Ausgewählte Erzählungen - Ray Bradbury - E-Book

Ausgewählte Erzählungen E-Book

Ray Bradbury

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Beschreibung

»Ich kann es kaum glauben, dass ich in meinem Leben so viele Kurzgeschichten geschrieben habe«, so Ray Bradbury, der die Zahl selbst nicht mehr überblicken kann sie wird auf über 500 geschätzt. Bei seinen Lesern und Kritikern kommt zur Verwunderung über die große Zahl jene über die Qualität hinzu. Und noch mehr wundern kann man sich über die große Bandbreite an Themen, die Bradbury, von seinen Anfängen in den frühen vierziger Jahren bis heute, zu spannenden Geschichten verarbeitet hat: schwarze oder goldene Visionen der Zukunft, poetische Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten oder an die unschuldigen Jahre der Kindheit, Geschichten, die in Irland, Mexiko oder auf dem Planeten Mars spielen, Sciencefiction-, Fantasy-, Liebes-, Weihnachts- oder Künstlergeschichten. Ray Bradbury, einer der phantasiebegabtesten Schriftsteller überhaupt, ist ein Meister der short story in dieser schönen Geschenkausgabe sind 25 seiner besten Geschichten versammelt.

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Seitenzahl: 434

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Ray Bradbury

Ausgewählte Erzählungen

Herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa

Diogenes

{11}Ein zeitloser Frühling

Damals, in jener Woche, vor vielen, vielen Jahren, dachte ich, meine Eltern wollen mich vergiften. Und heute, zwanzig Jahre später, frage ich mich, ob sie es nicht getan haben. Wer weiß.

Ein schlichter Koffer, den ich oben auf dem Dachboden fand, rief all meine Erinnerungen wieder wach. Heute Morgen war’s. Ich ließ die Messingschlösser aufschnappen und klappte den Deckel hoch, und da lagen sie alle aufgebahrt im unvergänglichen Modergeruch der Mottenkugeln: die Tennisschläger ohne Bespannung, die ausgetretenen Turnschuhe, die kaputten Spielsachen, die verrosteten Rollschuhe. Ich betrachtete sie mit meinen gealterten Augen, und {12}plötzlich war mir so, als wäre es erst eine Stunde her, seit ich aus den schattigen Straßen ins Haus gestürmt war, schweißüberströmt, auf den noch immer vor Aufregung zitternden Lippen den Schrei: »Bahn frei, Kartoffelbrei!«

Ich war ein sonderbarer, komischer Junge, vergrübelt und mit ungewöhnlichen Ideen im Kopf; das Gift und die Angst waren nur ein Teil von mir in jenen Jahren. Schon mit zwölf fing ich an, Tagebuch zu führen. Ich spüre ihn noch zwischen den Fingern, den Bleistiftstummel, mit dem ich in jenem zeitlosen Frühling Morgen für Morgen in ein liniertes Schulheft für fünf Cent schrieb.

 

Ich hielt inne und lutschte gedankenverloren an meinem Stift. Ich saß oben in meinem Zimmer am Anfang eines klaren, endlos langen Tages, blinzelte die Tapete mit den eingeprägten Rosen an, barfuß, mit struppigem Bürstenschnitt, und dachte nach.

»Bis diese Woche habe ich nicht gewusst, {13}dass ich krank bin«, schrieb ich. »Ich bin schon lange krank. Seit ich zehn war. Jetzt bin ich zwölf.«

Ich zog eine Fratze, biss mir kräftig auf die Lippen und starrte so lange auf das Schulheft, bis mir die Linien vor den Augen verschwammen. »Mom und Dad haben mich krank gemacht. Auch von den Lehrern in der Schule habe ich diese …« Ich zögerte. Und dann schrieb ich: »Krankheit bekommen! Die Einzigen, vor denen ich keine Angst habe, sind die anderen Kinder. Isabel Skelton und Willard Bowers und Clarisse Mellin; die sind noch nicht so krank. Aber mir geht es wirklich mies …«

Ich legte den Bleistift hin und ging ins Badezimmer, um in den Spiegel zu gucken. Meine Mutter rief von unten, ich solle zum Frühstück kommen. Ich drückte das Gesicht an den Spiegel und atmete so schnell, dass ich einen großen Dampffleck auf dem Glas machte. Und dann sah ich zu, wie sich mein Gesicht – veränderte.

{14}Die Knochen. Sogar die Augen. Die Poren auf der Nase. Die Ohren. Die Stirn. Die Haare. Alles das, was so lange ich gewesen war, verwandelte sich in etwas anderes. (»Douglas, frühstücken, du kommst noch zu spät zur Schule!«) Während ich mich hastig wusch, sah ich unter mir meinen Körper schweben. Ich war in ihm. Es gab kein Entrinnen. Und die Knochen darin stellten die merkwürdigsten Sachen an, sie rutschten hin und her, sie tauschten die Plätze!

Ich fing an zu singen und laut zu pfeifen, um nicht darüber nachzudenken; bis Vater an die Tür klopfte und mir sagte, ich solle mich beruhigen und essen kommen.

Ich saß am Frühstückstisch. Die gelbe Schachtel mit den Cornflakes, Milch, kalt und weiß in einem Krug, blitzende Löffel und Messer und Eier zwischen Schinkenstreifen, Dad las seine Zeitung, Mom machte sich in der Küche zu schaffen. Ich schniefte. Ich spürte meinen Magen, der sich krümmte wie ein geprügelter Hund.

{15}»Was hast du denn, Junge?« Daddy sah mich flüchtig an. »Keinen Hunger?«

»Nein, Dad.«

»Ein Junge muss doch Hunger haben am Morgen«, sagte Vater.

»Jetzt iss endlich was«, fuhr Mutter mich an. »Nun mach schon. Beeil dich.«

Ich guckte mir die Eier an. Sie waren Gift. Ich guckte mir die Butter an. Sie war Gift. Die Milch in ihrem Krug war so weiß, so sahnig und so giftig, und die Cornflakes lagen braun und knusprig und appetitlich in einer grünen Schüssel mit rosa Blumen drauf.

Gift, alles, lauter Gift! Der Gedanke kroch mir im Kopf herum wie die Ameisen auf einer Picknickdecke. Ich biss mir auf die Unterlippe.

»Häh?«, machte Dad und blinzelte zu mir herüber. »Hast du was gesagt?«

»Nein«, erwiderte ich. »Bloß, dass ich keinen Hunger habe.«

Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass ich krank war und dass das Essen mich {16}krank gemacht hatte. Ich konnte doch nicht sagen, dass Kekse, Kuchen, Cornflakes, Suppen und Gemüse mir das hier angetan hatten. Nein, ich musste dasitzen, ohne etwas zu mir zu nehmen, mit klopfendem Herzen.

»Also trink wenigstens deine Milch, und dann geh«, sagte Mutter. »Gib ihm Geld, dass er sich in der Schule was zu essen kaufen kann, Dad. Orangensaft, Fleisch und Milch. Aber keine Süßigkeiten.«

Die Warnung hätte sie sich sparen können. Süßigkeiten waren das allerschlimmste Gift. Nie wieder würde ich welche anrühren, nie und nimmer!

Ich packte meine Bücher zusammen und ging zur Tür.

»Douglas, du hast mein Küsschen vergessen!«, rief Mom.

»Ach ja«, sagte ich und machte kehrt und gab ihr eins.

»Was hast du denn?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte ich. »Wiedersehn. Bis nachher, Dad.«

{17}Sie sagten auf Wiedersehen. Ich ging zur Schule und tauchte mit den Gedanken tief hinab in mein Inneres, ungefähr so, wie wenn man in einen tiefen, kalten Brunnen ruft.

 

Ich rannte hinunter in die Schlucht und schaukelte an einer Kletterpflanze; ein tolles Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben; ich schnupperte hinauf in die süße, kühle Morgenluft, und ich brüllte vor Lachen, und der Wind wehte meine Gedanken weg. Ich ließ mich mit Karacho gegen den Damm schleudern, und dann kullerte ich runter, und die Vögel pfiffen mir was, und ein Eichhörnchen flitzte wie ein brauner Wattebausch, den der Wind aufgewirbelt hat, um einen Baumstamm herum. Etwas weiter unten kamen die anderen Kinder angerollt wie eine kleine kreischende Lawine. »Ahh-iii-jaah!« Sie schlugen sich an die Brust, warfen Steine ins Wasser, tauchten mit den Händen nach einem Flusskrebs. Der {18}Flusskrebs schoss davon und ließ schlammige Wolken zurück. Wir lachten und machten Witze.

Auf der grünen Holzbrücke über uns kam ein Mädchen. Es war Clarisse Mellin. Wir lachten sie aus, wir brüllten, hau ab, hau ab, wir konnten sie nicht leiden, hau ab, hau ab! Aber dann versagte mir die Stimme, und ich sah zu, wie sie ging, ganz langsam. Ich guckte nicht weg.

In der Ferne hörten wir die Schulglocke klingeln. Wir kraxelten die Trampelpfade hoch, die wir in den vielen Sommern der vergangenen Jahre ausgetreten hatten. Das Gras war schütter; wir kannten jedes Schlangenloch, jeden Huckel, jeden Baum, jede Kletterpflanze, jedes Unkraut, das dort wuchs. Nach der Schule bauten wir uns Baumhäuser, hoch über der schimmernden Bucht, sprangen nackt ins Wasser, wanderten stundenlang durch die Schlucht, dem Horizont entgegen, wo sie sich einsam und verlassen im weiten Blau des Michigansees verlor, {19}unten bei der Gerberei, der Asbestfabrik und den Docks.

Als wir uns dann keuchend der Schule näherten, blieb ich stehen; die Angst war wieder da. »Geht schon vor«, sagte ich.

Das letzte Klingeln. Die Kinder rannten los. Ich blickte auf das weinberankte Schulhaus. Ich hörte die Stimmen dort drin, das hohe Summen, das die ganze Zeit anhielt. Ich hörte das Bimmeln der Glöckchen von den Lehrerpulten und das Kläffen der Lehrer.

Gift, dachte ich. Auch die Lehrer! Die wollen, dass ich krank bin! Die bringen einem bei, wie man immer kränker wird! Und – und wie man Freude daran hat, am Kranksein!

»Guten Morgen, Douglas.«

Ich hörte das Klacken hochhackiger Schuhe auf dem Zementweg. Und dann stand Miss Adams, die Direktorin, mit ihrem Kneifer, dem breiten, fahlen Gesicht und den kurzgeschnittenen dunklen Haaren hinter mir.

{20}»Na los, geh rein«, sagte sie, indem sie mich fest an der Schulter packte. »Du bist zu spät. Geh schon.«

Sie schob mich vor sich her, die Treppe hoch; eins, zwei, eins, zwei; die Treppe hoch zu meinem Verhängnis …

Mr. Jordan war ein dicklicher Mann mit schütterem Haar und ernsten grünen Augen, der die Angewohnheit hatte, auf den Zehenspitzen zu wippen, wenn er vor seinen Karten stand. Heute hatte er eine riesengroße Darstellung eines Körpers, von dem die ganze Haut ab war. Adern, Kapillaren, Muskeln, Sehnen, Organe, Lungen, Knochen und Fettgewebe – grün, blau, rosarot, gelb; alles zu sehen.

Er stand vor seiner Karte. »Die Ähnlichkeiten zwischen Krebs und der normalen Zellteilung sind sehr groß. Krebs ist einfach nur eine Überproduktion von Zellmaterial …«

Ich meldete mich. »Wie ist das eigentlich mit dem Essen – ich meine –, durch was wächst der Körper?«

{21}»Eine gute Frage, Douglas.« Er tippte auf die Karte. »Das Essen, das der Körper aufnimmt, wird zerkleinert, absorbiert und …«

Ich hörte zu und wusste genau, was Mr. Jordan mit mir machen wollte. Meine Kindheit war in meine Seele eingeprägt wie ein Fossil in weichen Schiefer. Mr. Jordan wollte sie abschleifen, sie ausradieren. Am Ende wäre alles weg, alles, woran ich glaubte, meine ganze Phantasie. Meine Mutter veränderte meinen Körper mit Essen, Mr. Jordan bearbeitete meine Seele mit Worten.

Da fing ich an, Bilder aufs Papier zu zeichnen, und hörte nicht mehr zu. Ich summte Liedchen vor mich hin, dachte mir meine eigene Sprache aus. Den Rest des Tages hörte ich nichts mehr. Ich wehrte die Angriffe ab, ich wehrte mich gegen das Gift.

Doch dann, nach der Schule, kam ich am Laden von Mrs. Singer vorbei und kaufte mir einen Schokoriegel. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Und nachdem ich ihn gegessen hatte, schrieb ich hinten auf das {22}Einwickelpapier: »Das war mein letzter Schokoriegel. Ich werde nie wieder welche essen, nicht mal in der Samstagnachmittagsvorstellung, wenn Tom Mix mit Tony über die Leinwand reitet.«

Ich betrachtete die Süßigkeiten, die reif zum Ernten im Regal aufgestapelt waren. Orangerotes Papier mit himmelblauen Wörtern drauf: »Schokolade«. Gelbes und violettes Papier mit kleinen blauen Wörtern drauf. Ich spürte richtig, wie der Schokoriegel in meinem Körper die Zellen wachsen ließ. Mrs. Singer verkaufte jeden Tag Hunderte solcher Riegel. Machte sie etwa auch mit bei diesem Komplott? Wusste sie, was sie den Kindern damit antat? War sie neidisch auf die Kinder, weil die noch so jung waren? Wollte sie, dass die Kinder alt werden? Ich verspürte den Wunsch, Mrs. Singer umzubringen!

»Was machst du denn da?«

Als ich gerade auf das Schokoladenpapier schrieb, tauchte Bill Arno hinter mir auf. {23}Clarisse Mellin war auch dabei. Sie sah mich mit ihren blauen Augen an und schwieg.

Ich versteckte das Papier. »Nichts«, sagte ich.

Wir gingen zusammen weiter. Wir sahen Kinder, die Himmel und Hölle und Plumpsack spielten und auf der harten Erde mit Murmeln schusserten, und ich sagte zu Bill: »Nächstes oder übernächstes Jahr werden wir das nicht mehr dürfen.«

Bill lachte bloß. »Klar dürfen wir. Wer soll’s uns denn verbieten?«

»Na die«, sagte ich.

»Wer die?«, fragte Bill.

»Ist ja auch egal«, erwiderte ich. »Wart’s nur ab, du wirst schon sehen.«

»Quatsch«, sagte Bill. »Du bist doch nicht ganz richtig im Kopf.«

»Du hast ja keine Ahnung!«, schrie ich. »Du spielst und rennst rum und isst, und die legen dich die ganze Zeit rein und machen, dass du anders denkst und anders handelst und anders gehst. Und eines Tages hörst du {24}plötzlich auf zu spielen und musst dir Sorgen machen!« Ich war ganz heiß im Gesicht und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ich war blind vor Wut. Bill drehte sich lachend um und ging weg. ›Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?‹, sang jemand und warf einen Ball über ein Hausdach.

 

Ohne Frühstück und Mittagessen über den Tag zu kommen ist kein Problem, aber ohne Abendbrot? Als ich mich an den Tisch setzte, knurrte mir der Magen. Ich umklammerte meine Knie und ließ sie nicht aus den Augen. Ich werde nichts essen, sagte ich mir. Denen werd ich’s zeigen. Auf, auf zum Kampf.

Dad gab sich verständnisvoll. »Dann lass ihn halt ohne Abendbrot gehen«, sagte er zu meiner Mutter, als er sah, dass ich meinen Teller nicht anrührte. Er zwinkerte ihr zu. »Der wird schon noch essen.«

Ich spielte den ganzen Abend in den warmen Backsteinstraßen der Stadt, ließ {25}Blechbüchsen übers Pflaster kollern und kletterte in der sich ausbreitenden Dunkelheit auf Bäume.

Als ich abends um zehn in die Küche kam, sah ich, dass das alles keinen Zweck hatte. Auf dem Eisschrank lag ein Zettel. »Hau rein! Dad«, stand darauf.

Ich öffnete die Tür, und ein kleiner kühler Lufthauch fauchte mich an, ein kalter Hauch, der nach frostigen Lebensmitteln roch. Im Kühlschrank lag die wunderlich geformte Halbruine eines Huhns. Ein Scheiterhaufen aus Selleriestangen. Erdbeeren, die in einem Petersiliendickicht wuchsen.

Meine Hände waren nicht mehr zu halten. Sie bewegten sich so schnell hin und her, dass die Illusion von einem Dutzend Händen entstand. Wie auf diesen Bildern von orientalischen Göttinnen, die in Tempeln angebetet werden. Eine Hand hält eine Tomate fest. Eine Hand grabscht nach einer Banane. Eine dritte Hand reißt Erdbeeren heraus! Eine vierte, fünfte, sechste Hand, alle mitten in {26}der Bewegung aufgenommen, und in jeder was zu essen – hier ein Happen Käse, da eine Olive, dort ein Rettich!

Eine halbe Stunde später kniete ich vor der Kloschüssel und klappte hastig den Deckel hoch. Dann machte ich rasch den Mund auf und steckte mir einen Löffel rein, immer weiter, die Zunge runter und noch tiefer, ganz tief rein in meinen würgenden Hals …

Dann lag ich bibbernd im Bett, hatte noch die Erinnerung an den bitteren Geschmack im Mund und war froh, es wieder los zu sein, das Essen, das ich so gierig verschlungen hatte. Ich hasste mich wegen meiner Schwäche. Ich lag da, zitternd, leer, hungrig, doch nunmehr zu krank, um zu essen …

Am Morgen war ich sehr schlapp und so blass, dass es meiner Mutter auffiel. »Wenn’s dir bis Montag nicht besser geht«, sagte sie, »dann aber ab mit dir zum Arzt!«

 

Es war Samstag. Der Tag, an dem man schreien durfte, ohne dass einen die Lehrer {27}mit ihren kleinen Silberglöckchen zum Schweigen brachten; der Tag, an dem die farblosen Giganten im Elite über die bleiche Kinoleinwand flimmerten und der lange Zuschauerraum im Dunkel lag und an dem Kinder bloß Kinder waren und nicht Dinge, die wuchsen.

Ich sah niemanden. Am Morgen, als ich eigentlich draußen die North Shore Rail Line hätte entlangwandern sollen, wo die heiße Sonne die Luft über dem langen Schienenstrang zum Flimmern brachte, trödelte ich furchtbar unentschlossen herum. Und bis ich endlich am Hang stand, war es später Nachmittag, und die Schlucht war wie ausgestorben; die Kinder waren allesamt in die Stadt gerannt, saßen im Kino und lutschten Zitronendrops.

Die Schlucht war sehr einsam, sie sah so ungestört und alt und grün aus, dass sie mir ein wenig Angst machte. So still hatte ich sie noch nie erlebt. Reglos hingen die Ranken der Kletterpflanzen an den Bäumen, das {28}Wasser rann über die Steine, und hoch oben sangen die Vögel.

Ich ging den Geheimpfad entlang, versteckte mich hinterm Buschwerk, blieb stehen, ging weiter.

Als ich die Brücke erreichte, sah ich dort Clarisse Mellin, die auf dem Heimweg war. Sie kam aus der Stadt und hatte ein paar kleine Päckchen unterm Arm. Verlegen begrüßten wir uns.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Och, ich geh spazieren«, sagte ich.

»Ganz alleine?«

»Ja. Die andern sind alle in der Stadt.«

Sie zögerte einen Moment. »Darf ich dich begleiten?«, fragte sie dann.

»Warum nicht?«, sagte ich. »Komm.«

Wir liefen durch die Schlucht. Dort schnurrte die Luft wie ein großer Dynamo. Nichts schien sich bewegen zu wollen, alles war ganz still. Rosa Stopfnadeln flogen herum, stachen in Luftblasen und schwebten über dem glitzernden Wasser der Bucht.

{29}Während wir den Pfad entlangliefen, stieß Clarisses Hand gegen meine. Ich roch den klammen Geruch der Schlucht und den milden, neuen Geruch von Clarisse, die neben mir ging.

Wir kamen an eine Stelle, wo der Weg sich gabelte.

»Da oben haben wir letztes Jahr ein Baumhaus gebaut«, sagte ich und zeigte hinauf.

»Wo?« Clarisse trat ganz nah an mich heran und folgte meinem Finger mit den Augen. »Ich seh nichts.«

»Da«, sagte ich mit brüchiger Stimme und zeigte abermals.

Sie legte ganz still den Arm um mich. Ich war so verblüfft und bestürzt, dass ich beinahe aufgeschrien hätte. Dann küsste sie mich mit bebenden Lippen, und meine Hände gingen in die Höhe, um sie festzuhalten, und innerlich zitterte ich und schrie.

Die Stille war wie ein grünes Wetterleuchten. In der Bucht gurgelte das Wasser. Ich bekam keine Luft.

{30}Ich wusste, alles war aus. Ich war verloren. Von diesem Augenblick an würde ich alles anfassen, das Essen essen, Sprachen lernen und Algebra und Logik, alles wäre Bewegung und Gefühl, Küssen und Festhalten, ein Strudel von Gefühlen, in dem ich gefangen war und der mich in die Tiefe riss. Ich wusste, jetzt war ich für immer verloren, und es war mir egal. Nein, es war mir nicht egal, ich lachte und weinte zugleich und konnte nichts weiter tun als sie festhalten und sie lieben mit der ganzen Entschlossenheit und Aufmüpfigkeit meines Körpers und meiner Seele.

Den Kampf gegen Mutter und Dad, gegen die Schule und das Essen und das, was in den Büchern stand, ihn hätte ich weiterkämpfen können, doch diese Süße auf meinen Lippen und diese Wärme in meinen Händen und dieser neue Duft in meiner Nase, dagegen kam ich nicht an. »Clarisse, Clarisse«, schluchzte ich und hielt sie im Arm und schaute blicklos über ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr. »Clarisse.«

{31}Die Früchte am Grund der Schale

William Acton stand auf. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte Mitternacht.

Er blickte auf seine Finger, er blickte auf den großen Raum um sich her, und er blickte auf den Mann, der am Boden lag. William Acton, dessen Finger über Schreibmaschinentasten geglitten waren, geliebt hatten und morgens zum Frühstück Speck und Eier gebraten hatten, hatte nun mit denselben zehn Fingern mit ihrem Linienmuster einen Mord vollbracht.

Er hatte sich nie als Bildhauer betrachtet, aber als er jetzt zwischen seinen Händen hindurch auf den Körper hinabsah, der auf dem polierten Parkettboden lag, begriff er, dass er mittels einigen bildhauerischen {32}Pressens und Umgestaltens und Verdrehens von menschlichem Lehm diesen Mann namens Donald Huxley in den Griff bekommen und seine Physiognomie, selbst die Form seines Körpers verändert hatte. Mit einem Griff seiner Finger hatte er den herausfordernden Glanz von Huxleys grauen Augen weggewischt, ihn ersetzt durch blinde Stumpfheit des Auges, kalt in der Höhle. Die Lippen, sonst immer rosig und sinnlich, waren geöffnet und entblößten ein Pferdegebiss, gelbe Schneidezähne, nikotingefärbte Eckzähne und goldgefüllte Backenzähne. Die Nase, zuvor ebenfalls rosig, war jetzt gefleckt, bleich, entfärbt, ebenso wie die Ohren. Huxleys Hände lagen offen am Boden, zum ersten Mal in ihrem Leben flehend statt fordernd.

Ja, es war eine künstlerische Schöpfung. Im Ganzen hatte Huxley die Veränderung auch gutgetan. Der Tod hatte einen Mann aus ihm gemacht, mit dem sich besser umgehen ließ. Jetzt konnte man mit ihm sprechen, und er musste zuhören.

{33}William Acton blickte auf seine eigenen Finger.

Es war getan. Er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Hatte ihn jemand gehört? Er lauschte. Draußen die üblichen Geräusche späten Straßenverkehrs. Keine Schläge an der Haustür, keine Schulter zertrümmerte den Eingang zu Brennholz, keine Stimmen verlangten Einlass. Der Mord, das Modellieren des Lehms von Wärme in Kälte, war getan, und niemand wusste davon.

Was nun? Die Uhr tickte Mitternacht. Jeder seiner Impulse sprengte ihn in Hysterie zur Tür hin.

Los, fort, lauf, komm nie wieder, steig in einen Zug, ruf ein Taxi, fort, weg, lauf, geh, bummle, aber um alles in der Welt hinaus mit dir!

Seine Hände schwebten und drehten sich vor seinen Augen.

Er verrenkte sie langsam und nachdenklich; sie fühlten sich luftig und federleicht an. Warum starre ich sie so an?, fragte er sich. {34}War denn etwas so ungeheuer Interessantes an ihnen, dass er jetzt nach erfolgreichem Würgen stehenblieb und sie Linie um Linie untersuchen musste?

Es waren gewöhnliche Hände. Nicht dick, nicht dünn, nicht lang, nicht kurz, nicht haarig, nicht kahl, nicht gepflegt, doch auch nicht schmutzig, nicht weich und doch nicht schwielig, nicht runzlig und doch nicht glatt; durchaus keine Mörderhände – und doch auch nicht unschuldig. Offenbar empfand er sie als ein Wunder, das er betrachten musste.

Aber er interessierte sich weder für die Hände als Hände noch für die Finger als Finger. In der stumpfen Zeitlosigkeit nach vollbrachter Gewalttat fesselten ihn nur seine Fingerspitzen.

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte.

Er kniete neben Huxleys Körper nieder, zog ein Taschentuch aus Huxleys Tasche und begann, systematisch Huxleys Hals damit zu säubern. Er rieb und massierte den Hals und wischte mit wilder Energie Gesicht und {35}Nacken ab. Dann stand er auf. Er blickte auf den Hals. Er blickte auf den polierten Boden. Er beugte sich langsam nieder und betupfte den Boden ein paarmal mit dem Taschentuch. Sein Blick verfinsterte sich, und er wischte den Boden, zuerst nahe am Kopf der Leiche, dann neben den Armen. Dann polierte er den Boden rings um den Körper. Er polierte den Boden im Umkreis von einem Meter um die Leiche. Dann polierte er den Boden im Umkreis von zwei Metern um die Leiche. Dann polierte er den Boden im Umkreis von drei Metern um die Leiche. Dann –

Er hielt inne.

 

Es kam ein Augenblick, da sah er das ganze Haus, die Korridore mit den Spiegeln, die geschnitzten Türen, die kostbaren Möbel. Und er hörte, als würde alles noch einmal Wort für Wort wiederholt, Huxley und sich selbst genau so sprechen, wie sie erst vor einer Stunde miteinander gesprochen hatten.

{36}Den Finger auf Huxleys Klingel. Huxleys Tür, die aufging.

»Oh!« Huxley war erschrocken. »Ach, du bist es, Acton.«

»Wo ist meine Frau, Huxley?«

»Glaubst du wirklich, ich würde es dir sagen? Steh nicht so dämlich da draußen herum. Wenn du ernsthaft mit mir reden willst, komm herein. Durch die Tür dort. In die Bibliothek.«

Acton hatte die Tür zur Bibliothek angefasst.

»Einen Drink?«

»Ja, ich brauche einen. Ich kann nicht glauben, dass Lily fortgegangen ist, dass sie …«

»Da ist eine Flasche Burgunder, Acton. Macht es dir was aus, sie aus dem Schrank da zu holen?«

Ja, sie holen, sie ergreifen. Sie anfassen. Er tat es.

»Hier habe ich ein paar interessante Erstausgaben, Acton. Befühl einmal diesen Einband. Fühl mal.«

{37}»Ich bin nicht hergekommen, um mir Bücher anzusehen, ich …«

Er hatte die Bücher, den Tisch in der Bibliothek angefasst, die Burgunderflasche und die Burgundergläser angefasst.

Jetzt, da er mit dem Taschentuch in der Hand reglos neben Huxleys Körper auf dem Boden hockte, starrte er auf das Haus, die Wände, die Möbel um ihn herum, und seine Augen weiteten sich, sein Kinn fiel herab. Er war wie betäubt von dem, was ihm jetzt klar wurde und was er sah. Er schloss die Augen, ließ den Kopf sinken, zerknüllte das Taschentuch in den Händen, biss sich auf die Lippen und zog sich in sich zusammen.

Die Fingerabdrücke waren überall, überall!

»Macht es dir was aus, den Burgunder zu holen, Acton, he? Die Burgunderflasche, he? Mit deinen Fingern, he? Ich bin furchtbar müde, verstehst du?«

Handschuhe.

Bevor er irgendetwas anderes tat, bevor er {38}eine andere Stelle polierte, musste er Handschuhe haben, sonst würde er vielleicht unbeabsichtigt, nachdem er eine Fläche gereinigt hatte, erneut seine Identität verstreuen.

Er steckte die Hände in die Taschen. Er ging durch das Haus, zum Schirmständer, zur Hutablage im Flur. Huxleys Mantel. Er zog die Manteltaschen heraus.

Keine Handschuhe.

Die Hände wieder in den Taschen, ging er die Treppe hinauf, mit raschen, aber beherrschten Bewegungen; er erlaubte sich keine Hysterie, keine Unbesonnenheit. Er hatte am Anfang den Fehler begangen, keine Handschuhe zu tragen (aber schließlich hatte er keinen Mord geplant, und sein Unterbewusstsein, das vielleicht schon von dem Verbrechen wusste, bevor er es beging, hatte ihm nicht einmal angedeutet, dass er vor Ablauf des Abends Handschuhe brauchen würde), so musste er nun für diese Unterlassungssünde schwitzen. Irgendwo im Haus würde doch wenigstens ein Paar {39}Handschuhe liegen. Er musste sich beeilen, denn es konnte ja sein, dass jemand Huxley besuchte, sogar um diese Zeit noch. Reiche Freunde, die sich zur Tür herein- und hinaustranken, lachend, schreiend, die kamen und gingen, ohne auch nur guten Tag und auf Wiedersehen zu sagen. Bis sechs Uhr morgens hatte er Zeit, höchstens, dann sollten Freunde Huxley zu einer Fahrt zum Flugplatz und nach Mexico City mitnehmen …

Acton lief die Stufen hinauf, öffnete Schubladen und benutzte das Taschentuch wie einen Löscher. Er durchwühlte siebzig oder achtzig Schubladen in sechs Zimmern, ließ sie offen, sozusagen mit hängender Zunge, zurück und lief weiter. Er fühlte sich nackt, unfähig, etwas zu tun, bevor er die Handschuhe fand. Vielleicht würde er das ganze Haus mit dem Taschentuch putzen und jede Fläche polieren, auf der sich möglicherweise Fingerabdrücke befanden, und dann zufällig hier oder dort an eine Wand {40}stoßen und so sein eigenes Schicksal mit einem mikroskopischen, spirallinigen Abdruck besiegeln! Das hieße, den Stempel seiner Billigung unter den Mord drücken, genau das! Wie früher jene Wachssiegel, als man noch mit dem Papyrus rasselte, Tinte schwang, das Ganze mit Sand bestreute, damit die Tinte trocknete, und dann unten seinen Siegelring in heißen karmesinroten Talg drückte. So würde es sein, wenn er einen, wohlgemerkt, einen einzigen Fingerabdruck auf der Szene hinterließ! Aber seine Billigung des Mordes ging nicht so weit, dass er ihm das besagte Siegel aufdrücken wollte.

Noch mehr Schubladen! Sei still, sei neugierig, sei vorsichtig, sagte er zu sich selbst.

Unten in der fünfundachtzigsten Schublade fand er Handschuhe.

»O mein Gott, o mein Gott!« Er sank seufzend gegen den Schreibtisch. Er probierte die Handschuhe an, hielt sie hoch, streckte sie zufrieden und knöpfte sie zu. Sie waren weich, grau, dick, undurchdringlich. {41}Jetzt konnte er mit den Händen alles Mögliche tun, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er griff sich vor dem Schlafzimmerspiegel an die Nase und saugte an den Zähnen.

 

»NEIN!«, schrie Huxley.

Ein gemeiner Plan war das gewesen.

Huxley war auf den Boden gefallen – absichtlich! Oh, was für ein boshaft schlauer Mann! Auf den Parkettboden war Huxley gefallen, und Acton ihm nach. Sie hatten sich gewälzt und miteinander gerungen und den Boden zerkratzt und über und über mit ihren verzweifelten Fingerspitzen bedruckt. Huxley war ein Stück weit weggeschlüpft, und Acton hinterher, um die Hände auf Huxleys Hals zu legen und zuzudrücken, bis das Leben herauskam wie Paste aus einer Tube!

Behandschuht ging William Acton ins Zimmer zurück, kniete am Boden nieder und begann mühsam mit der Arbeit, jeden wild verheerten Zentimeterbreit zu säubern, {42}Zentimeter um Zentimeter polierte er und polierte er, bis er beinahe sein angespanntes, schwitzendes Gesicht im Fußboden sehen konnte. Dann kam er an einen Tisch und polierte das Tischbein bis hinauf zum breiten Mittelteil, an den Knäufen entlang und oben drüber. Er fand eine Schale mit Wachsfrüchten, polierte das Silberfiligran, nahm die Wachsfrüchte heraus und wischte sie sauber, ließ aber die Früchte am Grund der Schale unpoliert.

»Die habe ich bestimmt nicht angefasst«, sagte er.

Nachdem er den Tisch abgerieben hatte, stand er vor einem Bilderrahmen, der darüber hing.

»Den habe ich gewiss nicht angefasst«, sagte er.

Er stand da und blickte ihn an.

Er sah alle Türen im Zimmer an. Durch welche Tür war er heute Abend gegangen? Er konnte sich nicht erinnern. Polier sie alle! Er fing mit den Türgriffen an und rieb sie {43}blank; dann rieb er die Türen von oben bis unten ab, um ganz sicherzugehen. Anschließend machte er sich an alle Möbel im Zimmer und wischte die Armlehnen der Stühle ab.

»Der Stuhl, in dem du sitzt, Acton, ist ein Louis-quatorze-Stück. Befühle das Material«, sagte Huxley.

»Ich bin nicht hergekommen, um über Möbel zu sprechen, Huxley! Ich komme wegen Lily.«

»Oh, hör auf damit, so ernst ist es dir doch nicht mit ihr. Sie liebt dich nicht, das weißt du. Sie hat mir gesagt, dass sie morgen mit mir nach Mexico City fliegen will.«

»Du und dein Geld und deine verdammten Möbel!«

»Es sind schöne Möbel, Acton; sei ein höflicher Gast und fühl daran.«

Fingerabdrücke kann man auch auf Stoffen finden.

»Huxley!« William Acton starrte den Körper an. »Hast du vermutet, dass ich dich {44}töten würde? Hat dein Unterbewusstsein es geahnt, so wie mein Unterbewusstsein es ahnte? Und hat dein Unterbewusstsein dir eingegeben, dass du mich im Hause herumschicken musstest, damit ich Bücher, Geschirr, Türen, Stühle anfasse, befühle, streichle? Warst du so schlau und so gemein?«

Er reinigte die Stühle mit dem zusammengepressten Taschentuch. Da fiel ihm der Körper ein – er hatte ihn nicht gesäubert. Er ging hin, drehte ihn so und so herum und rieb jedes Stück seiner Oberfläche blank. Er putzte sogar die Schuhe, kostenlos.

Während er die Schuhe putzte, begann sein Gesicht vor Unruhe zu zittern, und einen Augenblick später stand er auf und ging zum Tisch hinüber.

Er nahm die Wachsfrüchte vom Grund der Schale und polierte sie. »So ist es besser«, flüsterte er und kehrte zu dem Körper zurück.

Aber als er sich über ihn bückte, zuckten seine Augenlider, und seine Kinnlade {45}bewegte sich hin und her; er überlegte, dann stand er auf und ging noch einmal an den Tisch zurück.

Er polierte den Bilderrahmen.

Während er den Bilderrahmen abrieb, entdeckte er …

Die Wand.

»Das ist Unsinn«, sagte er.

»Oh«, schrie Huxley und wehrte ihn ab. Während sie miteinander kämpften, gab er Acton einen Stoß. Acton fiel hin, stand auf, fasste an die Wand und lief zu Huxley hinüber. Er erwürgte Huxley. Huxley starb.

Acton wandte sich standhaft von der Wand ab, gefasst und entschlossen. Die grausamen Worte und die Tat verblassten in seinem Gedächtnis; er schob sie fort. Er blickte die vier Wände an.

»Lächerlich!«, sagte er.

Aus den Augenwinkeln sah er etwas an einer Wand.

»Ich weigere mich, darauf zu achten«, sagte er, um sich abzulenken. »Jetzt zum {46}nächsten Zimmer! Ich werde systematisch vorgehen. Mal sehen – wir waren im Flur, in der Bibliothek, in diesem Zimmer, im Esszimmer und in der Küche.«

An der Wand hinter ihm war ein Fleck.

Nun, etwa nicht?

Er drehte sich ärgerlich um. »Na gut, na gut, nur um sicherzugehen.« Er ging hin und konnte keinen Fleck finden. Ach so, ein ganz kleiner, ja, doch – dort. Er tupfte ihn ab. Es war ohnehin kein Fingerabdruck. Er war damit fertig, und seine behandschuhte Hand stützte sich gegen die Wand, und er sah die Wand an, wie sie sich nach rechts und links ausdehnte, bis zu seinen Füßen und über seinem Kopf ausdehnte, und er sagte leise: »Nein.« Er blickte hinauf und hinunter, kreuz und quer, und er sagte ruhig: »Das wäre zu viel.« Wie viele Quadratmeter? »Ist mir völlig gleich«, sagte er. Aber ohne dass seine Augen davon wussten, bewegten sich seine behandschuhten Finger sanft rhythmisch reibend über die Wand.

{47}Er spähte auf seine Hand und die Tapete. Er blickte über die Schulter einem anderen Zimmer zu. »Ich muss da hineingehen und die wichtigsten Gegenstände abwischen«, sagte er zu sich selbst, aber seine Hand blieb, wo sie war, als wollte sie die Wand oder ihn selbst aufrecht halten. Sein Gesicht verhärtete sich.

Wortlos begann er die Wand abzureiben, auf und ab, hin und zurück, auf und ab, so hoch er sich strecken und so tief er sich bücken konnte.

»Lächerlich, o mein Gott, wie lächerlich!«

Aber du musst sichergehen, sagte ihm sein Gedanke.

»Ja, man muss sichergehen«, antwortete er.

Er machte eine Wand fertig, und dann …

Er trat vor eine andere Wand.

»Wie spät ist es?«

Er sah nach der Kaminuhr. Eine Stunde war vergangen. Es war fünf nach eins.

Es klingelte an der Tür.

{48}Acton stand wie versteinert und starrte auf die Tür, die Uhr, die Tür, die Uhr.

Jemand klopfte laut.

Eine lange Weile verging, Acton hielt den Atem an. Ohne frische Luft in seinem Körper verließen ihn die Kräfte, er begann zu schwanken; in seinem Kopf dröhnte die Stille, kalte Wogen, die donnernd gegen mächtige Felsen schlugen.

»He, du da drin!«, schrie eine betrunkene Stimme. »Ich weiß, dass du drin bist, Huxley! Mach auf, verdammt noch mal! Ich bin es, Billy-Boy, besoffen wie ein Schwein, Huxley, alter Junge, besoffener als zwei Schweine.«

»Hau ab«, flüsterte Acton unhörbar, an die Wand gedrückt.

»Huxley, du bist drinnen, ich höre dich atmen!«, schrie die betrunkene Stimme.

»Ja, ich bin hier drinnen«, flüsterte Acton, und er fühlte sich lang ausgestreckt und klobig am Boden, klobig und kalt und still. »Ja.«

»Verdammt!«, sagte die Stimme und {49}verklang im Nebel. Die Schritte entfernten sich schlurfend. »Verdammt …«

Acton stand noch lange da und fühlte das rote Herz in seinen geschlossenen Augen, in seinem Kopf schlagen. Als er schließlich die Augen öffnete, blickte er auf die saubere Wand vor sich und fand endlich wieder Mut zu sprechen. »Unsinn«, sagte er. »Diese Wand ist makellos. Ich rühre sie nicht an. Muss mich beeilen. Muss mich beeilen. Zeit, Zeit. Nur noch ein paar Stunden, bis diese gottverdammten Freunde hereinplatzen!« Er wandte sich ab.

Aus den Augenwinkeln sah er die kleinen Spinnweben. Wenn er ihnen den Rücken zudrehte, kamen kleine Spinnen aus den Holzteilen hervor und spannen zart ihre zerbrechlichen kleinen, fast unsichtbaren Gewebe. Nicht auf der Wand zur Linken, die schon abgerieben war, sondern auf den drei bis jetzt noch unberührten Wänden. Jedes Mal, wenn er sie anstarrte, verschwanden die Spinnen im Holz, aber nur, um wieder {50}herauszukrabbeln, sowie er sich abwandte. »Diese Wände sind in Ordnung«, sagte er trotzig und fast schreiend. »Ich rühre sie nicht an.«

Er ging an einen Schreibtisch, an dem Huxley vorher gesessen hatte. Er öffnete eine Schublade und entnahm ihr, was er suchte. Ein kleines Vergrößerungsglas, das Huxley manchmal zum Lesen benutzt hatte. Er nahm die Lupe und trat unruhig vor die Wand.

Fingerabdrücke.

»Aber die sind nicht von mir!« Er lachte unsicher. »Ich habe sie da nicht hinterlassen! Ich bestimmt nicht! Ein Diener, der Butler oder vielleicht ein Zimmermädchen!«

Die Wand war voll davon.

»Sieh dir den da an«, sagte er. »Lang und spitz zulaufend, ich möchte wetten, der ist von einer Frau.«

»Möchtest du das wirklich?«

»Ja, wirklich!«

»Bist du ganz sicher?«

{51}»Ja.«

»Bestimmt?«

»Nun … ja.«

»Unbedingt?«

»Ja, verdammt noch mal, ja!«

»Wisch ihn trotzdem weg, warum nicht?«

»Da, mein Gott!«

»Fort, verdammter Fleck! Stimmt’s, Acton?«

»Und der da«, höhnte Acton. »Das ist der Fingerabdruck eines fetten Mannes.«

»Bist du sicher?«

»Fang nicht wieder damit an!«, antwortete er bissig und rieb ihn fort. Er zog einen Handschuh aus und hielt die Hand zitternd ins grelle Licht.

»Schau sie dir an, du Dummkopf! Siehst du, wie die Linien verlaufen? Siehst du es?«

»Das beweist nichts!«

»Oh, na gut!«

Wütend rieb er die Wand ab, von oben nach unten, hin und her, mit behandschuhten Händen, schwitzend, ächzend, fluchend, {52}er bückte sich und richtete sich auf, und sein Gesicht wurde immer röter.

Er zog sein Jackett aus und legte es auf einen Stuhl.

»Zwei Uhr«, sagte er, als er die Wand fertig hatte, und starrte wild auf die Uhr.

Er ging zur Obstschale, nahm die Wachsfrüchte heraus, rieb die unteren ab, legte sie wieder zurück und rieb auch den Bilderrahmen.

Er schaute zum Kronleuchter hinauf.

Seine Finger zuckten an seiner Seite.

Sein Mund öffnete sich, die Zunge bewegte sich über die Lippen, und er blickte zum Kronleuchter und blickte wieder fort, und blickte wieder zum Kronleuchter und blickte auf Huxleys Körper und dann zum Kristalllüster mit seinen langen Perlen aus irisierendem Glas.

Er holte einen Stuhl, trug ihn unter den Kronleuchter, stellte einen Fuß darauf, nahm ihn wieder herunter und warf den Stuhl heftig, lachend, in eine Ecke. Dann lief {53}er aus dem Zimmer und ließ eine Wand ungewaschen.

Im Esszimmer trat er an einen Tisch.

»Ich möchte dir meine gregorianischen Messerwaren zeigen, Acton«, hatte Huxley gesagt. Oh, diese beiläufige, diese hypnotische Stimme!

»Ich habe keine Zeit«, sagte Acton. »Ich muss Lily sprechen …«

»Unsinn, schau dir dieses Silber an, diese meisterhafte Ausführung.«

Acton blieb vor dem Tisch stehen, auf dem die Kästen mit den Bestecken ausgestellt waren; er hörte wieder Huxleys Stimme und erinnerte sich an all die Berührungen und Gesten.

Jetzt wischte Acton die Gabeln und Löffel und nahm alle Platten und die erlesenen Keramikteller vom Wandbrett …

»Hier ist eine wunderschöne Keramik von Gertrude und Otto Natzler, Acton. Kennst du ihre Arbeiten?«

»Sie ist wunderschön.«

{54}»Nimm sie in die Hand. Dreh sie um. Sieh die feine, dünne Wand der Schale, auf der Drehscheibe mit der Hand geformt, dünn wie eine Eierschale, unglaublich. Und die wunderbare vulkanische Glasur? Fass sie an, nur zu. Ich habe nichts dagegen.«

FASS SIE AN. NUR ZU. HEB SIE HOCH! Acton schluchzte krampfartig. Er schleuderte das Tongeschirr an die Wand. Es zersprang und breitete sich wild flockend über den Boden aus.

Einen Augenblick später war er auf den Knien. Jedes Stück, jede Scherbe musste gefunden werden. Dummkopf, Dummkopf, Dummkopf, rief er sich selbst zu, schüttelte den Kopf, schloss und öffnete die Augen und bückte sich unter den Tisch. Finde jedes Stück, du Idiot, nicht eines darf liegen bleiben. Dummkopf, Dummkopf! Er sammelte sie ein. Habe ich sie alle? Er betrachtete sie auf dem Tisch vor sich. Wieder suchte er unter dem Tisch, unter den Stühlen und Vitrinen, fand im Licht eines Streichholzes ein {55}weiteres Stück und begann jeden kleinen Splitter zu polieren, als wäre er ein kostbarer Stein. Er legte sie alle fein säuberlich auf den glänzend polierten Tisch.

»Eine wunderschöne Keramik, Acton. Nur zu, fass sie an.«

Er zog das Leinentuch heraus und wischte es ab und wischte die Tische und Stühle und Türgriffe und Fensterscheiben und Fenstersimse und Vorhänge und wischte den Fußboden und fand heftig atmend, keuchend die Küche und zog seine Weste aus und seine Handschuhe zurecht und wischte das glitzernde Chrom …»Ich möchte dir mein Haus zeigen, Acton«, sagte Huxley. »Komm …« Und er wischte all das Geschirr und die Silberhähne und den Mixbecher, denn er hatte nun vergessen, was er angefasst hatte und was nicht. Huxley und er hatten sich lange hier in der Küche aufgehalten – Huxley stolz auf ihre Ausstattung und bemüht, seine Nervosität angesichts eines potentiellen Totschlägers zu verbergen, und vielleicht wollte {56}er die Messer in der Nähe haben, falls er sie brauchte. Sie hatten müßig herumgestanden, diesen und jenen und noch einen Gegenstand berührt – er konnte sich unmöglich erinnern, welchen, wie viele oder wie lange –, und er machte die Küche fertig und kam in das Zimmer, in dem Huxley lag.

Er schrie auf.

Er hatte vergessen, die vierte Wand des Zimmers zu waschen. Und während er fort war, waren die kleinen Spinnen aus der vierten, ungewaschenen Wand hervorgekommen, liefen nun über die schon gesäuberten Wände und machten sie wieder schmutzig! An der Decke, am Kronleuchter, in den Ecken, am Boden hingen eine Million spiralförmiger kleiner Netze und blähten sich bei seinem Schrei! Winzig, winzig kleine Netze, nicht größer – welche Ironie – als sein … Finger!

Als er genauer hinsah, waren die Netze auch über den Bilderrahmen gewoben, über die Obstschale, über die Leiche, den {57}Fußboden, Fingerabdrücke betasteten das Papiermesser, zogen Schubladen heraus, fassten die Tischfläche an, fassten an, fassten an und fassten alles überall an. Er polierte den Boden, wie wild, wie wild. Er rollte die Leiche herum und weinte über ihr, während er sie wusch, und er stand auf und ging hinüber und polierte die Früchte am Grund der Schale. Dann stellte er einen Stuhl unter den Kronleuchter und polierte jedes der kleinen Feuer, die von ihm herabhingen, und schüttelte ihn wie ein kristallenes Tamburin, bis er in der Luft hin und her schwang wie eine Glocke. Dann sprang er vom Stuhl herunter und packte die Türgriffe und stieg auf weitere Stühle und putzte die Wände höher und höher hinauf und lief in die Küche und holte den Besen und wischte die Spinnweben von der Decke und polierte die untersten Früchte in der Schale und wusch die Leiche, die Türgriffe und die Silberbestecke und fand das Treppengeländer im Flur und folgte dem Treppengeländer nach oben.

{58}Drei Uhr! Überall tickten Uhren mit grausamer, mechanischer Eindringlichkeit! Das Haus hatte unten zwölf Räume und oben acht. Er berechnete, wie viele, viele Meter Raum und Zeit er brauchen würde. Hundert Stühle, sechs Sofas, siebenundzwanzig Tische, sechs Radios. Und darunter und darauf und dahinter. Er riss Möbelstücke von den Wänden fort und wischte schluchzend jahrealten Staub ab, stolperte und folgte dem Treppengeländer weiter die Stufen hinauf, nahm in die Hand, wischte weg, rieb und polierte, denn wenn er nur einen kleinen Fingerabdruck hinterließ, würde der sich fortpflanzen und eine Million weitere hervorbringen! – dann musste er die Arbeit noch einmal tun, und jetzt war es vier Uhr – seine Arme schmerzten, und seine Augen waren geschwollen und blickten starr, und er bewegte sich schwerfällig auf fremden Beinen, den Kopf gesenkt, die Arme bewegten sich, wischten, rieben, ein Schlafzimmer nach dem andern, einen Schrank nach dem andern …

{59}Sie fanden ihn an jenem Morgen um halb sieben.

In der Dachkammer.

Das ganze Haus war auf Hochglanz poliert. Vasen strahlten wie Glassterne. Stühle waren abgeschrubbt. Bronze, Messing und Kupfer, alles glitzerte. Fußböden schimmerten, Treppengeländer blitzten.

Alles funkelte. Alles strahlte, alles war hell!

Sie fanden ihn in der Dachkammer; er polierte die alten Koffer und die alten Rahmen und die alten Stühle und die alten Kinderwagen und Spielsachen und Spieldosen und Vasen und Bestecke und Schaukelpferde und staubigen Münzen aus dem Bürgerkrieg. Er hatte die Dachkammer fertig, als der Polizeibeamte mit einer Pistole hinter ihm eintrat.

»Geschafft!«

Auf dem Weg aus dem Haus rieb Acton den Griff der Eingangstür mit seinem Taschentuch ab und schlug sie triumphierend zu!

{60}Dunkel waren sie und goldäugig

Das Metall des Raumschiffes kühlte im Wind über den Wiesen ab. Das Dach öffnete sich mit einem dumpfen Knall. Aus dem uhrwerkähnlichen Innenraum kamen ein Mann, eine Frau und drei Kinder hervor. Die übrigen Passagiere zerstreuten sich flüsternd auf der Marswiese und ließen die Familie allein.

Der Mann spürte, wie sein Haar flatterte und die Gewebe seines Körpers sich fest zusammenzogen, als stünde er in einem Vakuum. Seine Frau schien in Rauch vor ihm davonzuwirbeln. Die Kinder, kleine Sämlinge, konnten jeden Augenblick in alle Marslande davongetrieben werden.

Die Kinder blickten zu ihm auf, wie {61}Menschen zur Sonne aufblicken, um zu sehen, wie spät es ist. Sein Gesicht war kalt.

»Was ist los?«, fragte seine Frau.

»Lass uns wieder ins Raumschiff einsteigen.«

»Und wieder zur Erde zurückfliegen?«

»Ja. Horch!«

Der Wind blies, als wollte er ihre Identität zerfetzen. Die Marsluft konnte die Seele aus einem heraussaugen wie Mark aus einem weißen Knochen. Der Mann hatte das Gefühl, als sei er in ein chemisches Präparat hineingetaucht, das seinen Intellekt auflösen und seine Vergangenheit verbrennen würde.

Sie betrachteten die Marshügel, die die Zeit mit einer erdrückenden Last von Jahren abgetragen hatte. Sie sahen die alten Städte, die in den Wiesen verloren lagen wie zarte Kinderknochen zwischen wehenden Grasbüscheln.

»Kopf hoch, Harry«, sagte seine Frau. »Es ist zu spät. Wir haben sechzig Millionen Meilen zurückgelegt.«

{62}Die blonden Kinder riefen laut zur tiefen Kuppel des Marshimmels hinauf. Es kam keine Antwort, nur das Sausen des Windes im steifen Gras war zu hören.

Er hob das Gepäck mit kalten Händen auf. »Kommt hierher«, sagte er – ein Mann am Rand eines Meeres, bereit, hineinzuwaten und zu ertrinken.

Sie gingen in die Stadt.

 

Sie hießen Bittering: Harry und seine Frau Cora und ihre Kinder Dan, Laura und David. Sie bauten eine kleine weiße Hütte und frühstückten gut, aber die Furcht verließ sie nie. Sie war bei jedem nächtlichen Gespräch, jeden Morgen, wenn sie aufwachten, bei ihnen wie ein dritter, unerwünschter Partner.

»Ich komme mir vor wie ein Salzkristall, der von einem Bergbach fortgespült wird«, sagte er. »Wir gehören nicht hierher. Wir sind Erdenbewohner. Dies ist der Mars. Er ist für die Marsmenschen bestimmt. Um {63}Himmels willen, Cora, lass uns Fahrkarten kaufen und nach Hause fliegen!«

Aber sie schüttelte nur den Kopf. »Eines Tages zerstört die Atombombe die Erde. Dann sind wir hier sicherer.«

»Sicher und wahnsinnig!«

Tick-tack, sieben Uhr, sang die Stimme der Uhr, Zeit aufzustehen. Sie standen auf.

Aus irgendeinem Grunde untersuchte Mr. Bittering jeden Morgen das ganze Haus – den Herd, die roten Geranien in den Töpfen –, als erwarte er, dass irgendetwas fehlte. Die Morgenzeitung kam noch druckfeucht mit dem Sechs-Uhr-Raumschiff. Er brach das Siegel und entfaltete sie an seinem Platz am Frühstückstisch. Er zwang sich, heiter zu sein.

»Die Zeit der Kolonisierung kommt wieder«, erklärte er. »Tja, in zehn Jahren haben wir eine Million Erdenbewohner auf dem Mars. Große Städte und alles! Sie haben gesagt, wir würden scheitern und unsere Invasion würde die Marsmenschen verstimmen. {64}Aber haben wir etwa irgendwelche Marsleute gefunden? Nicht eine lebende Seele! Wir fanden nur ihre leeren Städte, niemand darin, stimmt’s?«

Ein Windstrom ergoss sich über das Haus. Als die Fenster zu klappern aufhörten, schluckte Mr. Bittering und sah die Kinder an.

»Ich weiß nicht«, sagte David. »Vielleicht gibt es Marsmenschen, die wir nicht sehen. Nachts meine ich manchmal, ich höre sie. Ich höre den Wind. Der Sand schlägt an mein Fenster. Dann habe ich Angst. Und ich sehe die Städte dort oben in den Bergen, wo die Marsmenschen vor langer Zeit wohnten. Und ich bilde mir ein, ich sehe auch, wie sich in diesen Städten etwas bewegt, Papa. Ich möchte wissen, ob die Martianer etwas dagegen haben, dass wir herkommen.«

»Unsinn!« Mr. Bittering schaute aus dem Fenster. »Wir sind saubere, anständige Leute. In allen toten Städten hausen irgendwelche Geister. Erinnerungen, meine ich.« Er starrte {65}zu den Hügeln hinüber. »Man sieht eine Treppe und fragt sich, wie die Marsmenschen aussahen, wenn sie hinaufgingen, man sieht Bilder von ihnen und fragt sich, wer wohl der Maler war. So erschafft man in Gedanken ein kleines Gespenst, eine Erinnerung. Das ist ganz natürlich. Die Einbildung.« Er unterbrach sich. »Du bist doch nicht etwa in den Ruinen herumgeklettert, wie?«

»Nein, Papa.« David blickte auf seine Schuhe.

»Pass auf, dass du ihnen nicht zu nahe kommst. Reich mir die Marmelade.«

»Trotzdem«, sagte der kleine David, »möchte ich wetten, dass was passiert.«

 

Am Nachmittag desselben Tages passierte etwas.

Laura stolperte heulend durch die Siedlung. Sie stürzte blinden Blicks auf die Veranda.

»Mutter, Vater – Krieg auf der Erde!«, schluchzte sie. »Eben gerade kam eine {66}Funknachricht. Atombombe traf New York! Alle Raumschiffe explodiert. Es gibt keine Raumschiffe mehr zum Mars, nie mehr!«

»O Harry!« Die Mutter umklammerte ihren Mann und ihre Tochter.

Laura weinte. »Bist du ganz sicher, Laura?«, fragte der Vater ruhig.

Laura weinte. »Jetzt sitzen wir für immer hier auf dem Mars fest!«

Lange Zeit hörte man nur den Wind des Spätnachmittags.

Allein, dachte Bittering. Wir sind nur etwa tausend Menschen. Kein Weg zurück. Kein Ausweg. Kein Weg. Schweiß rieselte ihm über Gesicht, Hände und Körper. Er war durchnässt von der Hitze der Furcht. Am liebsten hätte er Laura geschlagen und sie angeschrien: »Nein, du lügst! Die Raumschiffe kommen zurück!« Stattdessen zog er ihren Kopf an sich und sagte: »Die Raumschiffe kommen schon eines Tages wieder durch.«

»Vater, was sollen wir machen?«

»Weiter unsere Arbeit tun, natürlich. {67}Ernten und Kinder großziehen. Warten. Durchhalten, bis der Krieg zu Ende ist und die Raumschiffe wiederkommen.«

Die beiden Jungen erschienen auf der Veranda.

»Kinder«, sagte der Vater und blickte über sie hinweg. »Ich muss euch etwas sagen.«

»Wir wissen es schon«, sagten sie.

 

In den nächsten Tagen wanderte Bittering oft durch den Garten und stand dort in seiner Furcht allein. Solange die Raumschiffe noch ein silbernes Netz über den Weltraum webten, hatte er sich mit dem Mars abfinden können. Denn er hatte sich stets gesagt: Morgen kann ich mir eine Fahrkarte kaufen, wenn ich will, und zur Erde zurückkehren.

Aber jetzt war das Netz nicht mehr da, und die Raumschiffe lagen irgendwo, auseinandergeborsten, Haufen von geschmolzenen Trägern und aufgerolltem Draht. Die Erdenbewohner waren dem fremden Mars ausgeliefert, dem Zimtstaub und den Weinlüften, {68}die Marssommer würden sie backen wie Ingwerbrot, und die Marswinter würden sie mit der Ernte speichern. Was würde aus ihnen und den anderen werden? Auf diesen Augenblick hatte der Mars gewartet. Jetzt würde er sie verschlingen.

Mr. Bittering kniete, mit einem Spaten in den nervösen Händen, an einem Blumenbeet nieder. Arbeite, dachte er. Arbeite und vergiss.

Er blickte zu den Marsbergen empor. Er dachte an die stolzen alten Marsnamen, die jene Gipfel einst getragen hatten. Vom Himmel gefallene Menschen hatten auf die Hügel, die Flüsse, die Meere des Mars geblickt, die trotz ihrer Namen namenlos geblieben waren. Einst hatten die Marsbewohner hier Städte gebaut und ihnen Namen gegeben; sie hatten Berge bestiegen, Meere befahren und ihnen Namen gegeben. Die Berge schmolzen, die Meere trockneten aus, die Städte stürzten ein. Dennoch beschlich die Erdenbewohner ein geheimes Schuldgefühl, wenn {69}sie diesen alten Hügeln und Tälern neue Namen gaben. Aber der Mensch lebt nun einmal von Symbolen und Bezeichnungen.

Mr. Bittering fühlte sich in seinem Garten unter der Marssonne furchtbar verlassen, ein gebeugter Anachronismus, der Blumen von der Erde in einen wilden Boden pflanzte.

Denk nach. Denk immerzu. Alles Mögliche. Vergiss die Erde, den Atomkrieg, die verlorenen Raumschiffe.

Er schwitzte. Er blickte sich um, niemand beobachtete ihn. Er nahm seine Krawatte ab. Ziemlich kühn, dachte er. Erst legst du das Jackett ab, dann die Krawatte. Er hängte sie säuberlich auf einen Pfirsichbaum, den er als Sprössling aus Massachusetts mitgebracht hatte.

Er kehrte wieder zu seiner Philosophie der Namen und Berge zurück. Die Erdleute hatten die Namen geändert. Jetzt gab es auf dem Mars Hormel-Täler, Roosevelt-Meere, Ford-Hügel, Vanderbilt-Plateaus, Rockefeller-Flüsse. Das war nicht recht. Die {70}amerikanischen Siedler waren klüger vorgegangen, sie hatten alte indianische Prärienamen übernommen: Wisconsin, Minnesota, Idaho, Ohio, Utah, Milwaukee, Osseo. Alte Namen, alte Bedeutungen.

Er spähte unruhig zu den Bergen hinüber und dachte: Seid ihr dort oben? All die Toten, die Marsmenschen? Nun, wir sind allein hier, abgeschnitten! Kommt herunter und vertreibt uns! Wir sind hilflos!

Der Wind blies einen Schauer von Pfirsichblüten herab.

Er streckte seine sonnengebräunte Hand aus und schrie leise auf.

Er berührte die Blüten, hob sie auf, drehte sie um. Er berührte sie wieder und wieder. Dann rief er nach seiner Frau.

»Cora!«

Sie erschien am Fenster. Er lief zu ihr hinüber.

»Cora, schau dir diese Blüten an!«

Sie nahm sie in die Hand.

»Siehst du? Es sind nicht mehr dieselben! {71}Sie haben sich verändert! Es sind keine Pfirsichblüten mehr!«

»Ich finde sie ganz in Ordnung«, antwortete Cora.

»Sind sie aber nicht. Sie sind falsch! Ich weiß nicht mal, wie. Ein Blütenblatt, ein Blatt mehr, die Farbe, der Geruch!«

Die Kinder kamen heraus und sahen ihren Vater im Garten herumlaufen und Radieschen, Zwiebeln und Karotten aus den Beeten ziehen.

»Cora, komm her und schau!«

Sie reichten die Zwiebeln, Radieschen und Karotten von einem zum andern.

»Sehen sie etwa wie Karotten aus?«

»Ja … nein.« Cora zögerte. »Ich weiß nicht.«

»Sie haben sich verändert.«

»Vielleicht.«

»Du weißt, dass sie sich verändert haben! Zwiebeln und doch keine Zwiebeln, Karotten und doch keine Karotten. Der Geschmack genauso und dennoch anders. Der {72}Geruch: nicht, wie er früher war.« Er spürte, wie sein Herz heftiger schlug, und er hatte Angst. Er grub mit den Fingern in der Erde. »Cora, was geht hier vor? Was ist das? Wir müssen fort.« Er stürzte durch den Garten und berührte jeden Baum. »Die Rosen! Die Rosen werden grün!«

Sie standen da und betrachteten die grünen Rosen.

Zwei Tage später kam Dan hereingelaufen. »Kommt und seht euch die Kuh an. Ich war gerade beim Melken, da merkte ich es. Kommt mit!«

Sie standen im Schuppen und betrachteten ihre einzige Kuh.

Auf ihrem Kopf wuchs ein drittes Horn.

Und der Rasen vor ihrem Haus wurde langsam, unmerklich veilchenfarben. Samen von der Erde, aber er keimte in zartem Violett.

»Wir müssen fort«, sagte Bittering. »Wenn wir dieses Zeug essen, werden auch wir uns verändern – wer weiß, wie. Ich kann das {73}nicht zulassen. Da gibt’s nur eins: die Nahrung verbrennen!«

»Sie ist nicht vergiftet.«

»Doch. Heimlich, ganz heimlich. Leicht, ganz leicht. Wir dürfen sie nicht anrühren.«

Er blickte erschreckt zum Haus hinüber. »Sogar das Haus. Der Wind hat es irgendwie verwandelt. Die Luft hat es verbrannt. Der Nebel nachts. Die Bretter, alle verzogen und verkrümmt. Das ist nicht mehr das Haus eines Erdenmenschen.«

»Ach, das ist nur deine Einbildung!«

Er zog das Jackett an und band die Krawatte um. »Ich gehe in die Stadt. Wir müssen etwas tun. Ich komme gleich wieder.«

»Warte, Harry!«, rief seine Frau.

Aber er war schon fort.