Die Souffleuse - Gerhard Köpf - E-Book

Die Souffleuse E-Book

Gerhard Köpf

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sieben Geschichten nehmen uns mit auf eine ebenso unterhaltsame wie poetische Reise. Das hohe Lied auf Individualisten und Einzelgänger beginnt im Theater mit dem späten Glück einer Souffleuse. Wir tauchen ein in die Welt eines Frackschneiders, der einst als Chirurg gescheitert ist. Wir erleben im versunkenen Manderley die Verwandlung des Lebens in einen Traum und erfahren, dass sich der Totentanz zu Wolgast eigentlich Salzburger Exulanten verdankt. In Begleitung eines seltsamen Mitreisenden mit bizarrem Appetit reisen wir bis in den Hohen Norden, um einen der seltenen Drachenelche zu suchen. Das Ende führt uns wieder zurück ins Theater zu einer skurrilen Geschichte über jenen Vorhang, der die Kunst vom Leben trennt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 167

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Köpf

Die Souffleuse

Sieben Erzählungen

Jede Geschichte trägt Unmengen anderer Geschichten in sich.

Siri Hustvedt: Damals

Das meiste, vielleicht das Beste, ist unerzählbar.

Es liegt dort, wo die dauernde Stummheit der Welt ist.

Helen Meier: Kleine Beweise der Freundschaft

INHALT

Die Souffleuse

Der Frack

Die Reise nach Manderley

Der Tod zu Wolgast

Die Legende vom Kronkorkenesser

Der Drachenelch

Einführung in die Vorhangkunde

Quellenverzeichnis

DIE SOUFFLEUSE

Als Dr. med. Vitus Strand starb, stand über seiner schlichten Todesanzeige Psalm 90:10: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

Die Frau, die das veranlasst hatte und um den Verstorbenen trauerte, gehörte zu jener seltenen Sorte von Personen, die ab einer gewissen Anzahl an Jahren ihr Aussehen nicht mehr verändern. Sie scheinen nicht länger zu altern, und wie alt sie wirklich sind, bleibt auf diese rätselhafte Weise ihr Geheimnis. Sie nehmen auch nicht mehr zu, sondern halten auf diskrete Art ihr Gewicht ebenso, wie sie ihren Teint beibehalten. Überhaupt eignet solchen Persönlichkeiten meist etwas Enigmatisches, weswegen sie auch nicht leicht zu finden sind.

Das beste Beispiel dafür war Paulette. Entgegen anderslautenden Angaben von Leuten, die sie nicht näher kannten, war Paulette natürlich weder schmächtig noch gebrechlich. Nein, das war sie durchaus nicht. Schmächtig wäre das falsche Wort, denn sie war vielmehr von zartem Wuchs und dabei doch geschmeidig bis in ihre hohen Tage. Vielleicht beeindruckte sie deshalb, weil nichts Fahriges oder Abruptes an ihr war. Drehte sie sich behutsam und stets kontrolliert zur Seite, hätte man meinen können, sie sei in einem Geschäft für kostbares Porzellan aufgewachsen, das so hell schimmerte wie ihre Haut. Sie bewegte sich, als habe sie ihr Lebtag immer nur in den engsten Räumen zugebracht, als walte hier eine wohl kalkulierte Ökonomie, die genau austariert, wie weit oder wie eng die Grenzen gezogen sind, damit nichts zerstört werde. Die feine kleine Dame, die an einem Stock mit silbernem Knauf durch ihre letzte Lebensdekade ging und vorsichtig wie eine scheu die Bühnentiefe durchmessende Ballerina Schritt vor Schritt setzte, die aufrecht stand und gesittet saß, die sich stets gerade hielt und sich bei Tisch nicht auf die Ellenbogen stützte, die der Welt und jedem, der mit ihr sprach, klar ins Auge sah, hieß eigentlich Elodie, Elodie Winter und war die einzige Tochter eines Apothekers, der nach dem frühen Tod seiner anämischen Ehefrau sein Kind abgöttisch liebte und ihm jeden Wunsch von den Lippen las. Die Leute mochten sie, denn sie war ein Mädchen von rücksichtsvoller Distanziertheit und hatte nichts Hochnäsiges. Vielmehr war sie mit jener Aura des Außergewöhnlichen gesegnet, als gehöre sie qua Geburt einer besonders privilegierten Schicht von Auserwählten an. Anfänglich schien sie mit ihrem knabenhaft kurz geschnittenen Haar noch ein wenig weltfremd und abgehoben. Doch das verlor sich. Elodie genoss eine vorzügliche Erziehung in einem Institut für Höhere Töchter in Vevey am Genfer See.

Sie verbrachte danach einige Jahre in Paris und kehrte schließlich, nachdem sie dort den obligatorisch törichten Teil ihrer Jugendträume begraben hatte, zurück und fand in unserer Stadt ihre Erfüllung. Es war eine lange Suche danach gewesen, die nicht ohne Schmerzen verlaufen und auch mit einer enttäuschten Liebe zu einem Zirkusartisten verbunden war.

Schon als Kind hatte Elodie gelernt, ihren Träumen und Wunschvorstellungen mehr Gewicht zuzubilligen als der Wirklichkeit, denn Elodie, dieses blass leuchtende Mädchen mit dem Porzellangesicht, hatte einen hässlichen Buckel, der ihr zartes Elfenwesen auf das Bizarrste entstellte. Derart von der Natur verabsäumt lernte Elodie beizeiten, dass Glück und Verstand im Leben durchaus nicht harmonisch verteilt sind, und das unglückliche Apothekerstöchterlein sah in mancher durchweinten Nacht ein, wie wenig ihr von dem möglich war, ja jemals möglich sein würde, was sogar dem einfältigsten Bauerntrampel vergönnt war.

Man weiß, dass derlei Kummer bestimmte Sinne und verborgene Fähigkeiten auf besondere Weise schärft und ein inwendig gekehrtes Spezialistentum herausbildet, insbesondere für Gefühlslagen, die von niemandem sonst wahrgenommen oder gar verstanden werden können. Und Elodie erkannte, dass sie sich ins Unabwendbare fügen musste. Dies mit ansehen zu müssen, brachte ihren liebevollen Vater vorzeitig ins Grab, und so stand Elodie eines schönen Tages mit ihrem Buckel allein in der Welt, aus der sie sich mehr und mehr zurückzog, um Handarbeiten nachzugehen, zu klöppeln, kunstvoll zu sticken, schwere und prächtige Stoffe zuzuschneiden und zuletzt Zuflucht in der Kunst zu finden. Sie verkaufte die Apotheke, legte ihr Vermögen diskret und gewinnbringend an und gab Geld nur noch für ihre ausgesuchte Garderobe und für Bücher aus.

Eines Tages geriet sie an Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris. Dieses Werk wurde ihr der Schlüssel zu einem neuen, einem gänzlich anderen Universum, wie sie es bislang noch nie gekannt hatte. In der Gestalt des im Ruf eines Hexenmeisters stehenden Dompropsts Frollo erkannte sie ihren Apotheker-Vater, wie sie sich selbst in dem missgestalteten, auf den Treppen der Kathedrale abgelegten Findelkind Quasimodo wiederfand. Er war hässlich, wie sie glaubte, hässlich zu sein, denn beiden gemeinsam war jener Buckel, den er nur beim Klang der Glocken vergessen konnte, so wie sie ihren Buckel nur dann vergaß, wenn sie in ihrer ständig wachsenden Bibliothek beim Schein einer Leselampe Roman um Roman verschlang oder im Dunkel einer Theaterloge saß und einem Drama beiwohnte, in dem das Schicksal noch erbarmungsloser waltete als an ihr selbst.

Was hätte sie nicht alles gegeben, um so schön zu sein wie Esmeralda mit ihrem langen schwarzen, von Zecchinen durchflochtenen Haar, ihrer goldbraunen Haut und den samtschwarzen Augen, der schmalen Taille und den zierlichen Beinen einer verführerischen Tänzerin?

Und während sich Elodie noch von Pierre Gringoire an die Hand nehmen ließ, erkannte sie, dass es die Welt des Theaters war, die ihr Erlösung gewähren würde. Natürlich wäre ihr Platz aufgrund ihres Buckels nicht auf der Bühne, sondern hinter den Kulissen, mithin dort, wo sie niemand aus dem festlich gekleideten Publikum anstarrte, wo endlich nicht mehr das hämische oder mitleidige Getuschel hinter ihrem verunstalteten Rücken zu hören wäre. Gewiss, die als exzentrisch und überspannt geltende, von zahllosen Liebhabern verwöhnte Sarah Bernhardt blieb nach ihrem berühmten Bühnenunfall in Rio de Janeiro auch noch mit einem Holzbein ein Weltstar. Doch damit konnte Elodie natürlich nicht mithalten. So hoch hatten die Götter bei ihr nicht gegriffen.

Mit ihrem Buckel hätte sie nicht einmal die herrschsüchtige, abgründig intrigante Prinzessin von Eboli spielen können, die bei einem Fechtunfall ihr rechtes Auge verloren hatte. Vermutlich wäre der Apothekerstochter nur noch die Rolle der buckligen Irrenärztin Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd geblieben, einer alten, machtbesessenen Jungfer, letzter Spross einer langen Ahnenreihe Wahnsinniger, welche die fürsorgliche Samariterin immer nur geheuchelt hat – doch war das Stück damals noch gar nicht geschrieben. Schließlich sollte diese Rolle auch zurecht Therese Giehse vorbehalten bleiben, von der Dürrenmatt einst behauptete, sie sei die einzige Schauspielerin, die auch mit dem Rücken spielen könne. Aber die Welt des Theaters ist groß und birgt selbst noch in ihren finstersten Katakomben Platz genug für verbotene Träume, geheime Wünsche und exzentrische Existenzen.

Das Erste, was Elodie tat, war, ihren Namen abzulegen. Von nun an nannte sie sich Paulette. Aus Mademoiselle wurde Madame, und siehe da, sogar der Buckel bekam Würde. Paulette: Das schien ihr ebenso wohltuend gewöhnlich wie verstohlen frivol. Elodie wollte sie nicht mehr heißen – vielleicht, weil Elodie ein wenig fragil klang und auf jene Lebenszeit zurückverwies, die sie nunmehr hinter sich zu lassen beschlossen hatte. Überdies wollte sie so wenig eine Femme fragile sein wie eine Femme fatale. Madame genügte. Wenn man Paulette hieß, konnte man auch einen Buckel haben. Mit Elodie hingegen war das unmöglich. Sie kultivierte allerdings auch als Paulette weiterhin jenes Benehmen, das man einst als nobel bezeichnet und damit Menschen charakterisiert hat, die zwar keinen Adelstitel im Namen führten, denen aber dafür eine Noblesse des Herzens und der Umgangsformen eignete. Madame Paulette trug stets Hütchen mit winzigem Schleier, bevorzugte Strümpfe mit Naht und Kostüme von Chanel, und man sah sie nie ohne ihre langen schwarzen durchbrochenen Handschuhe. Allein wie sie diese abzulegen gewohnt war, bewies, dass sie aus anderen Zeiten kam. Sie hatte einen roten Kirschmund, war von Kopf bis Fuß eine Dame und es umgab sie etwas Französisches, womöglich sehnsüchtig herübergerettet oder trotzig verschleppt aus jenen Tagen, in denen sich die besseren Herrschaften noch in dieser eleganten Sprache unterhielten, die vom Zarenhof bis Biarritz verstanden wurde und vor allem dann zum Einsatz kam, wenn es um Themen ging, die für Kinderohren ungeeignet waren.

Paulette hatte eine glockenklare, durchaus nicht übertriebene Diktion, ihre Aussprache war tadellos, insbesondere wenn sie flüsterte, und sie sprach selten laut, der kaum merkliche, nur einem geschulten Ohr erkennbare fremde Akzent, kostbar gehütetes Souvenir ihrer Jugendjahre in Vevey, gab ihren niemals leichtfertig oder im Affekt gewählten Worten einen dezenten Charme, eine wohldosierte Dreingabe zu jenem unaufdringlichen, ja hauchdünnen Vibrato in der Stimme, welches gelegentlich das eloquente Ende eines Satzes scheinbar in eine Frage auszittern ließ. Natürlich war der Wortschatz gediegen und die Stimme geschult. Das erkannte selbst ein Laie.

Elodie Winter, die kleine Dame mit den kleinen Schritten, blickte jedoch nicht auf die Karriere einer längst vergessenen Soubrette zurück, sie war auch keine Diseuse in Revuen von eher zweifelhaftem Ruf, nein, die Profession, die sie über viele Jahrzehnte ausgeübt und um derentwillen sie zugleich auf so vieles verzichtet hatte, war eine ganz andere, wenngleich sie untrennbar mit der ebenso glamourösen wie fadenscheinigen Welt des Theaters verbunden war:

Elodie Winter war einst Souffleuse, die Einsagerin sämtlicher Bühnengöttinnen und Titanen. Auf ihr Stichwort hörten und nach ihren Lippen schielten, gleichviel, ob Heroen oder Eleven, all die Helden, jugendlichen Liebhaber und Intriganten, die komischen Alten und die jungen Naiven, denn auf Elodie war Verlass. Keiner kannte die Stücke und den bisweilen undurchsichtigen Willen der Regisseure wie sie, denn sie war, auch ohne das Regiebuch, von einer geradezu stupenden Textsicherheit. Und sie war nie krank, hat nie eine Vorstellung versäumt, nicht eine einzige, sie horstete stets, in der kalten Jahreszeit oftmals angetan mit drei Garnituren Unterwäsche und zwei Lagen Pullover übereinander, in ihrem engen und muffigen Kabuff auf einer Art Melkschemel und diente, bis sie ihre Knochen nicht mehr spürte.

Ja, darin sah sie den Sinn ihres Daseins: dem Theater, den Schauspielern, der Sprache und damit den Dichtern zu dienen, ihnen jene verlässliche Nothelferin, Zeugin und zugleich Anwältin zu sein, die sie vor dem Absturz, dem hämischen Gelächter, den bösartigen Buhs und den giftig gellenden Pfiffen bewahrte, sie war die letzte Instanz vor dem Untergang selbst einer Diva, die Brücke über jede Textunsicherheit, über jedes ärgerliche Stocken und Stolpern oder peinliche Verhaspeln, über jeden existenzbedrohenden Hänger. Auf Paulette konnte man hundertprozentig bauen, denn sie kannte die Schwächen auch der Großen und der Größten. Sie wusste, auf welche Klippen ein Hamlet zusegelte, sie ahnte im Voraus, wann Desdemona ins Straucheln kommen würde, sie witterte, mit welchen Verschwörungen der Syntax sich ein Fiesko jenseits seines Konfliktes mit dem noblen Hause Doria wirklich auseinandersetzte. Ehe Achill zerfetzt wurde, half sie ihm über Penthesileas entfesselte Wortkatarakte hinweg, und sie war es, die dem Käthchen jene traumwandlerische Sicherheit verlieh, die Feuerprobe zu bestehen, in welche sie von der bösartigen Kunigunde von Thurneck gejagt wurde. Der Rheingraf vom Stein war ihr gleich viel wert wie der Prinz von Homburg, wie Friedrich Wetter, Graf vom Strahl oder Hans von Bärenklau, Rat des Kaisers und Richter des heimlichen Gerichts.

In Wirklichkeit gab es für sie keine Haupt- und Nebenrollen – alle Rollen waren Hauptrollen. Sie wusste Bescheid, denn auf der Bühne spielten sie die Figuren, deren Texte sie kontrollierte, denn sie war die Vorsagerin der Träume. Paulette kannte die Launen der Stars und der Starlets, die Intrigen und den Garderoben- und Kantinenklatsch, das Getuschel wie die Gehässigkeiten und die heimlichen Affären, die auf dem Theater nicht eine Minute lang geheim bleiben, doch sie hielt sich aus diesem Sumpf aus Neid, Missgunst, Heuchelei und Verlogenheit heraus, blieb die davon gänzlich unberührte Suggeritrice, die „Einbläserin“, und gewann damit unter all den grenzenlos von sich selbst Besessenen und Ich-Besoffenen jene Souveränität, wie sie in alten Stücken den weisen Richtern zugeschrieben wird.

Sobald der Inspizient dreimal läutete, galten Sympathien und Antipathien nichts mehr, wurden alle Kabalen hintangestellt, denn mit dem Verlöschen des Lichts und dem Heben des Vorhangs verschwand Paulettes Buckel, und es waltete eine höhere Gerechtigkeit, der eine ganz und gar heillose Welt aus Maske, Schminke und schönem Schein widerspruchslos ergeben war, weil es ja immer um Fluch und Segen der Wiederholung ging.

Ihr bescheidenes und zugleich doch so aufregendes, ja künstlerisch ereignisreiches Theaterleben als Souffleuse machte Paulette über all die Jahre hin, in denen die Kälte an ihren Beinen hochgekrochen war, zwar nicht reich, aber glücklich. Gekrönt jedoch wurde es, als sich, man mochte es schier nicht mehr glauben, ein Mann in das alterslose bucklige Wesen verliebte.

Eines Tages fand Paulette ein Sträußchen in ihrem Fach im Theater, dazu ein Kärtchen mit einer ausgeprägt männlichen Handschrift. Ihr Verehrer war wenigstens einen Kopf größer als sie, nicht mehr jung und alles andere als ein Adonis, doch er war ein feinsinniger Liebhaber der Künste, gebildet und gepflegt. Und er hatte tadellose Umgangsformen. Es war der Theaterarzt Dr. med. Vitus Strand, ein bis dato eingeschworener Junggeselle und bisweilen unfrommer Spötter ohne Anhang, der seine Privatpraxis aus Altersgründen längst aufgegeben hatte, um nur noch seiner Leidenschaft zu leben: dem Theater.

Über den Zeitraum von nahezu einem ganzen Jahr warb der immer mit weißem Hemd, Weste, dunklem Anzug und Krawatte korrekt gekleidete ältere Herr, den man auch für einen Pastor hätte halten können, um die Souffleuse mit ihrem roten Kirschmund. Er zeigte ihr, wie von Frühlingsgefühlen zerzaust, seine ungeschminkte Zuneigung und tat dies mit einer Beharrlichkeit, als gelte es, hundert Nebenbuhler auszustechen. Er schickte ihr Rosen, wartete nach der Vorstellung im leeren Foyer auf sie, führte sie an den freien Abenden aus und erwies ihr, sich dabei behutsam und nicht ohne Raffinement steigernd, all jene Galanterien, nach denen sie sich über so viele Jahre verzehrt hatte und die sie eigentlich längst im anonymen Massengrab ihrer Enttäuschungen wähnte.

Jetzt aber schien Paulette die Erlösung von den Dämonen der Scham zum Greifen nahe. Dieser Mann brachte sie zum Lachen, wenn er ihr erzählte, sein Name verweise auf einen der Vierzehn Nothelfer, der Heilige Vitus sei der Schutzpatron der Apotheker, Tänzer und Schauspieler, und er werde angerufen bei Krämpfen, Epilepsien und eben Veitstänzen, in slawischen Ländern sei er gar der Pilz-Heilige, und dann kalauerte er, seine ärztliche Funktion changiere zwischen Placebo und Domingo. Lebhaft berichtete er, wie er in jeder Vorstellung ziemlich weit vorne im Parkett sitze, siebte Reihe, scheinbar stets sprungbereit und immer am Rand, wie er beim Heben des Vorhangs instinktiv nach dem Piepser in der Tasche taste und sich seines Köfferchens unter dem Sitz versichere. Amüsiert erzählte er ihr, dass ihn so mancher Besucher gar für einen Kritiker halte. Nein, mehr als freien Eintritt und ein schmales Honorar bekomme er nicht, obwohl er zuständig sei für sämtliche medizinische Notfälle vor, auf und hinter der Bühne. Sein Aufgabenfeld sei ziemlich breit: zwischen Notarzt und Betriebspsychologe. Was könne nicht alles vorkommen, wenn Menschen allerlei Alters und Geschlechts vor, auf und hinter der Bühne aufeinanderträfen? Ärzte aller Fachrichtungen könnten Theaterarzt sein, klärte er die staunende Paulette auf, vorausgesetzt, sie seien