Ein alter Herr. Novelle - Gerhard Köpf - E-Book

Ein alter Herr. Novelle E-Book

Gerhard Köpf

4,8
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das Leben eines alten Mannes ist wirklich wild.« Italo Svevo »Das beste neue literarische Werk über das Altern.« Literaturkritik.de Alte Herren haben bekanntlich ihre Marotten, und mit manchen Dingen des Alltags kommen sie nicht mehr so ganz zurecht. Einigermaßen verschreckt jedenfalls sucht der alte Herr in Gerhard Köpfs Novelle den Beistand seines Freundes - und zieht sich dann doch mehr und mehr zurück. Ja, der ehemalige Professor igelt sich in seinem Wintergarten regelrecht ein, hört versunken seine Musik, trinkt seinen guten Wein gern für sich allein und versucht dabei, sein Leben und seine Geschichte zu ordnen. Seine Ausflüge in die Gegenwart aber enden mehr oder minder sämtlich in kleinen Katastrophen. Und deshalb wiederum taucht der alte Herr nur noch mehr in seine Erinnerungen und Träume ein. Aber diese ergeben nichts als ein einziges Labyrinth, und allmählich läßt ihn sein Gedächtnis ganz im Stich. Was den etwas sonderlich gewordenen alten Herrn anfangs bloß harmlos-verschroben und leicht skurril erscheinen läßt, das wird unter der Hand doch zum ernsten Problem, hinter dem schließlich eine bedrohliche Krankheit steckt. Und keiner weiß das nun besser zu beurteilen als der vertraute Medizinalrat, der uns in dieser anrührenden Novelle trotz seiner ärztlichen Schweigepflicht Auskunft gibt über den schleichenden Beginn und den zuletzt grausamen Verlauf einer Demenz resp. der Alzheimerschen Krankheit, die unter uns mehr und mehr um sich greift.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 218

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Alte Herren haben bekanntlich ihre Marotten, und mit manchen Dingen des Alltags kommen sie nicht mehr so ganz zurecht. Einigermaßen verschreckt jedenfalls sucht der alte Herr in Gerhard Köpfs Novelle den Beistand seines Freundes – und zieht sich dann doch mehr und mehr zurück. Ja, der ehemalige Professor igelt sich in seinem Wintergarten regelrecht ein, hört versunken seine Musik, trinkt seinen guten Wein gern für sich allein und versucht dabei, sein Leben und seine Geschichte zu ordnen. Seine Ausflüge in die Gegenwart aber enden mehr oder minder sämtlich in kleinen Katastrophen. Und deshalb wiederum taucht der alte Herr nur noch mehr in seine Erinnerungen und Träume ein. Aber diese ergeben nichts als ein einziges Labyrinth, und allmählich lässt ihn sein Gedächtnis ganz im Stich.

Was den etwas sonderlich gewordenen alten Herrn anfangs bloß harmlos-verschroben und leicht skurril erscheinen lässt, das wird unter der Hand doch zum ernsten Problem, hinter dem schließlich eine bedrohliche Krankheit steckt. Und keiner weiß das nun besser zu beurteilen als der vertraute Medizinalrat, der uns in dieser anrührenden Novelle trotz seiner ärztlichen Schweigepflicht Auskunft gibt über den schleichenden Beginn und den zuletzt grausamen Verlauf einer Demenz resp. der Alzheimerschen Krankheit, die unter uns mehr und mehr um sich greift.

»Das beste neue literarische Werk über das Altern.« Literaturkritik.de

»Warum liest sich diese Geschichte einer unaufhaltsamen Verwirrung des Bewusstseins dennoch vergnüglich? Weil Köpf zwar die durch Blackouts entstehenden komischen Situationen weidlich nutzt, aber doch nicht auf verleumderische Art. Dieses humorvolle Erzählen, das eine Hochstapelei des Äußerlichen zu Fall bringt und doch keine Schadenfreude aufkommen lässt, beherrscht Köpf hier wie nie zuvor.« FAZ

Über den Autor

Gerhard Köpf, Jahrgang 1948, war zwanzig Jahre lang Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.

Gerhard Köpf

Ein alter Herr

Novelle

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Der Leibarzt berichtet
Der Knopf
Warnung vor dem Hunde
Herbstsemester
Das Attentat
Das Kind
Besuch beim Leibarzt
Erster Brief an den Leibarzt
Der Ammiraglio
Nachricht vom Leibarzt
Beim Friseur
Lello
Zweiter Brief an den Leibarzt
Das Gewicht von Rauch
Große Erwartungen
Dritter Brief an den Leibarzt
Der Ausflug
Letzter Brief an den Leibarzt
Bücher und Schatten
Verfinsterung
Die Fußwaschung
Ein langer Weg

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Printausgabe: © Klöpfer & Meyer 2006

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.11.2014

ISBN 978-3-944818-57-3

Das Leben eines alten Mannes ist wirklich wild.

Italo Svevo

Vorwort

Alte Herren haben meist einen Leibarzt, den sie seit Jahrzehnten konsultieren. Auf diese Weise entsteht eine Art Ehe, in der sich das wechselseitige Wissen übereinander wie Gesteinsflöze ineinander schiebt. Die ärztlich erforderliche Balance zwischen menschlicher Nähe und klinischer Distanz wird dabei mitunter auf eine delikate Probe gestellt, zumal die Leibärzte von alten Herren in der Regel selbst alte Herren sind.

Damit beginnen die Schwierigkeiten, denn grundsätzlich besteht eine ärztliche Schweigepflicht gegenüber jedermann. Diese gilt auch über den Tod des Patienten hinaus. Die ärztliche Schweigepflicht beschränkt sich nicht auf medizinische Daten. Ihr unterliegen auch Erkenntnisse und Informationen, schriftliche Mitteilungen und Aufzeichnungen sowie zum persönlichen Lebensbereich gehörende Geheimnisse, die dem Arzt anvertraut oder bekannt geworden sind. Eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden. Die ärztliche Schweigepflicht duldet nur ganz bestimmte Ausnahmen, wie die folgende Geschichte zeigt.

Der Leibarzt berichtet

Einfach war es nie mit dem alten Herrn. In letzter Zeit veränderte er sich. Er wurde in seiner empfindlichen Mischung aus Stolz und Anmaßung ein wenig sonderlich. Vielleicht litt er sogar, doch war der Verlauf diskret. Eher resigniert als entrüstet beklagte er die Verpöbelung der Umgangsformen und den Verlust dessen, was er für Werte gehalten hatte. Der alte Herr war ein Liebhaber versunkener Manieren. Diese Rolle spielte er gern, wie er sich auch als emeritierter Professor gefiel: fossil, abgeklärt und von nichts mehr zu überraschen.

Andere waren unentwegt fortgeschritten, er dagegen war stehen geblieben. Vom Fortschritt hielt er nichts. Mit jedem Tag war ihm ein wenig unbehaglicher, und er sprach nicht selten vom allgemeinen Verfall. Mehr als auf die eigenen berief er sich dabei mit Vorliebe auf jene Erfahrungen, die er aus Büchern hatte, die gänzlich aus der Mode waren.

Es kostete ihn einige Überwindung, morgens zeitig aufzustehen und das Haus zu verlassen. Wohin sollte er auch? Manchmal ging er zum Bahnhof, um abfahrenden Zügen nachzusehen, aber die Lokomotiven mißfielen ihm. Noch lieber saß er in seinem Wintergarten, kindlich hingerissen vom Taumel der Schneeflocken, vom Prasseln eines Sommerregens. In klaren Nächten blinkten durch das Glasdach weit oben die Positionslampen der Flugzeuge, denen er so lange folgte, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Das kam ihm vor wie einst, als er mit schüchternem Abstand schönen Frauen auf den Boulevards nachgestiegen war: immer auf der Suche nach einer wie Lauren Bacall. Sie war der einzige weibliche Filmstar, den er schätzte. Jetzt flanierte er auf den verschlungenen Pfaden seines Lebenslaufes. Manchmal stolperte dabei sein Gedächtnis. Dann hatte er den Eindruck, mit der Vergangenheit falsch verbunden zu sein. Schließlich wunderte er sich, ein Alter erreicht zu haben, in dem, wie er sich ausdrückte, Kohle langsam zu Asche wird und die Selbstabdankung des Geistes bevorstand.

Dabei hatte sich der alte Herr schon vor Jahren vorgenommen, jeden Abend ein Kapitel in Senecas Vom glückseligen Leben zu lesen, doch er kam selten über drei Sätze hinaus. Mitunter blätterte er ersatzweise lustlos im New Yorker, den er seit seiner Studienzeit abonniert hatte. Oder er hörte Musik. Zu seinen Favoriten, bei denen er mitbrummte, zählte die Arie des Stadinger: Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar ..., gesungen von Gottlob Frick. Beim Refrain Das war eine köstliche Zeit ... wurde er jedes Mal kantilenenselig und ließ seine Gedanken von der Leine.

Auf seiner Visitenkarte stand noch Komparatist. Das stimmte insofern, als er gerne Vergleiche zog, besonders zwischen dem Gestern und dem Heute. Passender gewesen wäre allerdings Nostalgiker, aber das ist kein Beruf, sondern eine Haltung. Ihm kam vor, als habe er bis zu seiner Emeritierung, die nun auch schon eine Weile zurück lag, an etlichen Universitäten des In- und Auslandes stets nur auf einem einzigen Gebiet geforscht: dem der Erinnerung. Sein besonderes Interesse daran entsprang einer tiefen Sehnsucht nach unwiederbringlich Verlorenem, wie er sie bereits als junger Mann gekannt hatte.

Rückblickend jedoch zweifelte er an dem, was er getan hatte, und wenn er gedrückter Stimmung war, glaubte er, einen über vierzig Jahre währenden Galiotendienst am Katheder abgeleistet zu haben: ein Rudersklave im Dienste einer immer wieder unter anderer Flagge segelnden Wissenschaft, bis ihm endlich der Ausmusterungsbescheid überstellt wurde.

Mein alter Herr war weit gereist und hatte seinen Fuß auf jeden Erdteil gesetzt. Mit Fug und Recht konnte er von sich behaupten, ein Stück von der Welt gesehen zu haben. Zu mancher Berühmtheit, deren Weg er einst irgendwo an Orten mit exotischen Namen gekreuzt hatte, wußte er im kleinen Kreis hübsch ironisch eine Geschichte zu erzählen. Und obwohl man ihn oft genug ermuntert hatte, solche Anekdoten aufzuschreiben, hatte er es beharrlich abgelehnt mit der Begründung, derlei sei nichts für die Gasse, eines seiner Prinzipien trage den epochenverschleppenden Namen der Diskretion.

In seinen besten Zeiten war der alte Herr Steppenwolf und Salonlöwe zugleich gewesen. Stets hatte er, obwohl nur Zaungast, regen Anteil am Zeitgeschehen genommen, sich bisweilen sogar in überhitzten Artikeln eingemischt. Jetzt dachte er: Derlei macht müde, bindet unnötig Energien, und es ist der Mühe nicht wert. Einmal hätte er sich um ein Haar mit einem Kollegen auf dem Flur geprügelt. Inzwischen schämte er sich für solche Affektlabilität und hatte längst vergessen, worum es damals gegangen war.

Die Zahl seiner Publikationen war respektabel, doch die meisten seiner Bücher hielt er für albernes Zeug ohne geistige Tiefe. Eines Tages stellte er befriedigt fest, dass sie nicht mehr lieferbar und aufgrund unauffälliger privater Aufkäufe stillschweigend vom Markt verschwunden waren. Nur manchmal, wenn er ein angestaubtes Exemplar eines seiner Werke in Händen hielt, überkam ihn eine gewisse Sentimentalität, herübergeweht aus fernen Tagen, da er die weglose Weite der Wissenschaft noch heilig gesprochen hatte. Dann blätterte er in den Schriften und erkannte die törichten Ansichten einer Jugendlichkeit, mit der er jetzt seine liebe Not hatte. Zuletzt langweilte es ihn.

Er war nur noch zahlendes Mitglied diverser gelehrter Gesellschaften und, welche Ehre, sogar der Akademie, die er jedoch wegen ihrer öden Sitzungen mied, bei denen er nicht einmal rauchen durfte. Außerdem hielt er nichts vom Gesellschaftsleben.

Der alte Herr hatte den ruhigen Herbst des Lebens erreicht. Er war dort seßhaft geworden, wo er einst studiert und, fast noch ein bartloser Jüngling, seinen Doktor gemacht hatte. An diese bewegte Zeit erinnerte er sich hin und wieder, besonders, wenn er wegen einer Lappalie mit einem Polizisten aneinander geriet. Das war ein Hobby von ihm. Mit patrizischer Dünkelhaftigkeit fragte er dann den Elitebeamten, welchen Schulabschluß er geschafft habe. Tief in seinem Inneren wünschte er sich jedoch, mit dem Jähzorn eines Kirmesboxers zuzuschlagen.

Es war eben nicht immer einfach mit meinem alten Herrn. Das spürten auch seine Nachbarn in der Siedlung, die überwiegend von kleinen Beamten bevölkert wurde. Sie lehnten den Professor insgeheim ab. Er passte nicht in ihre geistesfreie Welt, weil er als verdächtig vornehm galt. Irgendwie witterten diese einfachen Menschen, dass er mit seinem Intellekt ihre Vorgartenidylle störte. Weil aber sie alle so sein wollten wie die anderen, war der alte Herr ein Fremdkörper. Er wiederum fand es grässlich, aufgrund seiner gediegenen Erziehung zu diesen Leuten höflich sein zu müssen. Zweifellos spürten sie seine Verachtung, denn die Gewöhnlichen beargwöhnen bekanntlich diejenigen, die sich mit Dingen beschäftigen, von denen sie keine Ahnung haben.

Viele seiner überwiegend ausländischen Brieffreundschaften, anfangs noch mit enthusiastischer Sorgfalt gepflegt, waren im Sande verlaufen, etliche Freunde waren mittlerweile ebenfalls alt und gebrechlich, oder sie waren bereits verstorben. Und sobald wieder eine Todesnachricht kam, pflegte der alte Herr zu sagen: Die Reihen lichten sich, aber es wird dunkler dabei. Nun hatte er kaum noch Zeugen außer seiner eigenen Erinnerung.

Als mein alter Herr eines Tages begriff, dass die Zeit auch mit ihm keine Nachsicht üben würde, fühlte er sich gebrochen. Er glaubte sogar, das Knacken seines seelischen Rückgrates gehört zu haben. Anstatt sich der unstillbaren Leidenschaft der Greise hinzugeben, die Zeitungsredaktionen mit besserwisserischen Leserbriefen zu belästigen, beschäftigte er sich mit dem, was er für die einfachen Fragen des Lebens hielt, zum Beispiel: Wann ist ein Mensch tot?

Seine These: Wenn ihm seine Erinnerungen genommen werden und damit die Möglichkeit, das Idol seiner selbst zu sein.

Um derlei letzte Fragen beantworten zu können, nahm sich der Professor vor, noch einmal das Gedankengetriebe eines welkenden Skribenten zu schmieren und zur Feder zu greifen. Er glaubte unerschütterlich, erst das Alter erfülle seinen großen Traum von innerer Ruhe, Gelassenheit und heiterem Darüberstehen, und er war davon überzeugt, von diesem Traum noch etwas in Pacht zu haben. Sorgsam pflegte er die Illusion von einem behaglich diskreten Leben, obgleich er wußte, dass es nichts weiter war als eben ein Trugbild. Zu ihm gehörten Gewohnheiten des Althergebrachten: des Essens, des Sprechens, der Kleidung, der Lektüre. In ihnen sah er Kultur am Werk. Stagnation war ihm jederzeit willkommen. Seinen Lebensstil fand er so hässlich wie den aller anderen, aber er tat nichts dagegen. Das kränkte ihn.

Deshalb wollte er sich Notizen machen. Mein alter Herr besorgte sich in einem Fachgeschäft, in dem weiland schon Thomas Mann seine Schreibutensilien bezogen hatte, einen ansehnlichen Stapel Opaline Papier. Auch das Motto, das er über seine Reflexionen zu setzen gedachte, hatte er bereits. Es war ein Zitat aus dem Roman Die Schönen und Verdammten von F. Scott Fitzgerald: Alles ist begehrenswert, sobald es verloren ist.

An dieser Stelle brachen seine fundamentalen Aufzeichnungen aber auch schon ab.

In seinem Wintergarten blickte er mit weitem Wissen auf sein Leben zurück. Doch dabei geriet er schnell auf Sand, weil er nicht wußte, ob er die Vergangenheit erklären oder verklären sollte. Sie war für ihn ein verlorenes Bild mit einem sanften Trauerrand, auf dem weite Flächen wie von Schnee überweht schienen. Ihre Formen blieben ihm undeutlich, und die Erinnerungen schwebten darüber hinweg wie flüchtige Wolken in ständig wechselnden Gestalten. Auf diese Weise befand sich der alte Herr nach und nach auf dem Rückzug und versuchte zu durchschauen, indem er vereinfachte.

Dabei stellte er fest, dass er immer weniger mit der Gegenwart zu Recht kam. Gewiß, er war alt, aber er verachtete jene Geronten, die ständig die Adressen von Internisten und Orthopäden austauschten, deren Ernährung aus Diätlimonade und Algensalat bestand oder die über Haarausfall klagten. Seine Cholesterinwerte waren ihm gleichgültig.

Was ihn verunsicherte, waren Kleinigkeiten, an denen er feststellte, wie wenig seine Weisheiten, die er sich mühsam erarbeitet hatte, wert waren. Außerdem fand er sich neuerdings öfter in lächerlich absurden Situationen. Dabei war der alte Herr stets sorgfältig darauf bedacht, gewisse Standards einzuhalten, die mit seinen Ansprüchen an sich selbst zu tun hatten. Früher zitierten Studenten sein geflügeltes Wort: Niveau ist etwas Französisches! Das galt aber immer nur für den Solisten, der seit seiner Kindheit unfähig war, im Orchester mit anderen zu spielen: inkompatibel mit allem, was sich Team nannte.

Er wollte nur seine Ruhe und seinen Frieden, der für ihn nicht das Resultat eines Krieges war, sondern von dessen Vermeidung. Mitunter ertappte er sich jedoch bei dem abstoßenden Gedanken, es müsse wieder einen Krieg geben, um ihn von all dem vulgären Volk zu befreien, von dem er sich zusehends umgeben sah.

Da begann der alte Herr zu zweifeln. Er zweifelte mit jener bohrenden Gründlichkeit an sich, mit der er früher seine wissenschaftlichen Arbeiten verfasst hatte. Obgleich er leidenschaftlich gerne las, hatte er sich vorgenommen, solche Lektüre zu meiden, die seine Resignation nur beförderte, anstatt sie zu mildern. Aber er konnte so wenig vom Lesen lassen wie vom Rauchen. Mitunter fand er sich jedoch vor seinen Regalen, ohne zu wissen, was er eigentlich suchte. Schritt er seine Bücherwände ab, oder waren es die Heldengräber seiner geistigen Emigrationsarmee? Nach und nach zweifelte er an den Möglichkeiten seines Glücks, und alle Entwürfe des Lebensabends schienen bereits widerlegt.

So häufte der alte Herr Zweifel auf Zweifel und glaubte, damit etwas aufzubauen.

Der Knopf

Der alte Herr begriff: Der Zweifel gebiert Verzweiflung. Eine Ursache der Verzweiflung des alten Herrn war ein Knopf an seinem Lieblingsjackett, der an seinem letzten Faden hing. Solche Vorfälle deprimierten den Professor. Er empfand sie als Niederlage, ja als Demütigung. Sie konfrontierten ihn auf brutale Weise mit seinem Alter, seiner Unbeholfenheit, seiner Untauglichkeit. Außerdem war durch den losen Knopf die alte Ordnung aus den Fugen geraten. Plötzlich war nichts mehr so, wie es noch gestern gewesen war. Zu allem Überfluß hatte die für derlei Notfälle zuständige Haushälterin auch noch ihren freien Tag. Zwar hingen etliche andere Sakkos im Schrank, doch das interessierte den alten Herrn nicht. Er wollte diese Jacke tragen.

Also machte er sich ans Werk. Eine Kleinigkeit war das nicht, denn auch im Annähen eines Knopfes konnte sich seiner Ansicht zufolge die Weltverschwörung manifestieren. Ehe der alte Herr im Schatten dieser potentiellen Bedrohung zu Nadel und Faden greifen wollte, wischte er sich den Schweiß der Angst und der Erregung von der Stirn, begab sich zitternd auf die Suche nach Nähzeug, setzte sich in seinen Lesesessel, um sich vor der großen Aufgabe auszuruhen. Er dachte mit aller Gründlichkeit nach und kam dabei zu folgendem Resultat:

Alleinstehende Herren, die in kindlichem Ernst mit Nadel und Faden kämpfen, geben ein Bild von hochgradiger Lächerlichkeit ab. Es muß ein stilles Vergnügen sein, sie heimlich bei ihrer Arbeit zu beobachten und ihnen an den Sorgenfalten abzulesen, wie schmerzlich fern die selbstlose Zugehfrau in diesem Augenblick der Bewährung war. Weit und breit niemand in Sicht, der das Problem lösen könnte. Gottlob habe ich wenigstens anlässlich des letzten Hotelaufenthaltes statt eines Aschenbechers das Nähzeugbriefchen aus dem Bad mitgehen lassen, überlegte der alte Herr: Es enthält alles, was man in case of emergency begehrt.

Plötzlich nämlich gilt es, selbst Hand anzulegen, will man nicht abgerissen außer Haus gehen, ja, es gilt, diesen schier aussichtslosen Kampf mit Nadel und Faden tapfer aufzunehmen – und siegreich zu beenden. Der alte Herr fühlte sich auf sich gestellt wie ein abgeschossener Pilot im feindlichen Hinterland, und er mußte, in seliger Erinnerung an Großmutters Nähkästchen, einen zwar kleinen, aber doch entscheidenden Krieg gewinnen. Im Nähkampf sozusagen. Was einst an einen beschaulichen Winkel gemahnte und an Mutters gütige Nähhände, wurde augenblicklich zur großen Herausforderung, gegen die ein Börsengang ein Kinderspiel war.

Auf einmal ahnte der alte Herr, wie untauglich die eigenen Finger waren. Unbeweglich, vergichtet, zittrig. Schon beim mehrmals scheiternden Versuch des Einfädelns, dieser Folge deprimierender, ja beschämender Niederlagen, stellte er fest, dass längst ein Besuch beim Optiker fällig gewesen wäre. Was soll’s, es ging um nicht mehr und um nicht weniger, als Nadel und Faden in ein harmonisches, will sagen: arbeitstaugliches Verhältnis zueinander zu bringen. Nein, das war keine Kleinigkeit und eigentlich auch gar nicht lustig. Außerdem war zu bedenken, dass der Knopf nicht zu eng angenäht werden durfte, weil er sich sonst dem Knopfloch verweigerte. Oder umgekehrt.

Der alte Herr überlegte: Muß man wirklich den Faden zum Einfädeln in den Mund nehmen und ein wenig mit Speichel anfeuchten? Oder handelt es sich dabei um Aberglaube und Hausfrauenmagie? Und wie war das noch gleich mit der albernen Volksweisheit vom langen Fädchen und vom faulen Mädchen?

Knoten und Einfädeln gehörten zu jenen ursprünglich ersten Dingen, die auf die letzten verweisen. Der alte Herr berief sich dabei auf Kierkegaard, demzufolge es mit dem Nähen wie mit dem Denken sei: Der Knoten am Faden, das ist die feste Gewissheit, das Absolute. Nähe noch so viel, doch wenn dein Faden am Ende keinen Knoten hat, so schlüpft er durch alle Stiche wieder heraus, und die Arbeit war umsonst. Mit anderen Worten: Eine Vorlesung über Kierkegaard wäre ihm leichter gefallen als das Annähen eines Knopfes.

Ein Hindernis von biblischer Dimension (Markus 10,25) war und blieb das Nadelöhr. Daran kommt kein Kamel vorbei, geschweige denn durch. Ist das Nadelöhr erst erfolgreich überwunden, so ist der schwierigste Teil der Verrichtung schon bemeistert. Woher kommt dieses biblische Bild vom Nadelöhr? Es zielt ja gegen den Reichen, dem angeblich das Himmelreich verwehrt ist. Bedeutet das am Ende, das Annähen eines Knopfes zähle bereits zu den Höllenstrafen? Gewiß: Wer näht, der ist arm – oder als Reicher aufgrund des Verlustes besagten Knopfes arm dran. Oder sollte es doch wahr sein, dass es in Wirklichkeit gar nicht um ein Kamel geht, sondern um ein dickes Schiffstau namens Kamelon? Oder geht die Geschichte zurück auf eine enge Felsspalte vor den Toren des alten Jerusalem? Durch die freilich schafften es die Kamele: wenn auch gebückt.

Luther hat hier eine seiner Übersetzungsfallen eingebaut, dachte der alte Herr, denn das Himmelreich bleibt dem Reichen (im Originaltext) keinesfalls verschlossen. Er muß sich, den Gesetzen des Gleichnisses folgend, nur um einiges mehr anstrengen und – wie die Kamele vor Jerusalem – eben ein wenig in die Knie gehen.

Stich um Stich geriet der alte Herr beim Nähen in solch gedanklich gefährliches Fahrwasser und stieß auf eine Vielzahl existentieller Fragen: von den drei Parzen und dem Lebensfaden bis hin zu jenen Nadelstichen, die er aus früheren Fakultätssitzungen kannte. Und was hatte es mit der seltsamen Tatsache auf sich, dass im Märchen ausgerechnet ein Schneider auf den Himmelsthron gelangt? Weil Männer in der Regel den Faden doppelt nehmen? Weil doppelt genäht angeblich besser hält? Nein, weil ein Mann theoretisch solide denkt, dachte der alte Herr. Frauen aber wissen, dass die vielen Stiche den Halt ausmachen – und gar nicht so sehr der Faden selber. Das große Nähen begann zweifelsohne nach dem Sündenfall. Die Blöße mußte bedeckt werden. Schon ein loser Knopf vermag eine Blöße und somit den Sündenfall zu offenbaren.

Der alte Herr schwitzte vor Anstrengung. Er würde das Hemd wechseln müssen.

Im Nähen also erfüllte sich das Bibelwort, dass der Mensch im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu verdienen habe. Das damit verbundene Unheil offenbarte seine apokalyptischen Ausmaße, als die Nadel tief in den ungeschickten Finger des alten Herrn drang und einen Blutstropfen verursachte.

Warnung vor dem Hunde

Derlei ist bekannt: Man trifft irgendwo Bekannte, mit denen man eigentlich gar nichts zu tun haben möchte, stimmt leichtfertig einer vage ausgesprochenen Einladung zu, hofft aber insgeheim zugleich, diese werde nie vollzogen. Dann kommt alles ganz anders, und diese Leute bestehen plötzlich hartnäckig darauf, endlich das gegebene Versprechen einzulösen. Immer wieder belästigen sie einen mit Anrufen, bis man schließlich nachgibt und seufzend zustimmt.

Es gibt nun einmal Dinge, sagte sich der alte Herr in seiner überobligatorischen Korrektheit, die getan werden müssen, gleichviel, ob es einem schmeckt oder nicht. Und weil sie einem in der Regel nicht schmecken, schiebt man sie wie ein Schneepflug so lange vor sich her, bis es nicht mehr geht. Meist haben sie sich dann, die anfangs noch einer Lappalie glichen, mittlerweile zu einem Riesenproblem aufgehäuft. Andererseits aber scheint es so etwas wie einen angeborenen Instinkt zu geben, vielleicht ein Rest aus grauer Vorzeit, irgendwo verborgen unter der Schädeldecke, der einen mit einem unbestimmten unguten Gefühl vor etwas warnt und meist als Alibi für das Vermeiden jener unangenehmen Dinge herhalten muß.

Der alte Herr mußte so einen Pflichtbesuch absolvieren, der von ihm mit allerlei mehr oder weniger glaubwürdigen Ausreden hinaus geschoben, nun aber unvermeidlich geworden war. Also besorgte der alte Herr für die Dame des Hauses einen Blumenstrauß, nicht zu teuer, freilich auch nicht gerade billig. Damit machte sich der Professor auf den Weg und versuchte, seine schlechten Gedanken zu verscheuchen. Hatte er sich nicht in letzter Zeit immer wieder vorgenommen, ein wenig mehr unter Leute zu gehen und Kontakte zu pflegen, damit er nicht zum komischen Kauz wurde? Vielleicht würde der Nachmittag überraschenderweise ja ganz nett verlaufen.

Seinen Erziehungsprinzipien gemäß wollte der alte Herr pünktlich sein und die leidige Angelegenheit so schnell und so elegant wie möglich hinter sich bringen. Schon als ihn das Taxi vor dem Haus seiner Gastgeber absetzte, hörte er lautes Bellen und Knurren, gefolgt von einer kreischenden Frauenstimme:

Aus! Lancelot. Aus. Aber sofort!

An der Gartentüre prangte ein sauber poliertes Messingschild: Warnung vor dem Hunde.

Der alte Herr las es, erschrak heftig und bedauerte, ausgerechnet heute ohne seinen Gehstock ausgegangen zu sein. Seit seiner Kindheit fürchtete sich der alte Herr vor Hunden und wurde in seinen Träumen öfter von so einem Höllentier angefallen und in sein Geschlechtsteil gebissen, denn dem alten Herrn war aufgefallen, dass Hunde bevorzugt zwischen den Beinen schnüffeln, als sei man inkontinent.

Nachdem er mehrmals tief durchgeatmet und umständlich den Blumenstrauß vom Papier befreit hatte, das er verlegen und nicht ohne Bedauern in seine Jackentasche stopfte, wohl wissend, wie sehr diese dadurch ausgebeult würde, drückte der alte Herr mit dem Mut der Verzweiflung auf den Klingelknopf. Sogleich hörte er ein scharfes Kratzen an der Haustüre und war sich nicht sicher, ob es die Krallen des Köters waren oder der hilflose Versuch des Hausherrn, die Türe zu öffnen. Jedenfalls ging die Türe zunächst nur einen Spalt weit auf, begleitet von einem bedrohlichen Knurren.

Der Kopf einer älteren Dame wurde sichtbar, doch ehe sie die Türe vollständig öffnen und ihren Besucher hereinbitten konnte, schoß ein riesiger Hund ins Freie und sprang wild bellend wie von Sinnen im Vorgarten herum.

Die Rasse war dem alten Herrn nicht bekannt. Er sah nur ein gesprenkeltes primitives und brutales Hundegesicht und das Fletschen scharfer Zähne. Das Vieh drehte sich um und sprang in Richtung der Genitalien des alten Herrn, der instinktiv den Blumenstrauß schützend davor hielt und eine hilflose Bewegung rückwärts andeutete, denn ihm war offen gestanden nach Flucht zumute.

Die Dame des Hauses versuchte, den Besucher zu beruhigen: Er tut nichts. Er ist ganz brav. Es ist nur die Freude über ihren Besuch. Kommen Sie doch herein. Schluß jetzt, Lancelot. Aber sofort.

Tief in jeder Hundehalterin war eine gouvernantenhafte Erzieherin verborgen.

Wie oft hatte der alte Herr diese Beobachtung schon machen können. Und jedes Mal, wenn sie ihm wieder wie Schuppen von den Augen fiel, hielt er sämtliche Parolen vom Lehrermangel in diesem unserem Lande für üble Politikerlügen.

Der Hund ignorierte die Anweisungen der Domina und hörte nicht auf zu bellen.

Der alte Herr kämpfte um Souveränität, versuchte irgendwie nett zu sein, überreichte den Blumenstrauß und probierte wie ein unbegabter Schauspieleleve betont langsame, vorsichtige Bewegungen, um das Untier nur ja nicht zu erschrecken und dadurch noch mehr zu reizen.

Das Kalb saß jetzt vor ihm, starrte ihn unentwegt an, bellte und knurrte unaufhörlich. Der Schwanz trommelte beständig auf den Steinboden. Es klatschte jedes Mal wie bei einer schallenden Ohrfeige.

So sehr die Hausfrau auch auf das Tier einredete, so wenig kümmerte sich Lancelot darum. Vielmehr begann er, nach den Schuhen des Besuchers zu schnappen. Auf diese Weise vollführte der alte Herr allmählich eine Art sich steigernden Stepptanz, von dem er wußte, wie lächerlich ihn dies in den Augen seiner Gastgeberin machen mußte. Diese aber schien die zuckenden Verrenkungen der nicht mehr ganz elastischen Gliedmaßen des alten Herrn gar nicht zu bemerken.

Hör auf damit, Lancelot, sagte die Dame.

Husch ins Körbchen. Los. Rein mit dir.

Der Hund jedoch schien geistesgestört zu sein und taub zugleich. Er rollte mit den Augen, hechelte und besabberte nun in der Wadengegend die teure Flanellhose des Besuchers auf die widerlichste Weise.

Herzlichen Dank für die liebenswürdige Einladung, stammelte der alte Herr und spürte, daß ihm beim Gedanken an seine Hose übel wurde. Mit einigem Erstaunen registrierte er dann, wie die eher zierlich wirkende Dame des Hauses den Hund plötzlich mit unvermutet grober Kraft an seinem nietenstrotzenden Halsband packte und brutal in die Ecke schleuderte. Die Töle winselte kurz auf und trollte sich mit eingezogenem Schwanz aus dem Zimmer.

Der alte Herr atmete auf.

Manchmal muß ich ein klein wenig streng sein mit Lancelot, entschuldigte sich die Dame mit einem bedauernden Süßsauerlächeln. Erziehung muß schließlich sein, fügte sie hinzu und hatte dabei bedenklich schmale Lippen.