Der illustrierte Mann - Ray Bradbury - E-Book

Der illustrierte Mann E-Book

Ray Bradbury

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Beschreibung

In Der illustrierte Mann steht ein Mann im Mittelpunkt, dessen ganzer Körper tätowiert ist. Aus diesen Tätowierungen hat Ray Bradbury eine Folge von achtzehn Geschichten über diese und andere Welten komponiert, mit Bildern, die so scharf sind wie die Nadel des Tätowierers und so farbig wie die Tinte, die in die Haut eingebracht wird.

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Seitenzahl: 360

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Ray Bradbury

Der illustrierte Mann

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Peter Naujack

Titel der 1951 bei

Doubleday & Company Inc., New York,

erschienenen Originalausgabe:

›The Illustrated Man‹

Copyright ©1951 by Ray Bradbury

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1962 im Diogenes Verlag

Die Übersetzung wurde 2008 für die

Ausgabe Ray Bradbury, ›Space Opera in drei Bänden‹,

überarbeitet

Umschlagzeichnung von

Edward Gorey

Für Vater, Mutter und Skip in Liebe

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20365 3 (16.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Inhalt

Prolog  [7]

Das Kinderzimmer  [15]

The Veldt

Kaleidoskop  [39]

Kaleidoscope

Die andere Haut  [54]

The Other Foot

Die Landstraße  [76]

The Highway

Der Mann  [83]

The Man

Der lange Regen  [104]

The Long Rain

Der Raumfahrer  [128]

The Rocket Man

Die letzte Nacht der Welt  [147]

The Last Night of the World

Die Verbannten  [154]

The Exiles

[6]Kein Abend, kein Morgen…  [177]

No Particular Night or Morning

Der Fuchs und die Hasen  [194]

The Fox and the Forest

Der Besucher  [220]

The Visitor

Zementmixer  [242]

The Concrete Mixer

Marionetten AG[275]

Marionettes, Inc.

Die Stadt  [288]

The City

Stunde Null  [300]

Zero Hour

Das Raumschiff  [317]

[7]Prolog

An einem warmen Nachmittag, Anfang September, begegnete ich dem illustrierten Mann zum ersten Mal.

Ich befand mich auf der letzten Etappe einer zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin und trottete über eine Asphaltstraße. Am späten Nachmittag machte ich Rast, aß etwas Speck, Brot und ein Rosinenbrötchen und wollte mich gerade hinlegen und lesen, als der illustrierte Mann über die Hügelkuppe trat und sich einen Augenblick lang gegen den Himmel abzeichnete.

Ich wusste zu jenem Zeitpunkt noch nicht, dass er illustriert war; ich sah lediglich, dass er groß war, früher einmal sehnig und muskulös gewesen sein musste, jetzt aber aus irgendeinem Grunde dick zu werden schien. Ich erinnere mich, dass er lange Arme und dicke Hände hatte, sein Gesicht jedoch wie das eines Kindes auf einem zu gewaltigen Körper aussah.

Er schien meine Gegenwart nur zu spüren, denn als er zu sprechen begann, sah er mich nicht an.

»Wissen Sie, wo ich einen Job bekommen kann?«

»Bedaure, nein«, antwortete ich.

»Seit vierzig Jahren hab ich keinen dauerhaften Job mehr gehabt«, sagte er.

Obwohl der Abend heiß war, trug er sein wollenes Hemd [8]bis an den Hals geschlossen. Die Ärmel waren heruntergerollt und über seinen dicken Handgelenken zugeknöpft. Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Gesicht, doch er machte keine Anstalten, sein Hemd zu öffnen.

»Na ja«, meinte er schließlich, »eigentlich könnte ich genauso gut hier wie irgendwo anders die Nacht verbringen. Haben Sie etwas gegen Gesellschaft?«

»Ich habe noch was von meinem Proviant übrig, das ich Ihnen gern anbieten würde«, erwiderte ich.

Schwerfällig und mit einem Grunzen setzte er sich. »Es wird Ihnen noch leid tun, dass Sie mich zum Bleiben aufgefordert haben«, sagte er. »Bisher hat’s noch jeder bedauert. Deshalb bin ich ja auf der Wanderschaft. Und das Anfang September, wo es überall Jahrmärkte gibt. Auf jedem Kleinstadtrummelplatz sollte ich das Geld nur so schaufeln können, dabei sitz ich hier, ohne jede Aussicht.«

Er zog einen gewaltigen Schuh aus und betrachtete ihn eingehend. »Gewöhnlich behalte ich so einen Job zehn Tage lang. Und dann passiert etwas, und ich werde rausgeschmissen. Mittlerweile ist es so weit, dass kein Schausteller in ganz Amerika mich mit der Kohlenzange anfassen möchte.«

»Und der Grund dafür?«, fragte ich.

Als Antwort öffnete er langsam sein Hemd. Mit geschlossenen Augen machte er, einen nach dem andern, alle Knöpfe auf. Er ließ seine Hand hineingleiten und tastete über seine Brust. »Sonderbar«, sagte er, die Augen noch immer geschlossen. »Man kann sie nicht fühlen, aber sie sind doch da. Ich hoffe unentwegt, dass ich eines Tages hinsehen werde und sie sind verschwunden. Stundenlang trabe ich an den heißesten Tagen schmorend durch die Sonne und hoffe, dass [9]mein Schweiß sie wegwaschen wird, dass die Sonne sie fortbrennt, aber am Abend sind sie immer noch da.« Er drehte sich ein wenig zu mir und zog mit beiden Händen das Hemd über seiner Brust weit auseinander. »Sind sieauch jetzt noch da?«

Ich hielt unwillkürlich den Atem an. »Ja«, sagte ich nach einer langen Pause. »Sie sind immer noch da.«

Die Illustrationen.

»Ein weiterer Grund, warum ich mein Hemd bis zum Kragen zugeknöpft lasse«, sagte er, »sind die Kinder. Sie laufen mirauf den Landstraßen nach. Alle wollen die Bilder sehen, und doch möchte niemand sie sehen.«

Er zog sein Hemd aus und legte es zusammen. Von einem blauen, eintätowierten Ring um seinen Hals war er bis zur Gürtellinie mit Illustrationen bedeckt.

»Und genau so geht’s weiter«, erriet er meine Gedanken. »Ich bin am ganzen Körper bebildert. Sehen Sie.« Er öffnete seine Hand. Auf der Innenseite war eine frischgeschnittene Rose zu sehen, zwischen deren zartrosa Blütenblättern kristallklare Tautropfen standen. Ich streckte meine Hand aus, um sie zu berühren, aber es war nur eine Abbildung.

Ich kann kaum sagen, wie überwältigt ich dasaß und ihn anstarrte; der ganze Mann floss förmlich über von Raketen, Quellen und Leuten, so echt in den kleinsten Einzelheiten und in den Farben, dass ich leise und gedämpfte Stimmen aus den Menschenmengen, die seinen Körper bewohnten, murmeln zu hören glaubte. Wenn sein Fleisch sich bewegte, zuckten die kleinen Münder, blinzelten die winzigen grüngoldenen Augen, gestikulierten die winzigen rosa Hände. Gelbe [10]Wiesen und blaue Flüsse, Berge und Sterne und Sonnen und Planeten erstreckten sich wie in einer Milchstraße über seine Brust. Die Menschen verbreiteten sich in zwanzig oder mehr sonderbaren Gruppierungen über seine Arme und Schultern, seinen Rücken, die Seiten und die Handgelenke und auch über seinen Bauch. Man fand sie in Wäldern von Haaren, versteckt zwischen einer Konstellation von Sommersprossen oder aus den Achselhöhlen lugend, mit glitzernden kleinen Diamantaugen. Jeder schien völlig versunken in seine eigene Betriebsamkeit; jedes Gesicht war vergleichbar mit einem Porträt von Meisterhand.

»Einfach wunderbar!«, rief ich aus.

Wenn ich diese Illustrationen nur besser beschreiben könnte! Hätte El Greco in seiner Blütezeit Miniaturen gemalt, nicht größer als eine Hand, unendlich detailliert mit seinen schwefligen Farben, seiner Exaktheit und seinem Gespür für Anatomie – der Körper dieses Mannes hätte seine Leinwand sein können. Die Farben brannten in drei Dimensionen; sie waren Fenster, die den Blick auf eine feurige Wirklichkeit freigaben. Hier, zusammengerafft auf einer einzigen Leinwand, befanden sich die schönsten Szenen des Universums; der Mann war eine wandernde Kunstgalerie. Das war nicht die Arbeit eines billigen Rummelplatztätowierers mit nur drei Farben und Whiskyatem. Es war das Werk eines Genies, voll vibrierenden Lebens, klar und wunderschön.

»Oh ja«, sagte der illustrierte Mann; »ich bin so stolz auf meine Illustrationen, dass ich sie am liebsten wegbrennen möchte. Ich hab’s schon mit Sandpapier versucht, mit Salzsäure, mit dem Messer…« Die Sonne sank hinter den Horizont. Der Mond stand bereits hoch im Osten.

[11]»Sie müssen nämlich wissen«, fuhr der illustrierte Mann fort, »diese Bilder sagen die Zukunft voraus.«

Ich schwieg.

»Solange die Sonne scheint, ist alles in Ordnung«, sprach er weiter. »Tagsüber könnte ich schon in einer Schaubude arbeiten. Aber nachts – nachts fangen die Bilder an, sich zu bewegen. Sie verändern sich.«

Ich muss unwillkürlich gelächelt haben. »Wie lange sind Sie schon so – illustriert?«

»Im Jahr 1900,als ich zwanzig war und in einem Zirkus arbeitete, brach ich mir ein Bein. Damit war ich eine Zeitlang lahmgelegt. Ich musste einfach etwas unternehmen, um nicht völlig zu versauern, und da beschloss ich, mich tätowieren zu lassen.«

»Aber wer hat Sie tätowiert? Was ist mit dem Künstler geschehen?«

»Sie ging wieder zurück in die Zukunft«, antwortete er. »Wirklich, ich meine es ernst. Es war eine alte Frau. Ich habe sie in einem kleinen Haus mitten in Wisconsin kennengelernt, irgendwo in dieser Gegend, nicht weit weg von hier. Eine kleine alte Hexe – einmal sah sie tausend Jahrealt aus und im nächsten Augenblick wieder wie zwanzig. Sie erzählte mir, sie könne in der Zeit reisen. Damals hab ich gelacht. Nun, heute weiß ich es besser.«

»Wie sind Sie ihr begegnet?«

Er erzählte es mir. Er hatte ihr handgemaltes Schild am Straßenrand gesehen: HAUT-ILLUSTRATIONEN! Illustrationen anstelle von Tätowierungen! Künstlerisch! Und so hatte er die ganze Nacht gesessen, während ihre magischen Nadeln ihm Wespenstiche und sanftere Mückenstiche [12]versetzten. Am nächsten Morgen sah er aus wie ein Mann, den man in eine Zwanzig-Farben-Druckerpresse gestoßen und über und über bunt und voller Bilder wieder herausgeholt hatte.

»Seit fünfzig Jahren jage ich hinter ihr her«, sagte er und streckte die Hände weit von sich in die Luft. »Wenn ich diese Hexe jemals finde, bringe ich sie um!«

Die Sonne war untergegangen. Die ersten Sterne schienen, und das Mondlicht überstrahlte Wiesen und Weizenfelder. Die Bilder des illustrierten Mannes schimmerten wie glimmende Holzkohlen im Zwielicht, wie verstreute Rubine und Smaragde, in Farben wie von Rouault und Picasso und den langen, schmalen Gestalten von El Greco.

»Man wirft mich hinaus, wenn meine Bilder sich bewegen. Die Leute mögen es nicht, wenn sich gewalttätige Dinge in meinen Illustrationen abspielen. Jede enthält eine kleine Geschichte. Wenn man sie beobachtet, erzählen sie einem in ein paar Minuten ihre Geschichte. In drei Stunden kann man achtzehn oder zwanzig Geschichten auf meinem Körper aufgeführt sehen, Stimmen hören und Gedanken mitdenken. Alles ist da und wartet nur darauf, dass Sie zusehen. Aber am wichtigsten ist eine ganz besondere Stelle.« Er drehte mir den Rücken zu. »Sehen Sie? Auf meinem rechten Schulterblatt ist keine richtige Illustration – nur so ein Durcheinander.«

»Ja.«

»Wenn ich lange genug mit jemandem zusammen bin, verschwimmt diese Stelle und wird dann klar. Wenn es eine Frau ist, tritt ihr Bild etwa nach einer Stunde zum Vorschein und zeigt ihr ganzes Leben – was ihr bevorsteht, wie sie [13]sterben wird, wie sie mit sechzig Jahren aussehen wird. Und wenn es ein Mann ist, ist eine Stunde später sein Bild auf meinem Rücken. Es zeigt, wie er von einer Klippe stürzt oder unter einem Zug stirbt. Und wieder wirft man mich hinaus.«

Während er sprach, wanderten seine Hände unablässig über die Illustrationen, als wolle er sie zurechtrücken, Staub fortwischen – mit den Bewegungen eines Kunstsachverständigen, eines Kunstliebhabers. Dann legte er sich zurück und streckte sich bequem im Mondlicht aus. Es war eine warme Nacht. Kein Windhauch regte sich, und die Luft war drückend. Auch ich hatte mein Hemd ausgezogen.

»Und Sie haben die Alte tatsächlich nie wieder gesehen?«

»Nie.«

»Und Sie sind überzeugt, dass sie aus der Zukunft kam?«

»Wie sonst hätte sie diese Geschichten kennen können, die sie mir auf den Leib gemalt bat?«

Ermüdet schloss er die Augen. Seine Stimme wurde leiser. »Manchmal, nachts, fühle ich sie – die Bilder; wie Ameisen, die über meine Haut krabbeln. Ich weiß dann, dass sie tun, was sie tun müssen. Ich sehe überhaupt nicht mehr hin. Ich versuche nur zu ruhen. Ich schlafe nicht viel. Sehen Sie auch nicht hin, ich warne Sie. Drehen Sie sich auf die andere Seite, wenn Sie schlafen.«

Ich legte mich etwa einen Meter entfernt von ihm hin. Er schien mir nicht gefährlich zu sein, und die Bilder waren wunderbar. Andernfalls hätte ich mich vielleicht versucht gefühlt, vor so einem Schwätzer das Weite zu suchen. Aber diese Illustrationen… meine Augen schwelgten förmlich darin. Jeder, der solche Dinge auf seinem Körper trägt, würde davon ein wenig verrückt werden.

[14]Die Nacht war ruhig. Unter dem Licht des Mondes konnte ich die Atemzüge des illustrierten Mannes hören. Grillen zirpten leise zwischen den fernen Hügelketten. Ich hatte mich auf die Seite gelegt, so dass ich die Illustrationen beobachten konnte. Vielleicht eine halbe Stunde verstrich. Ob der illustrierte Mann schlief oder nicht, konnte ich nicht sagen; doch plötzlich hörte ich ihn flüstern: »Sie bewegen sich, nicht wahr?«

Ich wartete eine Minute.

Dann antwortete ich: »Ja.«

Die Bilder bewegten sich, eins nach dem andern, jedes für ein oder zwei kurze Minuten. Hier im Mondlicht, mit leise anklingenden Gedanken und dem fernen Murmeln der Seen, schien jedes ein kleines Drama aufzuführen. Ob es nun eine, zwei oder drei Stunden dauerte, bis alle durchgespielt waren, konnte ich nur schwer sagen. Ich weiß nur, dass ich völlig fasziniert dalag und mich nicht regte, während die Sterne durch den Himmel kreisten.

Achtzehn Illustrationen, achtzehn Erzählungen. Ich zählte sie, eine nach der andern.

Die erste Szene, die meinen Blick bannte, war ein großes Haus mit zwei Leuten darin. Ich sah eine Kette von Aasgeiern durch einen brennenden fleischfarbenen Himmel fliegen, ich sah gelbe Löwen, und ich hörte Stimmen.

[15]Das Kinderzimmer

»George, ich möchte gern, dass du dir mal das Kinder zimmer ansiehst.«

»Stimmt etwas nicht damit?«

»Ich weiß nicht.«

»Na also.«

»Ich möchte nur, dass du es dir einmal ansiehst, das ist alles – oder einen Psychologen zuziehst, damit der es prüft.«

»Was sollte wohl ein Psychologe mit einem Kinderzimmer anfangen?«

»Du weißt sehr gut, dass er etwas tun kann.« Seine Frau blieb in der Mitte der Küche stehen und blickte zum Herd hinüber, der geschäftig summend selbsttätig das Abendessen für vier Personen zubereitete.

»Ich meine nur, das Kinderzimmer ist jetzt einfach ganz anders als früher.«

»Also gut, lass uns einen Blick hineinwerfen.«

Sie gingen den Korridor ihres schalldichten ›Lebensglück-Hauses‹ entlang, das sie, fertig eingerichtet, dreißigtausend Dollar gekostet hatte, dieses Haus, das sie ankleidete und fütterte, sie in den Schlaf wiegte und sang und gut zu ihnen war. Ihre Schritte lösten irgendwo einen Kontakt aus, und das Licht im Kinderzimmer ging an, als sie noch etwa drei Meter davon entfernt waren. Auf ähnliche Weise [16]hatte während ihres Ganges durch die Korridore eine lautlose Automatik die Lampen vor und hinter ihnen an- und ausgeschaltet.

»Nun«, sagte George Hadley.

Sie standen auf dem mit Strohmatten ausgelegten Fußboden des Kinderzimmers. Es war etwa zwölf mal zwölf Meter groß und neun Meter hoch; es hatte noch einmal halb so viel gekostet wie das ganze übrige Haus. Aber »nichts ist gut genug für unsere Kinder«, hatte George gesagt.

Das Kinderzimmer war stumm. Es war leer wie eine Lichtung im Dschungel an einem heißen Mittag. Die Wände waren leer und zweidimensional. Doch jetzt, während George und Lydia Hadley in der Mitte des Raumes standen, begannen die Wände zu surren und sich scheinbar in kristallklare Weite aufzulösen, und langsam erschien vor ihren Augen eine afrikanische Steppe, dreidimensional nach allen Seiten, farbig und vollkommen natürlich bis zum letzten Kieselstein und Grashalm. Die Decke über ihnen wurde zu einem unendlich weiten Himmel mit einer heißen gelben Sonne.

George Hadley fühlte den Schweiß auf seine Stirn treten.

»Lass uns wieder hinausgehen«, sagte er. »Diese Sonne ist mir etwas zu wirklich. Aber sonst finde ich nichts daran auszusetzen.«

»Bleib noch einen Augenblick, du wirst’s schon sehen«, erwiderte seine Frau.

Die verborgenen Odorophone begannen jetzt den beiden in der Mitte der ausgedorrten Steppe stehenden Menschen Gerüche entgegenzublasen: den heißen, strohigen Geruch trockenen Grases, den Duft nach kühlem Grün von dem [17]versteckten Wasserloch, die strenge, harte Ausdünstung von Tieren – und der Geruch nach Staub, wie von rotem Paprika, hing in der hitzeflimmernden Luft. Und dann die Geräusche: das dumpfe Dröhnen von Antilopenhufen in der Ferne, das papierne Rauschen von Geierschwingen. Ein Schatten zog über den Himmel. Der Schatten strich über George Hadleys nach oben gerichtetes, schweißbedecktes Gesicht.

»Scheußliche Tiere«, hörte er seine Frau sagen.

»Aasgeier.«

»Siehst du, dort sind die Löwen, weit hinten, dort drüben. Sie gehen gerade zum Wasserloch hinüber. Sie haben eben gefressen«, sagte Lydia. »Ich weiß nur nicht, was.«

»Irgendein Tier.« George Hadley hob die Hand, um seine zusammengekniffenen Augen gegen das gleißende Licht abzuschirmen. »Ein Zebra vielleicht oder eine junge Giraffe.«

»Bist du sicher?« Die Stimme seiner Frau klang merkwürdig angespannt.

»Nein, um es genau sagen zu können, ist es ein bisschen zu spät«, antwortete er amüsiert. »Nichts mehr zu sehen als abgenagte Knochen und Aasgeier, die sich auf die Reste stürzen.«

»Hast du den Schrei gehört?«, fragte sie.

»Nein.«

»Vor einer Minute?«

»Tut mir leid, nein.«

Die Löwen kamen auf sie zu. Und wieder verspürte George Hadley grenzenlose Bewunderung für das Genie des Mannes, der dieses Zimmer erdacht hatte. Ein Wunder an physikalisch-technischen Funktionen zu einem [18]lächerlichen Preis. Jede Familie sollte so ein Zimmer besitzen. Nun ja, gelegentlich erschreckte und ängstigte einen die klinische Genauigkeit, und ließ die Haare zu Berge stehen, doch die meiste Zeit bot es einen gewaltigen Spaß – nicht nur für den Sohn und die Tochter, sondern auch für einen selbst, wenn man das Bedürfnis nach einem Tapetenwechsel verspürte, einer kleinen Spritztour in ein fremdes Land. Bitte sehr, hier ist es!

Und hier waren jetzt die Löwen, etwa fünf Meter entfernt und so wirklich, so beängstigend und erstaunlich wirklich, dass man glaubte, ihr Fell an den Händen prickeln zu spüren, und die Kehle von dem staubigen Raubtiergeruch ihrer erhitzten Pelze wie ausgetrocknet war. Ihr leuchtendes Gelbbraun hatte die Farbe feiner französischer Wandteppiche, das Gelbbraun von Löwen und Steppengras, und der rasselnde Atem der Tiere klang wie gedämpftes Gezeitenrollen durch den stillen Mittag, während der Geruch rohen Fleisches aus ihren hechelnden, geifernden Rachen zu ihnen herüberwehte.

Die Löwen standen da und starrten George und Lydia Hadley aus furchterregenden grüngelben Augen an.

»Pass auf!«, schrie Lydia.

Die Löwen rannten auf sie zu.

Lydia fuhr herum und rannte los. George sprang instinktiv hinter ihr her. Draußen im Korridor, als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatten, stand sie weinend und er lachend da, und beide waren entsetzt über die Reaktion des anderen.

»George!«

»Lydia! Oh, meine liebe, arme, süße Lydia!«

[19]»Sie haben uns beinahe erwischt!«

»Schemen, Lydia, vergiss das nicht; nichts als Schemen. Ich muss ja zugeben, dass sie sehr echt aussehen – Afrika im eigenen Wohnzimmer–, aber das ist alles nur mehrdimensionaler hochreaktiver, hochempfindlicher Farbfilm und auf Band aufgezeichnete Wahrnehmungen hinter Glasscheiben. Odorophone und Geräuschkulisse, Lydia. Hier, nimm mein Taschentuch.«

»Ich habe Angst.« Sie trat zu ihm, presste sich an ihn und weinte. »Hast du’s nicht gesehen? Hast du’s nicht gefühlt?Es ist einfach zu echt.«

»Bitte, Lydia…«

»Du musst Wendy und Peter sagen, dass sie nichts mehr über Afrika lesen dürfen.«

»Selbstverständlich – selbstverständlich.« Er streichelte sie beruhigend.

»Versprichst du’s mir?«

»Gewiss doch.«

»Und du musst das Kinderzimmer für ein paar Tage abschließen, bis meine Nerven sich wieder beruhigt haben.«

»Du weißt, wie widerspenstig Peter in dieser Sache ist. Als ich ihn vor einem Monat damit bestrafte, das Kinderzimmer nur für ein paar Stunden abzuschließen – wie er sich da aufgeführt hat! Und Wendy auch. Das Kinderzimmer ist ihr Ein und Alles.«

»Es muss abgeschlossen werden, etwas anderes kommt nicht in Frage.«

»Also gut.« Widerwillig schloss er die mächtige Tür ab. »Du hast zu viel gearbeitet. Du brauchst ein bisschen Ruhe.«

»Ich weiß nicht – ich weiß nicht«, erwiderte sie, schneuzte [20]sich die Nase und setzte sich in einen Stuhl, der sofort zu schaukeln und sie zu beruhigen begann. »Vielleicht habe ich einfach nicht genug zu tun. Vielleicht habe ich zu viel Zeit zum Nachdenken. Warum schließen wir nicht das ganze Haus ein paar Tage ab und machen Ferien?«

»Du meinst, du möchtest für mich das Essen kochen?«

»Ja.« Sie nickte.

»Und meine Socken stopfen?«

»Ja.« Ungestüm nickend, sah sie ihn aus feuchten Augen an.

»Und das Haus saubermachen?«

»Ja, ja – oh ja!«

»Aber ich denke doch, wir haben dieses Haus gerade deshalb gekauft, damit wir das nicht selbst zu tun brauchen?«

»Das ist es ja gerade. Ich komme mir vor, als ob ich nicht hierher gehöre. Das Haus ist jetzt Hausfrau, Mutter und Kindermädchen. Kann ich mit einer afrikanischen Steppe konkurrieren? Kann ich die Kinder so gründlich und schnell baden und abschrubben, wie es unser automatisches Bad tut? Ich kann es nicht. Aber es geht nicht nur mir so. Auch dir. Du bist in letzter Zeit schrecklich nervös.«

»Ich nehme an, ich habe zu viel geraucht.«

»Du siehst aus, als ob du auch nicht wüsstest, was du mit dir in diesem Haus anfangen sollst. Jeden Vormittag rauchst du etwas mehr, jeden Nachmittag trinkst du etwas mehr, und jeden Abend brauchst du etwas mehr Schlafmittel. Auch du beginnst dich überflüssig zu fühlen.«

»Tu ich das?« Er machte eine Pause und versuchte in sich hineinzuhören, um zu erkennen, was wirklich in ihm vorging.

[21]»Oh, George!« Sie blickte an ihm vorbei auf die Tür des Kinderzimmers. »Diese Löwen können doch nicht dort heraus, nicht wahr?«

Er wandte den Kopf und sah die Tür erzittern, als ob irgendetwas von der anderen Seite dagegengesprungen wäre.

»Natürlich nicht«, erwiderte er.

Beim Abendessen blieben sie allein, denn Wendy und Peter besuchten eine 3-D-Ausstellung im Vergnügungspark am anderen Ende der Stadt und hatten über das Fernsehtelefon Bescheid gesagt, sie würden später kommen und die Eltern sollten ruhig schon zu essen beginnen. So saß George Hadley grübelnd am Esszimmertisch und sah zu, wie aus dessen technischen Eingeweiden Teller mit warmen Gerichten an der Oberfläche erschienen.

»Wir haben das Ketchup vergessen«, sagte er.

»Verzeihung«, antwortete eine leise Stimme aus dem Tisch, und eine Flasche mit Ketchup tauchte auf.

Den Kindern, dachte George Hadley, würde es nicht schaden, wenn man sie eine Zeitlang aus dem Kinderzimmer ausschloss. Zu viel von ein und demselben tat niemandem gut. Und es war ganz eindeutig, dass sich die Kinder ein wenig zu viel mit Afrika beschäftigt hatten. Diese Sonne. Er fühlte sie immer noch in seinem Nacken, wie eine heiße Pranke. Und die Löwen. Und der Blutgeruch. Fabelhaft, wie das Kinderzimmer die telepathischen Gedankenströme der Kinder auffing und Leben schuf, um alle ihre Wünsche zu erfüllen. Die Kinder dachten Löwen, und da waren Löwen. Die Kinder dachten Zebras, und da waren Zebras. Sonne – Sonne. Giraffen – Giraffen. Tod – und Tod.

[22]Diese letzte Vorstellung! Er kaute, ohne es zu schmecken, auf dem Fleisch herum, das der Tisch ihm geschnitten und vorgesetzt hatte. Todesgedanken. Sie waren reichlich jung für Todesgedanken, Wendy und Peter. Oder – nein, man war nie dafür zu jung, eigentlich. Lange bevor man wusste, was Tod bedeutete, wünschte man ihn jemand anderem. Kaum war man zwei Jahre alt, erschoss man andere mit Spielzeugpistolen.

Aber dies – die weite, heiße afrikanische Steppe – der furchtbare Tod im Rachen eines Löwen. Und die ständige Wiederholung.

»Wohin gehst du?«

Er gab Lydia keine Antwort. Gedankenverloren merkte er nicht, wie die Lampen lautlos vor ihm aufleuchteten und hinter ihm wieder verlöschten, während er auf die Kinderzimmertür zuschritt. Lauschend legte er das Ohr dagegen. In der Ferne brüllte ein Löwe.

Er schloss die Tür auf und drückte die Klinke. Gerade als er eintreten wollte, hörte er einen entfernten Schrei. Und kurz darauf weiteres Löwengebrüll, das jedoch rasch verstummte.

Er trat ein und war in Afrika. Wie oft hatte er im vergangenen Jahr die Tür geöffnet und war ins Wunderland getreten, mit Alice und der Falschen Schildkröte, oder hatte Aladin mit seiner Wunderlampe gesehen, oder Jack Kürbisköpfchen aus Oz, oder Doktor Doolittle, oder die Kuh, die über einen äußerst echt aussehenden Mond sprang – all die köstlichen Erfindungen einer Scheinwelt. Wie oft hatte er Pegasus durch den Himmel an der Decke fliegen sehen, oder bunte Feuerwerksfontänen, oder Engelsstimmen singen [23]hören. Aber jetzt, dieses gelblodernde Afrika, dieser Backofen mit Mord unter der sengenden Sonne! Vielleicht hatte Lydia recht. Vielleicht benötigten sie einen kleinen Urlaub von ihrer Phantasie, die für zehnjährige Kinder ein wenig zu wirklichkeitsnah zu werden begann. Es war in Ordnung, dass sie ihren Geist mit Phantasiegymnastik übten; aber wenn sich der lebhafte kindliche Geist auf eine Schablone festlegte…? Es schien ihm, als hätte er schon seit einem Monat von ferne Löwengebrüll gehört und den strengen Raubtiergeruch bis in sein Arbeitszimmer hinein wahrgenommen. Doch da er sehr beschäftigt gewesen war, hatte er sich nicht weiter darum gekümmert.

George Hadley stand allein inmitten einer afrikanischen Steppe. Die Löwen blickten von ihrem Fraß auf und beobachteten ihn. Der einzige Bruch in der vollkommenen Illusion war die offene Tür, durch die er seine Frau sehen konnte, die weit hinten im dunklen Korridor, wie ein gerahmtes Bild, geistesabwesend in ihrem Abendessen herumstocherte.

»Verschwindet«, sagte er zu den Löwen.

Sie verschwanden nicht.

Er kannte das Arbeitsprinzip des Zimmers genau. Man sandte seine Gedanken aus, und egal was man dachte, es nahm Gestalt an.

»Aladin und die Wunderlampe sollen erscheinen«, rief er ärgerlich.

Die Steppe blieb; die Löwen blieben.

»Komm schon, Zimmer! Ich will Aladin!«, befahl er.

Nichts geschah. Die Löwen in ihren hitzeflimmernden Fellen fraßen weiter.

[24]»Aladin!«

Er ging zum Abendessen zurück. »Das dumme Zimmer ist nicht in Ordnung«, sagte er. »Es will nicht mehr reagieren.«

»Oder–«

»Oder was?«

»Oder es kann nicht reagieren«, sagte Lydia, »weil die Kinder so viele Tage an Afrika und Löwen und Töten gedacht haben, dass das Zimmer jetzt ganz auf dieses eine Schema festgelegt ist.«

»Kann sein.«

»Oder Peter hat es fest darauf eingestellt.«

»Eingestellt?«

»Er ist vielleicht in den Mechanismus eingedrungen und hat irgendetwas blockiert.«

»Peter versteht nichts von dem Mechanismus.«

»Er ist sehr klug für seine zehn Jahre. Sein Intelligenzquotient–«

»Trotzdem–«

»Hallo, Mami. Hallo, Papi.«

Die Hadleys drehten sich um. Wendy und Peter kamen durch die Vordertür herein, mit roten Wangen und strahlenden Augen wie blaue Achatmurmeln; von ihrem kurzen Flug mit dem Helikopter hing noch ein leichter Ozongeruch in ihren Pullovern.

»Ihr kommt gerade noch rechtzeitig zum Abendessen«, sagten beide Eltern wie aus einem Munde.

»Wir sind ganz satt von Erdbeereis und heißen Würstchen«, erwiderten die Kinder, die sich an den Händen hielten. »Aber wir wollen uns gern zu euch setzen und zusehen.«

[25]»Ja, kommt her, und erzählt uns von dem Kinderzimmer«, sagte George Hadley.

Bruder und Schwester sahen erst ihn, dann einander erstaunt an. »Kinderzimmer?«

»Nun, über Afrika und all das«, sagte der Vater mit vorgetäuschter Heiterkeit.

»Ich versteh dich nicht«, erwiderte Peter.

»Deine Mutter und ich sind gerade von einer Reise mit Kamera und Büchse quer durch Afrika zurückgekehrt«, sagte George Hadley.

»Im Kinderzimmer ist kein Afrika«, sagte Peter einfach.

»Na, komm schon, Peter, gib’s zu. Wir wissen es besser.«

»Ich kann mich an kein Afrika erinnern«, beharrte Peter. »Du vielleicht, Wendy?«

»Nein.«

»Schau mal schnell nach und berichte uns dann.«

Sie lief los.

»Wendy, komm sofort zurück!«, rief George Hadley, aber sie war schon fort. Das Aufleuchten der Lampen folgte ihr wie eine Schar Glühwürmchen. Zu spät kam es ihm in den Sinn, dass er nach seiner letzten Inspektion vergessen hatte, die Tür des Kinderzimmers abzuschließen.

»Wendy wird nachsehen und uns dann berichten«, sagte Peter.

»Sie braucht mir nichts zu berichten. Ich habe es selbst gesehen.«

»Bestimmt hast du dich getäuscht, Vater.«

»Ich habe mich nicht getäuscht, Peter. Komm jetzt mit.«

Aber Wendy war schon zurück. »Da ist kein Afrika«, sagte sie atemlos.

[26]»Wir werden ja sehen«, sagte George Hadley, und sie gingen alle zusammen den Korridor hinunter; er öffnete die Kinderzimmertür.

Ein herrlicher grüner Wald empfing sie, ein Flüsschen plätscherte, ein purpurner Berg ragte vor ihnen auf, helle Stimmen sangen, und das Dschungelmädchen Rima stahl sich lieblich und geheimnisvoll mit bunten Schmetterlingsschwärmen wie lebendige Blumengebinde in ihrem langen Haar durch die Bäume. Die afrikanische Steppe war verschwunden. Die Löwen waren verschwunden. Nur Rima war jetzt hier und sang ein wunderschönes Lied, das einen zu Tränen rührte.

George Hadley blickte in die veränderte Szene. »Geht ins Bett«, sagte er zu den Kindern.

Sie öffneten ihre Münder.

»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe.«

Sie traten in die Luftschleuse, wo sie wie braune Blätter hinauf zu ihren Schlafzimmern gesaugt wurden.

George Hadley ging durch die gesangserfüllte Waldlichtung und hob etwas auf, das in der Ecke nahe der Stelle lag, wo sich die Löwen aufgehalten hatten. Langsam schritt er zurück zu seiner Frau.

»Was hast du da?«, fragte sie.

»Eine alte Brieftasche von mir«, antwortete er.

Er zeigte sie ihr. Der Duft heißen Grases, vermischt mit dem scharfen Geruch von Löwen, hing noch daran. Sie war zerbissen, und Speicheltropfen und Blut klebten auf beiden Seiten.

Er zog die Tür des Kinderzimmers von außen zu und schloss sie fest ab.

[27]Noch um Mitternacht lag er wach und wusste, dass auch seine Frau nicht einschlafen konnte. »Glaubst du, dass Wendy das Zimmer verändert hat?«, fragte sie schließlich durch die Dunkelheit.

»Natürlich.«

»Dass sie die Steppe in einen Wald verwandelt und Rima an die Stelle der Löwen gesetzt hat?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Aber das Zimmer bleibt abgeschlossen, bis ich es herausgefunden habe.«

»Wie ist deine Brieftasche dort hingekommen?«

»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte er, »außer dass ich langsam anfange, es zu bedauern, dass wir dieses Zimmer für die Kinder gekauft haben. Wenn Kinder neurotisch veranlagt sind, kann ein solches Zimmer–«

»Es soll ihnen aber doch gerade helfen, ihre Neurosen auf gesunde Art loszuwerden.«

»Ich fange an, daran zu zweifeln.« Er starrte zur Decke hoch.

»Wir haben den Kindern alles gegeben, was sie sich nur wünschten. Ist das unser Lohn – Geheimnistuerei, Ungehorsam?«

»Irgendjemand hat einmal gesagt, ›Kinder sind wie Teppiche – man sollte gelegentlich auf sie treten‹. Wir haben nie die Hand gegen sie erhoben. Sie sind unerträglich – sind wir doch mal ehrlich. Sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt; sie behandeln uns, als wären wir die Kinder. Sie sind verdorben, und wir sind verdorben.«

»Seit du ihnen vor ein paar Monaten verboten hast, mit [28]der Rakete nach New York zu fliegen, benehmen sie sich ganz komisch.«

»Ich habe ihnen erklärt, dass sie noch zu jung sind, um so eine Reise allein zu machen.«

»Jedenfalls habe ich festgestellt, dass sie sich seit diesem Zeitpunkt entschieden kühl gegen uns verhalten.«

»Ich glaube, ich werde David McClean morgen Vormittag zu uns bitten, damit er sich dieses Afrika einmal ansieht.«

»Aber es ist doch nicht mehr Afrika, sondern der Märchenwald und Rima.«

»Ich habe so ein Gefühl, dass bis dahin Afrika wieder da sein wird.«

Einen Augenblick später hörten sie die Schreie.

Zwei Schreie. Die Schreie von zwei Menschen im Erdgeschoss. Und dann Löwengebrüll.

»Wendy und Peter sind nicht in ihren Zimmern«, sagte seine Frau.

Er lag mit klopfendem Herzen in seinem Bett. »Nein«, erwiderte er. »Sie sind in das Kinderzimmer eingebrochen.«

»Diese Schreie – sie kommen mir so bekannt vor.«

»Wirklich?«

»Ja, schrecklich bekannt.«

Und obgleich ihre Betten sich alle Mühe gaben, die beiden Erwachsenen in den Schlaf zu schaukeln, brauchten sie dazu noch eine gute Stunde. Raubtiergeruch hing in der Nachtluft.

»Vater?«, sagte Peter.

»Ja.«

Peter blickte auf seine Schuhspitzen. Er sah seinen Eltern [29]überhaupt nicht mehr ins Gesicht. »Du willst doch das Kinderzimmer nicht für immer abschließen, nicht wahr?«

»Das kommt ganz darauf an.«

»Worauf?«, verlangte Peter ungeduldig zu wissen.

»Auf dich und deine Schwester. Wenn ihr zwischen eure Afrikabesuche ein wenig Abwechslung legt – sagen wir, Schweden vielleicht, oder Dänemark oder China–«

»Ich dachte, wir dürften spielen, was wir wollten.«

»Das dürft ihr auch, aber innerhalb vernünftiger Grenzen.«

»Was gefällt dir denn nicht an Afrika, Vater?«

»Ach, du gibst also jetzt zu, dass ihr Afrika hergezaubert habt, wie?«

»Ich will nicht, dass du das Kinderzimmer abschließt«, sagte Peter kalt. »Niemals.«

»Wir denken sogar daran, das ganze Haus für etwa einen Monat abzuschließen und irgendwo auf dem Lande zu leben, wo wir wieder alles selbst machen.«

»Das hört sich ja schrecklich an! Muss ich dann meine Schnürsenkel selbst binden, anstatt das den Schuhanzieher machen zu lassen? Und mir selbst die Zähne putzen und die Haare kämmen und mich in der Badewanne abschrubben?«

»Zur Abwechslung würde das auch einmal Spaß machen, meinst du nicht?«

»Nein, das wäre schrecklich. Ich fand es schon schrecklich, als du uns im letzten Monat den Bildermaler weggenommen hast.«

»Das habe ich getan, damit ihr lernt, selbst Bilder zu malen, mein Sohn.«

[30]»Ich möchte aber nichts anderes als zuhören, zuschauen und riechen; was sollte ich denn sonst tun?«

»Na schön, geh und spiel in Afrika.«

»Willst du unser Haus wirklich bald abschließen?«

»Wir denken noch darüber nach.«

»Es wäre besser, wenn ihr gar nicht mehr daran denken würdet, Vater.«

»Ich dulde keine Drohungen von meinem Sohn!«

»Wie du willst.« Und Peter trollte sich ins Kinderzimmer.

»Komme ich zur rechten Zeit?«, fragte David McClean.

»Frühstück?«, entgegnete George Hadley.

»Danke, hab schon gefrühstückt. Wo fehlt’s denn?«

»David, du bist doch Psychologe.«

»Ich hoffe es wenigstens.«

»Du musst dir einmal unser Kinderzimmer ansehen. Du hast vor einem Jahr einen Blick hineingeworfen, als du uns besucht hast. Ist dir damals etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Eigentlich nicht; die üblichen Gewalttätigkeiten, ein leichter Hang zur Paranoia hier und da, wie es bei Kindern üblich ist, weil sie sich ständig von ihren Eltern verfolgt fühlen, aber im Großen und Ganzen nichts Beunruhigendes.«

Sie gingen den Korridor hinunter. »Ich hatte das Kinderzimmer gestern abgeschlossen«, erklärte der Vater, »und die Kinder sind in der Nacht dort eingebrochen. Ich ließ sie gewähren, damit du dir heute ihr Werk ansehen kannst.«

Ein furchtbares Schreien ertönte aus dem Kinderzimmer.

»Da sind wir«, sagte George Hadley. »Jetzt sieh zu, was dir daran auffällt.«

[31]Sie gingen zu den Kindern hinein, ohne anzuklopfen.

Die Schreie waren verstummt. Die Löwen fraßen.

»Geht einen Augenblick hinaus, Kinder«, sagte George Hadley. »Nein, ändert nicht die Mentalkombination. Lasst alles, wie es ist. Hinaus!«

Als die Kinder gegangen waren, standen die beiden Männer und beobachteten die sich in der Ferne zusammendrängenden Löwen, die sich sichtlich ihre Beute schmecken ließen, was es auch sein mochte.

»Ich möchte zu gern wissen, was sie da fressen«, sagte George Hadley. »Manchmal kann ich es fast erkennen. Glaubst du, wenn ich ein starkes Fernglas holte, könnte ich–«

David McClean lachte trocken. »Kaum«, meinte er. Er drehte sich um und studierte eingehend alle vier Wände. »Wie lange geht das schon so?«

»Etwas über einen Monat.«

»Jedenfalls spüre ich bestimmt nichts Gutes.«

»Tatsachen möchte ich, keine Gefühle.«

»Mein lieber George, ein Psychologe hat noch nie in seinem Leben eine Tatsache gesehen. Er erfährt nur von Gefühlen, unbestimmten Empfindungen. Und das hier ist kein gutes Gefühl, sage ich dir. Du kannst meinem Instinkt und meinen Ahnungen vertrauen. Das hier ist sehr schlimm. Ich kann dir nur raten, das ganze verdammte Zimmer abreißen zu lassen und mir deine Kinder das ganze nächste Jahr lang jeden Tag zur Behandlung zu schicken.«

»Ist es so schlimm?«

»Ich fürchte, ja. Ursprünglich waren diese Kinderzimmer dazu gedacht, dass wir die Gedankenmuster des kindlichen [32]Geistes an den Wänden studieren konnten, in Muße studieren und dem Kind helfen konnten. In diesem Falle ist das Zimmer jedoch zu einem Verstärkerkanal für – zerstörerische Gedanken geworden, anstatt die Kinder davon zu befreien.«

»Hast du damals noch nichts davon gemerkt?«

»Ich habe lediglich gespürt, dass ihr eure Kinder mehr verwöhnt hattet als die meisten Eltern. Und jetzt hast du sie durch irgendetwas schwer enttäuscht. Wodurch?«

»Ich ließ sie nicht nach New York fliegen.«

»Was noch?«

»Ich habe ein paar Automaten aus dem Haus entfernt, und vor einem Monat drohte ich ihnen, das Kinderzimmer ganz zu schließen, wenn sie nicht ihre Schularbeiten machten. Für ein paar Tage habe ich es dann auch abgeschlossen, um ihnen zu zeigen, dass ich es ernst meinte.«

»Aha!«

»Hat das etwas zu bedeuten?«

»Alles. Während sie früher einen Weihnachtsmann hatten, haben sie nun einen Ebenezer Scrooge. Kinder mögen Weihnachtsmänner lieber. In der Zuneigung eurer Kinder haben dieses Zimmer und dieses Haus deine Stelle und die deiner Frau eingenommen. Dieses Zimmer ist für sie Mutter und Vater zugleich, viel wichtiger für ihr Leben als ihre richtigen Eltern. Und nun kommst du daher und willst es abschließen. Kein Wunder, dass hier Hass in der Luft liegt. Man fühlt ihn förmlich aus dem Himmel herabfallen. Spürst du diese Sonne? George, ihr müsst euer Leben ändern. Wie so viele andere, habt ihr es nur auf materielle Annehmlichkeiten gegründet. Ihr würdet verhungern, wenn etwas in eurer [33]Küche nicht mehr funktioniert. Ihr wüsstet vielleicht nicht einmal mehr, wie man ein Ei aufschlägt. Eben darum müsst ihr einmal alle diese Apparate abschalten. Fangt neu an. Es wird einige Zeit brauchen. Aber in einem Jahr werden wir gute Kinder aus schlechten gemacht haben, wart es nur ab.«

»Aber wird der Schock für die Kinder nicht zu groß sein, wenn wir das Kinderzimmer so plötzlich für immer abstellen?«

»Ich möchte auf keinen Fall, dass sie noch tiefer in diese Geschichte hier eindringen.«

Die Löwen hatten ihr blutiges Mahl beendet.

Sie standen am Rand der Lichtung und beobachteten die beiden Männer.

»Jetzt fühle ich mich verfolgt«, sagte McClean. »Lass uns rausgehen. Ich habe diese verdammten Zimmer nie besonders gern gemocht. Machen mich nervös.«

»Die Löwen sehen sehr echt aus, nicht wahr?«, meinte George Hadley. »Ich will doch nicht hoffen, dass sie irgendwie–«

»Dass sie was?«

»Dass sie irgendwie echte Lebewesen werden können?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Irgendeine Fehlschaltung im Mechanismus, vielleicht weil die Kinder daran herumgespielt haben?«

»Nein.«

Sie gingen zur Tür.

»Ich glaube, das Zimmer wird sich nicht gern abschalten lassen«, sagte der Vater.

»Nichts stirbt gern – nicht einmal ein Zimmer.«

»Ob es mich wohl hasst, weil ich es abschalten will?«

[34]»Die Paranoia hängt heute hier ziemlich dick in der Luft«, erklärte David McClean. »Man kann ihr folgen wie einer Spur. – Hoppla!« Er bückte sich und hob ein blutiges Halstuch auf. »Ist das deins?«

»Nein.« George Hadleys Gesicht wurde hart. »Es gehört Lydia.«

Sie gingen zusammen zum Sicherungskasten und legten den Hebel um, der das Zimmer sterben ließ.

Die beiden Kinder bekamen hysterische Anfälle. Sie schrien und trampelten und warfen Gegenstände herum. Sie heulten und schluchzten und fluchten und sprangen auf die Möbel.

»Ihr dürft das nicht mit dem Zimmer machen, ihr dürft das nicht!«

»Ruhig, Kinder.«

Die Kinder warfen sich weinend auf eine Couch.

»George«, sagte Lydia Hadley, »schalt das Kinderzimmer wieder ein, nur für ein paar Minuten. Du kannst ihnen das nicht so plötzlich zumuten.«

»Nein!«

»Du kannst nicht so grausam sein.«

»Lydia, es ist abgeschaltet, und es bleibt abgeschaltet. Und das ganze übrige verdammte Haus soll ebenfalls hier und jetzt ausgeschaltet werden. Je besser ich die Misere überblicke, in die wir uns da hineinmanövriert haben, umso übler wird mir davon. Wir haben schon viel zu lange unseren automatisierten, elektronischen Nabel betrachtet. Mein Gott, wie sehr wir doch einen Atemzug frische Luft brauchen!«

Und er marschierte durch das Haus, schaltete die [35]sprechenden Uhren ab, die Herde, die Thermostaten, die Schuhputzmaschinen, die Schnürsenkelbinder, die Bade-, Bürste- und Massageapparate und alle anderen Maschinen, die er erreichen konnte.

Das Haus schien voller Leichen zu sein. Man kam sich vor wie auf einem Maschinenfriedhof. So still war es. Kein Summen mehr von versteckter Energie, die auf Knopfdruckden Dienst verborgener Mechanismen auslöste.

»Lasst ihn das nicht tun«, heulte Peter anklagend gegen die Decke, als spreche er mit dem Haus, dem Kinderzimmer. »Lasst Vater nicht alles zerstören!« Er wandte sich an seinen Vater: »Oh, ich hasse dich!«

»Beleidigungen werden dir auch nicht helfen!«

»Ich wünschte, du wärest tot!«

»Wir waren es, eine lange Zeit. Aber jetzt wollen wir beginnen, wirklich zu leben. Anstatt uns von den Maschinen beherrschen und dirigieren zu lassen, wollen wir jetzt wirklich leben.«

Wendy weinte immer noch, und Peter leistete ihr erneut Gesellschaft. »Nur ein Mal noch, nur ein Mal noch, nur ein einziges Mal noch das Kinderzimmer«, jammerten sie.

»O George«, sagte seine Frau, »es kann doch nichts schaden.«

»Na schön – sie sollen ihren Willen haben, wenn sie dann nur ruhig sind. Aber nur einen Augenblick, verstanden, und dann aus und vorbei für immer.«

»Vati, Vati, Vati!«, sangen die Kinder, mit lächelnden, nassen Gesichtern.

»Und dann fahren wir in die Ferien. David McClean kommt in einer halben Stunde und hilft uns, auszuziehen [36]und unsere Sachen zum Flugplatz zu schaffen. Ich gehe mich jetzt umziehen. Du, Lydia, kannst das Kinderzimmer für ein paar Minuten wieder anschalten, aber nur für ein paar Minuten, denk dran.«

Plappernd zogen die drei los, während er sich durch die Luftschleuse nach oben saugen ließ und begann, sich umzukleiden. Einen Augenblick später erschien auch Lydia.

»Wie werde ich froh sein, wenn wir abreisen!«, seufzte sie.

»Hast du sie im Kinderzimmer allein gelassen?«

»Ich wollte mich auch umziehen. Oh, dieses entsetzliche Afrika! Was sie nur daran finden?«

»Na, in fünf Minuten sind wir unterwegs nach Iowa. Herrgott, wie sind wir bloß zu diesem Haus gekommen? Was hat uns nur dazu getrieben, einen Alptraum zu kaufen?«

»Falscher Stolz, Geld und Dummheit.«

»Ich glaube, wir gehen lieber nach unten, bevor die Kinder sich wieder ganz einlassen auf diese verdammten Bestien.«

In diesem Augenblick hörten sie die Kinder rufen: »Vati, Mami, kommt schnell – schnell!«

Sie sausten durch die Luftschleuse nach unten und rannten durch den Korridor. Die Kinder waren nirgends zu sehen. »Wendy, Peter?«

Sie liefen in das Kinderzimmer. Die Steppe war leer bis auf die Löwen, die sie wartend anblickten. »Peter? Wendy?«

Die Tür schlug zu.

»Wendy, Peter!«

George Hadley und seine Frau wirbelten herum und liefen zur Tür zurück.

»Macht auf!«, schrie George Hadley und versuchte den [37]Türknopf zu drehen. »Sie haben von außen abgeschlossen! Peter!« Er schlug gegen die Tür. »Aufmachen!«

Draußen vor der Tür hörte er Peters Stimme.

»Lasst sie nicht das Kinderzimmer und das ganze Haus abstellen!«, sagte er.

Mr.und Mrs.George Hadley trommelten gegen die Tür. »Kommt schon Kinder, stellt euch nicht so an. Wir müssen gleich los. Mr.McClean wird in einer Minute hier sein, und…«

In diesem Augenblick hörten sie die Geräusche.

Die Löwen hatten sie von drei Seiten eingeschlossen und strichen jetzt drohend und tief in den Kehlen grollend durch das trocken raschelnde, gelbe Steppengras um sie herum.

Die Löwen.

George Hadley blickte seine Frau an, und dann drehten sie sich beide um und sahen, wie die Bestien geduckt und mit steifen Schwänzen langsam auf sie zuschlichen.

George und Lydia Hadley schrien.

Und mit einem Mal wussten sie, warum jene anderen Schreie ihnen so vertraut vorgekommen waren.

»Also, da bin ich«, sagte David McClean in der Tür zum Kinderzimmer. »Oh, hallo!« Er blickte erstaunt auf die beiden Kinder, die mitten in der ebenen Landschaft saßen und ein kleines Picknick verzehrten. Hinter ihnen waren das Wasserloch und die gelbe Steppe; über ihnen hing die heiße Sonne. Er begann zu schwitzen. »Wo sind euer Vater und eure Mutter?«

Die Kinder blickten auf und lächelten. »Oh, sie müssen jeden Augenblick kommen.«

[38]»Gut, wir müssen uns beeilen.« In einiger Entfernung sah Mr.McClean die Löwen um ihr blutiges Mahl kämpfen, bald aber beruhigten sie sich und fraßen schweigend unter den schattigen Bäumen.

Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt zu den Tieren hinüber.

Die Löwen hatten ihr Mahl beendet. Sie gingen an das Wasserloch, um zu trinken.

Ein Schatten strich über Mr.McCleans heißes Gesicht. Viele Schatten flatterten durch die Luft. Die Aasgeier fielen aus dem sengenden Himmel.

»Eine Tasse Tee?«, brach Wendy das Schweigen.

Der illustrierte Mann bewegte sich im Schlaf. Er warf sich herum, und jedes Mal, wenn er sich umdrehte, trat ein anderes buntes Bild auf seinem Rücken, seinen Armen, seinen

[39]Kaleidoskop