirklichkeit eher angewandte Lebenskunst. In der Uni tauchte er nur selten auf, nämlich dann, wenn es um unerlässliche Scheine ging. Ansonsten nahm er Unterricht in Stepptanz, trieb sich mit verschrobenen Leuten aus der Kunstszene herum und verbrachte sehr viel Zeit damit, grübelnd auf dem Bett zu liegen.

Ich selbst musste mir um mein Auskommen auch keine Gedanken machen. Dank dem Offenbarungseid, den ich nach meinem unternehmerischen Desaster als Kneipier hatte leisten müssen, hatte ich keinerlei Motivation mehr, mich in irgendeinem Job zu verausgaben. Das Finanzamt hätte sowieso alles, was über den festgelegten Minimalsatz des Lebensnotwendigen hinaus ging, gepfändet. Also ging ich lieber gleich aufs Sozialamt, wo ich ohne jede Mühe sogar noch etwas mehr bekam als das, was mir das Finanzamt von einem Arbeitslohn gelassen hätte. In den Gängen des Sozis am Bethanien traf ich auf Gleichgesinnte, die mir während den stundenlangen Wartezeiten erklärten, wie man beispielsweise mithilfe eines gefälschten Attestes an das Geld für eine orthopädische Matratze kam, die man dann sofort weiterverkaufen konnte. Dank solchen Tricks plus dem regulären Monatssatz kam ich finanziell ganz gut über die Runden. Also hatte ich jede Menge Zeit für kulturelle Aktivitäten. Zusammen mit Nocke, einem Grufti aus Israel, machte ich experimentelle Musik. Wir bearbeiteten eine E-Gitarre mit Stöcken, bliesen durch den elektrisch verstärkten Lenker eines Rennrades und schlugen auf diverse metallische Haushaltsgegenstände. Das klang nicht schön, aber es war originell und unterhaltsam, und darauf kam es uns an.

So plätscherte das Leben freundlich vor sich hin. Eines Tages, wir saßen gerade zu dritt in Nathalies Küche beim Kaffee, während Juliette die Wände verschmierte, stürmte Hanna herein. Sie war außer Atem und ihr lila T-Shirt völlig verschwitzt.

»Leute, wir müssen was machen! Die Schweine wollen den Kinderbauernhof räumen!«

Ich hatte Schwierigkeiten damit, den Zusammenhang zu verstehen. Schweine auf einem Bauernhof, das erschien mir erst mal plausibel, was die Kinder dort wollten, verstand ich aber nicht ganz. Spontan dachte ich an Orwell’s Animal Farm, welches ich in der Schule gelesen hatte.

Nathalie dagegen verstand sofort, worum es ging. »Der Kinderbauernhof?«, fragte sie. »Da, wo wir ein paarmal mit Julie Ponyreiten waren?«

Hanna nickte. »Genau der. In der Adalbertstraße neben der Mauer. Sie wollen die Leute vertreiben, die dort seit Jahren selbstverwaltet ein total wichtiges Projekt für den Kiez betreiben, um an der gleichen Stelle eine staatlich betriebene Kindertagesstätte zu errichten.«

Fred ergriff das Wort, was sonst eher selten vorkam: »Ja wieso das denn? Das macht doch keinen Sinn. Das ist doch das Gleiche. Wieso bauen sie nicht lieber woanders eine Kita, wo es noch keine gibt?«

Hanna kam immer mehr in Fahrt. »Genau! Nur weil sie es nicht zulassen wollen, dass ein funktionierendes sinnvolles Projekt außerhalb ihrer Kontrolle besteht, wollen sie den Bauernhof räumen. Wir müssen das verhindern!«

»Aber wenn die das räumen wollen, dann gibt es doch bestimmt einen Beschluss vom Bezirksamt. Die setzen das polizeilich durch. Was willst du denn da noch dagegen unternehmen?«, fragte Nathalie.

»Natürlich schicken sie die Bullen, was denkst du denn? Aber die Leute vom Kinderbauernhof werden nicht freiwillig gehen. Wenn sie genug Unterstützung von außen bekommen, lässt sich die Räumung verhindern.«

Jetzt mischte auch ich mich ein. »Ja Moment mal. Wenn die Bullen kommen, dann ist die Sache doch gelaufen. Was willst du denn gegen die machen? Die lochen dich ein, wenn du dich ihnen in den Weg stellst.«

Hanna grinste süffisant. »So, so. Und wenn wir sie nicht lassen?«

Mir wurde die Sache langsam unangenehm. Ich hatte das ungute Gefühl, in etwas hinein zu geraten, was ich nachher bereuen würde. Aber Nathalie hatte Feuer gefangen: »Ja klar, ich bin dabei! Scheiß auf die Bullen! Was sollen wir machen?«

Ich schaute hilfesuchend zu Fred, aber der schien bei den Mädels einen guten Eindruck machen zu wollen. »Lass uns ihnen in die Suppe spucken!«, brüstete er sich.

Die Sache bekam eine Eigendynamik, die immer schwerer aufzuhalten war. Hanna hatte die Initiative ergriffen, aber die beiden anderen waren jetzt spürbar angefixt. Ich wollte nicht als Bremser dastehen, aber wohl war mir bei der Sache nicht. »Und wer passt auf Julie auf?«, fragte ich, meine Rolle als verantwortungsbewussten Erwachsenen entdeckend. Aber Juliette schien nicht zu erwarten, dass jemand auf sie aufpasste. »Ich will auch zum Kinderbauernhof!«, krakeelte sie. »Pony reiten!«

»Julie kommt mit!«, verkündete Nathalie. »Wenn es blöd wird, muss halt jemand mit ihr nach Hause gehen.«

Hanna zweifelte. »Also ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

»Wieso nicht?«, insistierte Nathalie, »es geht doch um ihren Kinderbauernhof.«

»Ok, wird schon gut gehen«, meinte Hanna. »Zieht euch was Dickes an, ich geh noch Werkzeug holen. Wir treffen uns in einer viertel Stunde auf der Straße. Alex ist schon am Mauerplatz.«

Werkzeug? Das wurde ja immer schöner! Sollten wir etwa auch noch arbeiten? Als wir vor der Haustür eintrafen, hatte Hanna bereits zwei weitere Leute im Schlepptau. Sie tuschelten heimlichtuerisch und würdigten uns keines Blickes. Unsere kleine Truppe setzte sich in Bewegung. Aber obwohl ich nach wie vor nicht von der Sache überzeugt war, fühlte es sich doch auch gut an, inmitten solch eines Haufens durch die Straßen zu marschieren. Irgendwie mächtig. Ich setzte Juliette auf meine Schulter und wir sangen im Laufen das Pippi-Langstrumpf-Lied: »Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.«

Als wir am Mauerplatz ankamen, standen dort bereits vier Wannen, die grün-weißen Mannschaftstransporter der Berliner Polizei. Rund um den Kinderbauernhof war ein Bauzaun aufgestellt worden, der bis an die Mauer reichte. Etwa 100 Menschen standen krakeelend vor dem verbliebenen Durchgang, an dem Bauarbeiter zu Gange waren, geschützt von etwa der halben Menge an Bereitschaftspolizei in Kampfmontur. Ein martialisches Bild, das Angst einflößte. Aber immer mehr Leute kamen aus der Adalbertstraße, der Waldemarstraße und dem Leuschnerdamm dazu, auch ein paar andere hatten Kinder dabei. Der Lärm nahm zu. Hanna ging zu Alex, der mit ein paar anderen schwarz Gekleideten am Rande des Geschehens stand, sie schienen sich zu beraten. Dann kam sie zu uns zurück.

»Wir wenden die dezentrale Taktik an«, verkündete sie martialisch. »Bernd, bleib mit Julie hier beim Gros der Leute. Halte dich etwas abseits, für den Fall, dass es Ärger gibt. Die anderen können mitkommen.«

Dumm gelaufen! Ich war von der Aktion zwar nicht begeistert, aber jetzt als Kinderhüter abseits zu stehen, während die anderen sich amüsierten, war erst recht nicht nach meinem Geschmack. Ich zog eine Schnute, aber das schien niemanden zu interessieren. Nathalie gab Juliette einen Kuss, flötete mir ein »Danke!« zu und lief dem Trupp hinterher, der jetzt am Bauzaun entlang meinem Blick entschwand. Es war kalt, und Juliette fing an zu quengeln. Wir standen neben der Parolen rufenden Menge, rund zehn Meter von den finster blickenden Polizisten entfernt. Ich erkannte jemanden aus dem Kinderladen, wir fingen an zu plaudern, und das Kind auf meinen Schultern beruhigte sich allmählich. So verging etwa eine halbe Stunde, dann stand Hanna wieder neben mir.

»Ablösung«, verkündete sie, »ich übernehme Julie, du machst für mich weiter.«

»Weiter womit denn?«

Sie drückte mir verstohlen einen Schraubenschlüssel in die Hand. »Frag die anderen, die erklären dir alles. Den Schlüssel bekomme ich wieder.« Dann nahm sie Juliette in den Arm und fing an, mit ihr zu blödeln.

Ich musste ein ganzes Stück am Bauzaun entlang gehen, bevor ich auf die anderen traf.

»Hast du den anderen Schraubenschlüssel?«, fuhr Alex mich an. Ich nickte. »Los«, kommandierte er, »jeweils die linke der beiden Muttern lösen, die die Elemente vom Zaun zusammen halten.« Er zeigte es mir. Ich überlegte noch kurz, ob ich protestieren solle, aber dafür war es jetzt zu spät. Ich hätte dagestanden wie ein Trottel. Ich fing an, an der ersten Schraube zu drehen, und drei der andern drängelten sich um mich. Offensichtlich wollten sie mich vor ungewollten Blicken schützen. Das fand ich jetzt wiederum richtig gut. Ich blickte zur Seite und sah, dass sich noch zwei weitere Grüppchen geformt hatten, die sich an anderen Stellen zusammen kuschelten, wo Segmente des Bauzauns aufeinandertrafen. Auch dort waren sie am Arbeiten. Ich legte los. Zuerst stellte ich mich ein wenig ungeschickt an, aber Alex gab mir mit ruhiger Stimme Tipps, wie es schneller ging. Nach ein paar Minuten hatte ich alle Schrauben auf einer Seite gelöst.

»Noch eines?«, fragte Nathalie, die jetzt neben mir stand.

»Ich denke, das reicht«, fand Alex. »Mit diesem sind es jetzt neun. Ich gehe jetzt vor und mobilisiere die anderen, dann kann’s losgehen.«

Nach einer Weile kam er mit einer kleinen Meute zurück, weitere Leute folgten, um zu sehen, worum es ging. Mit einem Ruck zog Alex das erste der gelösten Segmente aus den Halterungen, andere griffen sofort mit zu und in Sekunden lag das etwa drei Meter lange Stück des Bauzaunes auf dem Boden. Ein Stück weiter den Zaun entlang hatten andere dasselbe getan, und auch die Leute, die bei mir standen, rissen das Zaunstück, das ich gelöst hatte, aus den Halterungen. Von innen aus dem Kinderbauernhof ertönte ein Johlen, und lachend kamen Leute auf uns zu. In wenigen Minuten hatte das Ganze eine Eigendynamik entfaltet. Immer mehr Leute wurden vom Lärm angezogen, kamen dazu, rissen am Zaun und trugen die losen Elemente weg.

Mittlerweile hatte auch die Polizei gemerkt, dass sich hier etwas tat. Ungefähr zwanzig von ihnen kamen auf uns zumarschiert. Mit ihren Schildern und Helmen erweckten sie den Eindruck einer römischen Phalanx.

»Los, weg!«, befahl Alex. »Wir seilen uns ab und machen auf der anderen Seite weiter.«

Wir machten einen Bogen um die anrückende Einsatzbereitschaft und kamen wieder zum Eingang des Kinderbauernhofs, wo mittlerweile immer mehr Leute in Richtung des ramponierten Zaunes abzogen.

Juliette erkannte ihre Mutter und begann zu quängeln. Hanna gab sie an sie weiter und schloss sich uns wieder an. »Geht mal ein bisschen auf Abstand«, riet sie Nathalie, »gleich wird es hier ungemütlich. Falls wir uns aus den Augen verlieren, treffen wir uns am Döner am Kotti.«

Tatsächlich hörte man in der Ferne Sirenen, anscheinend hatte die halbe Hundertschaft vor Ort Verstärkung angefordert. Aber auch immer mehr Schaulustige kamen die Adalbertstraße entlang in unsere Richtung gelaufen, und die Menge am Bauzaun schwoll unaufhörlich an. Wir zogen weiter in die entgegengesetzte Richtung, wo der Zaun auf die Mauer traf. Wieder fingen wir mit unserer Demontagearbeit an, den Schraubenschlüssel musste ich wieder an Hanna abtreten, die fast doppelt so schnell arbeitete wie ich. Hier nahmen wir jetzt jedes Zaunelement, das wir gelöst hatten, sofort heraus, zwei Leute trugen es weg, während wir uns an das nächste begaben. Aber zwischenzeitlich war die Verstärkung eingetroffen, eine Wanne nach der anderen raste heran und ergoss einen Schwall von Uniformierten auf die Adalbertstraße. Unverständliche Megafondurchsagen dröhnten über den Platz, zu den Parolen der Demonstrierenden mischten sich Schreie. Jenseits des Zaunes füllte sich der Kinderbauernhof zunehmend mit Menschen, entnervte Beamte versuchten sie nach draußen zu drängen. Eine kleinere Truppe von Bullen kam auf uns zu, offensichtlich hatten sie gewittert, dass wir etwas mit dem Abbau des Zaunes zu tun hatten.

Alex pfiff. »Geordneter Rückzug an der Mauer entlang. Die, die Werkzeug dabei haben, gehen zuerst. Wir treffen uns am Kotti.«

Bevor er seine Ansprache beendet hatte, war Hanna schon verschwunden. Ich blickte mich verblüfft in ihre Richtung um, aber sie war nirgends zu sehen.

Fred zog mich am Ärmel. »Komm, lass uns Nathalie suchen.« Er strahlte über beide Ohren. So glücklich hatte ich ihn noch nie gesehen.

Wir schlenderten an den Bullen entlang, die uns finster ansahen, aber nicht behelligten. Offensichtlich entsprachen wir mit unserer bunten Kleidung nicht ihrem Feindbild.

In der Nähe des Eingangs fanden wir Nathalie in Begleitung anderer Eltern und Kinder in ein angeregtes Gespräch vertieft. Auch sie grinste breit. »Lust auf einen Döner?«, fragte sie.

Als wir später in der Imbissbude am Kottbusser Tor alle zusammen saßen, herrschte ausgelassene Stimmung. Alex klopfte uns Neuen anerkennend auf den Schultern herum, Hanna war entgegen ihrer sonst so trockenen Art richtig aufgedreht, und die beiden Bekannten von Hanna, die bei der Demontage des Zaunes mitgemacht hatten, stellten sich jetzt vor: Tania und Ossi. Offensichtlich ein Pärchen. Ossi wollte wissen, woher wir kamen, wer wir seien und was wir im Leben sonst so machten. Tania interessierte sich dafür, wie wir uns nach dem Erlebten fühlten.

»Also ich fand es komisch, einfach wegzugehen, nachdem es gerade richtig losging«, meinte Fred. »Warum sind wir nicht geblieben und haben mitgemischt? Das geht doch noch weiter.«

»Weil es Teil von einer guten Aktion ist, dass niemand festgenommen wird«, erklärte Hanna. »Das mit dem Zaun war eine gute Sache und hat Dynamik ins Geschehen gebracht. Aber wir waren relativ exponiert und bestimmt haben uns welche dabei beobachtet. Unser einziger Vorteil war der Überraschungsmoment, sonst hatten wir ja nichts zu unserem Schutz vorbereitet. Wären wir geblieben, hätte uns vielleicht jemand verpetzt und wir wären hops gegangen. Ist zwar kein richtiges Verbrechen, einen Zaun zu zerlegen, aber Ärger bringt es trotzdem. Und so, wie es gelaufen ist, haben wir die Oberhand behalten.«

»Woher wusstest du eigentlich, welchen Schraubenschlüssel wir brauchten?«, fragte Nathalie. »Du hattest ja genau die passenden mitgenommen.«

»Weil ich vorher dort war und mir den Zaun angeschaut habe«, erklärte Hanna stolz. »Eine Dreizehner-Mutter erkenne ich im Schlaf. Das habe ich auch den anderen gesteckt, als ich ihnen Bescheid gesagt habe.«

Wir blieben noch lange im Imbiss an jenem Morgen. Irgendwann gingen wir vom Tee zum Bier über, und Nathalie zog mit der nörgelnden Juliette davon. Mich hatte ein Hochgefühl ergriffen. Ich fühlte mich geborgen, anerkannt und wichtig. Im zunehmenden Biernebel machten wir spinnerte Pläne. Zum Beispiel wie wir dafür sorgen würden, dass der Kinderbauernhof nicht zerstört wird. Von Zeit zu Zeit kamen Leute vorbei, die sich vom Geschehen am Mauerplatz zurückgezogen hatten, und berichteten uns. Wir wurden vorgestellt, tauschten Anekdoten aus und immer wieder wurden Schultern geklöpfelt. Ich fühlte mich großartig. Ich gehörte jetzt dazu.

– 3 –

Es gibt keine Nacht in der Zwischenwelt. Immer das gleiche dröge Dämmerlicht. Müde wird man auch nicht, schlafen erübrigt sich also. Ich ahne schon, dass mir das Leben hier, oder vielmehr das Ausbleiben von Leben, gehörig auf den Keks gehen wird. Schon vor meinem Tod in den langen Jahren in Lateinamerika auf Höhe des Äquators, hatte es mich genervt, dass es keine Jahreszeiten gab. Immer das gleiche, um sechs Uhr wird es hell und um sechs Uhr wieder dunkel, die Temperaturen immer im gleichen lauen Bereich. Die einzige Abwechslung war der Regen. Mir fehlte der Wechsel von Sommer und Winter, wie ein Phantomschmerz, mit dem ein Körper auf den Ausfall einer essenziellen Funktion reagiert. Ich konnte es nie verstehen, wie die Bekannten in Deutschland ständig davon redeten, wohin sie im Winter fahren wollen, um vor der Kälte zu fliehen. Für mich war der Winter, das Zusammenfalten von Körper und Seele in der Erwartung wärmerer Zeiten, ein Reinigungs- und Abhärtungsprozess und das Erwachen von Trieb und Fröhlichkeit im Frühjahr ein ständig wiederkehrender Höhepunkt im Leben.

Wie eben der Wechsel von Nacht und Tag. Entsprechend schlecht ist meine Laune, als ich nach ein paar Tagen oder Wochen, genau kann man das nicht sagen, es gibt schließlich nichts, woran man das hätte festmachen können, beschließe, die Eintönigkeit zu unterbrechen und der lateinamerikanischen Diaspora in der Zwischenwelt einen Besuch abzustatten. Sie sind nicht schwer zu finden. Der Beschreibung des Paisa folgend wandere ich eine Weile lang flussaufwärts, bis mir das jammernde Vallenato-Gedudel anzeigt, dass ich richtig bin. Während ich mich noch frage, wie um alles in der Welt es jemand geschafft hatte, ein Akkordeon hierher zu schmuggeln, finde ich mich schon bald von allerlei fröhlichem Volk umgeben. Einige sitzen an einem Feuer und kochen Sancocho in einem zerbeulten Kessel, unter einem toten Baum haben sich ein paar Leute zum Musizieren versammelt und kratzen und blasen auf allen möglichen Gegenständen, und im fahlen Halblicht tanzt ein Pärchen eng umschlungen. Ich werde durchaus freundlich empfangen und zu einem Schluck Anisado genötigt. Ich setze die Flasche an und spüre den Schnaps wie Feuer in meiner Kehle brennen, während ich gleichzeitig feststelle, dass die Flasche danach immer noch genauso voll ist wie zuvor. Das gefällt mir. Endlich ein positiver Aspekt der Zwischenwelt.

»Woher kommt der denn?«, will ich wissen, auf den Schnaps zeigend.

»Ein Geschenk vom Paisa«, meint eine Frau grinsend, die sich als Laura vorstellt. »Die Sicarios werden grundsätzlich mit einer Flasche Aguardiente begraben. Er wollte sich damit entschuldigen, dass er meinen Mann um die Ecke gebracht hat.«

Schon wieder diese alten Geschichten. Es wird besser sein, sich von hier abzusetzen, bevor ich noch in etwas hinein gezogen werde. Leicht beschwipst erkundige ich mich nach den Präsidenten. »Da oben am Hang sitzen sie und schwatzen. Denen ist es hier unten beim Pöbel zu trivial. Die bleiben lieber unter ihresgleichen.«

Ich bedanke mich und krabble das Geröll hinauf, bis ich auf eine kleine Gruppe alter Männer stoße. Fidel erkenne ich sofort. Er sitzt in der Mitte auf einem Stein und schlürft am Sancocho, der sich zu guten Teilen in seinem opulenten Bart verfängt. Chávez begrüßt mich überschwänglich. »Komm, geselle dich zu uns, Genosse. In unserer Mitte ist immer ein Platz frei für einen Internationalisten wie dich!«

Das ist aber mal nett. Ich wusste gar nicht, dass ich so populär bin. Ich setze mich zu ihnen. Während Chávez mir weitschweifig die Ungerechtigkeit eines Beförderungssystems erläutert, bei dem nur die Reichen über den Totenfluss übersetzen können, schaue ich mich unauffällig in der Runde um. Und es stimmt: etwas weiter hinten sitzt tatsächlich Raúl Castro.

«Stell dir vor«, erklärt mir Chávez gerade, »Charon, dieser Knecht des Imperiums, hat sich tatsächlich geweigert, venezolanische Bolivares für die Überfahrt zu akzeptieren. Gold müsse es sein, sagt er. Und bei mir müsse es sogar eine Münze sein, die in einer venezolanischen Geldpresse hergestellt wurde. Dabei weiß er ganz genau, dass bei uns seit Beginn der bolivarianischen Revolution überhaupt nichts mehr geprägt wird.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerade Lust habe auf eine Diskussion über die Effizienz venezolanischer Institutionen. Vorsichtig unterbreche ich seinen Wortschwall. »Wieso sitzt da eigentlich Raúl, wenn der doch gleichzeitig in Kuba ist?«, will ich wissen.

»Raúl, hermanito«, dröhnt Chávez, »komm doch mal rüber und erzähl dem Gringo deine Geschichte!«