Das Dorf der 13 Dörfer - Gerhard Köpf - E-Book

Das Dorf der 13 Dörfer E-Book

Gerhard Köpf

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Beschreibung

Eine Reise, die einem langen Spaziergang gleicht, führt einen älteren Journalisten nicht nur geografisch aus der Hauptstadt in die Provinz, sondern auch zeitlich zurück in die beginnenden 1950er-Jahre, als die Republik noch im Entstehen war. Anhand der Erinnerungen an die unterschiedlichsten Menschen und Charaktere aus seiner Kindheit entsteht ein buntes und vielfältiges Bild einer dörflichen Gemeinschaft, in der alles ganz nah beieinanderliegt: die verlorene Illusion neben den hoffnungsvollen Träumen von der Zukunft, die Schatten der Vergangenheit neben den sich neu eröffnenden Chancen auf ein besseres Leben. Private Erinnerung und kollektives Gedächtnis gehen hier eine eng verschlungene Verbindung ein, die sich erst im Rückblick erschließt und geleitet wird von der Frage, wie wir wurden, was wir sind.

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Seitenzahl: 274

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Gerhard Köpf

Das Dorf der 13 Dörfer

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2017

© 2017 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Mario Wurmitzer

Coverfoto: © iStock | tajborg

ISBN Printausgabe:978-3-99200-185-9

ISBN E-Book: 978-3-99200-186-6

Inhalt

Das Dorf der 13 Dörfer

Anregungen, Quellen und Zitate:

Es war einmal eine Zeit,von der manch einer glaubt,sie währe noch immer.

Cees NooteboomIn den niederländischen Bergen

Zuletzt war es fast so,als sei überhaupt nichts geschehen inzwischen.Das Wasser der Zeit stand klar, Schicht über Schicht,ja, Jahrzehnt über Jahrzehnt,und beinahe hätte man vermeinen können,dass man bis auf den Grund hinunter zu sehen vermöge.

Heimito von DodererDer Grenzwald

Weißt du noch? Da war dieser alte Mann mit der Taube. War das in Lissabon oder habe ich es irgendwo gelesen?, frage ich meine Frau. Erinnerst du dich, wie wir uns überlegt haben, ob er sie verscheuchen will oder ihr nachfliegen? Mitten in diesen Gedanken platzte der Anruf: Fahren Sie ins Dorf der 13 Dörfer. So lautete der Auftrag meines Senders. Dabei bin ich seit mehr als 30 Jahren für das Kalenderblatt zuständig. Es besteht aus Nachrufen und kurzen Feuilletonartikeln. Nichts Großes mithin, eher schnelle Kleinware. Kaum gesendet, schon vergessen. Verschwunden im Äther, wie man früher sagte. Ein Kalenderblatt dauert eine Viertelstunde. Das sind knapp fünf Seiten à 30 Zeilen mit je 60 Anschlägen. Mehr Wort, behauptet die Redaktion, ist den Hörern nicht mehr zuzumuten.

Stirbt ein berühmter Schriftsteller, erzähle ich im Radio, wer und was er war. Manchmal tue ich dabei so, als hätte ich ihn persönlich gekannt, obwohl das fast nie stimmt. Ich komponiere nur seinen Nekrolog. Meine Arbeit sorgt dafür, dass der Verstorbene bei den Hörern im Gedächtnis bleibt. Das ist die Hoffnung. Gelegentlich schreibe ich schon mal auf Vorrat, denn eine Kulturredaktion sollte vorbereitet sein. Ein guter Nachruf formuliert sich nicht im Handumdrehen. Das ist nicht mit ein paar Jahreszahlen und Buchtiteln abgetan. Es muss der Mensch dahinter sichtbar werden. Wenigstens in Umrissen. Dass es das Kalenderblatt überhaupt noch gibt, verdankt sich einem Selbstbetrug. Angeblich erfüllt es einen „Bildungsauftrag“. Die Redaktion liebt solche Floskeln, die sie in ihren Pressemitteilungen strapaziert. Man pflegt eine Fata Morgana, an die nicht einmal mehr der Intendant dieser Anstalt des öffentlichen Rechts glaubt. Wir alle leben von den Illusionen, die wir von uns selbst haben.

Nekrologist. Das klingt interessant. Jedenfalls gebildet. Grabredner ist fast wie Totengräber. Ein krisensicherer Job, möchte man meinen, denn gestorben wird immer. Seit es das Internet gibt, hat sich meine Auftragslage allerdings deutlich verschlechtert. Mittlerweile kann jeder legasthenische Sportredakteur die Fakten googeln und im Handumdrehen mithilfe einiger wohlfeiler Textbausteine einen Nachruf zusammenschustern. Im Grunde genommen braucht man mich also gar nicht mehr.

Deshalb bin ich gezwungen, Nebentätigkeiten anzunehmen. Eine Zeit lang hatte ich einen schlecht bezahlten Lehrauftrag an der Universität und hielt Proseminare in Literaturgeschichte. Bald verlor ich die Begeisterung daran, denn die wenigsten Studenten haben heute noch Vergnügen am Lesen, und Fontane ist für sie ein Zeitgenosse von Walther von der Vogelweide. Außerdem halte ich nichts davon, die Literatur zu zerhacken und sich nur noch mit Textkastraten als Übungsleichen zu befassen.

Schließlich vertraute man mir im Funk neben dem Kalenderblatt noch Das Zwölfuhrläuten an. Diese Sendung gab es schon in den Fünfzigern. Damals hieß sie Das Sonntagsglöckchen. Ein „Format“ (wie man heute sagt) des Regionalprogramms – Redaktion: Land und Leute – das jeden Sonntag Schlag 12 Uhr mittags läuft. Dauer: exakt 10 Minuten. Am Anfang hört man eine O-Ton-Aufnahme vom Geläut irgendeiner Dorfkirche. Darüber lege ich dann mit sanfter Stimme meinen Text und beginne mit der geografischen Lage. Zum Beispiel: „Hoch über dem Donautal erhebt sich …“ Es folgen die wechselvolle Geschichte der Kirche, meist seit dem Dreißigjährigen Krieg, und, sofern vorhanden, Anmerkungen zu den kunsthistorischen Besonderheiten. Irgendeinen spätbarocken Michael, eine halb italienische Madonna oder einen einheimischen Josef findet man fast überall.

Allerdings gab es bei dieser Aufgabe etwas, das mich hemmte. Es war die Erinnerung an eine Abbildung im Lesebuch zu Goethes Ballade Die wandelnde Glocke:

Es war ein Kind, das wollte nie

Zur Kirche sich bequemen,

Und sonntags fand es stets ein Wie,

Den Weg ins Feld zu nehmen.

Die Mutter sprach: »Die Glocke tönt,

Und so ist dir’s befohlen,

Und hast du dich nicht hingewöhnt,

Sie kommt und wird dich holen.

Das machte mir Angst. Im Zwölfuhrläuten, zu dem man oft auch Mittagsläuten oder Angelusläuten sagt, vereinigt sich bekanntlich Sakrales mit Weltlichem. Der Klang der Glocken soll die Menschen aus ihrem Alltagstrott holen und ihnen bewusst machen, dass ihr irdisches Streben einer höheren, göttlichen Macht unterliegt. Außerdem wurde früher damit den Bauern und Handwerkern die ersehnte Mittagspause angekündigt.

Der Brauch geht zurück auf die Zeiten, da die türkischen Heere das christliche Abendland bedrohten. Papst Kalixt III. ordnete 1456 an, mit dem Angelusläuten die Gläubigen zum Gebet für einen Sieg über die Türken aufzufordern. Viele Päpste nach ihm haben den Beschluss übernommen. Während des Läutens mussten mit entblößtem Haupt drei Vaterunser und drei AveMaria gebetet werden. Als schließlich das gefürchtete Heer des Sultans bei Belgrad entscheidend geschlagen wurde, diente das Glockenläuten dem Ausdruck der Freude über die besiegten Türken, weswegen das Mittagsläuten mancherorts unter den alten Leuten bis auf den heutigen Tag als Türkenläuten bekannt ist. Hier und dort finden sich sogar noch Kirchen, in denen „Türkenglocken“ hängen, die angeblich aus eroberten türkischen Kanonen gegossen wurden. Als ich diese Geschichten einmal in einem Sendemanuskript unterbringen wollte, wurde es mir prompt gestrichen. Grund: Political Correctness! Bekanntlich ist sie der Heiligenschein der Scheinheiligen. Es hieß, der Begriff Türkenläuten sei kontaminiert, man wolle sich keinen Ärger mit dem Rundfunkrat sowie mit unseren muslimischen Mitbürgern einhandeln. Am Ende werde gar noch der deutsche Botschafter in Ankara einbestellt. Nein, Türkenläuten sei ein absolutes No-Go. Dies wörtlich. Auch Angelusläuten solle ich tunlichst mit Rücksicht auf etwaige Empfindlichkeiten vermeiden. Das sei wie mit dem Kruzifix im Schulzimmer. Es gelte, sensibel vorzugehen, um keine Ressentiments zu wecken. Zwölfuhr- oder Mittagsläuten dagegen sei neutral, das könne ich verwenden. Was sollte ich machen? Roma locuta, causa finita …

Was mir zuerst einfiel, als ich damals die Chefetage verließ, war ein über 200 Jahre altes Gedicht von Ludwig Uhland, das ich als Kind auswendig gelernt hatte, weil es ein Glanzlicht in meinem Lesebuch war: Schwäbische Kunde (1814). Es handelt von Friedrich Barbarossa, der auf dem Dritten Kreuzzug 1190 seinen Tod durch Ertrinken im Fluss Saleph fand: Als Kaiser Rotbart lobesam zum heil’gen Land gezogen kam, da musst’ er mit dem frommen Heer durch ein Gebirge wüst und leer.

Wie haben sich die Zeiten geändert! Zum einen würde heutzutage kein seriöser Historiker Friedrich Barbarossa noch lobesam nennen, sondern scharf ideologiekritisch betrachten, zum anderen würde er es nicht wagen, die Kreuzritter als frommes Heer zu bezeichnen: Daselbst erhob sich große Not. Viel Steine gab’s und wenig Brot. Und mancher deutsche Reitersmann hat dort den Trunk sich abgetan.

An dieser Stelle würde die Gleichstellungsbeauftragte die nationalistische Komponente bemängeln und darauf hinweisen, dass nicht nur Männer reiten können. Gerade der Pferdesport sei fest in Mädchen- und Frauenhand: Den Pferden ward so schwach im Magen, fast mußt’ der Reiter die Mähre tragen. Nun war ein Herr aus Schwabenland, von hohem Wuchs und starker Hand. Des Rößlein war so krank und schwach, er zog es nur am Zaume nach. Er hätt’ es nimmer aufgegeben, und kostet’s ihn das eig’ne Leben. So blieb er bald ein gutes Stück hinter dem Heereszug zurück. Da sprengten plötzlich in die Quer fünfzig türkische Reiter daher! Die huben an, auf ihn zu schießen, nach ihm zu werfen mit den Spießen. Der wackre Schwabe forcht’ sich nit, ging seines Weges Schritt vor Schritt, ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken und tät nur spöttlich um sich blicken, bis einer, dem die Zeit zu lang, auf ihn den krummen Säbel schwang.

Der „wackere Schwabe“ war offenbar ein Tierfreund, der sein Pferd schonte, und er scheint überdies Stoiker gewesen zu sein, da er sich wenig um die Angriffe der Türken scherte. Dass er für sie nur spöttische Blicke übrig hat, macht ihn allerdings verdächtig, denn laut Political Correctness ist es nicht erlaubt, Türken solche Blicke zuzuwerfen. Aber es kommt noch schlimmer, und der böse Verdacht erhärtet sich durch eine Gewalttat: Da wallt dem Deutschen auch sein Blut. Er trifft des Türken Pferd so gut, er haut ihm ab mit einem Streich die beiden Vorderfüß zugleich. Als er das Tier zu Fall gebracht, da fasst er erst sein Schwert mit Macht, er schwingt es auf des Reiters Kopf, haut durch bis auf den Sattelknopf, haut auch den Sattel noch zu Stücken und tief noch in des Pferdes Rücken. Zur Rechten sah man wie zur Linken einen halben Türken heruntersinken.

Damit ist der ausländerfeindliche, rechtsradikalfaschistische Schwabe als bestialischer Mörder identifiziert. Auch seine Tierliebe war offenkundig nichts als Heuchelei, denn ehe er den Türken ermordet, massakriert er dessen Pferd. Seine beispiellos blutrünstige Tat, die er angeblich im Affekt begangen haben will, würde heute zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Türkei führen und die NATO alarmieren. Überdies würde heute keine Schulbuchbehörde ein derart islamophobes Schmähgedicht noch für ein Lesebuch genehmigen. Höchst bedenklich dürfte auch die Tatsache sein, dass der Verfasser dieses zutiefst rassistischen Gedichtes Sekretär des württembergischen Justizministers, Sprecher der Landstände, Professor und Landtagsabgeordneter, später sogar Abgeordneter im deutschen Nationalparlament war.

Für mich bedeutet das Türkenläuten in erster Linie ein ständiges Herumreisen, langwierige und umständliche Gespräche mit geschwätzigen oder verstockten Pfarrern und deren mürrischen Haushälterinnen, das obligate Bestechen der Mesner, damit sie für mich auch zu ungewöhnlicher Zeit das Läutwerk in Gang setzen. Anfangs dachte ich ja: viel Abwechslung. Aber mittlerweile hängt mir das Türkenläuten zum Hals heraus. Früher hätte ich meine Probleme mit meiner Frau besprochen und ihren Rat eingeholt. Irgendwann habe ich aufgehört, mit ihrem gerahmten Bild auf der Anrichte zu sprechen, das ich in den Jahren des Glücks in Lissabon aufgenommen habe: auf der Praça do Comércio unter der Reiterstatue von José I. In jenen jungen Tagen, da der Sommerwind über unser Leben ging, schienen alle Straßen verheißungsvoll in die Zukunft zu führen. Jetzt bin ich zu der Einsicht gelangt, es sei sinnlos, an ein Foto hin zu reden und Worte zu formulieren. Meine Frau kennt meine Gedanken ohnehin. Tote können das. Sie hat sie schon immer gekannt. Ich war ein offenes Buch für sie.

Sie wusste zum Beispiel, dass ich mir früher, wenn ich einen schweren Tag gehabt habe oder mir etwas Unangenehmes widerfahren ist, zur Beruhigung manchmal Bilder aus meiner Kindheit ins Gedächtnis gerufen habe. Neuerdings ertappe ich mich dabei immer öfter. Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass der Mensch, wenn er mehr Jahre hinter sich hat als vor sich, das eigenartige Bedürfnis verspürt, in die Kindheit zurückzukehren.

Ich packte also meinen Rucksack, legte das Foto meiner Frau obenauf und machte mich auf den Weg. Von der Tatsache, nach vielen Jahren wieder ins Dorf der 13 Dörfer zurückzukehren, war ich seltsam berührt, als ich im Polster des Eisenbahncoupés versank und mich meinen Erinnerungen hingab. So fuhr ich ins Blaue Land und glaubte, während der Zug durch das hügelige Voralpenland glitt, von fern ein Mühlenrad zu hören in einem kühlen Grunde. Seine Melodie wollte mir nicht aus dem Kopf. Diesem verlorenen Zauber konnte ich mich nicht verweigern, sind doch die besten Jahre immer die vergangenen. Ich schaute aus dem Fenster, in dem sich mein Gesicht spiegelte, und staunte, wie weiß mein Haar geworden war, und ich dachte an die alten Fragen: Wer wird, wenn der Wind des Vergessens über uns hinweggegangen sein wird, davon erzählen, wie es war, als wir jung waren? Wer wird das Land von damals beschreiben, seine Menschen, Städte und Dörfer? Wer die Winterfarben und den Duft von frisch gemähtem Gras, wer das Rauschen der Bäume vor einem Gewitter? Wer wird den Herzschlag zählen, als wir liebten und lachten, hoffnungsvoll und ahnungslos?

Bald war ich dort, wo im Herbst vergangenen Jahres Bergsteiger in steilem und unwegsamem Gelände, hoch oben im schwer zugänglichen Bereich des schneebedeckten Gottesackerplateaus auf das Wrack eines ausgebrannten Kleinwagens stießen. Unweit des Autos fand man in einer Klarsichthülle einen Zettel mit einer Notiz: Ich nehme eine Handvoll Sand und bitte unbedacht um so viele Jahre, wie Körnchen im Sande seien, vergesse aber zu wünschen, es sollten immerfort Jugendjahre sein.

Ein pensionierter Lateinlehrer identifizierte als Verfasser dieser Zeilen Publius Ovidius Naso. Niemand konnte sich erklären, wie das Auto und diese Botschaft dorthin gelangt waren. Von einem Fahrer fehlte weit und breit jede Spur. Zwar stellte die Polizei vielfältige Ermittlungen an, das Gelände wurde sogar mit Hubschraubern und Wärmebildkameras abgesucht, doch es ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte für den Verbleib eines Menschen, der sich vielleicht im Hochgebirge verirrt hatte oder einem Unfall zum Opfer gefallen war. Der rätselhafte Fund bewegte die Leute. Die Zeitung zog eine weit hergeholte Parallele zu Hemingways Erzählung Schnee auf dem Kilimandscharo, wo von einem gefrorenen Gerippe eines Leoparden die Rede ist, das dicht unter dem Gipfel liegt: Niemand weiß, was der Leopard in jener Höhe gesucht hat. Wochenlang befragte die Redaktion die Leser, ob sie eine einleuchtende Erklärung für das ausgebrannte Wrack hätten, und was uns das Zitat von Ovid sagen wolle. Da müsse doch irgendein Sinn dahinter sein. Die Folge war eine Flut von Zuschriften, und ein Leser schrieb: Vielleicht liegt des Rätsels Lösung zwischen dem, was der Unbekannte tat, und dem, was er sich dabei dachte, zwischen dem, was er sah, und dem, wovon er träumte, zwischen dem, wovon er träumte, und dem, was er für sich behielt.

Im Tal war man sich indes sicher, es müsse sich bei dem Fahrer des Kleinwagens um einen irgendwie Gestörten handeln: garantiert einer aus dem Dorf der 13 Dörfer, aus dem auch ich stamme.

Dreizehn Dörfer! Hinter dieser belasteten Primzahl sollte man keine großen Verschwörungen oder tiefen Geheimnisse vermuten. Die Theorie vom Teufelsdutzend ist blanker Unsinn. Auch die 13. Frau aus Dornröschen, die nicht zur Geburtstagsfeier eingeladen ist und deshalb einen Fluch auf die Prinzessin ausspricht, stammt nicht aus diesem Dorf, in dem sich einige alte Männer etwas auf ihre bunten Spekulationen zugutehalten. Alles Mumpitz! Das Dorf hat 13 Ortsteile. Das ist alles.

Hier wurde ich geboren, hier hat mich der Herbstwind vom Baum geweht, und hier gibt es viele Plätze, um seltsame Legenden zu verbergen. Sie sind es, die diese Landschaft erschaffen. Oberflächlich betrachtet ist diese Bärenmarkenidylle eine beliebte Urlaubsgegend für die Behäbigen. Man lernt neue Käsesorten kennen oder genießt eine Heu-Kur. Alles ist auf Reha geeicht. Man spricht von sanftem Tourismus. Die Hügel und Tobel sind lieblich, die Seilbahnen gemütlich, die Mutterwege asphaltiert. Für die Extremen sind die Berge zu wenig spektakulär, und für die Exklusiven sind die Orte zu wenig tauglich für eine gefragte Location. Allerdings wird leicht vergessen, dass sich der verrückte Bayernkönig ausgerechnet diese Region zur Verwirklichung seiner architektonischen Träume ausgesucht hat. Es muss also doch etwas dran sein an diesem Landstrich, in dem die Spezialitäten der regionalen Küche eigenartige Namen haben: von Nonnenfürzle über versoffene Jungfern bis hin zu Katzengschrei. Vielleicht lautete deshalb die Anweisung der Redaktion: Machen Sie ein Mittagsläuten zum Dorf der 13 Dörfer!

Routine, wie es schien, doch mein Wiegenland hat seine eigenen Regeln und viele versteckte Fallen. Bisweilen geht es darin zu wie in einem Bienenstock, weswegen die Alteingesessenen auch öfter vom blauen Bienenstock als vom Blauen Land sprechen. Blau heißt das Land, weil Flachs einst Leinewebern Brot und Arbeit gab. Illyrer aus dem Balkan siedelten zuvor, und ihnen folgten Vindeliker, Estionen und Likatier, bis Drusus und Tiberius das Recht mit ihren Schwertern schrieben. Schon der Griechengeograf Strabon kennt die Garnisonstadt Cambodunum, ehe Alemannen und Sueben den Limes stürmten und der Stadt dermaßen zusetzten, dass Odoakar seine letzten Römer abzog, um Platz zu machen für das Siedlungswerk der Alemannen, die sich, geschickt dem Zeitgeist angepasst, der Christianisierung durch angloirische Mönche nicht verschlossen. Die Albigaue, von der Sankt Galler Klosterbrüder schrieben, unterwarfen sich als Albigoi den Staufern und den Welfen und später fürstbischöflich augsburgischer Gewalt. So weit reicht auch mein Dorf zurück.

Es liegt am Fuße hoher Berge auf knapp tausend Meter Meereshöhe. Wer glaubt, es auf der Landkarte finden zu können, der sucht vergeblich. Das Dorf, von dem hier die Rede sein soll, hat es außerhalb meiner Vorstellung nie gegeben. Jeder Versuch, es mit einer historischen oder geografischen Wirklichkeit in Verbindung zu bringen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn ich habe mir das alles nur ausgedacht und aus jenen mehrfach gewendeten Scherben zusammengesetzt, die sich in meiner Erinnerung erhalten und jene langen Jahre überdauert haben, in denen ich mein Leben jenseits solcher Vorstellungswelten gelebt habe.

Mit zunehmendem Alter ist mir bewusst geworden, wie sehr ich stets das vermisst habe, was ich damals im Dorf der 13 Dörfer erlebt und erfahren habe. Es waren die Jahre meiner Kindheit und meines Heranwachsens in einer Welt, die heute kaum noch vorstellbar ist und deshalb jedem bisweilen märchenhaft, fantastisch oder gänzlich irreal erscheinen muss. Die Welt, der wir einmal angehört haben, gibt es nicht mehr. Was hier erzählt werden soll, ist aus einer anderen Zeit.

Es ist die Zeit, in der wir jung gewesen sind.

Aber für einen mit Empfindungs- und Vorstellungskraft begabten Menschen, wie dies ein Verfasser von Nachrufen nun einmal sein muss, der beständig in seinen Empfindungen und Vorstellungen mit Blick auf die Vergangenheit lebt, muss die Welt gewissermaßen doppelt vorhanden sein. Mit den Augen, sagt mein Hausheiliger Giacomo Leopardi in seinem Gedankenbuch, sieht er einen Turm, eine Landschaft; mit den Ohren hört er den Klang einer Glocke; und gleichzeitig sieht er in seiner Vorstellung einen anderen Turm, eine andere Landschaft und hört einen anderen Klang. In dieser zweiten Ordnung der Dinge liegt all ihre Schönheit und Annehmlichkeit.

Kaum angekommen hatte ich das Türkenläuten so gut wie vergessen. Mit geschlossenen Augen erinnere ich mich an das Sommergeräusch meiner Kindheit, das ich vermisse: das Dengeln der Sensen, abends, reihum auf den über den Hügeln verstreut liegenden Bauernhöfen, das Schärfen der Sense mit einem Hammer, der gleichmäßig und präzise auf das Sensenblatt trifft. Dazu der Duft von frisch geschnittenem Gras, die Trauer abgemähter Blumen, das unvergleichliche Zischen, wenn die scharfe Sense durch die Halme fährt. Mancher Bauer hat beim Dengeln eine lange Virginia im Mund. Der Rauch steigt in den Abendhimmel, und die Schwalben fliegen hoch.

Jetzt ist mein Himmel ohne Schwalben. Sie sind nicht zurückgekehrt. Am Vorabend des Alters führt der Weg in die knapper werdende Zukunft über die Stationen der Kindheit. Dann kommt ein braunstichiges Bild zum Vorschein, gezahnt wie eine alte Fotografie, und steht mir immerdar vor Augen. Es ist meine Erinnerung an einen kleinen, verlassenen Bahnhof irgendwo auf dem Lande, der inmitten einer an ein graues Meer gemahnenden Landschaft entlang einer eingleisigen Strecke wartet wie ein leer stehendes Hotel, das große Zeiten gesehen hat und dem heute deshalb jeder Gast zu gering ist. Auf der Türschwelle und im geborstenen Mauerwerk dorren magere Grasbüschel, einige Fensterläden, von denen schuppenartig die Farbe blättert, hängen schief. Das Gebäude jenseits jeder Behaglichkeit hat das verwitterte Gesicht eines alten Mannes. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.

Von hier also bin ich einmal mit der in Überzeugung verwandelten Illusion ausgezogen, die ganze Welt erobern zu können. Heute ist davon kaum noch etwas übrig. Nichts ist so geworden, wie es ursprünglich einmal gedacht gewesen ist. Ohne dass sich viel verändert hätte, ist das meiste anders geworden. Aber was verschüttet ist, kann wieder ausgegraben werden.

Jeder Bahnhof hat einen Wartesaal, sonst ist er nichts weiter als eine Haltestelle. Der Wartesaal ist ein Ort, der einem die unbeantwortbare Frage nach dem Ziel des Lebens aufdrängt. Diese Frage setzt sich gegenüber all den anderen Stimmen durch, die im Inneren nach und nach stiller werden, bis sie zu einem kaum noch wahrnehmbaren Summen zusammenschrumpfen: hartnäckig wie ein Tinnitus.

Nach unbekümmertem Umherstreifen und der Durchquerung dichter Wälder bin ich an diesem Ort gelandet. Ich höre den Wind, der über das Dach der Station streicht und irgendwo etwas blechern scheppern lässt. Es ist Spätherbst, der Winter steht vor der Tür. Er wird die baumlose Ödnis eindunkeln mit jenem halbweißen Schnee, der vorerst noch in dicken, schweren Wolken niedrig an einem Himmel hängt, an dem bisweilen vom Wind blank gefegte blaue Löcher aufscheinen.

Da stehe ich auf dem Bahnsteig und spüre den Geschmack alter Wörter aus meiner Kindheit auf der Zunge, indes Fetzen eines Liedes in meinen Ohren nach einem Zusammenhang suchen. Mit hochgestelltem Mantelkragen spähe ich mal nach links, mal nach rechts, und ich bin mir nicht sicher, ob ein Zug kommen und in welche Richtung er fahren wird. Mein kleines Gepäck, ein verwitterter Rucksack, steht neben mir. Er enthält Wäsche zum Wechseln, einen Pullover, einige Bücher, zerschlissen, aber eigenartig vertraut, außerdem Papier und Schreibzeug. Ein Schwarm von Raben kreist in der Nähe und schreit die ersten Schneeflocken herbei, die noch verloren im Wind tanzen. Mir dämmert, dass ich ein Wanderer bin, der in der leicht verzerrten Gangart eines Traumes wie ein Kartograf seine Erinnerungsräume durchmessen muss, von der Kindheit bis zum Alter. Noch stehe ich ganz am Anfang. Von fern höre ich das Echo meines späteren Lebens, als werde irgendwo eine Schranke heruntergelassen, begleitet von einem trockenen Bimmeln, das entsteht, wenn ein Eisenhammer gegen einen Hut aus Metall schlägt. Mein Gemüt kommt mir dabei so tief vor, wie die naive Freude auf bevorstehende Abenteuer hoch ist, als sei sie ein Fels inmitten eines tintenschwarzen Flusses, von dem herab sich übermütige Taucher stürzen, um die Wasseroberfläche in Licht und Bewegung zu verwandeln. Surrte da nicht soeben ein streunendes Flugzeug am Himmel? Einen Augenblick lang war mir so, doch jetzt ist alles wieder still, bis auf den Wind, der nicht nachlässt. Ich beobachte das zitternde Gras zwischen den Schwellen. Mein Blick schweift über das Schieferschuppendach des Bahnhofes, der sich gegen die Zeit zu stemmen scheint.

Jeder Bahnhof, sagt Stefan Zweig, reiße eine andere Ferne in sich hinein. Er sei ein Versprechen. Eine gedämpfte Leere gehe von ihm aus, als erinnere er sich an leuchtende, geraniengeschmückte Fenster, an unbeschwertes Kinderlachen und flatternde Wäsche auf einer Leine hinter dem Haus.

Ein Fuchs betritt vom Waldrand her die Bühne und nimmt vorsichtig Witterung auf. Ein zaghafter Einzelgänger. Er könnte mein Wappentier sein. Was mir an Füchsen gefällt, ist ihre Weigerung, sich wie Hunde domestizieren zu lassen. Füchse unterwerfen sich nicht. Zugleich vermeiden sie jenen Hang zum Melodramatischen, wie er Wölfen eignet, die überdies in Rudeln leben. Füchse bewohnen ihren Bau, streifen einsam umher, bleiben aufmerksam und misstrauisch. Sie sind den Menschen gefolgt, haben ihnen jedoch nie vertraut, sondern sind Skeptiker geblieben. Und sie stehen im Ruf, nicht gerade dumm zu sein. Meine späten Tage gleichen der Einsamkeit der Füchse, die sich ihre Hoffnung dort holen, wo sie glauben, noch etwas von ihr finden zu können, ehe der Winter kommt.

In solches Nachdenken versunken holen mich die heiseren Rufe der Krähen zurück in die Gegenwart, in der die Dämmerung herabsteigt. Um diese Stunde denke ich an die leeren Strände von einstmals berühmten Seebädern in der Nachsaison, die außer dem nie verstummenden Geschrei der Möwen nur noch wenige, fröstelnd aneinander gekauerte Greise auf der Promenade dulden. Die Tage sind kurz geworden, schon werden sie angereichert vom Schein einer Lampe, der anzeigt, dass sich das Leben ins warme Innere zurückgezogen hat.

All dies, so will mir scheinen, hat sich vor einer langen Reihe von Jahren zugetragen. Es geht um Menschen in einem verschlissenen Ballsaal mit stumpf gewordenem Parkett, um Alte und Junge, Dicke und Dünne, Schöne und Hässliche. Die einen sind kostümiert, die anderen alltäglich gekleidet. Im Saal der verlorenen Schritte drehen sich die Tanzenden langsam zu verklingender Musik und schwingen sacht aus dem Raum hinaus, als wollten sie fortgehen. Die Kerzen sind heruntergebrannt, das Wachs auf den Boden getropft, die Gläser geleert, das große Fest ist vorbei und die Musiker sind schon im Aufbruch. Es sind nicht nur Paare, die sich bewegen, auch viele Einzelne wiegen sich in einem geheimnisvoll schleppenden Takt, leicht verzögert, der ihrem Herzschlag gleicht und von der Gewissheit getragen scheint, alles gehe nunmehr piano zu Ende … The Farewell Waltz, wenn die Mitglieder des Orchesters nacheinander die Lichter löschen und abgehen, bis nur noch ein einzelner Geiger übrig bleibt. Und über dem Saal der verlorenen Schritte wölbt sich ein hoher Himmel, festlich, wie für Schwalben erdacht.

Jetzt öffnen sich die Türen in die zufriedenen kleinen Welten von früher, und die Nächte darin gleichen einer Fahrt übers Meer. Das Boot gleitet immer weiter hinaus, ich sehe ihm nach, wie es am Horizont verschwindet, und stelle mir jemanden vor, der auf der anderen Seite freudig ruft: Da kommt es! Wohin, du stolzes Schiff, mit so viel weißen Segeln?

Statt des Geläuts der Kirche über dem Tal der 13 Dörfer geht mir die ganze Zeit eine Melodie durch den Kopf, die ich vor mich hin summe. Sie stammt aus dem Film The Way We Were mit Barbra Streisand und Robert Redford. Nach und nach fällt mir auch der Text wieder ein: Can it be that it was all so simple then? Or has time rewritten every line? If we had the chance to do it all again, tell me, would we? Could we? Und schon kommen die Bilder. Eine meiner frühesten Erinnerungen nimmt mich an die Hand und führt mich wie einen heimlichen Gast in den Kindergarten. Ich sehe all die Kinder, die mich nicht sehen können, weil ich alt bin und mich in eine Ecke drücke, wo ich sie nicht störe, aber gut beobachten kann. Schon stellt sich ein Gefühl des Widerwillens bei mir ein, denn der Kindergarten war mir von Anfang an suspekt. Ich wollte nie hingehen und bin auch nicht lange geblieben. Vielleicht lag es an den Nonnen, die ihn führten, und an ihrer seltsam einschüchternden Tracht. Sie lockten fröhlich mit Schaukelpferd und Holzlokomotive und einem Hollerbusch, um den man tanzen konnte. Also machte ich mich auf den Weg mit einem Leinenbeutel, in dem ein Stück Brot und ein paar Apfelschnitze waren. Zuerst musste ich lernen, dass der Sandkasten Platz hatte für mehrere Kinder. Dann erfuhr ich, dass Schwester Seraphina das Kommando führte. Zu meinem großen Glück mochte sie mich und drückte mich manchmal an ihre keusche Brust. Mir wurde dabei ganz zweierlei zumute, so warm und weich und anschmiegsam war sie. Doch schon wenig später war es vorbei mit dem Trockenstillen, denn alle Kinder bekamen ausnahmslos eine große Aufgabe zugeteilt.

Schwester Seraphina führte uns in den Saal, setzte uns an einen langen Tisch, auf dem viele Bücher lagen, große und kleine, dicke und dünne, hochformatige und querformatige, eingebunden oder in Zeitung gewickelt. Dann erklärte uns Schwester Seraphina, was zu tun war. Vor jedem Kind stand ein Töpflein mit Leim und einem Pinselchen darin. Auch ein kleiner Stapel mit rechteckigen Papierchen, etwa halb so groß wie eine Schachtel Zuban oder Mokri, lag vor jedem. Schwester Sera, wie wir sie nannten, nahm eines der Zettelchen, drehte es um, bepinselte es mit Leim, nahm ein Buch, schlug es auf Seite drei auf und klebte das Zettelchen genau auf die Stelle, an der ein Stempel war. Sera überklebte den Stempel, der danach so gut wie nicht mehr sichtbar war. Nur manchmal schimmerte er noch ein wenig durch, aber das verlor sich bestimmt mit der Zeit, wenn der Leim erst fest genug sein würde. Jedenfalls war das Schwester Seras frommer Wunsch!

Der Stempel war blau und größer als ein Fünfmarkstück. Rundherum zog sich eine Schrift, die verwischt war vom vielen Stempeln. In der Mitte prangte ein stolzer Greifvogel, vermutlich ein Adler, der seine Schwingen ausbreitete. Seine Krallen hielten einen Kranz, der so ähnlich aussah wie der Kranz am Denkmal für die Gefallenen. In dem Kranz war etwas Merkwürdiges. Es glich einem Kreuz, aber es war kein richtiges Kreuz, sondern eines mit umgeknickten Ecken. Es sah aus, als wolle dieses seltsame Kreuz mit den umgeknickten Ecken aus dem Kranz ein Rad mit Speichen machen. Was hatte dieser Stempel zu bedeuten, was dieses komische Kreuz, und warum klebte die liebe Schwester Seraphina ein blütenweißes Papierchen darüber, sodass Stempel und Adler und Kreuz nicht mehr zu sehen waren?

Die Kinder waren angehalten, in jedem Buch auf Seite drei und in der Mitte den Stempel zu suchen, und wo immer sie diesen Stempel mit dem Kreuz und dem Adler fanden, ein Papierchen mit Leim zu bestreichen, an den Ecken besonders sorgfältig, und darüberzukleben. Schwester Seraphina hat uns Kindern nie verraten, warum wir das machen mussten. Sie meinte nur, der Stempel sei aus früheren Zeiten und jetzt nicht mehr gültig, und das umgeknickte Kreuz sei ein heidnisches Zeichen, eigentlich uralt, es habe die Bedeutung eines Sonnenrades und man kenne es sogar in Indien. Da aber etwas Heidnisches in einem katholischen Kindergarten verboten sei, müssten die Kinder den Stempel mit dem umgeknickten Kreuz zukleben.

Damit sich die Kinder beim Überkleben der Stempel in den Lese- und Rechenbüchern, den Erdkunde- und Naturkundebüchern nicht langweilten, erzählte Schwester Seraphina Geschichten. Einmal aber fand ich in einem Buch eine ganzseitige Fotografie von einem Mann, der seltsam stechende Augen hatte und einen Blick, dass man sich fürchten konnte. Er trug eine Uniform, streckte einen Arm gerade von sich, als wolle er prüfen, ob es regnete, und er trug wie ein Blinder eine Binde am anderen Arm, auf der wieder das heidnische Sonnenrad abgebildet war. Deshalb fragte ich Schwester Seraphina, ob ich das komische Kreuz auf dem Foto auch überkleben sollte. Sie aber sagte kein Wort, nahm mir das Buch aus der Hand und riss die ganze Seite einfach ratzfatz heraus.

Tagelang waren wir Kinder mit nichts anderem beschäftigt, als die Papierchen über die Stempel mit dem verbotenen Kreuz zu kleben. Dazwischen führte uns Schwester Seraphina mit wogender Kutte in König Laurins Rosengarten. Wir saßen mit Dietrich zu Bern und ruhten im Kreise der wackeren Gesellen. Manch keckes Abenteuer galt es zu bestehen, und jeder von uns wollte einmal ein kühner Recke werden. Wir hörten von einem Zwerg, Laurin mit Namen, der einen Rosengarten besaß, so herrlich und schön wie sonst keiner in südlichen Landen. Doch neidisch sei dieser Laurin gewesen, wie alles Zwergenvolk, und keinem habe er gönnen wollen, das Wunder zu sehen, und wehe dem Frechen, der eine Rose pflücken wolle. Nicht einmal die Königstochter Künhilde, die er sich geraubt hatte, durfte den Garten betreten. Tief im Berg verborgen halte er die junge Frau gefangen, vergeblich harre sie ihres Befreiers. Eine Rüstung habe Zwerg Laurin, von Salamanderblut gehärtet, die kein Schwert durchdringe. Dazu trage er einen Gürtel, der ihm die Stärke von 12 Männern verleihe, und werde ihm ein Kampf zu gefährlich, so stülpe er sich rasch eine Tarnkappe über, die ihn unsichtbar mache. Hand und Fuß nehme er als Buße von jedem, der es wage, auch nur in die Nähe des Rosengartens zu kommen. Doch der tapfere Dietrich von Bern, den Schwester Seraphina manchmal auch Sepp Dietrich nannte, was ich nicht begriff, habe es mit Laurin aufgenommen, ihm die Tarnkappe vom Kopf gerissen, ihn am Gürtel gepackt und gegen einen Felsen geschleudert, bis der Gürtel zerbrach. Schließlich führte uns Schwester Seraphina in Laurins Höhle. Wir kamen in einen großen Saal. Hier gaben Karfunkel einen hellen Schein, dort gleißte es von Gold und edlem Gestein, da war eine Pracht und eine Herrlichkeit, wie kein Menschenauge sie je gesehen. Sanftes Saitenspiel erhob sich, es hallte gar lieblich durch die Wölbung, Zwergjungfrauen kamen geschritten und hinter ihnen Künhilde, die geraubte Königstochter, eine Krone von lauterem Golde auf dem Haupte, und bot den Helden den Willkomm. Die grünlichen Augen Laurins glänzten, als er vergifteten Wein kredenzte. Wie lange wir schliefen, das wussten wir nicht. In Dietrich aber erwachte der Zorn über die Tücke und Falschheit des Zwerges, und schrecklich ist der Recke, wenn er zürnt. Feueratem ging ihm aus dem Munde, sodass die lodernde Glut die hänfenen Stricke verbrannte, die unsere Hände gefesselt hielten. Wir überwältigten den bösen Zwerg, banden ihn und warfen ihn in die tiefste Felsenschlucht seines Rosengartens, um mit Künhilde die Heimreise anzutreten, die uns über ein zu Eis erstarrtes Meer führen sollte. Als wir schließlich zu Hause anlangten, waren alle bösen Adler und verbotenen Kreuze überklebt. Nur manchmal schimmerte es noch durch – bis zu dem Tag viele Jahre später, an dem ich begriff, dass meine Entnazifizierung im Kindergarten stattgefunden hatte.

Und in den Baumkronen hockten die Krähen, die dem Treiben schwarz und stumm zusahen.