Fahrenheit 451 - Ray Bradbury - E-Book

Fahrenheit 451 E-Book

Ray Bradbury

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Beschreibung

Es ist eine Horrorversion des digitalen Zeitalters, die Bradbury vorausgesehen hat: Lesen ist geächtet, Wissen nicht erwünscht, auf Buchbesitz steht Strafe, und die Menschen werden mit Entertainment und Dauerberieselung kleingehalten. Der ›Feuermann‹ Guy Montag, der an den staatlich angeordneten Bücherverbrennungen beteiligt ist, beginnt sich nach einem traumatischen Einsatz zu widersetzen und riskiert dabei sein Leben.

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Seitenzahl: 238

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Ray Bradbury

Fahrenheit 451

Roman

Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg

Diogenes

In Dankbarkeit Don Congdon gewidmet

Fahrenheit 451: Die Temperatur, bei der Buchpapier Feuer fängt und brennt.

Gibt man dir liniertes Papier, dann schreibe quer über die Zeilen.

Juan Ramón Jiménez

ERSTER TEILHerd und Salamander

Es war eine Lust, Feuer zu legen.

Es war eine besondere Lust zuzuschauen, wie etwas verzehrt wurde, schwarz wurde und sich verwandelte. Er hatte das Messingstrahlrohr fest im Griff, diese große Python, die ihr giftiges Kerosin verspritzte, das Blut pochte ihm in den Schläfen, und seine Hände waren die eines genialen Dirigenten, der all die Symphonien des Sengens und Brennens spielte, um die kläglichen Reste und verkohlten Ruinen der Geschichte zu tilgen. Er trug den Helm mit der symbolischen Zahl 451 auf dem wuchtigen Kopf, beim Gedanken an das Kommende flammten seine Augen orange auf, und er knipste den Zünder an. Das Haus wurde vom Feuer verschlungen, das den Abendhimmel rot und gelb und schwarz brennen ließ. Er schritt durch den Funkenschwarm. Am liebsten hätte er, wie in dem alten Witz, ein Marshmallow auf einen Stock gespießt und in den Glutofen gehalten, während die Bücher unter hektischen Flügelschlägen auf der Veranda und dem Rasen vor dem Haus starben, während die Bücher in einem Funkenwirbel aufgingen und von einem rußgeschwärzten Wind weggetragen wurden.

Montag trug das verbissene Grinsen all der Männer, die vor der sengenden Hitze eines Feuers zurückweichen müssen.

Könnte sein, dass er nach seiner Rückkehr auf die Feuerwache dem Schwarzen Mann im Spiegel zuzwinkert. Noch beim Zubettgehen würde er im Dunkeln das Feuergrinsen auf seinem Gesicht spüren. Es verging nie, dieses Lächeln, niemals, solange er denken konnte.

 

Er hängte seinen lackschwarzen Helm auf und polierte ihn, er hängte seine feuerfeste Jacke ordentlich auf; er duschte ausgiebig, spazierte pfeifend mit den Händen in den Hosentaschen durch das Obergeschoss der Feuerwache und sprang in das Bodenloch. Gerade als die Katastrophe unausweichlich schien, nahm er die Hände aus den Taschen und bremste den Sturz, indem er die goldene Rutschstange packte. Eine Handbreit über dem Betonboden im Erdgeschoss kam er quietschend zum Stehen.

Er verließ die Feuerwache und ging die mitternächtliche Straße entlang zur U-Bahn, in der der leise, luftgetriebene Zug geräuschlos durch sein geschmiertes Tunnelrohr glitt und ihn mit einem Stoß warmer Luft auf die cremefarben gekachelte Rolltreppe entließ, die zum Vorort hinauf‌führte.

Pfeifend ließ er sich von der Rolltreppe in der stillen klaren Nachtluft absetzen. Gedankenverloren ging er auf die Straßenecke zu. Kurz davor jedoch wurde er langsamer, als sei aus dem Nichts ein Wind aufgekommen, als habe jemand seinen Namen gerufen.

In den vergangenen Nächten hatte ihn jedes Mal ein ungutes Gefühl beschlichen, wenn er an den Gehweg zu seinem Haus dachte, der im Sternenlicht vor ihm lag. Als sei dort jemand gewesen, kurz bevor er um die Ecke biegen wollte. Es schien eine besondere Stille in der Luft zu liegen, so, als hätte jemand auf ihn gewartet, lautlos, und sich im nächsten Augenblick in einen Schatten verwandelt und ihn passieren lassen. Möglich, dass er einen Dufthauch wahrnahm, möglich, dass die Haut auf Handrücken und Gesicht an eben jener Stelle den Temperaturanstieg erspürte, wo eine Gestalt für einen Moment die Luft um sich herum einige Grade erwärmt hatte. Er konnte es sich nicht erklären. Jedes Mal, wenn er um die Ecke ging, sah er nur den weißen, menschenleeren, unebenen Gehweg vor sich; vielleicht, dass eines Nachts etwas über den Rasen huschte, bevor er es noch recht sehen oder etwas sagen konnte.

Doch heute Nacht wurde sein Zögern beinahe zum Stillstand. Ein Teil von ihm wollte schon um die Ecke eilen. Ein kaum wahrnehmbares Wispern. Ein Atemzug? Oder eine Veränderung des Luftdrucks, einfach weil dort jemand reglos stand und wartete?

Montag ging um die Ecke.

Das Herbstlaub wehte über den vom Mond erhellten Gehweg, und das Mädchen schien zu gleiten, als würden Wind und Blätter sie vorwärts tragen. Sie hatte den Kopf leicht geneigt und beobachtete, wie ihre Schuhe in den wirbelnden Blättern rührten. Ihr Gesicht war schmal und milchig weiß, und es lag eine sanfte Gier in ihrem Blick, der alles mit unermüdlicher Neugier erfasste. Ein Blick sanften Erstaunens eigentlich; die dunklen Augen saugten sich so sehr fest an der Welt, dass ihnen nichts entging. Das Kleid war weiß und wisperte. Fast glaubte Montag, die Bewegung ihrer Hände zu hören und dann das unendlich leise Geräusch, die weiße Regung ihres Gesichts, als sie den Kopf hob und feststellte, dass wenige Schritte vor ihr ein Mann mitten auf dem Gehweg stand und wartete.

Die Wipfel der Bäume warfen rauschend ihren dürren Regen ab. Das Mädchen blieb stehen, und fast schien es überrascht zurückschrecken zu wollen, doch stattdessen sah sie Montag mit so dunklen, strahlenden und lebhaften Augen an, dass er gerade etwas gänzlich Wundervolles gesagt haben musste. Dabei hatte sein Mund doch sicher nur ein Hallo geformt, und als sie wie gebannt den Salamander an seinem Arm und die Phönix-Scheibe an seiner Brust betrachtete, sprach er erneut.

»Ach ja«, sagte er, »du musst die neue Nachbarin sein.«

»Und Sie sind«, sagte sie und hob den Blick von seinen Dienstabzeichen, »der Feuermann.« Und damit verstummte sie.

»Wie seltsam du das sagst.«

»Ich – ich hätte das auch mit geschlossenen Augen erkannt«, sagte sie bedächtig.

»Ach – der Kerosingeruch? Meine Frau beklagt sich ständig darüber«, sagte er lachend. »Man kriegt ihn nie ganz abgewaschen.«

»Nein, kriegt man wohl nicht«, sagte sie staunend.

Er hatte den Eindruck, dass sie ihn umkreiste, auf den Kopf stellte, leise schüttelte und seine Taschen leerte, ohne sich überhaupt zu rühren.

»Kerosin«, sagte er, um die Stille zu beenden, »ist das reinste Parfüm für mich.«

»Finden Sie wirklich?«

»Aber natürlich. Warum auch nicht?«

Sie nahm sich Zeit, darüber nachzudenken. »Ich weiß nicht.« Sie drehte sich zu dem Gehweg um, der zu ihren Häusern führte. »Stört es Sie, wenn ich Sie begleite? Ich heiße Clarisse McClellan.«

»Clarisse. Guy Montag. Gehen wir. Warum spazierst du denn so spät noch draußen herum? Wie alt bist du eigentlich?«

Sie gingen in der lind wehenden Nacht den silbrigen Gehsteig entlang, und in der Luft lag ein leichter Hauch von frischen Aprikosen und Erdbeeren; Montag sah sich um, und ihm ging auf, dass dies so spät im Jahr völlig unmöglich war.

Da war nur noch das Mädchen, das neben ihm ging, ihr Gesicht leuchtete im Mondschein so hell wie Schnee, und er wusste, sie durchdachte seine Fragen und suchte nach den bestmöglichen Antworten.

»Also«, sagte sie, »ich bin siebzehn, und ich bin verrückt. Mein Onkel meint, eins ergibt sich aus dem anderen. Wenn man dich fragt, sagt er, dann antworte, siebzehn und wahnsinnig. Ist das nicht genau der richtige Zeitpunkt für einen Nachtspaziergang? Ich rieche gern an Dingen und schaue sie mir an, und manchmal bleibe ich die ganze Nacht auf, gehe spazieren und schaue zu, wie die Sonne aufgeht.«

Dann gingen sie schweigend weiter, bis sie schließlich nachdenklich sagte: »Wissen Sie, ich habe gar keine Angst vor Ihnen.«

Er war überrascht. »Warum solltest du auch?«

»Viele Leute haben Angst vor ihnen. Vor Feuermännern, meine ich. Aber Sie sind ja auch nur ein Mensch …«

Er sah sich in ihren Augen, wie er dort in zwei schillernden Tropfen klaren Wassers schwebte, dunkel und winzig, in allen Einzelheiten, die Falten um seinen Mund, alles war dort zu erkennen, als seien ihre Augen zwei wundersame Stücke violetten Bernsteins, fähig, ihn zu erfassen und in seiner Gänze zu bewahren. Ihr Gesicht, das ihm nun zugewandt war, war zerbrechliches milchiges Kristall, mit einem sanften, gleichmäßigen Leuchten darin. Nicht das hysterische Leuchten von Elektrizität, eher – ja was? Eher das merkwürdig beruhigende, seltene, schmeichelhafte Licht einer Kerze. Als er klein war, hatte seine Mutter einmal bei einem Stromausfall eine letzte Kerze gefunden und angezündet, und es hatte eine flüchtige Stunde des Erkennens gegeben, ein Licht, durch das der Raum seine ungeheure Dimension verlor und sie behaglich umfing, Mutter und Sohn, allein und verwandelt, voller Hoffnung, dass nicht so bald wieder Strom fließen möge …

Und dann sagte Clarisse McClellan: »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Wie lange arbeiten Sie schon als Feuermann?«

»Zehn Jahre, seit ich zwanzig bin.«

»Und lesen Sie die Bücher, die Sie verbrennen?«

Er lachte. »Das ist doch gegen das Gesetz!«

»Ach ja, stimmt.«

»Das ist wichtige Arbeit. Montag brennt Millay, Mittwoch Milton, Freitag Faulkner, verbrennt sie zu Asche, und verbrennt dann die Asche. So lautet unser Motto.«

Sie gingen weiter, und das Mädchen sagte: »Stimmt es, dass die Feuermänner früher Brände gelöscht und nicht gelegt haben?«

»Nein. Häuser waren schon immer feuerfest, das kannst du mir glauben.«

»Merkwürdig. Ich habe mal gehört, dass früher Häuser aus Versehen in Brand gerieten und man Feuerwehrmänner brauchte, um die Flammen zu löschen.«

Montag lachte.

Sie warf ihm einen Blick zu. »Warum lachen Sie?«

»Keine Ahnung.« Wieder lachte er und unterbrach sich. »Warum fragst du?«

»Sie lachen, obwohl ich gar keinen Witz gemacht habe, und Sie antworten sofort. Nie denken Sie über das nach, was ich gefragt habe.«

Er blieb stehen: »Du bist wirklich eigenartig«, sagte er und sah sie an. »Hast du denn gar keinen Respekt?«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich beobachte einfach zu gern Menschen, schätze ich.«

»Hat das hier denn gar keine Bedeutung für dich?« Er tippte auf die Ziffern 451, die auf den kohlefarbenen Ärmel gestickt waren.

»Doch«, flüsterte sie. Sie beschleunigte ihre Schritte. »Haben Sie jemals zugesehen, wie diese Düsenautos die Alleen dort unten entlangrasen?«

»Wechsle nicht das Thema!«

»Manchmal kommt es mir so vor, als wüssten die Fahrer nicht mal, was Gras oder Blumen sind, sie sehen sie ja nicht lang genug«, sagte sie. »Wenn man einem von denen einen grünen Fleck zeigt, dann sagt der: Ach ja, Gras! Ein pinkfarbener Fleck? Ein Rosengarten! Weiße Flecken sind Häuser. Braune Flecken sind Kühe. Mein Onkel ist mal auf dem Highway langsam gefahren, nur vierzig Meilen die Stunde, und dafür hat man ihn zwei Tage eingesperrt. Ist das nicht lustig und irgendwie auch traurig?«

»Du denkst zu viel«, sagte Montag beunruhigt.

»Ich schaue selten ›Wohnwand‹, gehe kaum zu Rennen oder in Vergnügungsparks. Ich habe also jede Menge Zeit für verrückte Gedanken. Haben Sie schon die zweihundert Fuß breiten Werbetafeln außerhalb der Stadt gesehen? Wussten Sie, dass die Tafeln früher nur zwanzig Fuß breit waren? Doch dann wurden die Autos so schnell, dass sie die Tafeln immer größer machen mussten, damit man überhaupt noch was erkennen kann.«

»Das wusste ich nicht!« Montag lachte unvermittelt auf.

»Ich wette, ich weiß noch was, das Sie nicht wissen. In der Früh liegt Tau auf dem Gras.«

Er konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, ob er das schon mal gewusst hatte oder nicht, und darüber ärgerte er sich sehr.

»Und schauen Sie mal« – sie sah kurz zum Himmel auf –, »da ist ein Mann im Mond.«

Er hatte schon lange nicht mehr nach oben geschaut.

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück; ihr Schweigen war nachdenklich, seines angespannt und betreten, wobei er ihr vorwurfsvolle Blicke zuwarf. Als sie zu Clarisses Haus kamen, brannten dort alle Lichter.

»Was ist denn hier los?« Montag hatte selten so viele Lichter in einem Haus brennen sehen.

»Ach, nur meine Mutter, mein Vater und mein Onkel, die beisammensitzen und sich unterhalten. Das ist noch seltener, als zu Fuß zu gehen. Mein Onkel – habe ich das schon erwähnt? – ist mal verhaftet worden, weil er spazieren ging. Wir sind schon höchst eigenartig.«

»Aber worüber redet ihr denn?«

Darüber musste sie lachen. »Gute Nacht!« Sie ging auf ihr Haus zu. Dann schien ihr noch etwas einzufallen, und sie kehrte zu ihm zurück und sah ihn voller Verwunderung und Neugier an. »Sind Sie glücklich?«, fragte sie.

»Bin ich was?«, rief er aus.

Doch sie war schon wieder fort und rannte im Mondlicht davon. Ihre Haustür schloss sich sanft.

 

»Glücklich! So ein Blödsinn.«

Montag hörte auf zu lachen.

Er steckte die Hand in das Handschuhloch seiner Haustür und übertrug so seinen Abdruck. Die Haustür glitt auf.

Natürlich bin ich glücklich. Was glaubt sie denn? Etwa nicht?, fragte er die stummen Zimmer. Er stand da und schaute zum Lüftungsgitter im Flur hinauf; und plötzlich fiel ihm wieder ein, was hinter dem Gitter versteckt lag, etwas, das nun auf ihn hinabzuschauen schien. Schnell schaute er weg.

Was für eine merkwürdige Begegnung in einer merkwürdigen Nacht. Abgesehen von einem Nachmittag vor einem Jahr, als er einen alten Mann im Park getroffen hatte und sie sich unterhalten hatten, konnte er sich an nichts dergleichen erinnern …

Montag schüttelte den Kopf. Er schaute auf eine leere Wand. Dort schwebte das seiner Erinnerung nach recht schöne, ja, bemerkenswert schöne Gesicht des Mädchens. Sie hatte ein ganz schmales Gesicht wie das Zifferblatt einer kleinen Uhr, die man mitten in der Nacht in einem dunklen Zimmer erahnt, wenn man aufwacht und nachschauen will, wie spät es ist, und die Uhr einem mit weißer Stille und Leuchten Stunde, Minute und Sekunde verrät, sicher und gewiss darüber, was es über die Nacht zu sagen gibt, die rasch der tiefsten Dunkelheit entgegenläuft, sich aber ebenso auf eine neue Sonne hinbewegt.

»Was?«, fragte Montag jenes andere Selbst, jenen unterbewussten Trottel, der manchmal völlig unbeeinflusst von Willen, Gewohnheit und Bewusstsein vor sich hin brabbelte.

Wieder schaute er auf die Wand. Und wie ähnlich einem Spiegel ihr Gesicht war. Undenkbar, wie viele Menschen kannte man denn, die einem das eigene Licht widerspiegelten? Viel häufiger waren sie doch – er suchte nach einem Vergleich, fand einen in seiner Arbeit – waren sie doch Fackeln, die lichterloh brannten, bis sie verglühten. Wie selten erkannten die Gesichter anderer deinen eigenen Ausdruck, deinen eigenen innersten zitternden Gedanken und gaben ihn zurück?

Welch ungeheures Einfühlungsvermögen dieses Mädchen besaß; sie ähnelte der eifrigen Zuschauerin im Marionettentheater, die jeden Wimpernschlag, jede seiner Handbewegungen, jedes Fingerzucken in der Sekunde vorausahnte, bevor es geschah. Wie lange waren sie wohl gemeinsam gegangen? Drei Minuten? Fünf? Wie lang ihm diese Zeitspanne nun vorkam. Welch eine außerordentlich bedeutende Gestalt gab sie auf der Bühne vor ihm ab; welch einen großen Schatten warf dieser schmale Körper an die Wand! Es kam ihm vor, als würde sie blinzeln, wenn ihm das Auge juckte. Und sie würde bereits lange gähnen, wenn sich sein Kiefer unmerklich öffnete.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, scheint es fast so, als habe sie dort auf der Straße, mitten in der Nacht, auf mich gewartet …

Er öffnete die Schlafzimmertür.

Es war, als würde er nach Monduntergang den kalten, mit Marmor verkleideten Raum eines Mausoleums betreten. Völlige Finsternis, nicht der kleinste Widerschein der silbernen Welt draußen, die Fenster fest verschlossen, die Kammer eine Gräberwelt, in die kein Geräusch der großen Stadt dringen konnte. Das Zimmer war nicht leer.

Montag lauschte.

Das kleine mückenzarte, tänzelnde Summen in der Luft, das elektrische Murmeln einer verborgenen Wespe, die es sich in ihrem rosigen warmen Nest bequem gemacht hatte. Die Musik war beinahe laut genug, dass er die Melodie erhaschen konnte.

Er spürte, wie sein Lächeln verging, dahinschmolz, in sich zusammenfiel wie eine Wachshaut, wie man sich eine Kerze vorstellt, die zu lange brennt und nun in sich zusammengesunken und verglommen ist. Finsternis. Montag war nicht glücklich. Er war nicht glücklich. Diese Worte sprach er zu sich selbst. Gestand sie sich als Tatsache ein. Er trug sein Glück wie eine Maske, das Mädchen war mit der Maske über den Rasen davongelaufen, und er hatte keine Möglichkeit, einfach bei ihr anzuklopfen und sie zurückzufordern.

Ohne das Licht anzumachen, stellte er sich das Zimmer vor. Seine Frau, ohne Decke und kalt auf dem Bett ausgestreckt, den Blick durch unsichtbare Stahlfäden starr an die Decke geheftet wie eine Leiche auf einer Grabplatte. Und in ihren Ohren die kleinen Muscheln, die fest eingedrückten fingerhutgroßen Radios, und ein elektronisches Meer an Klängen, an Musik und Stimmen und Musik und Stimmen, die an das Ufer ihres schlaf‌losen Verstands brandeten. Das Zimmer war tatsächlich leer. Nacht für Nacht kam die Brandung, trug sie auf den Klangfluten fort und ließ sie mit offenen Augen auf den Morgen zutreiben. In den vergangenen zwei Jahren hatte Mildred keine einzige Nacht verbracht, in der sie nicht in diesem Meer geschwommen war, sich ihm bereitwillig hingegeben hatte.

Das Zimmer war kalt, trotzdem hatte Montag das Gefühl, nicht atmen zu können. Er wollte die Vorhänge nicht aufziehen und die bodentiefen Fenster nicht öffnen; der Mond sollte nicht ins Zimmer scheinen. Wie ein Mann, der wusste, dass er im Laufe der nächsten Stunde an Luftmangel sterben würde, tastete er sich zu seinem aufgeschlagenen, kalten Einzelbett.

Kurz bevor er mit dem Fuß an den Gegenstand auf dem Boden stieß, wusste er schon, dass er daran stoßen würde, nicht unähnlich dem Gefühl, bevor er um die Ecke gekommen war und beinahe das Mädchen umgerannt hatte. Sein Fuß sendete Schwingungen aus und empfing noch in der Luft Echos von dem kleinen Hindernis auf seinem Weg. Der Fuß trat zu. Der Gegenstand klackerte dumpf und glitt in der Dunkelheit davon.

Montag stand stocksteif da und lauschte nach der Person auf dem dunklen Bett in der vollkommen konturlosen Nacht. Sein Atem wich so schwach aus der Nase, dass er nur an die äußersten Ränder der Existenz rührte, ein kleines Blatt, eine schwarze Feder, ein einzelnes Haar.

Noch immer wollte er kein Licht von draußen. Er zog seinen Zünder aus der Tasche, spürte den auf die silberne Scheibe geätzten Salamander, knipste ihn an … Im Schein der kleinen Flamme in seiner Hand schauten ihn zwei Mondsteine an; zwei blasse Mondsteine, die in einem Flussbett lagen, und das Wasser des Lebens umspülte sie, ohne an sie zu rühren.

»Mildred!«

Ihr Gesicht glich einer schneebedeckten Insel, auf der es regnen mochte, aber sie spürte keinen Regen, über die Wolken ihre Schatten zogen, aber sie spürte keinen Schatten. Da war nur der Gesang der fingerhutgroßen Wespen in ihren zugestopf‌ten Ohren, und ihre Augen aus reinem Glas, und der Atem ging ein und aus, sanft, schwach, zu ihrer Nase ein und aus, doch sie kümmerte sich nicht darum, ob hinein oder hinaus, hinaus oder hinein.

Der Gegenstand, gegen den er mit dem Fuß gestoßen war, glitzerte unter der Kante seines eigenen Betts. Die kleine Kristallglasflasche mit den Schlaftabletten, in der sich früher am Tag dreißig Kapseln befunden hatten, lag nun offen und leer im Schein der winzigen Flamme.

Montag stand da, und der Himmel über dem Haus kreischte. Es gab einen gellenden Lärm wie von einem Riss, als hätten zwei riesige Hände zehntausend Meilen schwarzes Leinen an der Naht aufgerissen. Montag wurde zerteilt. Er spürte, wie ihm die Brust vom Leib gehackt und aufgebrochen wurde. Die Düsenbomber, die über ihn hinwegflogen, weiter, weiter, eins zwei, eins zwei, eins zwei, sechs, neun, zwölf, einer und einer und einer und noch einer und noch einer und noch einer, nahmen ihm das Schreien ab. Er öffnete den Mund, ließ ihr Kreischen durch sich hindurch und zu den gebleckten Zähnen hinausdringen. Das Haus bebte. Die Flamme in seiner Hand verlöschte. Die Mondsteine verschwanden. Montag spürte, wie seine Hand sich auf das Telefon senkte.

Die Düsenflugzeuge waren verschwunden. Er spürte, wie sich seine Lippen bewegten und über das Mundstück des Telefons glitten. »Rettungsdienst.« Ein grausiges Flüstern.

Er spürte, dass die Sterne vom Lärm der schwarzen Jets pulverisiert worden waren und dass in der Frühe die Erde von ihrem Staub bedeckt sein würde wie von einem seltsamen Schnee. Das war sein idiotischer Gedanke, während er im Dunkel stand und zitterte, und seine Lippen bewegten sich unablässig.

 

Sie hatten so eine Maschine. Eigentlich hatten sie zwei. Die eine davon glitt in den Magen wie eine schwarze Kobra, die einen hallenden Brunnenschacht hinuntergleitet und nach all dem alten Wasser und der vergangenen Zeit sucht, die sich dort angesammelt haben. Sie sog den grünen Schleim ein, der leise blubbernd nach oben wallte. Trank sie auch die Dunkelheit? Saugte sie all die Gifte ein, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten? Sie ernährte sich still, nur ab und zu gab es ein Geräusch inneren Erstickens und blinden Tastens. Die Maschine hatte ein Auge. Der gleichgültige Bediener dieser Maschine konnte mit Hilfe eines besonderen optischen Helms in die Seele der Person schauen, die gerade ausgepumpt wurde. Was sah das Auge? Das sagte der Bediener nicht. Er sah und sah wiederum nicht, was das Auge sah. Die ganze Angelegenheit war nicht unähnlich dem Ziehen eines Grabens durch den eigenen Garten. Die Frau auf dem Bett – nichts als eine marmorne Erdschicht, auf die sie gestoßen waren. Weiter geht’s, stoß den Bohrer tiefer, pump den Schlick der Leere ab, wenn sich so etwas durch das Pulsieren der saugenden Schlange heraufbringen lässt. Der Bediener stand da und rauchte eine Zigarette. Auch die andere Maschine arbeitete.

Die andere Maschine wurde von einem ebenso gleichgültigen Kerl in einem fleckabweisenden rötlichbraunen Overall bedient. Sie pumpte alles Blut aus dem Körper und ersetzte es durch frisches Blut und Serum.

»Man muss auf beide Arten säubern«, sagte der Bediener, der über der stillen Frau stand. »Hat ja keinen Zweck, den Magen auszuräumen, wenn man das Blut nicht säubert. Wenn man das Zeug drin lässt, dann trifft das Blut das Hirn wie ein Holzhammer, bäng, ein paar tausend Mal, und dann gibt das Gehirn auf, einfach so.«

»Hören Sie auf damit!«, sagte Montag.

»Ich sag ja nur«, meinte der Bediener.

»Sind Sie fertig?«, fragte Montag.

Sie verschlossen die Maschinen fest. »Wir sind fertig.« Montags Wut rührte sie gar nicht. Sie standen da, und der Zigarettenqualm wehte ihnen um die Nasen und in die Augen, ohne dass sie blinzeln oder zwinkern mussten. »Das macht fünfzig Dollar.«

»Wollen Sie mir nicht erst sagen, ob sie wieder gesund wird?«

»Aber klar, die wird wieder. Wir haben das ganze üble Zeug hier in unserem Behälter, das kann ihr nichts mehr anhaben. Hab ich doch gesagt, du nimmst das Alte raus und füllst das Neue ein, und dann bist du wieder okay.«

»Keiner von Ihnen ist Arzt. Warum schickt denn der Rettungsdienst keinen Arzt?«

»Verflucht noch mal!« Die Zigarette des Bedieners zuckte auf seinen Lippen. »Solche Fälle haben wir neun oder zehn die Nacht. Vor ein paar Jahren sind das so viele geworden, seitdem gibt’s diese Spezialmaschinen. Mit der optischen Linse natürlich, die ist neu; alles andere ist uralt. In solchen Fällen braucht man keinen Arzt; da braucht man nur zwei Handlanger, dann ist das Problem in einer halben Stunde erledigt. Hören Sie«, sagte er und ging zur Tür, »wir müssen los. Hatte gerade einen weiteren Anruf auf meinem guten alten Ohrstöpsel. Zehn Straßen von hier. Schon wieder jemand, der vom Deckel einer Pillendose gesprungen ist. Rufen Sie an, falls Sie uns noch mal brauchen. Halten Sie sie ruhig. Wir haben ihr ein Kontrasedativum verpasst. Sie wird hungrig sein, wenn sie aufwacht. Bis dann.«

Und die Männer mit Zigaretten zwischen den Strichlippen und Augen wie Puffottern packten ihre Last aus Maschinen und Schläuchen, den Koffer voller flüssiger Melancholie und den zähen, dunklen Schlick an Unbenennbarem und gingen zur Tür hinaus.

Montag ließ sich in einen Sessel sinken und betrachtete diese Frau. Sie hatte nun die Augen sanft geschlossen, und Montag streckte die Hand aus, um den warmen Atem auf der Handfläche zu spüren.

»Mildred«, sagte er schließlich.

Wir sind zu viele, dachte er. Milliarden, und das sind zu viele. Keiner kennt den anderen. Fremde kommen und verletzen dich. Fremde kommen und schneiden dir das Herz heraus. Fremde kommen und nehmen dir dein Blut. Meine Güte, wer waren diese Männer? Ich habe sie im Leben noch nie gesehen!

Eine halbe Stunde verging.

Das Blut in dieser Frau war neu, und es schien ihr etwas Neues verliehen zu haben. Ihre Wangen waren ganz rosig, ihre Lippen ganz frisch und voller Farbe, und sie sahen weich und entspannt aus. Das Blut einer anderen Person. Wenn es doch nur Haut und Gehirn und Erinnerung einer anderen Person gewesen wären. Wenn sie doch nur ihre Seele zur chemischen Reinigung gebracht hätten, die Taschen geleert, gedämpft, gesäubert, neu zusammengesetzt und am Morgen wieder zurückgebracht hätten. Wenn sie doch nur …

Montag stand auf, zog die Vorhänge zurück und öffnete die Fenster weit, um die Nachtluft hereinzulassen. Es war zwei Uhr früh. War es erst vor einer Stunde gewesen, als er Clarisse McClellan auf der Straße begegnet war, als er ins Haus gekommen, ins dunkle Zimmer getreten und gegen die kleine Kristallflasche gestoßen war? Eine Stunde erst, aber die Welt war zerschmolzen und hatte sich in einer neuen, farblosen Form wieder erhoben.

Lachen wehte über den mondfarbenen Rasen vom Haus von Clarisse und ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Onkel herüber, der so still und so aufrichtig lächelte. Ihr Lachen war überaus entspannt und herzlich, klang in keiner Weise gezwungen, und es drang aus dem Haus herüber, das so spät in der Nacht noch hell erleuchtet war, während all die anderen Häuser in der Dunkelheit für sich blieben. Montag hörte die Stimmen, die redeten und redeten, sich austauschten, redeten und ihr hypnotisches Netz flochten und umflochten.

Ohne darüber nachzudenken, ging Montag zum Fenster hinaus und überquerte den Rasen. Er stand vor dem sprechenden Haus im Schatten und überlegte sogar, ob er nicht an die Tür klopfen und flüstern sollte: »Lasst mich rein. Ich sage auch kein Wort. Ich möchte nur zuhören. Worüber unterhaltet ihr euch?«

Stattdessen stand er dort, ihm war ganz kalt, sein Gesicht eine Maske aus Eis, und er lauschte einer Männerstimme:

»Nun, schließlich ist dies ja das Zeitalter des Papiertaschentuchs. Man schneuzt sich mit einer Person, zerknüllt sie, spült sie hinunter, greift nach der nächsten, schneuzt sich, zerknüllt, spült hinunter. Jeder benutzt des anderen Rockschöße. Wie soll man denn die Heimmannschaft anfeuern, wenn man noch nicht mal ein Programm hat oder die Namen kennt? Und welche Trikots tragen sie eigentlich, wenn sie aufs Feld kommen?«

Montag ging zu seinem Haus zurück, ließ das Fenster weit offen, schaute bei Mildred nach, deckte sie sorgfältig zu und legte sich dann hin; Mondlicht fiel auf seine Wangenknochen und auf die gerunzelte Stirn, und das Licht wurde in seinen beiden Augen zu einem silbernen Wasserfall gebündelt.

Ein Regentropfen. Clarisse. Ein zweiter Tropfen. Mildred. Ein dritter. Der Onkel. Ein vierter. Das Feuer heute. Eins, Clarisse. Zwei, Mildred. Drei, Onkel. Vier, Feuer. Eins, Mildred, zwei, Clarisse. Eins, zwei, drei, vier, fünf, Clarisse, Mildred, Onkel, Feuer, Schlaf‌tabletten, Männer, Papiertaschentücher, Rockschöße, schneuzen, zerknüllen, spülen, Clarisse, Mildred, Onkel, Feuer, Tabletten, Taschentücher, schneuzen, zerknüllen, spülen. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei! Regen. Der Sturm. Der Onkel lacht. Donner grollt herab. Die ganze Welt ergießt sich. Das Feuer schießt wie ein Vulkan empor. Alles tost in einem wilden Wirbel und einem breiten Strom dem Morgen entgegen.

»Ich weiß überhaupt nichts mehr«, sagte Montag und ließ eine Schlaf‌tablette auf der Zunge zergehen.

 

Um neun Uhr früh war Mildreds Bett leer.

Montag stand mit klopfendem Herzen schnell auf, rannte den Flur entlang und blieb in der Küche stehen.

Toast sprang aus dem silbernen Toaster, wurde von einer spinnenhaften Metallhand gepackt und mit geschmolzener Butter übergossen.

Mildred schaute zu, wie der Toast auf ihren Teller gelegt wurde. Ihre Ohren waren mit den elektronischen Bienen verstopft, die unablässig vor sich hin summten. Sie blickte plötzlich auf, sah ihn und nickte.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

Nach zehn Jahren mit den Muscheln im Ohr war sie Expertin im Lippenlesen. Wieder nickte sie. Sie stellte den Toaster an, der sich tickend mit einer weiteren Scheibe Brot beschäftigte.

Montag setzte sich.

»Ich weiß gar nicht, warum ich so hungrig bin«, sagte seine Frau.

»Du –«

»Ich bin so was von hungrig.«

»Letzte Nacht –«, fing Montag an.

»Ich habe nicht gut geschlafen. Ich fühle mich schrecklich«, sagte Mildred. »Meine Güte, habe ich einen Hunger. Das versteh ich gar nicht.«

»Letzte Nacht –«, sagte er wieder.

Beiläufig las sie seine Lippen. »Was war denn letzte Nacht?«

»Erinnerst du dich nicht?«

»Was? Hatten wir vielleicht eine wilde Party? Ich fühle mich, als hätte ich einen Kater. Meine Güte, bin ich hungrig. Wer war denn da?«

»Ein paar Leute«, antwortete er.

»Dachte ich mir’s doch.« Sie aß ihren Toast. »Mein Magen ist empfindlich, aber ich bin hungrig wie nur was. Ich hoffe nur, ich habe bei der Party keine Dummheiten angestellt.«

»Nein«, sagte er leise.

Der Toaster hielt ihm mit seinen Spinnenfingern ein Stück gebutterten Toast hin. Aus reinem Pflichtgefühl nahm er es in die Hand.

»Du siehst aber auch nicht so toll aus«, sagte seine Frau.

 

Am späten Nachmittag regnete es, und die ganze Welt war dunkelgrau. Montag stand im Flur und steckte sein Abzeichen mit dem glühend orangefarbenen Salamander an. Lange stand er da und schaute zu dem Lüftungsgitter hinauf. Seine Frau im Fernsehzimmer schaute kurz von ihrem Skript auf. »He«, sagte sie. »Der Mann grübelt!«

»Ja«, sagte Montag. »Ich wollte mit dir reden.« Er hielt inne. »Du hast gestern alle Pillen aus deiner Flasche genommen.«

»Ach, das würde ich doch nie tun«, sagte sie überrascht.

»Die Flasche war leer.«