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Beschreibung

Geschichten aus der virtuellen Realität. Ob es um die Jagd nach "Sprites" geht, die man mit dem Mobiltelefon fängt, virtuelle Reisesimulationen in der Namib-Wüste oder Ausflüge in einem Holografie-Sarg, ob um Smartwatches, die Menschen steuern, Avatare, die Leben nach dem Tod fortführen, oder Roboter, die sich verselbstständigen – der Fantasie sind beim Thema künftiger technischer Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Computer, Tablets, Smartphones und Simulationen befördern uns in neue Welten. Wir reisen in die virtuelle Realität bzw. das, was bald Realität werden könnte. Dabei geht es immer um die Menschen in sich rasant verwandelnden Welten. In spannungsreichen, bewegenden Geschichten wird die Vielfalt der virtuellen Möglichkeiten ausgelotet und ein visionärer Blick auf die Auswirkungen der Digitalisierung geworfen.

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Seitenzahl: 298

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Ob es um die Jagd nach „Sprites“ geht, die man mit dem Mobiltelefon fängt, virtuelle Reisesimulationen in der Namib-Wüste oder Ausflüge in einem Holografie-Sarg, ob um Smartwatches, die Menschen steuern, Avatare, die Leben nach dem Tod fortführen, oder Roboter, die sich verselbstständigen – der Fantasie sind beim Thema künftiger technischer Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Computer, Tablets, Smartphones und Simulationen befördern uns in neue Welten. Wir reisen in die virtuelle Realität bzw. das, was bald Realität werden könnte. Dabei geht es immer um die Menschen in sich rasant verwandelnden Welten. In spannungsreichen, bewegenden Geschichten wird die Vielfalt der virtuellen Möglichkeiten ausgelotet und ein visionärer Blick auf die Auswirkungen der Digitalisierung geworfen.

in Zusammenarbeit mit

Jürgen Rink (Herausgeber)

Ausblendung

Wege in die virtuelle Welt

Science-Fiction-Kurzgeschichten

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Schnapp sie alle!

Tino Falke

Tiefschlaf

Peter Schattschneider

Feuervögel

Michael Rapp

Realtraum

Stephan Becher

Kreuzfahrt in der Namib

Stephan Becher

Ein Coffin für Jedermann

Arno Endler

Die Rose von Sharon

Bernhard Horwatitsch

Der Porzellanpalast

Matthias Falke

Ausblendung

Arno Endler

Afterlife

Helge Lange

Die Reisende

Matthias Falke

Feedback

Ulf Fildebrandt

Spielfreude

Jan Gardemann

Traumhaus

Michael Rapp

Entscheidungshilfe

Arno Endler

Die innere Landschaft

Dirk Alt

Gollums Schatz

Rupert Meier

Plug´n´play

Tom Turtschi

Der Herausgeber und die Autoren

Vorwort des Herausgebers

Science-Fiction-Literatur spielt dann ihre Stärke aus, wenn sie nicht nur eine spannende Geschichte erzählt, sondern unsere Welt konsequent weiterdenkt. Dabei ist die geschilderte Zukunft, die da aufgeblättert wird, kein Freibrief für Spinnereien – das wird der Fantasy überlassen –, sondern soll so plausibel wie möglich sein: Beste Unterhaltung also, die horizonterweiternd wirkt.

Manche Science-Fiction lese ich deshalb zweimal. Das erste Mal genieße ich die spannende Story, beim zweiten Mal achte ich auf Technik, Technologie und Naturwissenschaftliches. Oft finden sich dann Details, die im Sog der Spannung beim ersten Lesen untergegangen sind.

Science-Fiction-Autoren sind Vordenker, insbesondere diejenigen, in diesem Buch vorkommen. Wussten Sie, dass sich Naturwissenschaftler von Science-Fiction für ihre Forschung inspirieren lassen? Vor allem die Forschung zu Mensch-Computer-Interaktionen profitiert davon.

Science-Fiction kann sogar noch mehr. Sie kann Entwicklungen, die die Welt verändern werden, aufgreifen, sie kann Orientierung geben und für die Meinungsbildung wichtige Impulse geben. Gerade jetzt, wo die Politik bei dringend notwendigen öffentlichen Debatten über Digitalisierung und deren ethische und moralische Aspekte versagt, sind solche Denkanstöße wichtig.

Das gilt für Entwicklungen der künstlichen Intelligenz, der Biogenetik, aber auch für die virtuelle Realität, das Thema dieses Bandes der c’t Stories. Heute projizieren Brillen virtuelle Objekte ins Wohnzimmer, um die neue Wohnungseinrichtung vor dem Kauf zu präsentieren. Wie wird virtuelle Realität in Zukunft auf unser Leben Einfluss nehmen und die Wahrnehmung prägen?

Antworten geben die Autoren in 18 Kurzgeschichten, indem sie versuchen, diese Zukunft zu antizipieren.

Plötzlich sind Leistungsnachweise aus der virtuellen Welt nicht nur der Punktestand eines Online-Spiels, sondern haben deutliche Auswirkungen auf das reale Leben. In einer anderen Kurzgeschichte lernen Sie einen Holojektor kennen, einen Raumerzeuger für den ökologisch unbedenklichen Urlaub in den tiefen Schluchten des Himalaya, wo das Abenteuer beginnt.

Darf es etwas Horror sein? Wie reagieren Sie, wenn Vater und Großmutter nach deren Tod im virtuellen Raum, ohne den Sie nicht leben können, sich weiterhin in ihr Leben einmischen? Der Verwandtschaftshorror 2.0 … Vom Tod zur verhinderten Geburt: Maßgeschneiderte Nachkommen werden in naher Zukunft möglich sein. Die virtuelle Welt macht für die Eltern in spe das Kind erfahrbar – und sie bevorzugen doch den Nachwuchs mit anderem Charakter und Aussehen. Letzten Endes bleibt das Paar kinderlos, weil sie der Zwang, das für sie optimale Kind zu schaffen, im Griff hat.

Die Kurzgeschichten, die ich in diesem Band zusammengetragen habe, nehmen Sie mit auf die Reise, von der Sie hoffentlich zurückkommen mit dem Gedanken: „Ja, so könnte die Zukunft tatsächlich sein“.

Jürgen Rink

Herausgeber

Jede Ausgabe der zweiwöchentlichen Zeitschrift c‘t, Europas größter IT-Zeitschrift, enthält eine Kurzgeschichte. Aus den über 300 Geschichten sind hier die besten zusammengestellt, die das Thema virtuelle Realität aufgreifen.

Tino Falke

Schnapp sie alle!

Es passiert nicht jede Nacht, dass man von einer leuchtenden Kreatur geweckt wird, die mitten im Schlafzimmer schwebt, aber als ich die Augen öffne, erhellt eine Banshee den Raum. Weißes Haar weht um ein zerfurchtes Gesicht, Fetzen ihres Kleides flattern in alle Richtungen. In den Augenhöhlen und aus dem weit aufgerissenen Mund heraus blinken mir kleine Quadrate entgegen. Pixelfehler.

„Geh ins Bett“, murmele ich ins Kissen.

„Aber Mama!“, sagt Dimitri. „Bansheestaub fehlt mir noch!“

Immerhin hat er den Ton ausgestellt – die Kreatur kreischt, ohne dass etwas zu hören ist. Trotzdem hat mein Sohn um diese Uhrzeit nicht in meinem Türrahmen zu stehen. Morgen ist Schule. Ein Blick genügt und er lässt sein Handy sinken. Das Hologramm verschwindet.

Ich kann froh sein, dass er zu jung war, als ähnliche Trends zum ersten Mal aufkamen. Kinder liefen auf der ganzen Welt durch die Gegend, um digitale Monster einzufangen. Was damals lediglich auf Displays angezeigt wurde, wird heute für alle sichtbar in die Luft projiziert. Kein Wunder, dass SpriteMania GO alle App-Charts anführt. Die Elfen und Kobolde des Spiels, deren magischen Staub man sammeln soll, könnten kaum lebensechter sein.

„Karlo aus der 4b hat sogar schon eine Trophäe freigeschaltet“, klagt Dimi am Frühstückstisch. „Weil er über 50 verschiedene Sprites getroffen hat! Das schaff ich nie! Und ich brauche unbedingt noch Gnomenstaub!“

Ich nicke – aber erst später, als er schon längst in der Schule ist und der Computer in meinem Home-Office mit dem Kompilierlauf für meinen Code beschäftigt ist, nutze ich die Wartezeit, um mehr herauszufinden. Hunderte Artikel berichten vom Erfolg der App, die so effektiv dafür sorgt, dass mehr und mehr Kinder ihre Zeit an der frischen Luft verbringen. Cottingley Games, das Studio hinter dem Spiel, weist darauf hin, dass Sprite-Jäger die Straßenverkehrsordnung beachten und keine Privatgrundstücke betreten sollen, doch natürlich steigen Kinder trotzdem über Stacheldrahtzäune und laufen in einsturzgefährdete Gebäude.

Im Radio heißt es, dass die Anzahl der Auffahrunfälle sich verdoppelt hat, seitdem überall Kinder Ampeln ignorieren, um schneller zu erreichen, was ihr Radar ihnen anzeigt. Gruppen mit Hunderten von Spielern versammeln sich um seltene Sprites und blockieren ganze Straßen, halten nachts müde Anwohner wach und müssen regelmäßig von der Polizei nach Hause geschickt werden. Für all das ist im Grunde Cottingley Games verantwortlich.

In Großstädten sind bereits erste Spieler überfallen und dazu gezwungen worden, per Tauschfunktion ihren kostbaren Staub herzugeben. Und an Schulen entwickelt sich SpriteMania GO mehr und mehr zum Statussymbol.

Jeden Tag, wenn ich Dimitri abhole, ist der Schulhof voll mit Kindern, die mit ihren Handys in alle Richtungen zielen, bis sie das haben, was sie suchen. Sobald ihre Holobeamer die Kreaturen erscheinen lassen, tippen sie auf den Touchscreens herum, um den Sprites ihren Staub abzunehmen und ihn in virtuelle Phiolen zu füllen. Die meiste Zeit stehen sie also wortlos glotzend um leuchtende Hologramme herum. Wie Motten um eine Glühbirne. Wie Betende um einen strahlenden Götzen. Den Mittelpunkt ihres Interesses bilden all die im Spiel verarbeiteten Waldwesen und Naturgeister aus verschiedensten Mythologien.

„Karlo sagt, er hat einen Faun getroffen!“, sprudelt Dimi gleich los, als er nach der Schule ins Auto einsteigt. „Das sind fast die seltensten! Danach kommt nur noch der Große Pan! Mama, wenn ich Staub vom Pan hab, dann bin ich der Beste!“

„Das wäre natürlich toll“, sage ich.

Wir sind keine Minute unterwegs, da vibriert sein Handy.

„Ein Gnom!“, schreit er und zeigt mir die GPS-Karte unserer Nachbarschaft. Auf einer der Straßen blinkt das Symbol für ein neues Sprite.

„Mama, wir müssen da hinfahren!“

„Wir fahren jetzt erst mal nach Hause“, sage ich.

„Du musst rechts abbiegen!“, ruft Dimi. „Du fährst ja dran vorbei!“

Wenn er seine Hausaufgaben fertig hat, sage ich, dann kann er vor dem Essen noch mal nach Gnomen suchen.

Wir biegen nicht ab. Sofort bricht Dimi in Tränen aus. Nicht das übliche Weinen, wenn er nicht bekommt, was er will. Er jault, als stünde das Ende der Welt bevor. Sein Schluchzen ist so stark, ich verstehe nur einen Bruchteil seiner Worte –„unbedingt“ und „brauch ich noch“ und immer wieder „Karlo“.

Ich nehme Dimitri in den Arm, bis er sich beruhigt hat. Er spricht nur noch wenig an diesem Abend, doch schon bald macht es „klick“ bei mir. Wer nicht den richtigen Staub gesammelt hat, hat auf dem Schulhof nichts mehr zu melden. Kinder ohne Smartphone haben bereits verloren. Kinder, die nur geringe Erfolge haben, werden ausgelacht, ausgeschlossen und dürfen bei den Müllcontainern spielen.

Gleich am nächsten Tag rufe ich bei der Schule an. Ich spreche mit Lehrern und anderen Eltern, aber die Reaktion ist überall dieselbe: Die Kinder spielen doch nur. In einer Woche haben sich alle wieder vertragen. Doch ich sitze nicht tatenlos herum, während mein Sohn wie ein Aussätziger behandelt wird.

Nachdem Dimi sich das nächste Mal in den Schlaf geweint hat, schnappe ich mir sein Handy und kopiere mir das Installationsarchiv der App, um nach dem Quellcode zu suchen. Ich kann seine Staubphiolen nicht einfach füllen, doch nach Jahren in der Software-Entwicklung ist es kein Problem für mich, einen eigenen Server aufzusetzen und ihn mit Dimis Spieldatei zu verknüpfen. Der Befehl, der eine zufällig ausgewählte Kreatur auftauchen lässt, ist schnell gefunden und modifiziert – ab morgen bekommt mein Sohn das dazugehörige Signal doppelt so oft, vom Cottingley-Games-Server und von zu Hause.

Ich kann ihn weder vom Spielen abhalten noch das Verhalten der anderen Kinder ändern. Ich kann nur dafür sorgen, dass Dimi so schnell wie möglich alle Sprites trifft und den Trend hinter sich lassen kann. Ihn vergessen wie all die kompletten Sammelkarten-Sets und vollen Stickeralben, die sofort uninteressant wurden, als es nichts mehr zu erreichen gab.

Bevor Dimi am nächsten Morgen zur Schule fährt, trifft er schon auf zwei Pixies. Eine Woche später und er zählt bei jedem Essen neue Kreaturen auf, von denen ich noch nie gehört habe. Ich warte darauf, dass das Spiel endlich seinen Reiz verliert. Doch der Hype ebbt nicht ab.

Jedes zweite Geschäft in der Stadt verkündet im Schaufenster, dass man dort besonders guten Feenstaub finden könne. Cafés und Bars locken mit Rabatten und Gratisessen, wenn man vor Ort ein Selfie von sich mit einem Sprite macht und das Bild online stellt. Jeder Trend, der weit genug verbreitet ist, wird früher oder später für Marketing-Zwecke nutzbar gemacht.

All das wäre mir recht, doch die derzeitige Kindergeneration ist technikaffiner als ich dachte. Sobald Dimitris Mitschülern aufgefallen ist, dass ihm Kreaturen begegneten, die auf ihrem Radar gar nicht angezeigt wurden, haben sie sich seine Setup-Datei kopiert. So ist sie schließlich im Internet gelandet, und bevor ich wusste, was vor sich ging, hat mein Server Tausende Spieler mit zusätzlichen Sprites versorgt.

Als ich das nächste Mal mein Home-Office betrete, schlägt mir das Rauschen der Lüfter entgegen, die verzweifelt versuchen, die unter Volllast arbeitende Rechnerhardware zu kühlen. Die Anzeige, die darüber Aufschluss gibt, an welchen Orten das Signal meines Servers empfangen wird, braucht so viel Platz, dass ich sie über mehrere Monitore verteilen muss. Meine Spielversion, von der eigentlich nur mein Sohn profitieren sollte – inzwischen wird sie auf allen Kontinenten benutzt.

Auf der Suche nach Möglichkeiten, den Zugang der neuen Empfänger meines Signals einzuschränken, klicke ich mich durch all die kryptisch benannten Dateien der App, überfliege den Quellcode und entdecke Ansatzpunkte für Funktionen, die Cottingley Games in Zukunft integrieren will. Farbige Hologramme anstelle der weißen Lichtgestalten. Die Möglichkeit, Kreaturen gezielt anzulocken. Und eine Schnittstelle zur Kamerafunktion aller Handys, auf denen die App benutzt wird – nur dass diese Funktion offenbar schon jetzt vollständig im installierten Paket enthalten, wenn auch noch inaktiv ist.

Ich brauche zwei weitere Nächte, um eine Anwendung dafür zu schreiben, dann zeigen mir alle Bildschirme, was ich bereits befürchtet habe. In Hunderten kleinen Fenstern sehe ich, was die Kameras der Spieler gerade einfangen. Auf der Suche nach Sprites schwenken sie ihre Smartphones hin und her, filmen die Welt um sich herum, ihre Schlaf- und Badezimmer, ihre Mitmenschen, jeden Winkel ihres Alltags. Und das sind nur die Spieler, deren App mit meinem Server verknüpft ist.

Sprachlos starre ich all die Fenster an. Die meisten Spieler sind in den Städten unterwegs, riesige Werbetafeln bilden den Hintergrund jeder Sprite-Begegnung. Andere Fenster zeigen das Innere von Einkaufszentren und Shopping-Passagen. Offenbar tauchen in den Kleinstädten und Dörfern die wenigsten Kreaturen auf, direkt in Privathäusern noch weniger. Eines der Fenster präsentiert mir eine vertraute Umgebung. Der dazugehörige Spieler schwenkt sein Handy in meinem Wohnzimmer umher, dann in meinem Flur. Er bewegt sich auf mein Büro zu. Da klopft es auch schon.

„Mama!“, ruft Dimitri durch die Tür. „Darf ich kurz in den Garten? Da ist ein Imp! Danach geh ich auch gleich schlafen. Zähne geputzt hab ich schon!“

„Aber nur ganz kurz“, rufe ich zurück und lausche, wie seine Schritte in Richtung Haustür verschwinden.

Ich lasse mir nur die Live-Feeds aus der unmittelbaren Umgebung anzeigen und bekomme den Weg aus unserem Haus präsentiert, dann einen Rundumschwenk im Vorgarten, bis Dimis Holobeamer den Imp erscheinen lässt.

Natürlich steht davon nichts in den Geschäftsbedingungen des Spielherstellers. Cottingley Games hat die Möglichkeit, Millionen Spieler auszuspionieren, ohne dass irgendwer es bemerkt. Aber wozu?

Um das herauszufinden, konzentriere ich mich ganz auf die Bewegungen der Spieler. Ich starre meine Monitore an, wühle weiter im Quellcode, erweitere meinen Server, damit er der höheren Belastung standhält, und nutze jede freie Minute, um nach Neuigkeiten zu recherchieren. Die App nimmt derweil noch an Beliebtheit zu. Immer mehr Kinder installieren das Spiel, immer mehr Firmen investieren in den Sensationserfolg. Hersteller von Autos und Limonade ebenso wie Filmstudios und Modemarken.

Erst Tage später, als Dimi von einem Ausflug mit Freunden mit einer kostenlosen Brezel zurückkehrt, macht es „klick“ bei mir. Er hat das Gratisgebäck bekommen, weil er in einer Bäckerei ein Selfie mit einem Sprite gemacht hat.

Ein Blick auf die Live-Feeds in meinem Home-Office bestätigt meinen Verdacht. Wenn die Kinder ihre Handys schwenken, um Dryaden und Elementargeister zu finden, haben sie fast ununterbrochen Werbung vor Augen. In den kleinen Fenstern sehe ich Plakate und Schilder all der Investoren, vor deren Reklametafeln die begehrtesten Sprites auftauchen – ihre Logos und Produkte immer im Sichtfeld unwissender Kinder, damit diese das Erfolgserlebnis beim Spielen schon bald mit Dingen assoziieren, die sie gar nicht brauchen.

Zum ersten Mal begrüße ich es, dass meine Version der App sich so weit verbreitet hat. Die Funktion, Sprites gezielt an bestimmten Orten auftauchen zu lassen – innerhalb weniger Tage kann ich die Befehlszeilen modifizieren, um die Entwickler mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Jedes Mal, wenn die Kinder in Richtung einer Reklametafel gelockt werden, sorgt das Signal von meinem Server dafür, dass sie gleichzeitig in die entgegengesetzte Richtung gerufen werden.

Inzwischen sind es Zehntausende, die ich so lenken kann. Verführerische Nymphen locken sie in kleine Parks. Scharenweise folgen sie Trollen unter die Brücken der Stadt, wandern hinter Irrwischen her, bis weit und breit keine Werbung mehr in Sichtweite ist. Das „GO“ aus dem Spieltitel klingt mehr denn je wie ein Befehl. Und die Kinder folgen gehorsam. Ich bin so vertieft in das Treiben auf meinen Bildschirmen, ich höre Dimi erst, als er direkt im Türrahmen steht. Er zittert. Wasser rinnt an ihm hinab und tropft auf den Boden.

„Ich bin in den Bach gefallen“, sagt er.

Sofort stürme ich ihm entgegen, helfe ihm aus der nassen Kleidung, wickle ihn in dicke Decken, verabreiche ihm eine Tasse Kakao und stecke ihn ins Bett. Während ich dafür sorge, dass ihm wieder warm wird, erzählt er, dass er mit Freunden ein Sprite finden wollte, das ihm angezeigt wurde. Nur vom spärlichen Licht ihrer Handydisplays unterstützt, sind Dutzende Kinder im Dunkeln durch die Büsche und Sträucher des Stadtparks gestolpert, dann hat eine unerwartete Senke sie stolpern lassen. Die meisten von ihnen sind ins Wasser gepurzelt, einer von Dimis Freunden hat sich den Knöchel verstaucht. Vom digitalen Irrlicht ins Verderben gelockt.

In dieser Nacht führe ich niemanden auf unbekannte Pfade. Die Entwickler schicken ihre Spieler indessen weiter zu Reklametafeln in allen Winkeln der Welt.

Als Dimitri schläft, versuche ich, fernzusehen, um mich abzulenken, doch jede Menschenmenge, die ich sehe, erinnert mich an das Spiel. Die Nachrichten zeigen Truppenbewegungen in den Kriegsgebieten der Welt, und ich bilde mir ein, dass alle Soldaten ein Smartphone in der Hand halten und in Richtung seltener Waldgeister marschieren, deren Staub ihnen noch fehlt. Und niemand hält die Entwickler davon ab, tatsächlich Sprites auf Minenfeldern und hinter feindlichen Linien erscheinen zu lassen.

Ein Investor mit finsteren Absichten genügt und Massen von Kindern könnten an einen Ort gelockt werden, an dem jemand nur darauf wartet, das Feuer zu eröffnen. Opfer für einen Amoklauf zu finden war nie einfacher! Dass es für erfahrene Programmierer kein Problem ist, das Spiel für alle möglichen Zwecke zu missbrauchen, habe ich selbst mehr als deutlich bewiesen.

Dimi sucht schon bald weiter nach digitalen Heinzelmännern und Nixen, ich suche derweil all die Beweise zusammen, die verhindern können, dass die App jemals Werkzeug von Terroristen werden kann. Der Mail-Entwurf, in dem ich alles so erkläre, dass die Medien auch etwas damit anfangen können, hat die Adressen aller namhaften Zeitungen und Nachrichtensender in der Empfängerzeile. Im Anhang häufen sich meine Quellcode-Funde, Listen der Investoren und Screenshots ihrer Werbung neben den Hologrammen. Das Einzige, was ich noch brauche, sind Aufnahmen davon, wie Spieler an gefährliche Orte gelockt werden, während Cottingley Games durch illegale Kameras tatenlos zusieht. Mein Bildschirmrekorder läuft nonstop.

Ich bin zuversichtlich: Schon bald wird sich niemand mehr im Supermarkt vordrängeln, um einen Waldschrat an der Käsetheke zu erreichen. Die Gruppen von Kindern, die jetzt an roten Ampeln auf Autos klettern, um Feen mit leuchtendem Pixelschweif in die Luft zu projizieren, werden sich in ein paar Tagen wieder andere Beschäftigungen suchen.

Im Radio heißt es, neue Investoren hätten Interesse an der App bekundet. Tabakkonzerne und Brauereien. Es wird höchste Zeit, dass ich die Medien informiere. Zurück in meinem Büro beende ich mein Aufnahmeprogramm. Zum Schneiden bleibt keine Zeit, ich packe das gesammelte Filmmaterial unbearbeitet in den Mail-Anhang.

„Pan!“, ertönt plötzlich ein Schrei vom Flur her. Mit funkelnden Augen erscheint Dimi im Türrahmen. „Mama! In deinem Zimmer ist der Große Pan!“

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was er sagt. Das seltenste Sprite des Spiels – in meinem Büro. Das Signal kommt nicht von meinem Server.

Und schon klingelt es an der Tür. Die Live-Feeds auf den Monitoren zeigen, wie aus der ganzen Nachbarschaft Kinder zu unserem Haus pilgern. Wenn Pan ruft – der Hirtengott, der Ursprung des Begriffs „Panik“ –, dann kann kein Spieler weghören.

Das Klingeln wird stürmischer, schnell hämmern sie auch an der Tür. Ich höre Geschrei im Garten. Dann geht das erste Fenster zu Bruch. Auf den vielen kleinen Fenstern auf dem Bildschirm sehe ich, wie sie den Flur entlanglaufen. Wie sie durch das Küchenfenster krabbeln und auf Mülltonnen steigen, um über das Garagendach mein Büro zu erreichen. Kinder pressen sich gegen die Bürofenster, dann stürzen sie in einem Scherbenregen in den Raum. Andere stoßen die Tür auf. Wie Käferscharen strömen sie in das Zimmer. Wer zu Boden geht, landet auf Glassplittern. Bildschirme und Rechner werden zertrampelt. Und während der Raum sich mit aufgeregt kreischenden Kindern füllt, die meine Technik zerstören, kopiere ich die letzten Videodateien in den Mail-Anhang.

Die Kinder schubsen und treten sich, steigen aufeinander, drohen einander zu erdrücken, japsen nach Luft. Aus dem Augenwinkel sehe ich blutverschmierte Hände und Gesichter. Von irgendwo ertönt die Stimme von Dimitri.

„Ich hab ihn“, ruft er.

Ein kurzes Flackern, dann wird die Masse von einem riesigen Hologramm überragt. Ein gehörnter Mann mit Ziegenbeinen und Spitzbart, eine muskulöse, weiße Lichtgestalt, die bis an die Decke reicht und alle Anwesenden ehrfürchtig erstarren lässt: der Große Pan. Statt Panik zu verbreiten, sorgt er für absolute Stille. Und durch die Handys, die von der anderen Zimmerseite auf ihn gerichtet sind, sieht Cottingley Games mich und das geöffnete Mail-Programm. Den Finger auf der Maus, den Cursor über „Senden“. Natürlich wissen sie, was ich vorhabe. Sie haben Kameras auf der ganzen Welt.

Wir wissen, was du tust, teilen sie mir mit. Wir können dich finden, wo auch immer du bist.

Sie sorgen dafür, dass Pan den Kopf dreht. Sein Blick schweift über all die Kinder, die jederzeit wieder mein Haus verwüsten könnten. Er sieht mich direkt an. Ein vergeblicher Einschüchterungsversuch. Die zertrampelten Geräte können alle ersetzt werden.

Dann blickt Pan in Richtung meines Sohnes. An Dimitris Stirn klebt Blut.

Und es macht „klick“.

Peter Schattschneider

Tiefschlaf

Wir beginnen die Mechanismen zu erkennen, auf denen der neurale Code beruht, und sie programmierbar zu machen. Es versetzt uns in die Lage, uns und unser Leben auf eine Weise selbst hervorzubringen, die bislang unvorstellbar war.

(Bryan Johnson, Gründer und CEO des Neural-Interface-Entwicklungsunternehmens Kernel, 2017)

Und wieder der Alptraum: laute Stimmen, Schreie, Motorengeräusch. Im Umdrehen sah er Menschen am Boden liegen, manche leblos, andere bewegten sich noch. Und er sah den Pick-up näherkommen. Die Augen des Fahrers, wasserhelle Augen, fixierten ihn. Bill stieß Ann zur Seite, automatisch wie in der Ausbildung zog er die Waffe – anlegen, zielen, Schuss auf Schuss, bis das Magazin leer war, dann hechtete er zur Seite, weg von der Fahrspur des Angreifers. Der Pick-up schlingerte, verfehlte ihn um Zentimeter, drehte nach links, krachte in die Mauer der Uferpromenade, keine zehn Meter entfernt. Der Motor heulte auf, der Wagen kippte, kippte wie in Zeitlupe, hing in der Mauer. Die Tür sprang auf. Der Fahrer drehte den Kopf zu Bill, lächelte, es war ein freudiges, erlöstes Lächeln. Er griff nach dem Amulett, das an einer Halskette hing. Es sah aus wie ein Kreuz, rot vom Blut, das stoßweise aus einer Schusswunde am Hals quoll. Dann tastete er nach etwas in seinem dicken Mantel, der kein Mantel war.

Und dann verschwand die Welt in Feuer und Schmerz. Die Traumreste waren gestochen scharf, wie es manchmal geschieht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Bill schielte nach der Uhr am Nachttisch, aber da war keine Uhr. Und da war kein Nachttisch.

Er war nicht zu Hause. Ein fremdes Bett, gedämpfte Beleuchtung, an der Wand ein toter Fernsehbildschirm, ein schlichter Tisch. Links ein Monitor, eine grüne Linie lief über den Schirm. „Bip – bip“ tönte es im Rhythmus seines Pulses. Er stand vorsichtig auf, blieb auf der Bettkante sitzen. Der Bildschirm erwachte.

„Hallo, Bill!“ Eine Krankenschwester lächelte ihm zu.

„Hallo“, krächzte er zurück. „Wo bin ich?“ Seine Stimme klang beschädigt.

„Sie sind im Krankenhaus von Phantom City. Sie waren verletzt. Wir haben Sie in Tiefschlaf versetzt und das genetische Rekonstruktionsprogramm aktiviert. So, wie es aussieht, sind Sie wiederhergestellt. Willkommen im Leben!“

„Dann war das kein Alptraum.“

„Erinnern Sie sich an etwas?“

Er schloss die Augen. Die Alptraumbilder explodierten wieder gestochen scharf in seinem Kopf.

„Ein Terroranschlag. Der Pick-up, … die Uferpromenade. Die Explosion.“

„Sie waren keine zehn Meter entfernt. Es war mühsam, Sie wieder zusammenzuflicken.“

Er bewegte die Arme, betrachtete seine Hände, tastete über Hals, Brust und Schenkel. Er spürte sich, aber er war sich fremd. Als liefen Ameisen über die Stellen, die er berührte. Die Haut auf seinen Händen war merkwürdig glatt wie Plastik; das Muttermal am rechten Unterarm fehlte.

„Die Explosion hat Sie voll erwischt“, erklärte die Schwester. „Wir mussten Ihre Extremitäten rekonstruieren, Ihre Haut war fast vollständig verbrannt.“

Er bewegte verunsichert die Finger. „Sind das – Prothesen?“

„Keineswegs. Das Rekonstruktionsprogramm hat Ihr Stammzelldepot genutzt, um die beschädigten Organe wiederherzustellen. Die Haut wird Ihnen fremd vorkommen, sie ist ja frisch wie bei einem Baby. Und die Nervenleitung ist gestört, aber das gibt sich.“

Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte die Explosion fast unbeschädigt überlebt …

Dann fiel ihm Ann ein. Er sprang auf. „Meine Frau! Ist sie …?“

„Ihre Frau lebt. Sie war schwer verletzt; sie schläft noch. Sie wird wieder gesund.“

„Kann ich sie sehen?“

„Morgen. Sie brauchen jetzt viel Ruhe.“

Sie drehten ihn durch die medizinische Mangel. Röntgen, MR, EKG, EEG, Blutwerte, Nervenleitung, Motorik, Sensorik, audiovisuelle Wahrnehmung, Gleichgewicht, Kraft, Reaktionsvermögen …

Er hatte vier Wochen im Tiefschlaf gelegen, während die lasergesteuerten Biobots das zerstörte Gewebe im 3D-Druckverfahren mithilfe fleißiger Stammzellen wieder aufbauten. Es war ein Terroranschlag nach Vorbild des Attentats in Nizza aus dem Jahr 2016 gewesen. Bills Eingreifen hatte viele Menschen gerettet.

Vor seiner Entlassung durfte er Ann sehen. Sie lag in der Rekonstruktionsbox. Wie Dornröschen schlief sie in einem gläsernen Sarg; ihr Gesicht war friedlich-entspannt, sie schien unversehrt bis auf den fehlenden linken Unterschenkel. Laserscanner huschten über den Stumpf, an dem die Biobots hurtig arbeiteten.

Phantom City, der Sitz der Firma. Sie hatten bei der Stadtgründung keine Kosten gescheut, eine perfekte Infrastruktur zu schaffen, um die besten Mitarbeiter zu gewinnen. Die besten Ärzte, die besten Neurochirurgen hatten sich um ihn gekümmert und würden sich um Ann kümmern.

Das Forschungszentrum war nur Minuten vom Krankenhaus entfernt. Kollegen gratulierten ihm, erkundigten sich nach Ann, sprachen ihm Mut zu, fragten vorsichtig, wann er denn wieder die Software-Entwicklung übernehmen würde. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Ohne ihn lief nichts in der Firma, das war allen klar.

Bryan, der allmächtige Boss, klopfte ihm auf die Schulter, was er noch nie getan hatte. Er hielt eine verkürzte Standardansprache: Die Gründung des Sicherheitsdienstleisters Phantom als Spin-off jenes Neurotechnik-Unternehmens, das einen Paradigmenwechsel im Bereich elektronischer Augmentierung ausgelöst hatte. Der entscheidende Durchbruch mit den Terrahertz-Lasern. Der Fast-Bankrott nach dem Rückgang des islamistischen Terrors. Konsolidierung und Aufschwung. Die harte Konkurrenz und das erklärte Ziel, Marktführer zu bleiben. Seit militante Sekten den Islamisten im weltweiten Terror den Rang abgelaufen hatten, boomte der Security- und Antiterrormarkt wieder. Viele Newcomer nutzten Virtual-Reality-Technik, um ihre Sicherheitsleute und Eingreiftruppen zu schulen. Die Firma musste aggressiv akquirieren, um zu überleben.

Natürlich blieben manche Methoden der Firma unerwähnt. Es war ein offenes Geheimnis, dass Phantom illegale Geheimdienstsoftware zur Überwachung einsetzte. Und Bill kannte Phantoms größtes Geheimnis: Outgesourcte Todeskommandos liquidierten die Familien der Terroristen – eine der wirksamsten Abschreckungsmaßnahmen für potenzielle Attentäter. Und er wusste, dass niemand wissen durfte, dass er das wusste.

Am Ende der Ansprache erläuterte Bryan ein paar neue Ideen, die zu implementieren waren, sobald Bill sich dazu in der Lage fühlte – am besten gleich. Bill bat jedoch darum, zuerst die neuen Kadetten für den Einsatz schulen zu dürfen und dann ein paar Tage Urlaub zu nehmen, die er mit seiner Frau verbringen wollte.

Bill war zufrieden. Von den Toten auferstanden – was will man mehr? Wenn nur nicht das merkwürdige Ameisenlaufen auf den Armen und Beinen gewesen wäre und das Gefühl, einen nassen Lappen zu quetschen, als Bryan ihm zum Abschied die Hand gab.

„Sie werden jetzt Ihre erste Trainingseinheit in der aktiven VR-Umgebung absolvieren.“

Er betrachtete die Kadetten, die da wissbegierig und vor Enthusiasmus platzend vor ihm saßen. Zehn junge Kerle, die den Eingangstest geschafft hatten. Er nahm den Helm vom Pult. Eine elastische anthrazitgraue Hülle aus sechseckigen Waben.

„Dieses Ding“ – er dehnte es wie eine Badehaube – „versetzt Sie in eine virtuelle Trainingsumgebung. Die Terrahertz-Laser in den Waben stimulieren Ihre afferenten Nerven durch das Schädeldach; Sie werden das Gefühl haben, in einer absolut realen Situation zu sein. Sie werden sich alle im gleichen virtuellen Raum befinden, Sie werden alle Mitglieder des Platoons sehen und mit ihnen kommunizieren. Bisher haben Sie nur in einer Augmented-Reality-Umgebung geübt, die Ihre reale Umgebung wiedergab.“

Er holte weit aus und deutete auf die Fensterfront. „Wenn Sie sich erinnern: Die Sonne schien durch dieses Fenster und warf an diesem Bildschirm einen exakt nach der Realität berechneten Schatten. Sie haben gelernt, sich mit Hilfe des VR-Helms in dieser realen Umgebung zurechtzufinden. Sie konnten alles beobachten, was Sie auch in Wirklichkeit beobachten würden, aber Sie konnten nichts verändern. Sie konnten durch diese Tür gehen, aber nicht durch die Wand.

Diesmal ist es anders. Sie werden zum ersten Mal im Active Mode arbeiten. Sie können die Umgebung verändern. Sie können Wände sprengen“ – seine Handfläche knallte gegen die Projektionswand –, „Sie können Terroristen aufspüren und eliminieren. Sie werden heute die Burj Khalifa in Dubai schützen. Wir haben Hinweise auf einen geplanten Anschlag des KS.“

Ein prüfender Blick zur Klasse zeigte ihm, dass keine langen Erklärungen nötig waren.

„Der Turm hat eine Höhe von achthundertachtundzwanzig Metern. Allerdings werden Sie nicht auf die Nadelspitze klettern. Im Einsatz wird die hohe Aussichtsplattform wichtig sein. Und die ist in welcher Etage?“

„In der hundertachtundvierzigsten“, tönte es mehrfach aus der Klasse.

Bill war zufrieden. Sie hatten die höchsten Gebäude der Welt gründlich studiert. „Die Übungsannahme ist, dass mehrere Sprengladungen im Gebäude so gezündet werden, dass der Turm in sich zusammenbricht. Sie wissen nicht wo, aber Sie können gewisse Bereiche ausschließen. Sie haben das in der Ausbildung gelernt.“

Die Klasse schwieg. Einige starrten nachdenklich an die Decke, andere senkten den Kopf zu ihrem Tablet.

„Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Die Druckspannung hängt vom darüber liegenden Gewicht und von der lokalen Querschnittsfläche der Tragkonstruktion ab.“

Die Klasse murmelte verunsichert. Sie sollten das selbst herausfinden, entschied Bill.

„Okay, Kadetten. Ich werde dabei sein, aber Sie werden mich nicht wahrnehmen und ich werde nicht eingreifen, denn ich benutze diesmal den Passivmodus. Sie sind also auf sich allein gestellt. Seien Sie vorsichtig, Ihr Gegner ist stark. Es kann passieren, dass Sie verletzt werden, sogar schwer oder tödlich. In diesem Fall geben wir Ihnen nach Übungsende Lipropanol.“

Er machte an dieser Stelle immer eine Pause. Er wusste, dass das ein heikler Punkt war. Die Kadetten waren verunsichert, es gab Gerede über eine Kampfdroge, aber niemand wagte danach zu fragen.

„Um das ein für allemal zu klären: Lipropanol ist tausendmal getestet worden und gut verträglich. Es verhindert die Langzeiterinnerung nach kritischen Einsätzen, die sonst posttraumatische Störungen erzeugen würden. Entgegen allen Verschwörungstheorien macht es nicht aggressiv; Aggression müssen Sie schon selbst mitbringen. Noch Fragen?“

Einer in der ersten Reihe meldete sich.

„Wir müssen uns ja bewegen, Kampftaktiken anwenden. Während wir hier still sitzen?“

„Wie heißen Sie, Kadett?“

„Kevin, Sir.“

Kevin war ein kleiner Besserwisser. Eine Demonstration war fällig. Er trat an den Jungspund heran.

„Okay, Kevin. Setzen Sie den Helm auf“, forderte er ihn auf. Der stülpte sich die Haube umständlich über, nicht mehr so sicher, mit seiner Frage Punkte gemacht zu haben. Bill korrigierte den Sitz des VR-Helms, ließ sich Zeit, damit die anderen den wackelnden Kopf des Prüflings zur Kenntnis nehmen konnten. Dann griff er nach der Brille, hielt sie hoch.

„Das ist die Mirage von Oculus, eine Weiterentwicklung der Rift 12. Wer hat schon mal mit einer Rift gespielt?“

Alle Hände schossen in die Höhe.

„Setzen Sie die Mirage auf, Kadett!“ befahl er, kontrollierte noch einmal den Sitz von Helm und VR-Brille. „Ich starte jetzt Combat, Sie haben das beim Auswahltest real geübt. Messerangriff. Ich ziehe jetzt Ihre VR auf den Schirm.“

Das große Display an der Wand erwachte zum Leben.

Combat 1.0 -- Messerattacke

VR AktivModus

Immersion startet …

Eine Wüstenlandschaft erschien auf dem Schirm. Kevin stand wie verloren da. Aus der flimmernden Luft materialisierte ein virtueller Trainer.

„Hallo, Kadett. Bevor Sie kämpfen, müssen wir Ihr Interface trimmen“, stellte er fest.

„Äh …?“

„Das ist neu für Sie, Kadett. Bisher waren Sie im Realitätsmodus unterwegs, Sie konnten nicht interagieren. Jetzt kommt es auf präzise Kampfbewegungen an. Die Signale des Helms sollen ja an den richtigen Stellen in Ihrer Hirnrinde ankommen, damit Sie nicht danebengreifen. Sie werden jetzt einem Fliegenschwarm ausgesetzt. Sie werden spüren, wo sich eine Fliege niederlässt. Das wird irgendwo auf Ihrer linken Körperhälfte sein, je nach Sitz des Helms. Sie können die Fliege mit Handbewegungen steuern. Tun Sie dies so lange, bis sie auf Ihrem linken Handteller sitzt.“

„Aber wie …“

„Das ergibt sich von selbst.“ Der Trainer schnippte mit den Fingern und am sonnenhellen Himmel erschien ein Schriftzug:

Cortex triangulation.

Follow advice.

Und sie kamen surrend daher, Hunderte grünschillernder Fliegen wirbelten wie eine Aura um Kevins Kopf. Er fuchtelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen, aber sie blieben auf Distanz, abwartend, den Angriff planend. Dann schickten sie eine Kundschafterin aus, die auf seiner linken Schulter landete.

„Locken Sie sie nach vorne, auf die Hand“, ermutigte ihn der Trainer.

„Ich hab sie!“

„Gut. Schließen Sie die Hand. Fest.“

Left palm locked.

Repeat right.

Die Wiederholung mit der Rechten endete mit der Erfolgsmeldung:

Right palm locked.

Repeat crotch area.

Ein kleiner Schwarm landete auf Kevins Bauch. Dem Kadetten war sichtlich nicht wohl bei der Sache.

„Sie müssen sie zwischen Ihre Beine locken. Fürs 3D-Tuning brauchen wir drei Kalibrierungspunkte.“

Kevin folgte der Aufforderung widerwillig und machte steuernde Handbewegungen.

„Wo sind sie jetzt?“

„Genau auf meinen – äh – zwischen den Beinen.“

„Etwas höher. Das Interface muss genau wissen, wo es zuschlägt.“

Kevins Finger steuerten das Zielobjekt vorsichtig an.

„Ist sie am Ziel?“

„Ich – ich glaube schon.“

„Na dann weg mit ihr. Oder brauchen Sie eine Fliegenklatsche?“

Mit Todesverachtung griff Kevin nach der an delikater Stelle sitzenden Fliege. Aus der Klasse kam prustendes Lachen.

Die Schrift blinkte zufrieden:

Cortex triangulation finished

„Das hätten wir. Das Interface kann jetzt präzise mit Ihrer Feinmotorik kommunizieren. Viel Glück, Kadett!“

Damit verschwand der Trainer wie eine Fata Morgana. Gleich darauf reckte sich ein zartes Pflänzlein aus dem Wüstensand. Innerhalb von Sekunden spross es zu einer mächtigen Schirmföhre.

Kevin duckte sich, suchte Schutz am Stamm. Der Angreifer kam von oben aus den Ästen, federte leicht beim Sprung ab, in der Rechten einen Dolch. Kevin ging sofort in Verteidigungsstellung. Der Angreifer war klein. Er stürzte sich mit erhobenem Messer auf seinen Gegner. Kevin wich seitlich aus und kickte einen Yop-Chagi gegen das Knie des Angreifers. Der knickte ein, das Messer landete im Sand, beide Kämpfer hechteten danach. Ein Ringkampf entspann sich, die Männer wälzten sich am Boden und nach kurzer Zeit hatte Kevin die Oberhand. Er griff nach dem Messer, aber da ruckelte das Bild. Er griff daneben. Der Terrorist nutzte den Blackout und fasste das Messer mit beiden Händen. Mit einer geschickten Rolle befreite er sich aus dem Klammergriff und stieß Kevin die Klinge von unten in den Hals. Blut quoll in Stößen in den Sand, der Körper des Kadetten bäumte sich auf, dann war der Kampf vorbei.

Der echte Kevin gab grässliche erstickte Laute von sich, während er sich wiederholt zusammenkrümmte. Bill trat an das Pult des Prüflings heran, fixierte dessen sich windenden Oberkörper, griff seitlich an den Helm und drückte den roten Knopf für die Lipropanol-Injektion fest gegen den Hals des Kadetten. Der wurde bald ruhig, seine Schultern entkrampften sich. Nach kaum einer Minute streckte er sich und setzte die Mirage ab. Erstaunt rieb er sich die Augen.

„Gut gemacht, Kevin. Hatten Sie genug Bewegung?“ Kevin nickte benommen, noch halb im Kampfgeschehen.

„Berichten Sie.“

„Nun, ich habe mit dem Angreifer gekämpft. Ich habe ihm das Messer abgenommen.“

„Sehr gut. Und dann?“

„Äh, dann … – wir sind zu Boden gegangen, es war ziemlich wild.“

„Wer hat gewonnen?“

Kevin zögerte. „Ich – ich weiß nicht genau. Ich denke, das war ich?“

„Nun, Sie hätten gewonnen, wenn die Software nicht einen Sekundenbruchteil aus dem Takt geraten wäre. Das hat Sie abgelenkt. Das ist ein echtes Problem, es bringt den Trainingsplan durcheinander. Die verbesserte Version wird demnächst ausgeliefert.“

Kevin wartete auf eine Antwort. Bill wandte sich an die Klasse. „Sie sehen, das Lipropanol wirkt augenblicklich. Keine Erinnerung, keine posttraumatische Störung.“

„Sir?“ fragte Kevin etwas verstört.

„Sagen Sie’s ihm“, forderte Bill die Kadetten auf.

Die Klasse schwieg.

„Nur zu, es tut nicht mehr weh.“

„Du hast verloren“, murmelte schließlich einer. „Er hat dir den Hals aufgeschlitzt.“

„Du warst tot.“

Bill wartete, bis die Klasse das verarbeitet hatte.

„Die Immersion ist vollständig“, fuhr er fort. „Die Helmsensoren nehmen die Aktionspotentiale der motorischen Nerven ab, um die Simulation realitätsecht abzuwickeln. Dadurch kommt nur ein schwaches Restsignal in die efferenten Nervenbahnen. Das führt zu ineffektiven Muskelkontraktionen. Sie haben gezuckt wie eine schlafende Katze.“ Das sagte er zu Kevin, der rot anlief. Unterdrücktes Lachen kam aus den hinteren Reihen. Jetzt hatte Bill die Klasse auf seiner Seite. Danach war es leichter, sie zum Training zu motivieren. Er vergewisserte sich, dass alle Helm und Brille korrekt angelegt hatten, tat desgleichen und aktivierte den Passivmodus.

Das Grau der Datenbrille flimmerte und dann begann die Immersion: Die Burj Khalifa erschien wie aus lichtem Nebel in hyperrealistischer Schärfe. Davor hingen greifbar nah die Worte:

TerrorAnschlag Burj Khalifa

VR PassivModus