Ausfahrt Zagreb-Süd - Edo Popovic - E-Book

Ausfahrt Zagreb-Süd E-Book

Edo Popovic

4,7

Beschreibung

Edo Popovic erzählt von jener Generation, "die im 20. Jahrhundert gesoffen hat und im 21. nüchtern geworden ist". Der Zerfall ihres Landes hatte sie mit sich gerissen, ihre jugendlichen Illusionen sind dahin und nun ist es Zeit, das zu ändern, was sich noch ändern lässt. Da ist der ständig trinkende ehemalige Erfolgsautor Baba, seine Frau Vera, die E-Mail als Therapieersatz nutzt, der frühere Rechtsanwalt Kanceli, der in einer Wohnung ohne Möbel lebt "Ausfahrt Zagreb-Süd" ist ein Roman über den urbanen Rand, über die Loser einer Generation zu alt für Rock 'n' Roll, zu jung für den Tod.

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Edo Popovic

Ausfahrt Zagreb-Süd

Roman

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

sonar I

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2006

©by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Covergestaltung: Marcel Theinert und Mario Helbing

unter Verwendung einer Fotografie von Anja Peter

ISBN: 978-3-938424-55-1

E-Book-Erstellung: nimatypografik

www.voland-quist.de

Inhalt

Über die Angst vor der Rückkehr nach Hause und das Aussterben des einheimischen Bieres

Über Premium-Bier und einen internationalen Laureaten

Über ein musikalisches Feuerzeug und die Hunde der Zigeuner

Über einen verlogenen Spiegel, die Wiener Sängerknaben und eine Schwester aus dem Orden der heiligen Teresa Orlowsky

Über Kupferbienchen und Menschen mit den Augen eines Drachenkopffisches

Wie Vera sich fast den Finger absäbelte und Baba sich nicht an den Ausdruck für Aschenbecher erinnern konnte

Warum Robi von der Generation Ex übel ist

Über Kaffee in der Dose und Wein im Tetrapak

Über einen k.o. geschlagenen Boxer und Billy the kid und einen durchschauten Kuckuck

Wie Kanceli zunächst aaaaa-ha! rief und wie er später den Eichensteller traf

Über glasige Augen und alte Verstecke

Über die alte Frau mit dem müden Pudel, ein Altsaxophon und Augen in der Farbe eines frischen Hämatoms

Über das Geschenk Allahs, über den G-Punkt und einen Taifun mit männlichem Namen

Über ultramarinfarbenes Piercing, und darüber, was das Mückengift getötet hat

Über den verlorenen Anker und den roten Regenschirm

Über die Geister der Fotographien und das Herz eines Dackels

Über Erscheinungen im Park und schlechtes Timing

Über Sumatra-Zigarillos, mit Wasser verdünnten Wein und einen Strohhut

Über Asche, ein naives Rabennmädchen und Gyn-Art

Über drei besorgte Menschen im Schatten einer Zwergeiche und über die Dinge, die einem nicht über die Lippen gehen

Über Kindernamen, vollgepisste Hosen und eine versteckte Geldmünze

Mit jemandem zusammenzuleben ist nicht dasselbe wie sich Aids einzufangen

Über Anarchismus, Cash und den großen Bruder

Hüte dich, mein Freund, vor Blondinen in Stöckelschuhen mit einem Bündel großer Banknoten in der Hand

Über verschwundene Feuerzeuge und die Beschützer der Rotkäppchen

Man sollte in Samobor nicht das suchen, was man in Utrine finden kann

Darüber wie alles zu ende ging

Darüber was später kam

Edo Popovic, geboren 1957, lebt in Zagreb. Er ist Mitbegründer einer der wichtigsten Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens, sein erster Roman Ponocni boogie wurde zum Kultbuch seiner Generation. 1991–1995 war Popovic der bekannteste Kriegsberichterstatter Kroatiens, dessen unideologische Reportagen ebenso angesehen waren wie gefürchtet wurden. Seine Erzählung Unter dem Regenbogen gilt als eine der besten Geschichten über den jugoslawischen Krieg. Sein letzer Roman Ausfahrt Zagreb-Süd wurde von der kroatischen Literaturkritik begeistert aufgenommen und 2005 auch in den USA veröffentlicht.

Ausfahrt Zagreb-Süd erzählt von einer Handvoll Menschen, die in tristen Hochhäusern im Zagreber Vorort Utrine leben. Der Zerfall ihres Landes hat sie mit sich gerissen, ihre jugendlichen Illusionen sind schon lange dahin und nun ist es Zeit, das zu verändern, was sich noch verändern lässt. Da ist Baba, der ständig trinkende ehemalige Erfolgsautor, seine Frau Vera, die müde ist von den vielen Jahren, in denen sie darauf gewartet hat, dass ihr Mann endlich wieder zu sich findet; Babas Freund Kanceli, ein ehemaliger Rechtsanwalt, der in einer Wohnung ohne Möbel lebt; der alte Seemann Stjepan, der nur noch am Sex mit der alternden Magda Interesse hat oder Robi, der verhinderte Dichter…

Gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin.

Die Reihe Sonar wird herausgegeben von Christine Koschmieder.

Über die Angst vor der Rückkehr nach Hause und das Aussterben des einheimischen Bieres

Also, stellt euch mal vor, dass direkt vor eurer Nase ein Flugzeugträger vorbeifährt, mit all diesen ohrenbetäubend laut donnernden Dingern, die ständig starten und gen Himmel schießen. Oder dass sich eine Gruppe rechtsradikaler Mädchen in Reih und Glied auf den Bürgersteig stellt, in Miniröcken und Netzstrümpfen, und für die sozialen Rechte der eingewanderten afro-asiatischen Prostituierten agitiert und diese Mädchen es nebenbei für lau machen. Oder dass in eurem Wohnzimmer der Papst und Fidel Castro Rumba tanzen. Und ihr tut gar nichts, ihr reagiert überhaupt nicht, bemerkt das alles nicht einmal. Weil all eure verfügbaren Kräfte, all eure Nervenzellen und Fasern, jene weiße Materie im Inneren, die Spitze eines jeden Härchens, weil all das sich mit etwas Schicksalhaftem beschäftigt. Aber mit etwas wirklich Schicksalhaftem.

Mit dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zum Beispiel, bei dem eure am Verlieren sind, aber jetzt haben sie gerade wieder Ordnung in ihre Reihen gebracht und den Gegner in die Zange genommen, und ein Tor liegt in der Luft, und die Spannung ist kaum noch zu überbieten, und dann krepiert euer Fernseher. Und ihr starrt ungläubig auf diesen beschissenen Kasten.

Mit einer Flasche draufkloppen.

Ihn aus dem Fenster werfen.

Sich selbst aus dem Fenster werfen.

Was tun?

Das ist es, womit sich euer Gehirn beschäftigt, nichts anderes interessiert es.

In diesem Zustand befindet sich Baba. Er sitzt in der Agramer Redaktion vor dem PC und glotzt den Bildschirm an, mit eben diesem Der-Fernseher-ist-krepiert-Blick. Baba glotzt also auf das leere Microsoft-Fensterchen und wartet darauf, dass ein Wunder geschieht. Dass auf dem Bildschirm ein Satz erscheint wie die Heilige Jungfrau der Software, ein einziger schäbiger Satz, und anschließend wird er es schon hinkriegen. Kein Problem. Er braucht nur diesen ersten Satz.

Und heute früh hatte alles so einfach ausgesehen. So irrsinnig einfach. Als er heute früh zur Arbeit fuhr, hatte er die Geschichte, den ersten Satz, ein paar tolle Motive, alles. Jetzt hat er eine unendliche, virtuelle Papierrolle vor sich, das leere Fensterchen, hinter dem nichts ist.

Alles in Ordnung?

Baba fuhr erschrocken auf und hob den Blick. Diese Stimmen, die plötzlich von irgendwoher donnern. So wie Gott damals Abraham wegen Isaak zu sich rief. Zum Glück wandte sich Gott selten an Baba. Auch diesmal war er es nicht. Neben Babas Schreibtisch stand nur die Journalistin vom Lokalteil. Sie war erst seit einigen Wochen in der Redaktion, und die Arbeit hatte noch keine Schäden hinterlassen. Weder innen noch außen. Sie hatte noch immer nicht begriffen, wo sie hingeraten war. Sie dachte, dass der Redakteur des Lokalteils sie aus Liebe fickte und dass all die gastritischen, reizbaren und aufgedunsenen Veteranen mit den blutunterlaufenen Augen wie Baba hochinteressante Typen seien. Sie dachte, sie seien cool, dabei begriff sie überhaupt nicht, dass auch sie in ein paar Jahren genauso hochinteressant sein würde. Und dass sie dann von sich selbst gar nicht mehr denken würde, sie sei cool.

Was ist, sagte Baba, nachdem er sich wieder gefasst hatte.

Diese Schrottkisten, sagte sie. Mein Computer ist auch irgendwie hängengeblieben.

Der Computer ist in Ordnung, sagte Baba.

Und wenn du ihn einfach neu starten würdest.

Das Problem ist hier, Baba tippte mit dem Finger an seine Schläfe.

Den kann man auch wieder neu starten, sagte sie.

Vielleicht, sagte er. Sollen wir?

Was?

Uns einen Drink reinhauen, sagte Baba, das System hochfahren und so.

Ich muss schreiben, sagte sie.

Schon klar, sagte er, warum bin ich nicht gleich drauf gekommen?

Die Terrasse des Cafés vor der Redaktion war vollständig mit Journalisten besetzt. Sie unterhielten sich laut, lachten und kippten ihre Drinks. Einige riefen Baba zu, er solle sich zu ihnen setzen. Er winkte ab und ging weiter zum Parkplatz. Jener so leicht verdunstete Satz quälte ihn noch immer. Scheiße, er hätte heute Morgen irgendwo am Straßenrand anhalten und ihn aufschreiben sollen. Jetzt war es zu spät. Wie oft war ihm nur deshalb etwas verloren gegangen, weil er gedacht hatte: Ich mach es später. Morgen. Ich habe Zeit. Aber solche Dinge warten nicht lange auf einen. Sie sind ständig in Bewegung. Sie schießen auf ihren eigenen Bahnen entlang, und nur manchmal kreuzen ihre Bahnen die unseren. Die Frau, an der du vor einigen Tagen auf der Straße vorbeigelaufen bist – ihr werdet euch wahrscheinlich nie wieder treffen. Sie hat dich angelacht, als würde sie dich kennen, du hättest Hallo sagen und ein Gespräch anfangen können, wer weiß, was daraus geworden wäre, aber du hast es nicht getan. Du hast zu lange nachgedacht, und als du dich nach ihr umgedreht hast, war sie schon in der Menge verschwunden. Und jetzt ärgerst du dich schwarz. Du musst schnell sein, wenn so etwas passiert. Erst die Gelegenheit ergreifen und dann nachdenken. Die Dinosaurier sind ausgestorben, weil sie zu langsam nachgedacht haben. Sie haben nur an ihren Pflanzen herumgekaut und gedacht: Wir haben Zeit. Nur die Ewigkeit hat Zeit, klar?

Baba fuhr auf der Slavonska Avenue Richtung Osten und fragte sich: Wohin jetzt? Nach Hause? Nein, kommt gar nicht in Frage, auf keinen Fall nach Hause. Zu Hause ist es traurig. Beim Fernsehgebäude bog er in Richtung Norden ab und raste auf der Miramarska Straße ins Zentrum. Einge Zeit fuhr er durch die Innenstadt und versuchte dabei, sich ein Ziel zurechtzulegen. Die Szenerie war immer die gleiche: links und rechts bewegten sich die Häuser und dazwischen zwinkerten die Ampeln. Dann wurde es ihm langweilig, so im Kreis herumzufahren. Er konnte sich nicht entscheiden wohin. Kein Ort, der ihm einfiel, zog ihn besonders an. Welcher Ort könnte denn auch schon etwas Besonderes sein, um vier Uhr nachmittags, mitten im Sommer, in Zagreb? Während er an der Kirche des Heiligen Vinko auf Grün wartete, blickte er auf die Häuserfassaden der Ilica. Er zauberte vor sich hin – damit etwas passiert. Dass eine Straßenbahn durch die Ilica fährt. Dass der Kran, der über den Dächern da hinten emporragt, umstürzt. Oder dass zumindest jemand mit einer Kalaschnikow in der Hand aus einem Hauseingang stürzt und beginnt, auf die Passanten zu schießen. Es passierte gar nichts. Er bog in die Dalmatinska ein und parkte.

Baba wünschte sich, nach Hause gehen zu können. Seine Mokassins auszuziehen, beiläufig Vera zu küssen, ein kaltes Bier zu öffnen, sich auf die Couch zu werfen und ihr von seinem Tag zu erzählen.

Ihr erzählen, wie ein im Gebüsch neben dem Studentenwohnheim lauernder Kater einen Spatz gefangen und aufgefressen hatte.

Und wie eine Frau auf dem Bürgersteig der Gunduliceva umgekippt war und die Passanten entweder über sie gestiegen oder einfach um sie herumgelaufen waren.

Oder dass der alte Mann, der zuschaute, wie der Wind eine Plastiktüte herumwirbelte, sagte: Menschenskinder, wie einfach das doch alles ist.

Baba kann jedoch nicht nach Hause gehen und Vera von dem Kater, von der Frau und dem alten Mann erzählen. Aber nicht weil es alte Geschichten sind und weil er sie Vera schon längst erzählt hat. Das ist gar nicht das Problem.

Das Problem ist, dass Vera ihn schon seit einiger Zeit mit diesem stummen, gespannten Blick empfängt, der auf ihn wirkt wie ein Elektroschock.

Vera SIEHT Baba eigentlich überhaupt NICHT AN, wenn er nach Hause kommt. Sie MUSTERT ihn. Sie mustert die Elastizität seines Schrittes. Wie stark er die Knie beim Laufen beugt. Ob seine Hand nach der Wand sucht. Wie stark seine Haltung von der Vertikalen abweicht.

Vera hört auch nicht mehr darauf, was Baba sagt, sondern nur noch ob er aus dem Hals oder aus dem Bauch spricht.

Und Baba betritt immer häufiger die Wohnung mit diesen steifen Schritten, kaum die Knie beugend, besoffen wie ein Brett. Er grüßt mit einem Grunzen tief aus dem Magen. Seine Hand sucht panisch nach der Wand.

Jesus, grunzt er, was für einen schrecklichen Tag ich hatte.

Oder: Seit heute Morgen platzt mir der Kopf, es ist zum Verrücktwerden.

Oder: Etwas, was ich in der verdammten Kantine gegessen habe, war nicht in Ordnung.

Oder etwas Ähnliches.

Und Vera wendet sich ab. Sie sagt nichts, verliert sich nur in ihren Gedanken. Und Baba schleppt sich hinüber zur Couch und beginnt, große Pläne zu schmieden. Er schwafelt von dem Roman, den er schreiben wird. Oder davon, dass man ihn bei einer anderen Zeitung haben will und ihm viel Geld anbietet. Oder davon, dass er heute überhaupt gar nichts…

Vera hört ihm nicht zu. Ihre Ohren empfangen immer schlechter auf Babas Frequenz. Und er verliert sich in den Labyrinthen unzusammenhängender Gedanken. Und dann schläft er ein.

Wenn er dann wieder aufwacht, beginnt er mit irgendeinem Thema und tastet das Terrain ab. Er beobachtet Vera und versucht zu rekonstruieren, was passiert ist, als er nach Hause kam. Ist er ihr auf den Geist gegangen? Hat er sie angemotzt? War sie überhaupt zu Hause, als er kam? Er erzählt etwas ohne Sinn und Verstand und sieht Vera mit den Augen eines Boxers an, der in die Ecke gedrängt wurde. Und Vera schweigt nur, an ihrem Gesicht kann man nicht ablesen, was sie denkt. Deshalb hat Baba so eine Scheißangst, nach Hause zu gehen. Die Angst vorm Nachhausegehen ist eine unerforschte Krankheit. Sie wird aus unerfindlichen Gründen völlig vernachlässigt, und im Unterschied zu anderen Ängsten hat sie keinen medizinischen Status. Sie hat nicht mal einen Namen. Wie kuriert man sich von einer namenlosen Krankheit, die von der Medizin ignoriert wird? Und deshalb steht Baba an der Theke des Komi z a in der Masarykova, immer noch in seinen Straßenschuhen, trinkt schweigend sein lauwarmes Bier und denkt über die Dinge nach, über die üblicherweise die Typen nachdenken, die an der Angst vorm Nachhausegehen leiden.

Oh, Herz der Stadt, du hast mir meine Jugend geschenkt, quietschen die Verse eines alten Schlagers aus dem Lautsprecher an der Wand, und Baba wischt sich mit der Hand den Schaum vom Mund und denkt darüber nach, wie diese schäbige Kaschemme immer noch Widerstand leistet gegen die unbarmherzigen Böen der neuen Winde. Was das heißt? Vor allem, dass man in dieser Kneipe noch immer einheimisches Bier bekommt. Und das ist kein ganz unwichtiger Punkt, wenn man es sich genau überlegt. Als unaufgeklärter Globalisierungsgegner, aber auch weil es ihm vollkommen klar war, dass der Witz über die Oktoberrevolution und den Wodka im Grunde gar kein Witz ist, blieb Baba ziemlich gleichgültig gegenüber der Lawine von Neuheiten, die Zagreb nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zuschüttete. Zehn Jahre später stellte Baba nun fest, dass – wenn alle Plus und Minus gegeneinander aufgerechnet werden – die einzig nennenswerte Veränderung darin bestand, dass die Anzahl der Kneipen, in denen man einheimisches Bier bekommt, abgenommen hatte. Es stellte sich heraus, dass diese legendäre Demokratie, von der man soviel erzählt hatte, im Grunde nichts anderes war, als ein Arschtritt für das einheimische Bier.

Baba war also unermesslich verwundert (und erfreut) darüber, dass seine Kneipe Komi z a immer noch genauso war wie eh und je. Mit ihrer mit Stahlplatten beschlagenen runden Theke, die aussah wie ein MG -Stand und die von den Ellenbogen vieler notorischer Schnorrer blank poliert worden war, ihrem Hängeregal mit den Hochprozentigen über der Theke und der Glasvitrine (Sandwichs mit Fleischwurst verziert mit Mayonnaise und einem welken Salatblatt). Mit den Barhockern aus Holz, den Keramikfliesen an den Wänden und den Hängelampen aus falschem Kristall. Dann noch dieses Klo, dass zum Himmel stinkt, mit der ständig verstopften Kloschüssel, den gesprungenen Pissbecken und dem vollgeschifften Fußboden – aber OHNE diese Naziaufkleber mit den durchgestrichenen Zigaretten. Und schließlich die rundliche Wirtin in der weißen Bluse, dem dunkelblauen Rock und den abgetretenen Kellnerinnenschuhen an den geschwollenen Füßen. Sie versteht nur eine klar begrenzte Anzahl von Bestellungen. Kaffee. In Ordnung. Tee. Indisch oder Hagebutte? O z ujsko-Bier. Klar. Weinschorle. Gra ß evina oder Rizling? Cognac. Kommt sofort. Pelinkovac, Loza, Travarica… Selige Einfalt, immer seltener in einer Welt, die mit Informationen und Innovationen nur so bombardiert wird. Baba wunderte (und freute) sich, dass keiner von den Verbrechern, die im Krieg das große Geld gemacht hatten, ein Auge auf diese Kneipe geworfen und sie in etwas verwandelt hatte, über dessen Tür zum Beispiel RISTORANTE DELL’ ARTE GRANDIOSA steht und wo sie all diese komplizierten Speisen und Getränke servieren, deren Namen dir die Zunge verknoten, als wärest du besoffen.

Aus irgendeinem bescheuerten Grund, überlegte Baba und gab dabei der Wirtin ein Zeichen, ihm noch ein Glas einzuschenken, glauben die Leute, dass sie, wenn sie ein derartiges Grandioso betreten, auch selber bestimmte Eigenschaften annehmen. Dass sie sich, wenn sie ein italienisches oder französisches Gebräu mit kompliziertem Namen herunterschlucken, automatisch in eine parallele, auf jeden Fall weitaus bessere Welt katapultieren. Werden da etwa Pejotl und heilige Pilze als Beilage serviert und mit LSD gefüllter Kuchen? Was soll der Scheiß?, fragte sich Baba. Warum versuchen wir hartnäckig etwas zu sein, was wir überhaupt nicht sind? Warum verarschen wir uns gegenseitig? Ja, es stimmt, ich werde mies bezahlt und stecke bis zum Hals in Schulden, die ich Zeit meines Lebens kaum zurückzahlen kann. Aber ich fahre A-Klasse und verkehre im Grandioso. Und du? Was fährst du und wo verkehrst du? Wenn es so ist, dachte er und beobachtete, wie der Schaum über den Rand des Bierkruges und die fleischigen Finger der Kellnerin lief, kannst du in diesem Evolutionskampf eigentlich nur noch für die Kakerlaken sein. Die sind okay, die kümmern sich um ihren eigenen Kram und beschäftigen sich nicht mit irgendwelchem dummen Zeug.

Die Kellnerin stellte einen neuen Bierkrug vor Baba ab, und er fragte sich, ob sich diese Frau nun in eine Wolke von Schmetterlingen verwandeln würde, von denen sich einer dann auf eine Rose setzte, die Baba pflücken würde, und eine Tür würde sich vor ihm öffnen, jene wahre Tür, die wir alle herbeisehnen und hinter der es keine abgestellten Telefone, keine letzte Mahnung von der Bank gibt, keine überfüllten Straßenbahnen, keine Menschen, die mit Kreide auf den Bürgersteig gezeichnet sind…

Keine Chance, Baba schüttelte den Kopf. Das Komi z a ist ein Zeitloch, in dem nichts passiert. Die Zeit ist hier schon lange stehen geblieben. Baba dachte oft von sich, er sei ein Wesen, das in der Zeit stecken geblieben ist. Mit sechsundvierzig kann man nicht mehr von vorn anfangen. Man kann nur warten. Und das Warten ist angenehmer bei dem einen oder anderen Bier, nicht wahr?

Baba trank sein Bier auf ex, legte Geld auf den Tresen und ging auf die Straße hinaus. In eine Welt, in der Menschen auf Bürgersteigen zusammenbrachen, sich mit ihren Zähnen ans Leben klammerten, hin und her sausten ohne zu begreifen, dass sie früher oder später auf eine Einbahnstraße geraten werden, aus der es keinen Ausweg gibt.

Über Premium-Bier und einen internationalen Laureaten

Robi schloss die Tür der Buchhandlung hinter der jungen Frau, die ihm schon seit zwanzig Minuten auf die Nerven ging (zwanzig Minuten nach Ladenschluss, um genau zu sein), indem sie die Bücher in den Regalen durchstöberte. Es war wieder einer jener nutzlosen Tage, an denen er fünf, sechs Bücher verkaufte, meist diese Psycho-Ratgeber, Selbsthilfe und dergleichen. Heutzutage gehen solche Sachen recht gut.

Sie haben kein Geld für einen Sommerurlaub, und die Tage sind verflixt lang. Wohin mit soviel Zeit? Aus Langeweile beginnen sie, sich mit sich selbst zu beschäftigen, was sie natürlich verrückt macht. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das deprimiert, das macht einen fertig. Sie tun ihr Bestes, um dagegen anzukämpfen. Sie spielen Karten im Park, sie starren ins Leere, lösen Kreuzworträtsel, saufen, lesen verschiedene Experten-Tipps in den Zeitungen und eben diese Ratgeber. Und wenn nichts hilft, springen sie von einem Hochhaus. Das hilft garantiert dabei, sich von sich selbst zu befreien.

Es gibt einen, der plemm-plemm ist und regelmäßig in die Buchhandlung kommt und Robi von Selbstmorden berichtet. Die halbe Stadt kennt ihn, er war immer schon plemm-plemm, er drehte immer schon im Zentrum seine Runden und belästigte die Menschen mit seinen Geschichten. Im letzten Winter traf ihn ein Eiszapfen, der vom Dach fiel, am Kopf, was ihn sehr erschütterte. Seitdem beschäftigt er sich ausschließlich mit Selbstmördern. Arbeit gibt es im Überfluss, jeden Tag springt jemand oder erschießt sich oder Ähnliches.

Auch an diesem Abend platzte der Verrückte in die Buchhandlung. Das heißt, eigentlich blieb er in der Tür stehen und sagte enttäuscht: Nichts. Und Robi antwortete: Was soll’s, morgen wird es vielleicht besser. Und der Typ ging weg und schüttelte dabei verwirrt den Kopf. Und dann kam diese junge Frau.

Robi wusste sofort, dass sie nichts kaufen würde. Sie hatte nicht die Haltung eines Buchkäufers, kein süchtiges Glänzen in den Augen. Und wahrscheinlich betrat sie die Buchhandlung nur, um sich die Zeit bis zum Treffen mit ihrem Freund oder einer Freundin zu vertreiben. Sie schaute ihn nicht einmal an, kreiste nur um die Regale und berührte die Buchrücken mit ihren Fingern, und er stand in anständiger Entfernung und betrachtete sie. Pechschwarze Haare, Brüste in einem weißen T-Shirt ohne Ärmel, lange Finger, mit denen sie ihr Solo auf den Buchrücken spielte (mein Gott, was könntest du mit diesen Fingern alles machen!), ein Premium-Hintern (wie Premium-Bier) in einem engen Jeansrock. Dreh dich um, zauberte Robi, dreh dich um und sieh mich an, schenk mir unendlich viele Momente voll reinem Sex, unbesudelt von Liebe. Aber sie drehte sich nicht um und zeigte auch sonst in keiner Weise, dass ihr Robis Anwesenheit bewusst war.

Sie berührte nur mit ihren Fingerspitzen die Bücher.

Oder sie nahm ein Buch, wog es in der Hand und stellte es dann zurück in das Regal.

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Robi die Lichter in der Buchhandlung löschte. Sie verstand seine Botschaft nicht, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Sekunden und Minuten zu zählen, und ihr wisst ja, wie langsam diese in solchen Situationen dahinrinnen. Und dann glitt sie (endlich, Mädchen!) Richtung Ausgang. Kein Danke, kein Tschüss, nicht mal ein Auf Wiedersehen, und Robi drehte den Türschlüssel mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht herum, jenem, den man annimmt, wenn man nach langem Zurückhalten endlich aufs Klo kann.

Er stand einige Zeit im Schatten und starrte in die Dämmerung. Die Menschen schritten die Straße entlang, die Kleider schmiegten sich an die Hüften der Frauen und glitzerten im Licht der Schaufenster. Die Fenster des Komi z a glänzten eisig-blau. Und dann sah Robi etwas, was ihn zwang, sich tiefer in den Schatten zurückzuziehen. Baba kam aus dem Komi z a. Er stand dort, drehte sich nach links und rechts, unsicher in welche Richtung er gehen sollte.

Robi sah ihm zu und erinnerte sich dabei widerwillig an andere Zeiten. Und an einen anderen Baba. Baba, den Schriftsteller (obwohl er nur ein Buch geschrieben hatte, dachte Robi). Baba, über den alle sprachen und von dem sie viel erwarteten, der aber überhaupt nicht verheimlichte, dass ihm das Schreiben scheißegal war. Das ist eine üble Arbeit, schweres Schuften, pflegte er zu sagen, und ich arbeite nicht, während ich trinke. Und tatsächlich arbeitete er nicht, er trieb sich nur in der Haut seiner Helden herum und soff. Warum tat er das? Das sind die Dinge, über die wir nichts wissen und die dazu führen, dass jemand fünfzehn Jahre wegen Mordes sitzt, oder vor der Kathedrale bettelt, oder in einem Regierungsbüro herumhängt und den Heroinmarkt kontrolliert. Die Jahre vergingen, und Baba geriet in Vergessenheit, wie all die anderen Eintagsfliegen.

Man sollte gleich erwähnen, dass Robi Baba nicht ausstehen konnte. Er konnte ihn auf jene spezielle Art nicht ausstehen, auf die Schriftsteller andere Schriftsteller nicht leiden können. Er konnte ihn also von Kollege zu Kollege nicht ausstehen. Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Robi schrieb Gedichte. Er hatte sogar einige Gedichtbände veröffentlicht, die aber von Kritik und Publikum unbemerkt blieben. Und er meinte aus irgendeinem Grund, Baba sei dafür verantwortlich. Er glaubte, seine eigenen Bücher hätten einen viel größeren, möglicherweise sogar einen durchschlagenden Erfolg haben können, hätte es dieses verfluchte Buch von Baba nicht gegeben. Er war überzeugt davon, dass Baba mit billigen Straßengeschichten und anderen Tricks die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von seiner subtilen Poesie abgelenkt hatte. Manchmal wurde Robi davon so übel, dass er beinahe kotzen musste. Es geschah bisweilen, dass er vor Wut regelrecht aufjaulte, weil diese idiotischen Kritiker wegen Baba nicht das Genie in ihm erkannt hatten. An solchen Tagen stellte sich Robi häufig folgende Situation vor: