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2016, Istanbul. Die drei Freundinnen Dunya, Suna und Tuba reisen nach vielen herausfordernden und kämpferischen Monaten in der Türkei nach Portugal für einen Kurzurlaub. Nichts hält sie länger in Istanbul, wo die Lebensbedingungen für Kultur- und Medienschaffende immer schwieriger werden. Im Urlaub erreicht sie die alarmierende Nachricht, dass eine regierungskritische Akte in Dunyas Wohnung in Istanbul beschlagnahmt wurde, an der Dunya und Tuba gemeinsam gearbeitet hatten. Sie können nicht in die Türkei zurück und sind gezwungen, ins Exil zu gehen. Dunya geht nach Berlin – den Ort, an den sie mit ihrer Mutter aus der Türkei migriert war und wo sie aufgewachsen ist, damals noch als Junge. Die traumatischen Erinnerungen an diese Zeit, die Ausgrenzung und der Rassismus, mit denen sie und ihre Mutter konfrontiert waren, kehren langsam zurück. Schließlich entscheidet sich Dunya, ihre Erfahrungen niederzuschreiben und die in Istanbul beschlagnahmte Akte zu veröffentlichen – mit weitreichenden Konsequenzen für die Freundschaft der drei Frauen. Ein Roman über die gesellschaftliche und politische Situation in der Türkei der letzten Jahre, die Beweggründe das Land zu verlassen, die Lebenserfahrungen von Zugewanderten in Deutschland – sowohl in den späten 1970ern als auch heute – und die Bedeutung von Freundschaft. »Exil kann vieles bedeuten, die Trennung von einem geliebten Menschen oder das Verlassen der Heimat. Das ist, als würde einem ein Körperteil abgeschnitten, und ich will wissen, wie es Menschen schaffen, so weiterzuleben.« Barbaros Altuğ
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Barbaros Altuğ arbeitete in der Türkei als Journalist. 1999 gründete er in Istanbul die erste türkische Literaturagentur. Er ist LGBTQ-Aktivist und schreibt mit starker Stimme gegen politische Missstände in der Türkei. Er lebt in Berlin, wo er Stipendiat des PEN Writers-in-Exile-Programms ist.
Johannes Neuner ist Diplomübersetzer für Türkisch und Französisch und studierte Volkswirtschaftslehre. Er übersetzt aus dem Türkischen, u. a. Perihan Magden und Oguz Atay. 2012 erhielt er im Rahmen der Vergabe des Übersetzerpreises »Tarabya« den Förderpreis.
2016, Istanbul. Die drei Freundinnen Dunya, Suna und Tuba reisen nach vielen herausfordernden und kämpferischen Monaten in der Türkei nach Portugal für einen Kurzurlaub. Nichts hält sie länger in Istanbul, wo die Lebensbedingungen für Kulturund Medienschaffende immer schwieriger werden. Im Urlaub erreicht sie die alarmierende Nachricht, dass eine regierungskritische Akte in Dunyas Wohnung in Istanbul beschlagnahmt wurde, an der Dunya und Tuba gemeinsam gearbeitet hatten. Sie können nicht in die Türkei zurück und sind gezwungen, ins Exil zu gehen.
Dunya geht nach Berlin – den Ort, an den sie mit ihrer Mutter aus der Türkei migriert war und wo sie aufgewachsen ist, damals noch als Junge. Die traumatischen Erinnerungen an diese Zeit, die Ausgrenzung und der Rassismus, mit denen sie und ihre Mutter konfrontiert waren, kehren langsam zurück.
Schließlich entscheidet sich Dunya, ihre Erfahrungen niederzuschreiben und die in Istanbul beschlagnahmte Akte zu veröffentlichen – mit weitreichenden Konsequenzen für die Freundschaft der drei Frauen.
Ein Roman über die gesellschaftliche und politische Situation in der Türkei der letzten Jahre, die Beweggründe das Land zu verlassen, die Lebenserfahrungen von Zugewanderten in Deutschland – sowohl in den späten 1970ern als auch heute – und die Bedeutung von Freundschaft.
Barbaros Altuğ
Roman
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner
Gehen wir fort von hier
Die Gegenwart
Zum Flughafen
Wann ist eine Liebe am Ende?
Neuland
Rita
Vergessen
Die Nacht
Erinnerung
Der Traum
Der Sommer
Schon wieder
Luka
Burak
Das Leid dieser Welt
Melih
Nachrichten
Schubladen
Syrische Grenzregion – Sonderbericht
Ein neues Leben
Berlin, Oktober 2016
Ritas Geheimnisse
Berlin, Oktober 2016
Heimat
Deutschland
Ferne sonnige Tage
»Und sie wollen nicht, dass wir Unzufriedenen unsere Stimme erheben«
Melih
»Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße«
Die Schatten vergangener Sünden
Zu spät
Möwen
Die Terrasse
Heimat
Ungute Gefühle
Eine Stadt zu lieben
Melih, Selim, Ayse
Ayşes Tod
Termin
Heimat
Vergiss
Eine Suna kommt in die Stadt
Möwen flogen in diesen grünen Augen
Heimat
Amor, Vida, Vino, Afonso
Worte
Heimat
Zeki Müren soll dich küssen
Geschwätz
Lächle!
Heimat
Jugend, eine komplizierte Verheißung
Wasser
Heimat
Bedrückende Dinge
Termin
Heimat
Ein vergessener Garten
Der Weg, auf dem wir uns befinden
Das Dossier
Das Visum
Heimat
Die Zeit
Was ist das Leben?
Ende
Lesenswert: Die ersten beiden Bände der Exil-Trologie von Barbaros Altuğ.
Nicht wenn er erlebt, ist der Mensch glücklich, sondern wenn er sich erinnert.
Im Juli 2016 fand in der Türkei etwas statt, was von der Regierung als »Militärputsch« bezeichnet wurde, aber was es genau war, ist noch nicht aufgedeckt worden. Hunderte von Zivilisten wurden an jenem Tag getötet, Hunderttausende von Menschen entlassen, Akademiker und Journalisten gekündigt, Zeitungen geschlossen. Viele Intellektuelle und Akademiker, die arbeitslos geworden waren, wurden zu Kriminellen erklärt und mussten ins Ausland gehen. 94.000 Menschen ließ man verhaften. Zehntausende sitzen noch immer wegen terroristischer Anschuldigungen im Gefängnis. Alle Bemühungen der Zivilgesellschaft, die Hintergründe dieser Ereignisse aufzuklären, blieben erfolglos.
»Wer aber der Sprache dient, und sei es auch noch so unvollkommen, sollte immer auch der Wahrheit dienen.«
Anthony Burgess, Der Fürst der Phantome
August 2016, Cihangir
Es war die Zeit, in der viele von uns mit dem Gedanken spielten, das Land zu verlassen. Wir waren bedrückt. Uns war klar geworden, dass die schönen Tage, die wir nicht richtig zu schätzen gewusst hatten, nun für immer vorbei waren. Der Sommer ging seinem Ende entgegen, doch nach wie vor war es heiß. Vielleicht nicht ganz so heiß wie in den vergangenen Jahren, aber definitiv war Istanbul für uns nicht mehr dieselbe Stadt; eine langwährende Gemeinschaft schien allmählich zu zerfallen. Unsere Stammlokale hatten geschlossen, unsere Lieblingsdichter saßen im Gefängnis und es erschienen immer weniger Bücher, die wir noch hätten lesen wollen.
»Jedenfalls war noch keine von uns dort«, sagte Suna, indem sie den Rauch ihrer sehr, sehr dünnen Zigarette zur Seite fortblies. Wir saßen an einem schattigen Tisch am Ende einer zu beiden Seiten von Cafés gesäumten Straße in Cihangir und tranken Eistee. Wie fast alle redeten auch wir darüber, der Stadt mal den Rücken zu kehren. Sunas Freundin war mitsamt ihrer drei Kinder nach Lissabon ausgewandert und kam offenbar aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Auswandern wollten wir zwar nicht gleich, aber doch wenigstens wieder frei atmen können. »Fünf Tage lang gefällt es einem überall, besonders, wenn man noch nie dort war«, sagte Suna. Da hatte sie recht; nahezu alles ist irgendwie interessant, wenn man es gerade neu entdeckt. »Mir ist es schnuppe, ich hab ja sowieso nichts zu tun«, sagte Tuba. Sie gehörte seit einem Jahr zu der Heerschar arbeitsloser Journalistinnen und Journalisten. »Wenn du wirklich gut wärst, hätten sie dich ins Gefängnis gesteckt. Aber deine Artikel waren so harmlos, dass du einfach bloß entlassen wurdest«, so zogen wir sie auf.
Als wir von unserem Tisch aufstanden, war bereits alles in trockenen Tüchern. Wir hatten Tickets für einen Flug nach Lissabon um 11.50 Uhr des nächsten Tages gebucht und einen Mietwagen reserviert. Möglich, dass der Wodka, mit dem wir den Eistee aufgepeppt hatten, seinen Teil dazu beigetragen hatte, aber so war es jetzt eben. Wir würden nach Lissabon fliegen: Suna, Tuba und ich, Dunya. Gleichfalls dem Wodka zu verdanken war es vermutlich, dass wir keinerlei Angst mehr vor Düsenjägern hatten, wie sie noch im letzten Monat über dieselben Straßen geflogen waren, durch die wir nun gingen, ohne dass wir uns im Schatten der Bäume hätten verstecken können, die es längst nicht mehr gab. Seit einer Ewigkeit waren wir erstmals wieder von Hoffnung erfüllt. Wie sehr wir alle, jedenfalls vorübergehend, auf diese Hoffnung noch angewiesen sein sollten, das würden wir in Lissabon erfahren.
Die Bedeutung der Gegenwart wird einem meist erst im Nachhinein klar. Denn die Gegenwart trägt die Schatten der Vergangenheit in die Zukunft. Solange man jedoch selbst nicht involviert ist, kann man die Bedeutung der Gegenwart auch an der Vergangenheit ablesen. So wissen wir zum Beispiel, dass Tuba bald zu Melih sagen wird, dass sie ihn nicht mehr liebt. Sie wird nach Hause gehen und es tun; das hat sie uns gestern Abend schon angekündigt und heute noch einmal. Es ist der Schlussstrich unter ihrer siebenjährigen Ehe. Nur Melih weiß noch nicht, was auf ihn zukommt.
»Beziehungen sind wie alte Bekannte«, sagte Tuba, als sie es uns erzählte. Sie schlug ihre blauen Augen nieder, aus denen der frühere Glanz gewichen war. »Man gewöhnt sich mit der Zeit an sie und ist sie irgendwann leid«, fuhr sie fort, ehe sie eilig, wohl aus der Befürchtung heraus, wir könnten sie falsch verstehen, hinzufügte: »Was natürlich nicht heißt, dass man nichts mehr mit ihnen zu tun haben will, aber man braucht doch ab und zu ein bisschen Abwechslung. Nicht wahr?« Sie erwartete keinen Widerspruch, sondern Bestätigung; es war klar, dass an ihrer Entscheidung nicht mehr zu rütteln war.
Tuba ist seit sieben Jahren mit Melih verheiratet. Vorher hatten sie drei Jahre lang ein Verhältnis, doch als sie beschlossen, ein gemeinsames Kind haben zu wollen, setzten sie sich zusammen und sagten sich: »Dann heiraten wir wohl am besten.« Der Kindersegen blieb aus, aber sollten sie sich deswegen scheiden lassen? Die Ehe änderte schließlich nichts an ihrer Liebe. »Wir haben mindestens viermal pro Woche Sex, stell dir das vor! So war es vorher mit keinem. Und das wird auch so bleiben«, hatte sie an ihrem ersten Hochzeitstag zu mir gesagt. Ich erinnere mich noch an jedes Detail: an ihre tirilierende Stimme, daran, wie ihre blauen Augen funkelten, wenn sie Melih anblickte, und an die Hände der beiden, die nach jeder – meist sehr kurzen – Trennung wieder zueinanderfanden wie zwei Schlingpflanzen. Während sie ihren Jahrestag feierten, versuchte ich gerade, über den schlimmsten Liebeskummer hinwegzukommen, den ich je erlebt hatte. Ich war so überzeugt davon, es nicht zu schaffen, dass ich mich völlig von der Außenwelt abgeschottet hatte; ich hatte mich ins Schlafzimmer eingeschlossen, die Vorhänge zugezogen, ging nicht mehr aus dem Haus und sprach mit keinem. Die innere Schwärze hatte sich über mein ganzes Leben gelegt.
Aber es gab ja noch Tuba, und es begann mit ihren Anrufen. Weil ich diese nicht entgegennahm, ging sie dazu über, mir SMS zu schicken. Und nachdem ich das Telefon abgeschaltet hatte, stand sie plötzlich vor meiner Haustür. Allerdings nicht allein: Melih und ein Mann vom Schlüsseldienst waren dabei. Ich hatte das Schlafzimmer noch nicht verlassen, da war das Schloss bereits geöffnet und Tuba marschierte auf mich zu.