Außerfern - Gerhard Köpf - E-Book

Außerfern E-Book

Gerhard Köpf

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Beschreibung

Marandjosef, ruft die Mutter erschrocken beim Anblick ihres neugeborenen Sohnes, da er aussieht wie ein Mädchen. Sein Äußeres wird fortan sein ganzes Leben bestimmen und ihn zu einem besonders bizarren Fall für die Justiz werden lassen. Der Jüngling erschleicht sich in der turbulenten Zeit der napoleonischen Besatzung und der Aufstände unter Andreas Hofer, als Magd verkleidet, das Vertrauen seiner Herrschaft, bis er diese ausraubt und das Weite sucht. Während die Gendarmen noch nach der dreisten Magd suchen, taucht der zart gebaute Mann längst in den Wirren der Zeit unter und sucht sich auf seinen Beutezügen neue Opfer. Seine Erinnerungen und Anekdoten aus seinem kreuzqueren Leben lässt er von einem Zillertaler Exulanten und Tierpräparator, der als Letzter Zugang zu seinem verborgenen Herzen gefunden hat, in seine eigene Haut binden.

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Seitenzahl: 150

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GERHARD KÖPF

AUSSERFERN

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Mario Wurmitzer

Coverfoto: © shutterstock | Samet Guler.

ISBN 978-3-99200-212-2

eISBN 978-3-99200-213-9

… man lebte dazumal von den Erinnerungen,wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit,schnell und nachdrücklich zu vergessen.

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Es sind die Anekdoten,die den Mythos ausmachen.

Johann Baptist von Peilstein

Inhalt

VORWORT

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

CODA

Quellen, Anregungen und Zitate

VORWORT

Nichts ist entschieden, und nichts geht verloren. Alles kann wiedergefunden werden, solange Trost und Kraft reichen und unsere Sehnsucht ungehemmt begehrt.

Mit diesen Worten beendete ich 1983 meinen ersten Roman Innerfern.

Jetzt bin ich doppelt so alt wie damals, und noch immer erkenne ich in diesen Sätzen mein Programm. Es ist mir in meinen Büchern stets um das zu tun gewesen, was nicht vergessen werden soll und sich in den Biografien jener Menschen ausdrückt, an die ich erinnern möchte. Das Erzählen ihrer Geschichte gilt mir bis heute als meine Möglichkeit, die verstreichende Zeit einen Augenblick lang anzuhalten und dem großen Vergessen zu trotzen, das auf uns alle wartet.

Noch aber ist nichts entschieden, und nichts geht verloren, solange …

G. K. im Sommer 2018

ERSTER TEIL

Marandjosef, rief die Mutter erschrocken beim Anblick ihres neugeborenen Sohnes, der ungewöhnlich zart war und aussah wie ein Mädchen, weshalb sie, die inständig auf einen strammen Stammhalter gehofft hatte, vor Entsetzen die Mutter Gottes anrief. Marandjosef: Das sollte dem Büblein künftig als Name anhängen. Die Mutter bat sogleich die Hebamme, die ob dieser Laune der Natur ebenso erstaunt war wie die Wöchnerin, einen Rosenkranz für das Wohl des Kindes zu beten. Die Taufe war betrüblich, und der eigens aus dem Passeiertal angereiste Taufpate sowie der gleichfalls enttäuschte Vater, der allseits bekannte Wirt vom Gasthof zu den Drei Raben, schauten sorgenvoll auf den Hänfling.

Eine umherziehende Wahrsagerin hatte noch wenige Wochen vor der Niederkunft behauptet, das Kind werde unter einem geheimnisvollen Zeichen geboren, das die seltsamen Wege bestimme, auf denen es durch die Welt gehen müsse. Aber welches Zeichen mag sie gemeint haben? Das des Widders? Nein, denn der Säugling war trotz seines Aussehens, das einem Lämmchen glich, nicht so dumm wie ein Schaf. Er war nicht der Stier, denn zum Schuften und zur Sklavenarbeit war er nicht bestimmt. Auch war es nicht der Schütze, denn Lust auf Wildbret hat er nie empfunden. Steinbock also? Nein, er war immer lieber im Tal als auf dem Berg. Noch weniger war es der Wassermann, denn ein Trinker war er nie, obgleich er in einer Gastwirtschaft aufwuchs. Der Krebs hätte gepasst, denn seine klügsten Geschäfte liefen oft rückwärts. Es war das Zeichen der Jungfrau. Ihr Kostüm hat ihn in der Welt leuchten lassen, und hinter ihrer Maske verbarg sich oft genug der Schelm. Wenn ihm nicht bei Zeiten ein Bart gewachsen wäre, so hätte er noch fünfzigjährig als Frau agieren können.

An eine weitere Besonderheit soll erinnert werden: Während die Mutter dem schmächtigen Wesen die Brust gab, spielte das Kleine gedankenverloren mit dem filigranen Goldmedaillon, das die Mutter als Hochzeitsgeschenk ihrer ladinischen Großmutter um den Hals trug. Von diesem Augenblick an war der Knabe vom Gold wie magisch angezogen und konnte sein Lebtag nicht mehr davon lassen. Er war seinem Glanz verfallen.

Vom ersten Tag an lag ein Geheimnis über ihm, dem wegen seiner hellen Haut, die man seinerzeit eine noble Blässe nannte, und seiner zarten Gestalt nicht der Gastwirt von den Drei Raben als leiblicher Vater zugeschrieben wurde, sondern keinem Geringeren als Albrecht Konrad von Hohenegg aus dem Geschlecht derer von Hohenegg, die einst als Ministerialen auf der nahen Burg Vilsegg ansässig gewesen waren und nun in den Diensten der französischen Königin Marie-Antoinette standen, einer Tochter von Kaiser Franz I. von Lothringen und Maria Theresia von Österreich. Ihre schwere Geburt sowie das Erdbeben von Lissabon, welches am Tag zuvor stattgefunden hatte, wurden als böses Vorzeichen für den weiteren Lebensweg von Maria Antonia gedeutet, wie sie getauft hieß. Der noble Herr von Hohenegg war nämlich neun Monate vor der Niederkunft der Rabenwirtin durch Vils gereist, hatte im Gasthof übernachtet und schon am ersten Abend allseits bemerkbaren Gefallen an der Wirtin gefunden, die aus dem Passeiertal stammte und deshalb angeblich italienisches Blut in den Adern hatte. Man war sich einig darin, der Hohenegger sei ihr beigelegen und habe in jener Nacht, in der Blitz und Donner über dem Inner- wie dem Außerfern niedergegangen seien, einen Sohn gezeugt. Nur der Rabenwirt selbst wollte nicht als Gehörnter dastehen und tat dies als dummes Wirtshausgeschwätz ab. Aber der Zweifel war von da an seiner Seele eingepflanzt, der Mann sei vom Tag der Geburt des mädchenhaft schmächtigen Josefleins an nie mehr so fröhlich gewesen wie all die Jahre zuvor.

Noch eine andere, weit abenteuerlichere Variante machte ein paar Jahre später die Runde. Vermutlich von einem durchreisenden Hausierer aus dem hinteren Lechtal stammte die Legende, das Büblein sei in Wirklichkeit niemand anderer als der verschwundene Dauphin, rechtmäßiger Erbe der französischen Krone, seit seine Eltern, Ludwig XVI. und Marie Antoinette, im Revolutionsjahr 1793 auf der Place de la République in Paris geköpft wurden. Es sei erwiesen, dass Albrecht Konrad von Hohenegg als Liebhaber die Königin geschwängert habe und er, der wirkliche Vater, den Bankert aus Frankreich herausschmuggeln, auf seine Burg Vilsegg habe bringen und der schwangeren Wirtin unterschieben können. Josef und der verschwundene Kronprinz jedenfalls waren im selben Jahr geboren: 1785 – der eine im Schloss Versailles, der andere in der Kammer der Wirtsleute des Gasthofs Drei Raben zu Vils, der kleinsten Stadt in Tirol.

Einem Wort des Alt-Landeshauptmanns Eduard Wallnöfer zufolge gibt es in Tirol mehr Blaskapellen als Einwohner, und Tirol sei „mehr als ein Zoo bunter Trachtenträger“. Nirgendwo auf der Welt gibt es auf so engem Raum so viele Burgen wie dort. Errichtet auf Bergspornen, an Hängen und auf schwer zugänglichen Höhen, aufgeworfenen Kuppen und Felsklötzen und geschützt durch Abgründe oder Flüsse wachen sie schier uneinnehmbar über Transport- und Handelswege, Straßenkreuzungen und Brücken. Sie sind als herrschaftlicher Ansitz nicht nur Status- und Machtsymbol, sondern ebenso Wehr- und Wohnbau, letzter Zufluchtsort, Amtsgebäude, Maut- und Steuerstelle, Rentamt, als Zwing- und Fronburg zugleich Hohes Gericht und Gefängnis. All diese Funktionen der Burgen sowie die Sicherung des eigenen Herrschaftsbereiches, aber auch der Wege von Deutschland nach Italien hatten nichts Romantisches an sich, das sich erst sehr viel später auf bunten Postkarten entfaltete.

Jede dieser Burgen, deren Errichtung einst das Privileg regierender Fürsten war, birgt ihr eigenes Geheimnis und hat eine unerzählte Geschichte, die so lange wartet, bis einer kommt, sich auf sie einlässt und schließlich ans Licht bringt, was das Geheimnis zwischen Geschichte und Geschichten ausmacht, das die Engländer in dem feinen Unterschied von Story und History ausdrücken.

Die geografische Lage Tirols, südlich am Alpenübergang ins Italienische wie westlich ins Schweizerische, die engen Täler und die wenigen, dafür umso bedeutenderen Verkehrs- und Handelsstraßen begünstigten den Bau von Burgen, die zugleich den namhaften Adelsgeschlechtern Heim und Ansehen garantierten. Besonders im Außerfern, wie der Nordtiroler Bezirk Reutte auch genannt wird, finden sich zahlreiche Burgen nicht nur von historischer Bedeutung. Außerfern grenzt im Norden an das bayerische Allgäu und das Werdenfelser Land, im Süden an die Bezirke Landeck und Imst und im Westen an Vorarlberg mit den Bezirken Bregenz und Bludenz. Seinen Namen hat das Außerfern nicht nur vom althochdeutschen Wort firni (Bezeichnung für vorjährigen Schnee; ein Ferner ist ein Gletscher), sondern auch von „Außer dem Fern“, womit der Fernpass gemeint ist, denn Außer- und Inner- sind im Tirolischen häufig beschreibende Zusätze zu einem Tal und unterscheiden zwischen dem Taleingang und den hinteren Talbereichen oder zwischen dem Talabschnitt vom Hauptort des Tales flussabwärts und den Bereichen bergeinwärts oder einfach die Richtungen talein- und auswärts. So verstanden bezeichnet Außerfern folgerichtig das Tal bis zum Fernpass. Er war die einzige wintersichere Verkehrsverbindung ins Inntal.

Dies ist die Landschaft, in der unsere Geschichte spielt, wobei die eng aneinander liegenden unterschiedlichen Bezirke mit ihrer jeweils eigenen Gerichtsbarkeit eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Hatte beispielsweise einer im Bezirk Reutte etwas angestellt, so konnte er innerhalb eines Tages auf Schmugglerwegen über den Fernpass in den Bezirk Imst und von dort weiter in den Bezirk Landeck oder innabwärts Richtung Kufstein fliehen und sich auf diese Weise zunächst der zuständigen örtlichen Justiz entziehen. Das Auge des Gesetzes blieb jedoch wachsam, und die sich stetig verbessernde Zusammenarbeit der Behörden schließlich machte es den Gaunern und dem fahrenden Volk zunehmend schwerer.

Allerdings müssen wir ganz woanders beginnen, denn der Ausgangspunkt unserer Geschichte liegt nicht in Tirol, sondern in einem Ladengeschäft in der Innerschweiz: Der unregelmäßig erscheinende Antiquariatskatalog der Kränzlinschen Kunst- und Verlagsbuchhandlung zu Luzern, der mir vor einigen Jahren auf einer Reise zufällig in die Hände gefallen ist, verzeichnet auf der letzten Seite einen Band von Lebenserinnerungen eines mir unbekannten Autors mit dem unglaublichen Vermerk: Gebunden in Menschenhaut. Wenige Wochen nach diesem kuriosen Fund hielt ich mich in Amsterdam auf. Einer alten Gewohnheit folgend führten mich meine Wege zu Kunsthändlern und Trödelläden. Und tatsächlich: Das besagte Werk, auf das ich in Luzern gestoßen war, erschien im Register eines Amsterdamer Auktionshauses als besondere Rarität – Gebunden in Menschenhaut – und war mit einer Summe von fünfzigtausend Schweizer Franken ausgezeichnet. Auf der Stelle beschloss ich, der Angelegenheit nachzugehen, und erhielt ohne größere Umstände vom Auktionator die Auskunft, das Buch befinde sich nunmehr im Besitz der Bibliothek der University of Otago, Dunedin, Neuseeland, der südlichsten Universität der Welt. Der Auktionator, ein sympathischer älterer Herr mit feinen Umgangsformen, klärte mich überdies in freundlichem Singsang darüber auf, dass die Verwendung von Menschenhaut, etwa von hingerichteten Kriminellen, zum Einbinden von Büchern im 19. Jahrhundert nicht unüblich gewesen sei. So beherbergten, wie er wusste, die Bestände der Harvard-Universität beispielsweise ein Exemplar des Bandes Des destinées de l’âme des französischen Schriftstellers und Kunstkritikers Arsène Houssaye, vormals Geschäftsführer der Comédie-Française und Offizier der Ehrenlegion, das in Menschenhaut gebunden ist. Wenn man genauer darüber nachdenke, meinte Mijnheer Veenstra, so verdiene ein Werk über die menschliche Seele durchaus auch eine menschliche Hülle. Schließlich sei die Haut jenes vielseitige Organ, das innen und außen nicht nur trenne, sondern auch verbinde. Der Antiquariatskatalog der Pfefferschen Verlagsbuchhandlung Berlin des Jahres 1936 habe, wie mich der gelehrte Herr aufklärte, drei Bände indianischer Märchen mit der Spezifikation Gebunden in Menschenhaut verzeichnet. Das einzige erhaltene Exemplar des selten nachgefragten Buches sei 1942 in Brügge versteigert worden und befinde sich – seines unmaßgeblichen Wissens, wie Mijnheer Veenstra vorsichtig einschränkte – am Ethnologischen Institut des Bennington College in Vermont. Bei dem Verfasser des von der Kränzlinschen Verlagsbuchhandlung zu Luzern angebotenen Exemplars handle es sich seinen Nachforschungen zufolge mutmaßlich um einen Tierpräparator und Plastinator namens Konrad Bronoth, der in dem Buch sein Innerstes ausbreite, das konsequenterweise deshalb auch von seiner eigenen Haut zusammengehalten werde. Er habe das Werk selbst in Händen gehalten, der Einband fühle sich einerseits weich, andererseits seltsam fest und strapazierfähig an und sei von einer für das Auge angenehm leichten Bräune. Ein Unwissender könnte sogar zu dem Eindruck gelangen, eine in feines Ziegenleder gebundene bibliophile Kostbarkeit zu berühren. Aber es sei Menschenhaut, die freilich nichts mit durchsichtig schimmerndem Pergament oder knisterndem altem Seidenpapier zu tun habe, wie landläufig fälschlicherweise immer wieder behauptet werde. Er für seine Person, meinte der noble Herr, habe übrigens begründete Zweifel, dass sich das fragliche Exemplar nach wie vor an der University of Otago in Neuseeland befinde. Gerade in den letzten Jahren seien nämlich mehrfach via Internet Käufer des Werkes in Erscheinung getreten, jedoch niemals persönlich. Sie hätten ihr Geschäft stets diskret über Strohmänner sowie diverse Deckadressen online abgewickelt. Wo sich das seinerzeit von der Kränzlinschen Kunst- und Verlagsbuchhandlung zu Luzern angebotene Exemplar augenblicklich befinde, entziehe sich leider seiner Kenntnis. Eine vielversprechende Spur führe allerdings in den Süden, genauer gesagt in die Hauptstadt Tirols, nach Innsbruck. Er selbst vertrete übrigens die von den wenigen Experten auf diesem Gebiet als gänzlich abstrus bezeichnete Theorie, das fragliche Werk sei nicht von jenem Tierpräparator Bronoth verfasst worden, sondern von einem namenlosen Einsiedler, denn es sei im letzten Jahrhundert bei Ausgrabungsarbeiten der Ehrenberger Klause östlich von Reutte aufgefunden worden, und zwar genau dort, wo sich die Festungsanlage des Burgen- und Festungsensemble Ehrenberg erhebt, die aus vier unterschiedlichen Teilen bestehe: dem Sperrgebäude der Klause, der Burgruine Ehrenberg, der Festung am Schlosskopf und dem Fort Claudia. Seiner Ansicht zufolge sei das Hautbuch von einem Klausner verfasst worden, und der Präparator Bronoth, der sonst den adeligen Tiroler Jagdherren für ihre Empfangshallen die Fasane und Auerhähne plastiniert hatte, sei es gewesen, der dem verstorbenen Einsiedler die Haut abgezogen und sein Buch gemäß seinem ausdrücklich schriftlich festgelegten letzten Willen in seine, will sagen, die Haut des Verfassers gebunden habe. Aber das sei nur seine persönliche Meinung, betonte Mijnheer Veenstra, die von den akademischen Experten naturgemäß verworfen und als unsinnig abgetan werde. Er jedoch frage sich, was habe ein Präparator schon groß zu erzählen im Vergleich zu der Lebensgeschichte eines Einsiedlers, der ja nicht als solcher auf die Welt gekommen sei, sondern zuerst einmal das eine oder andere Leben geführt haben müsse, ehe er sich für die Kartause entschieden habe. Hinter so einer Biografie stecke doch im Schwarzen unter dem kleinen Fingernagel mehr als in der mit Plunder überfüllten Werkstatt eines langweiligen Tierpräparators.

Da erinnerte ich mich, auf dem mir seit Kindesbeinen vertrauten Friedhof meines Heimatdorfes schon einmal den Namen Bronoth gelesen zu haben. Ich hatte ihn mir gemerkt, weil dieser Name in der Gegend unüblich war. Dort hießen die Leute beispielsweise Huizle oder Boldesser, aber niemals Bronoth. Es sei denn, es handelte sich um einen Flüchtling. Bei meinen Nachforschungen wenige Wochen später stieß ich lexikalisch auf einen gewissen Johann Nathanael Bronoth, 1711–1756, Mitglied der Londoner Royal Society, Chirurg und Erfinder diverser Mikroskope. Neben seinen physiologischen Arbeiten wurde dieser Professor Bronoth vor allem auch durch seine anatomischen Präparate und seine Erstbeschreibung der Bronothschen Drüsen bekannt. Begraben sei der Forscher in Berlin, eine Sammlung seiner Präparate befinde sich im Anatomischen Institut der Humboldt-Universität. Auf dem Friedhof meines Nestes lag also bestenfalls ein entfernter Verwandter dieses Forschers.

Sollte das schon alles gewesen sein? Ich war enttäuscht, nicht mehr über das Hautbuch herausgefunden zu haben. Daraus erwuchs der Entschluss, der Angelegenheit jetzt erst recht nachzugehen und weiterzuforschen. Der Augenblick dafür war günstig, denn vor einem halben Jahr war ich in den Ruhestand getreten und verfügte über eine zwar nicht üppige, aber durchaus ausreichende Rente, um künftig das privilegierte Dasein eines Privatgelehrten führen und meinen persönlichen Interessen frönen zu können.

Sorgfältige Recherchen in diversen Bibliotheken und Archiven, in die ich mich mit stetig wachsender Leidenschaft stürzte wie in eine späte Liebesaffäre, verwiesen mich zuletzt auf einen Einsiedler, der nach dem Vorbild alttestamentarischer Wüstentheologie seine Erfahrungen als Anachoret aufgeschrieben und testamentarisch angeordnet haben soll, seine Gedanken in seine eigene Haut zu binden. Nach einem abenteuerlichen Leben oft jenseits der Grenzen von Sitte und Anstand habe er sich entschieden, die letzten Jahre seines Daseins als Eremit zuzubringen. Von nun an wolle er, ließ er verlauten, den Namen Bruder Konrad tragen, benannt nach seinem Vorbild Corrado Confalonieri, einem Adeligen aus dem Piacenza des 14. Jahrhunderts, von dem es hieß, er habe durch ein Feuer, das er zum Aufscheuchen des Wildes gelegt habe, eine Feuersbrunst ausgelöst, für die man einen Unschuldigen verantwortlich gemacht habe, der sogleich hingerichtet werden sollte. Daraufhin habe sich Corrado gestellt, sei mit seinem gesamten Vermögen für den Schaden aufgekommen und mittellos als Büßer auf Pilgerfahrt gegangen, bis er an die Südspitze Siziliens gelangt sei, wo er als Eremit gelebt, Kranke gepflegt und sich durch Gebetsversenkung in einen ekstatischen Zustand versetzt habe, in dem er auch gestorben sei.

Als Leit- und Schlüsselwort für meine Recherchen setzte sich der Begriff Einsiedel in mir fest, verbunden mit den dazugehörigen Attributen Klause, Kartause und Eremitage. Im Rahmen weiterer Nachforschungen zum Eremitentum im theologischen wie im weltlichen Sinne des Wortes stieß ich schließlich zufällig im Internet, das einen auf die abstrusesten Abwege zu locken versteht, auf die bisher unerforscht gebliebene Geschichte eines Tiroler Einsiedlers, von der ich von Anfang an das diffuse Gefühl hatte, sie hänge auf geheimnisvolle Art und Weise mit dem Buch zusammen, das seinerzeit im unregelmäßig erscheinenden Antiquariatskatalog der Kränzlinschen Kunst- und Verlagsbuchhandlung zu Luzern angeboten worden war – mit dem Vermerk: Gebunden in Menschenhaut.

Den Frühsommer letzten Jahres verbrachte ich als Feriengast im Hotel Central in Innsbruck. Geplant war, ein wenig in der Umgebung zu wandern und etwas für meine Gesundheit zu tun. Doch noch ehe ich mich in die freie Natur aufmachen konnte, musste ich, einem inneren Zwang folgend, die Altstadt erkunden, über einen Friedhof flanieren, alte Grabsteine entziffern, in Buchhandlungen und Antiquariaten stöbern. In der Herzog-Friedrich-Straße entdeckte ich, versteckt in einem Laubengang, Gscheidts Parnassische Buch- und Literaturhandlung, die ich auf der Stelle betrat. Rasch wurde ich in ein Gespräch mit dem Besitzer namens Leander Gscheidt verwickelt. Der Mann war etwa in meinem Alter, vielleicht ein paar Jährchen jünger, trug die Haartracht eines Altachtundsechzigers, maß an die zwei Meter und war sogleich überaus gesprächig, vielleicht, weil sonst keine Kunden im Laden waren.