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Beschreibung

Verkehr ist Kultur. Er bestimmt darüber, was sich wo und auf welchen Wegen befindet, wer aufeinandertrifft und wer nicht - er bildet die Grundlage der Netzwerke, die Menschen und Dinge miteinander eingehen. Mit der Automatisierung des Verkehrs, der Etablierung von Fahrassistenzsystemen und der Entwicklung selbstfahrender Autos stehen nicht nur die Verhältnisse menschlicher und nicht-menschlicher Verkehrsteilnehmender in Frage. Nicht nur die ethischen und juristischen Grundlagen des Straßenverkehrs, sondern auch die basalen Bedingungen des Umgangs miteinander müssen neu verhandelt werden. Die Beiträger*innen des Bandes analysieren aus medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive die Transformationen der Mobilität, die Verkehrswende und das vielfach aufgeladene Objekt Auto.

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Florian Sprenger (Dr. phil.) ist Professor für Virtual Humanities am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Nach seiner Promotion an der Ruhr-Universität Bochum zu Medien des Immediaten war er PostDoc am Digital Cultures Research Lab der Leuphana Universität Lüneburg, Visiting Scholar an der Stanford University sowie Juniorprofessor für Medienkulturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er erforscht die Transformationen digitaler Kulturen, die Geschichte künstlicher Umgebungen und die Virtualität der Automatisierung.

Florian Sprenger (Hg.)

Autonome Autos

Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministerium für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Florian Sprenger (Hg.)

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © fotohansel / stock.adobe.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5024-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5024-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-5024-2 https://doi.org/10.14361/9783839450246 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Autonome AutomobilitätEine medien- und kulturwissenschaftliche EinführungFlorian Sprenger

Verkehrswende und Automatisierung

Hybride KontrolleTechnostrukturen, Risiko und Vertrauen in der BetaphaseCordula Kropp

Vom individuellen Autofahren zu MobilitätsgemeinschaftenFür ein relationales Verständnis von Mobilität und Verkehr als commonsJulia Bee

Auto-Mobilitätsmanagement?Über eine gelebte Vision Zero, repetitive Fortschrittsversprechen und gerechte MobilitätJutta Weber

Autonome Autos und Künstliche Intelligenz

Das Automobil als SehmaschineFabian Kröger

Achtung! Hunde auf der FahrbahnReinforcement Learning und die Modellierung autonomer AgentenDawid Kasprowicz

Simulierte UnfälleTestfahrten autonomer AutosHannah Zindel

Die Fußgänger:innen der autonomen KraftfahrzeugeEine informatische DispositivanalyseTobias Matzner

Neue Umgebungen des Fahrens

Fahren und KontrollierenAutomatisierte Mobilität als programmatischer KreislaufJan Distelmeyer

»Nahtlose Autonomie«Nissans Vision von Interventionen durch Mobilitätsmanager:innenSam Hind

Kranke Karten und elektronische HorizonteZur Stellung geografischer Informationssysteme im Kontext des autonomen FahrensMax Kanderske

Automobile Subjektivitäten

Assistenz für wen?Autonomes Fahren zwischen Norm und VariabilitätRobert Stock/Jan Müggenburg

Bildschirm-Kamera-AutosSelbstfahrende Automobile im filmischen ImaginärenSonia Campanini

Vom Fahrzeug zum FahrdingEin Heideggerianischer Kommentar zur Automatisierung des FahrensSuzana Alpsancar

Feindfahrt mit AufklebernStefan Rieger

Autorinnen und Autoren

Autonome AutomobilitätEine medien- und kulturwissenschaftliche Einführung

Florian Sprenger

Ein Automobil ist ein Objekt, das sich selbst bewegt – eine Maschine, die die Kraft ihrer Fortbewegung eigenständig produziert und in Bewegung verwandelt. Als ein französischer Neologismus kommt der Begriff Automobil von griechisch autos für selbst oder eigen und lateinisch mobilis für beweglich. Autonom (von nomos für Regel oder Gesetz) wird ein Automobil, wenn es die vorgegebenen Regeln dieser Bewegung so umzusetzen in der Lage ist, dass es sich in einer unbekannten Umgebung sicher bewegen und eigenständig Lösungen für definierte Szenarien finden kann. Ein solcher Automat (von der Wurzel men für nach etwas streben oder willens sein) bewegt sich aus eigenem Antrieb und seine Intentionalität steht (in einem eingeschränkten Sinn) so unter seiner eigenen Macht, dass er vorgegebene Ziele eigenständig umzusetzen in der Lage ist. Er kann die Leistungen menschlicher Fahrer:innen teilweise oder zukünftig sogar komplett durch eigene Kapazitäten ersetzen. Dieser Prozess der schrittweisen Durchsetzung von Fahrassistenzsystemen möglicherweise bis hin zu vollständig autonomen Fahrzeugen ist derzeit in vollem Gange: Autopiloten zur Fahrt auf Autobahnen bieten eine Reihe von Herstellern bereits an, fahrerlose Autos werden in Prototypen unter eng definierten Bedingungen und mit Sicherheitsfahrern vor allem in den USA getestet und Waymo bietet seit Mitte 2018 einen autonomen Fahrdienst ohne Sicherheitsfahrer:innen an.1 Die Automatisierung des Straßenverkehrs ist ein schrittweiser Prozess, den zahlreiche Faktoren beeinflussen, der keineswegs homogen abläuft, oft auch an die Grenzen des Möglichen stößt und dessen Zukunft nicht absehbar ist – nicht zuletzt, weil die von unterschiedlichen Herstellern vorangetriebenen Strategien des »autonowashing« den Anschein erwecken, als seien alle technischen Probleme bereits gelöst.2

Autonomes Fahren meint im Folgenden die durch Fahrassistenzsysteme ermöglichte Semi-Autonomie spezifischer Elemente des komplexen Vorgangs des Fahrens, während das Fahren ohne Fahrer:innen bei vollständiger Autonomie als fahrerlos bezeichnet wird. Um autonome und schließlich fahrerlose Fahrzeuge zu entwickeln, verfolgen unterschiedliche Hersteller unterschiedliche Strategien. Es lassen sich grob zwei Varianten beobachten: Während die traditionellen Autohersteller schrittweise Fahrassistenzsysteme verbessern, versuchen vor allem die aus der IT-Branche stammenden Firmen wie Waymo (Google), Uber, Lyft, vielleicht auch Apple und mit Abstrichen Tesla, möglichst direkt ein vollständig autonomes Auto zu entwickeln, allerdings auf der Basis von modifizierten Serienmodellen etablierter Hersteller (mit der Ausnahme von Tesla). Während es den Autounternehmen um eine stufenweise Verbesserung eines bestehenden Produkts geht, zielen die IT-Unternehmen auf eine ›Verweltlichung‹ des Datenkapitalismus in einer vorhandenen Industrie. Hinter diesen Strategien stehen unterschiedliche Finanzierungsmodelle und Mobilitätsziele, aber auch abweichende Annahmen über zukünftige Entwicklungen vor allem in Bezug auf Nutzfahrzeuge und Fahrdienstleistungen.3 Die IT-Firmen zielen insbesondere auf die Etablierung neuer Geschäftsmodelle im Taxi-Sektor, was private Autos, wie sie von anderen Herstellern verkauft werden, unter Umständen überflüssig machen könnte. Diese Entwicklung ist bereits weit fortgeschritten: Waymo, Lyft, Cruise und Uber haben in ausgewählten nordamerikanischen Städten mit dem Ausbau experimenteller autonomer Fahrdienste begonnen. Im Gegensatz zu den klassischen Automobilherstellern und Tesla sind diese Angebote durch geofencing beschränkt, was für Taxifahrten kaum eine Rolle spielt, für private Autos hingegen schon. Finanziell sind diese Projekte zutiefst defizitär. Die Schätzungen für die bisherigen Investitionen der Industrie liegen im dreistelligen Milliardenbereich, ohne dass ein serienreifes autonomes Auto entwickelt worden wäre. Der geschätzte Marktwert liegt incl. Fahrdienstleistungen bei 550 Milliarden Dollar für 2026. Serienmäßige Fahrassistenzsystemen hingegen haben sich als überaus lukrativer Markt herausgestellt.4

Die Realisierbarkeit fahrerlosen Fahrens wird jedoch von Industrie, Consulting-Firmen, Mobilitätsforscher:innen, Ingenieur:innen und Wissenschaftler:innen unterschiedlich bewertet. Die größten Erfolge hat das autonome Fahren bislang auf Autobahnen als exklusiven Kraftfahrzeugorten ohne Gegenverkehr und nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer:innen. Ob in verwinkelten Gassen, chaotischen Straßensituationen und von zahlreichen unausgesprochenen Regeln bestimmten Umgebungen außerhalb Nordamerikas jemals vollständig autonomes Fahren möglich sein wird, ist keineswegs sicher. Das Nachdenken über die Zukunft des Verkehrs ist daher notwendigerweise von Spekulationen über die Fortentwicklung der Technik begleitet, die nie neutral sind, sondern divergente Vorstellungen dessen mit sich bringen, was Technik ist, wie sie sich zum Menschen verhält und wie sie gesellschaftlich und kulturell eingebettet werden kann.

Kaum eine Alltagshandlung ist derart reguliert und reglementiert wie das Autofahren. Die Herausforderung der Automatisierung besteht nicht nur darin, ein fahrerloses Auto zu entwickeln, das in allen Situationen angemessen reagiert, sondern ihm auch all diese Gesetze, Regeln und Höflichkeiten beizubringen, die mehr oder weniger reibungsfreien Straßenverkehr ermöglichen. Im Zuge dieser Entwicklung, die keineswegs bruchlos ist und von zahlreichen Schwierigkeiten begleitet wird, verschiebt sich das Verhältnis der drei selbstbezogenen Begriffe Automobil, Autonomie und Automat: der Mobilität, der Regeln der Bewegung und der Intentionalität des sich selbst bewegenden Objekts Auto. Von den kulturellen und sozialen Auswirkungen dieses technischen und ökonomischen Prozesses, von Automobilen, Autonomie und Automation, handeln die Beiträge dieses Buches – und auch von der Möglichkeit, ihre Zukunft anders zu denken als die Automobilindustrie.

Das Auto – ob autonom oder nicht – wird in den folgenden Texten nicht nur als technisches, sondern auch als soziales und kulturelles Objekt fokussiert und zugleich defokussiert. Der Grund für diese widerstrebige Bewegung liegt in der Vermutung, dass das Auto in der Zukunft des Verkehrs nicht länger den Status haben kann, den es in westlichen Ländern in den letzten einhundert Jahren hatte. Das Auto wird, diese Prognose sei gewagt, im Zuge der anstehenden Transformationen des Verkehrs als Fortbewegungsmittel zwar nicht verschwinden, aber seine Rolle als energieverbrauchendes, psychodynamisches, ökonomisches, politisches und schließlich autonomes Objekt muss in vielerlei Hinsicht (nicht nur im Kontext der Automatisierung) neu ausgehandelt werden – ein Vorgang, den Weert Canzler und Andreas Knie auf den treffenden Begriff Autodämmerung gebracht haben.5 Eine Gesellschaft, deren Gravitationszentrum das Auto bildet, steht den Herausforderungen des Klimawandels und der Urbanisierung bereits heute hilflos gegenüber – nicht zuletzt, weil diese Herausforderungen durch die Dominanz dessen, was Mimi Sheller und John Urry das »System der Automobilität« genannt haben, mit hervorgebracht worden sind, es aber nicht ihre Lösung sein kann.6

Um zu verstehen, wie es zum gegenwärtigen Status Quo der Automobilität und ihrer Automatisierung kommen konnte, ist ein genauer Blick auf das Auto als technischen wie kulturellen Gegenstand nötig. Was ist heute ein Auto? Und was könnte ein autonomes Auto in Zukunft sein? Wie verhalten sich die Dispositive der Mobilität und die Infrastrukturen des Verkehrs zu den gegenwärtigen Transformationen der Medien der Fortbewegung? Welche Narrative und politischen Programme werden mit dieser Veränderung verhandelt? Für kommende Gesellschaften wird das Auto, in welcher Form auch immer, nicht länger das Objekt sein können, in dem sie sich spiegelt – doch dass sie sich bis heute im Auto spiegelt, dass es als Projektionsfläche für menschliche, vor allem männliche Imaginationen der Vollkommenheit dient, sollte man deswegen nicht außer Acht lassen. Diese gleichzeitige Zentrierung und Dezentrierung des Autos als Element gesellschaftlichen Selbstverständnisses, welche die Beiträge dieses Bandes durchzieht, nimmt das Auto als technisches Objekt im historischen Moment seiner Transformation in den Blick. Wann, wenn nicht heute, kann man über eine Welt ohne Autos spekulieren?

Die aufgeworfenen Fragen stellen sich zu einem Zeitpunkt, an dem unklar ist, wie autonomes Fahren in Zukunft aussehen und ob es jemals in der versprochenen Form möglich sein wird.7 Die Diskrepanz zwischen dem, was beworben und imaginiert wird, dem, was technisch möglich und dem, was sozial und kulturell gewollt oder wünschenswert ist, sollte stets im Blick behalten werden. Eine Stärke der hier versammelten medien- und kulturwissenschaftlichen Ansätze besteht darin, das Imaginäre der Automobilität miteinzubeziehen und sie nicht als gegeben zu betrachten. Welchen Status das Auto in Zukunft haben wird und wie es sich zu alternativen Formen der Fortbewegung verhält, die bislang eher als Abweichungen von der normierenden Kraft der Automobilität behandelt wurden, steht keineswegs fest. Die gesellschaftliche Akzeptanz verkehrsbedingter Kosten, Unfälle und Todesfälle sinkt kontinuierlich, während die generelle Skepsis am bestehenden System der Automobilität steigt.8 Damit einher geht jedoch auch Widerstand gegen eine Veränderung des automobilen Status Quo. Das Nachdenken über die Zukunft des Autos aktiviert daher eine Vielzahl utopischer wie dystopischer Potentiale.9 Die versammelten Ansätze beziehen solche Zukunftsvisionen auf die Gegenwart des Verkehrs und reflektieren zugleich die Politiken des der Fortbewegung. Denn in jedem Fall ist offensichtlich, wie fundamental sich die Bedingungen von Mobilität derzeit verändern, wenn man für die kommenden Jahrzehnte von einer Mischung semi-autonomer, autonomer und konventioneller Fahrzeuge auf Straßen ausgeht, die als Räume der Teilhabe aller Verkehrsteilnehmer:innen neu definiert werden, während die Wende in ein post-fossiles Zeitalter lange gehegte Privilegien verunsichert.

In jedem Fall sollte man sich gerade angesichts der Dringlichkeit des Abschieds von fossilen Brennstoffen, des Verkehrskollapses in Großstädten und den Potentialen und Risiken der Automatisierung davor hüten, in die Falle der Pfadabhängigkeit zu tappen und den systemischen Lock-In in die Automobilität als unwiderruflich zu nehmen. Autofahren erscheint heute in weiten Teilen westlicher Gesellschaften als normale, normierte und normalisierende Form der Fortbewegung, die alle Alternativen als anormal erscheinen lässt.10 Diese ›falsche Notwendigkeit‹ des Autofahrens verdeckt, dass es eine soziale wie kulturelle Praxis und eine politische Handlung ist.11 Alternativen zum Status Quo sind im Verlauf der Durchsetzung dieses Systems der Automobilität zunehmend undenkbar geworden. Genau diese Setzung möchte dieser Band aufbrechen.

Die Entwicklung autonomer Autos birgt in dieser Hinsicht das Potential, die gegenwärtige Konstellation dominanter Automobilität zu unterlaufen und durch neue Formen der Mikromobilität, d.h. der möglichst fugenlosen, intermodalen Verschränkung unterschiedlicher Verkehrsmittel und heterogener Mobilitätsformen auf der Grundlage digitaler Medien und geringen Transaktionskosten zu ersetzen. Im Raum des Möglichen steht aber auch eine Zementierung der Dominanz des Autos, dessen Automatisierung zu einem Zerfall des öffentlichen Nahverkehrs zugunsten von noch mehr Autos führen könnte.12

Das Nachdenken über die Zukunft des Autos ist entsprechend immer ein Nachdenken über zukünftige Formen des Zusammenlebens und eine Kritik der Ökonomien der Automobilität.13 Nicht zuletzt deswegen ist die Beschäftigung mit diesem Thema so aufgeladen, weil sie eine lange gehegte und infrastrukturell wie institutionell zementierte Hierarchie in Frage stellt. Kritik an der Autokultur ist – vor allem in Deutschland – Kritik am Wirtschaftsmodell. Mobilität ist, wie Mimi Sheller eindrücklich unterstreicht, eine zentrale Voraussetzung von Teilhabe an demokratischen Kulturen.14 Ihre Veränderungen sind mithin stets an gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen gebunden, werden aber in dieser Hinsicht nicht ausreichend reflektiert. Auch deswegen ist die Spekulation ein angemessenes Verfahren, um über das Auto nachzudenken.

Schon heute ist es nicht immer leicht, eine klare Linie zu ziehen zwischen den versprochenen Zukunftsszenarien der Autohersteller – die mitunter direkten Einfluss auf den Aktienkurs haben –, dem Stand der Technik und den Warnungen der Kritiker.15 Doch aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist die Frage, ob, wann und in welcher Form autonomes Fahren etabliert sein wird16, nur zweitrangig – und angesichts der Tatsache, dass Entwicklungen von heute morgen schon veraltet sein können, weil Hype und Machbarkeit nicht immer unterscheidbar sind, auch gar nicht beantwortbar. Wenn Verkehr Kultur ist und die Automatisierung Bestandteil grundlegender Transformationen von Mobilität, dann stellen sich zunächst andere Fragen – nicht zuletzt auch nach den Imaginationen zukünftigen Verkehrs, die von Advokaten wie von Kritikern der Automatisierung befeuert werden.

Betrachtet man die Versprechungen, die von den Herstellern, aber auch einer unüberschaubaren Menge an Artikeln, Filmen und Werbeclips sowie Reports und Whitepapers über selbstfahrende Autos und die Zukunft des Straßenverkehrs formuliert werden, lassen sich drei wiederkehrende Schwerpunkte identifizieren17: Autonome Autos sollen erstens für alle Verkehrsteilnehmer:innen, besonders aber für die Insassen, sicherer sein und die meisten Unfälle vermeiden, zweitens ihren Energieverbrauch (vor allem im Verbund mit Elektromotoren) durch optimierte Nutzung verbessern und drittens – im Kontext der Sharing-Ökonomie – den Gesamtverkehr reduzieren und die Überlastung von Innenstädten aufheben. In anderen Worten: Autonome Autos sollen grün, sicher und lebenswert sein. Visioniert wird eine »era of crash-free roadways through deployment of innovative lifesaving technologies«18. Alle diese Versprechungen laufen darauf hinaus, dass automobiler Verkehr strukturell so bleibt, wie er ist, aber ›besser‹ wird. Die Automobilindustrie reagiert damit auf Probleme, die sie selbst geschaffen hat. Im Jahr 2016 gab es weltweit rund eine Milliarde Autos und 1,35 Millionen Verkehrstote, d.h. einen Todesfall alle 24 Sekunden, ein Viertel davon Fußgänger:innen und Radfahrer:innen.19 Der Straßenverkehr ist für ein Fünftel des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich. Städte weltweit drohen, unter der Last zunehmenden Verkehrs zu kollabieren. Für all diese massiven Probleme scheint die Automatisierung des Straßenverkehrs Lösungen bereitzuhalten, die es zu prüfen, zu historisieren und auf ihre Alternativen zu befragen gilt – vor allem dann, wenn die vorgeschlagene Lösung auf ein Immer-weiter-so der ökonomisch bewährten Automobilität hinausläuft.

Die Vermarktungsstrategien rund um das autonome Auto greifen auf das zurück, was Evgeny Morozov solutionism genannt und als Selbstbegründung der Technologiekonzerne des Silicon Valley identifiziert hat. Die Entwicklung neuer Technologien wird dabei durch ihr vermeintliches Potential, soziale Probleme zu lösen, evident gemacht. Diese wiederum werden als technisch lösbar definiert – mit Lösungen, die sich im Hinblick auf die Probleme des Straßenverkehrs – Unfälle, Umweltzerstörung, räumliche Zergliederung – anbieten, aber stets in Maßnahmen der Verbesserung des bestehenden Systems resultieren.20 Die Zukunft des Verkehrs ist in diesen Debatten, wie Sy Taffel am Beispiel von Tesla gezeigt hat, in einer Spannung gebunden: Auf der einen Seite steht der technological solutionism des Silicon Valley, für den die Fortentwicklung digitaler Technologien alle Probleme lösen wird, auf der anderen Seite die Herausforderungen des Anthropozäns, die letztlich als Möglichkeit der Erschließung neuer Märkte behandelt werden.21

Ein Szenario, in sich die Dispositive der Mobilität grundlegend ändern und das Auto nur noch eine Nebenrolle spielt, ist in den industrienahen Imaginationen autonomer Mobilwelten hingegen nur selten vorgesehen. Die vielen Schichtungen politischer, ökonomischer, sozialer und auch psychologischer Pfadabhängigkeit scheinen zu mächtig. Ein kultur- und medienwissenschaftliches Nachdenken über autonome Autos ist jedoch immer auch ein Nachdenken über Alternativen zum Status Quo, indem es Imaginationen der Zukunft auf ihre Gewordenheit hin befragt. Der vorliegende Sammelband präsentiert entsprechende kultur- und medienwissenschaftliche, aber auch philosophische, soziologische und von den Science and Technology Studies inspirierte Ansätze und bildet damit eine Alternative zu den ingenieurwissenschaftlichen, juristischen sowie ethischen Debatten, die bislang dominieren.22 Das Verständnis einer so fundamentalen Veränderung unseres Alltagslebens kann nur in einer transdisziplinären Perspektive gelingen, die das Auto als Bestandteil eines Dispositivs ernst nimmt, das auf dessen Dominanz ausgerichtet ist. Die Beschäftigung mit der Automatisierung des Straßenverkehrs ist eng mit den Narrativen der Verkehrswende verwoben und muss immer wieder spekulativ gewendet werden.

Diese Einleitung gibt einen ersten Überblick über das Forschungsfeld, identifiziert die sich aus medien- und kulturwissenschaftlicher Sicht stellenden Herausforderungen – auch über den Horizont des Bandes hinaus – und stellt einige begriffliche und konzeptuelle Vorschläge vor, mit denen sich das Feld kartieren lässt. Im ersten Teil wird dabei das Auto als Medium beschrieben, anschließend das Verhältnis von Automat, Autonomie und Automobil geklärt, im dritten Teil die neue Verschränkung von Mensch und Maschine in den Blick genommen, um im vierten Teil auf dieser Grundlage eine Reihe von Transformationen der Mobilität zu fokussieren.

1.Rekonfigurationen des Autos

Ein autonomes Auto ist ein sich in seiner Umgebung orientierendes und zur Interaktion mit ihr fähiges, technisches Objekt. Um autonome Autos zu verstehen, reicht es nicht mehr, sie als Verkehrsmittel zu beschreiben, die allein der Fortbewegung dienen. Sie sind nicht nur Kraftmaschinen, sondern zugleich Medien, Computer, Interfaces, adaptive Systeme, datenverarbeitende Maschinen und kontext-sensitive Umgebungstechnologien, aber auch Finanzierungs- und Schuldobjekte. Sie reagieren auf das Verhalten sowohl von Insassen als auch von Passant:innen und projizieren es in die Zukunft. Wie klassische Autos sind sie Assemblagen von menschlichen und technischen Akteuren, setzen ihr Zusammenwirken aber unter neue Bedingungen. Sie sind außerdem psychodynamische Objekte, die als Projektionsfläche kultureller Aushandlungen dienen. Autonome Autos benötigen daher eine neue Beschreibungssprache, die sie erstens als in Infrastrukturen eingebettete technische Gegenstände, zweitens als Elemente digitaler Kulturen und drittens als Objekte des Begehrens ernst nimmt. Ein rein instrumenteller Technikbegriff kommt hier an seine Grenzen.

Autos können in mehrfacher Hinsicht als Medien beschrieben werden: Als Transportmittel dienen sie der Vermittlung zwischen Orten; sie sind Medien für den Wechsel sozialer Rollen und von Ekstase- sowie Tranceerfahrungen; als Gehäuse sind sie Lebensräume; als Objekte des Begehrens vermitteln sie soziale wie psychische Aushandlungen; als technische Instrumente übertragen sie Kräfte und Kommandos. Mit der Automatisierung kommt eine weitere mediale Dimension hinzu: Autos sind nunmehr datenverarbeitende Maschinen, die stets im Wechselspiel mit ihrer Umgebung stehen. Sie operieren auf der Basis hochkomplexer Software: Während eine Boing 787 über 6,5 Millionen Zeilen Code verfügt, sind es für ein modernes Auto der Luxus-Klasse – wohlgemerkt kein autonomes Fahrzeug – geschätzte 100 Millionen Zeilen.23 Ein semi-autonomes Auto produziert durch die Vielzahl an Sensoren extreme Datenmengen und benötigt leistungsfähige Prozessoren, die in der Lage sind, diese Daten in Echtzeit zu verarbeiten. Abhängig vom Automatisierungsgrad sammeln Autos ständig und überall Daten, die, wie der Beitrag von Max Kanderske zeigt, einerseits der Manövrierung und Navigation dienen, aber auch an die Hersteller weitergeleitet werden, die sie zur Optimierung des Fahrverhaltens, zur Aktualisierung von Verkehrsdaten und Karten sowie zur kommerziellen Auswertung bzw. zum Weiterverkauf nutzen können.24 Autos sind heute als »bundle of services«25 zunehmend untereinander und mit Plattformen vernetzt: Gesetzlich vorgeschrieben ist bereits die automatische Notfallassistenz. Navigation ist auf aktuelle Verkehrsdaten angewiesen. Der Vehicle-to-Vehicle-Kommunikation stehen zwar noch bedeutende Hindernisse entgegen – mangelnde Bandbreite, Latenz, fehlende Standards und Netzabdeckung –, doch auch in diese Richtung werden die Entwicklungen vorangetrieben.26

Die Rekonfigurationen des Autos betreffen weitaus mehr als nur die Veränderungen eines technischen Objekts, denn dieses Objekt kann weder von den Infrastrukturen losgelöst werden, die seine Bewegung ermöglichen, noch von den Begehren, die an es geknüpft sind. Das Auto ist nicht nur eine überaus komplexe Maschine, sondern ein Komplex aus Maschinen ebenso wie eine Wunschmaschine, die Erfahrung und Begehren bündelt. Sein Betrieb setzt Straßen und Verkehrssysteme sowie Netzwerke der Energieversorgung, der Produktion und der Reparatur voraus. Es hat die Architektur von Städten im 20. Jahrhundert auf fundamentale Weise geprägt und kann nur funktionieren, weil ein massiver Betriebsapparat auf seine Mobilität ausgerichtet ist. »What is key is not the ›car‹ as such, but the system of these fluid networks.«27 Genauso wie die Einführung des Autos im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vom Ausbau des Straßennetzes und der lokalen Verfügbarkeit von Kraftstoff abhängig war, so ist auch heute die Etablierung autonomer Fahrzeuge in eine Reihe infrastruktureller Transformationen eingebettet.

Technisch betrachtet hat ein autonomes Fahrzeug mit den Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten ersten Kraftfahrzeugen, die durch Maschinenkraft bewegt wurden und die Körperbewegungen der Fahrenden in mechanische Vorgänge zur Steuerung übersetzten, nicht mehr viel gemein – auch wenn die ersten Versuche zur Automatisierung, wie Fabian Krögers Beitrag zeigt, schon in den 1950er Jahren begannen. Nicht nur zur Orientierung in seiner Umgebung, sondern auch zur Organisation seiner Funktionen ist das Auto auf Daten angewiesen. Bereits seit gut zwei Jahrzehnten werden serienmäßig produzierte Fahrzeuge durch Software im sogenannten drive-by-wire-Verfahren gesteuert, das aus der Flugzeugtechnik (fly-by-wire) übernommen wurde.28 Das Fahrzeug kommt dabei ohne eine Übertragung mechanischer Kräfte von den Bedienelementen aus, weil die Befehle elektronisch über einen sogenannten CAN-Bus (Controller Area Network) übertragen werden, der die entsprechenden Kommandos zentral verteilt und den Zustand aller Komponenten überwacht. Dutzende oder gar hunderte von Mikroprozessoren übernehmen unterschiedliche Aufgaben vom Fensterheber und die Kupplung über Sensoren und Lenkung bis hin zu Fahrassistenten und Navigationssystemen. Diese Subsysteme funktionieren zwar meist autark, sind aber miteinander über den CAN-Bus verknüpft. Dieses Prinzip der Steuerung, das komplett auf elektronischer Regelung und digitaler Datenverarbeitung beruht, unterscheidet sich, technisch betrachtet, radikal von der mechanischen Kraftmaschine, die das Auto einmal war, selbst wenn der Antrieb der gleiche geblieben sein mag. An die Stelle der Übertragung von Kraft treten Daten, die Kräfte kybernetisch kontrollieren und regulieren. Dieser Prozess, der in der Automatisierung von Fahrassistenzsystemen kulminiert, ist den nunmehr User:in zu nennenden Fahrer:innen meist im Verborgenen geblieben. Er wird allenfalls deutlich, wenn das Auto nicht mehr einfach repariert werden kann, weil der Schaden in der Software liegt, das Fahrzeug Updates braucht oder gehackt wurde – geklaut werden können manche dieser Autos aufgrund von kryptographischer Sicherung allerdings nur noch mit Spezialwissen.

Autonome Autos und Fahrassistenzsysteme sind nicht nur für aktuelle Information über den Straßenzustand und Staus ständig in need for updates.29 Fahrassistenzsysteme sind immer im Modus der Optimierung – sie werden nie als fertige Produkte ausgeliefert. Dies betrifft insbesondere Daten über das Fahrzeugverhalten, die Umgebung und kritische Reaktionen, die gesammelt und zentral ausgewertet werden, um der Verbesserung der Leistung durch Machine Learning zu dienen.30 Updates schalten neue Funktionen frei oder schließen Sicherheitslücken. Jedes semi-autonome Auto ist in diesem Sinn im Experimentalstadium und lernt dazu – jedoch nicht allein, wie Jack Stilgoe unterstrichen hat: »Self-driving cars learn as a fleet, rather than as individual robots.«31 Die Daten, die das Auto sammelt, indem es sich orientiert und bewegt, haben also mehrere Funktionen: Sie betreffen die sensorische Erfassung der Umgebung des Fahrzeugs, dessen eigenen Zustand sowie Verhaltensweisen und muster von Passagieren und anderen Verkehrsteilnehmer:innen, die als Big Data analysiert werden können. Das Auto verbraucht Energie und produziert Daten, die selbst wiederum zu einer Ware geworden sind – nicht nur für die Autohersteller, sondern auch für die Stadtplanung, die Werbeindustrie oder die Polizei. Zugleich muss die Welt, in der sich selbstfahrende Autos bewegen, maschinenlesbar sein. Die Automatisierung des Verkehrs setzt eine Verwandlung der Welt in das voraus, was von der Maschine erkannt werden kann. Die Welt dieser Maschine ist eine Welt der Daten und ein environment der Adaption an ständige Veränderungen. Das bedeutet auch, dass Straßen so hergerichtet werden müssen, dass sie in Zukunft selbstfahrenden Autos Orientierung ermöglichen – angesichts der Tatsache, dass von den 100 Millionen Meilen Straßen weltweit nur 30 Millionen Meilen asphaltiert sind, ein kaum zu bewältigendes Upgrade von Infrastrukturen.

Versteht man ein autonomes Auto mit dieser Neuperspektivierung als datenverarbeitendes Medium, wird seine Involviertheit in die Gegenwart digitaler Kulturen deutlich. Mithin stellen sich all jene Fragen, die digitale Kulturen umtreiben: nach Überwachung und Kontrolle, nach Datensammlung und Datenhandel, nach Entscheidungsmacht und Handlungsmacht, nach Privatem und Öffentlichem. Wenn nicht nur Haushaltsgeräte oder Medizintechnik, sondern auch Autos als langfristig benutzte Gegenstände mit Software ausgestattet werden, treffen sehr unterschiedliche Lebens- und Entwicklungszyklen aufeinander, wie der Informatiker Ross Anderson gezeigt hat.32 Während die Softwareentwicklung und insbesondere das Bereitstellen sicherheitsrelevanter Updates und Patches in Zyklen von wenigen Jahren oder gar Monaten operiert, werden Autos oft für zwanzig Jahre und mehr verwendet (insbesondere wenn man den Gebrauchtmarkt im globalen Süden berücksichtigt). Üblicherweise wird ein Softwareprodukt nach einigen Jahren aufgegeben und durch eine neue Version ersetzt, weil Updates zu teuer werden. Die Softwareentwicklung müsste für autonome Fahrzeuge, ähnlich wie für medizinische Produkte und langlebige Haushaltsgeräte, ihren Horizont auf andere Zeiträume erweitern und damit ihre Entwicklungs- und Vertriebswege fundamental verändern.33 Ein heute programmiertes Auto müsste also im Jahr 2040 noch funktionsfähig sein und Updates bekommen. Dies bringt eine ganze Reihe von Herausforderungen für die IT-Sicherheit (im Sinne sowohl von safety als auch von security)mit sich, die wiederum Probleme der Nutzung privater Daten und ihres Schutzes aufwerfen.34 Welche Kosten mit der langfristigen Bereitstellung von Softwareupdates verbunden sind, ist derzeit ebenso unklar wie die Frage, auf welche Weise die raschen Veränderungen von Programmiersprachen, Standards, Formaten und Interfaces mit dem Gebrauchshorizont abgeglichen werden können. Unter Umständen, so Anderson, wird sich dies als limitierender Faktor für die weitere Entwicklung herausstellen.

Tabelle 1

Perception

Prediction

Planning

Action

Sensorik

Algorithmen

Mikroentscheidungen

Motorik

Umgebung

Wahrscheinlichkeit

Zukunft

Reaktion/Bewegung

Der Prozess der Automatisierung umfasst all diese unterschiedlichen technischen Entwicklungen und ist daher schwer zu fassen.35 Die Aktionen autonomer Autos können jedoch heuristisch in vier Schritte unterteilt werden, welche die meisten dieser Technologien zusammenfassen und in Tabelle 1 eine grobe Orientierung geben. Die Aktionen eines autonomen Autos bestehen, abstrakt gesprochen Perception, Prediction, Planning und Action. An ihrem Zusammenspiel wird die Vielfalt der eingesetzten Technologien und die Herausforderung ihrer Verschränkung deutlich. Die Sensorik erfasst mittels unterschiedlicher Technologien (optischen Kameras, Laser, Lidar, Sonar, Gyroskop etc.) die Umgebung, die Filteralgorithmen berechnen auf der Basis von Sensordaten Wahrscheinlichkeiten über die Gestalt der Umgebung und mögliche Ereignisse, die wiederum die Basis von Mikroentscheidungen sind, die aus den Wahrscheinlichkeiten mögliche Zukünfte extrahieren, welche schließlich motorisch in Bewegungen oder Reaktionen umgesetzt werden. Die Anwendungsmöglichkeiten reichen je nach Ausstattung des Fahrzeugs von der Berechnung des Abstands zu anderen Verkehrsteilnehmer:innen bis hin zum 360 Grad-Modeling.

Abbildung 1: Beispiel für die Architektur eines autonomen Autos.

Matthaei, Richard und Markus Maurer: »Autonomous Driving: A Top-Down-Approach«, in: Automatisierungstechnik 63/3 (2015): 155-167, hier S. 159.

Auf dieser Grundlage kann man zwischen einer strategischen, einer taktischen und einer operationalen Ebene unterscheiden. Diese Unterteilung und die entsprechende Abbildung wurde im Kontext eines Forschungsprojekts zur Architektur selbstfahrender Autos an der TU Braunschweig entworfen.36 Die drei Ebenen entsprechend den oberen drei Zeilen. Darunter liegt die sensorische Ebene der Datensammlung. Während die strategische Ebene die Navigation des Autos zwischen zwei Orten betrifft und die operationale Ebene die Ausführung von Fahrmanövern, wird auf der taktischen Ebene das Auto in seiner Umgebung verortet und die Situation analysiert. Während auf allen Ebenen notwendigerweise Algorithmen im Spiel sind, bestehen diese auf der strategischen Ebene im Berechnen von Routen, auf der operationalen Ebene im Steuern und Manövrieren des Fahrzeugs, auf der taktischen Ebene hingegen im Erstellen einer Probabilistik virtueller Welten und der entsprechenden Handlungsoptionen. Mit den avanciertesten dieser Technologien wird das Auto also zu einer Maschine, die eher ein Roboter als ein Auto ist, aber doch als Bestandteil des Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug bleibt. Diese beiden Entwicklungslinien zusammen zu denken, ist eine der Aufgaben einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive.

2.Die Autonomie der Automaten

Die drei eingangs erläuterten Begriffe – Automobil, Autonomie und Automat – sind von einer Selbstbezüglichkeit geprägt. Ein autonomes Automobil ist als Automat mit den angedeuteten Verfahren in der Lage, die Ergebnisse der eigenen Operationen in seine fortlaufenden Prozesse einzuspeisen und die Regeln, die seine Fahrmanöver bedingen, erneut anzuwenden. Doch die Autonomie eines selbstfahrenden Autos liegt keinesfalls darin, die Regeln seines Verhaltens zu setzen, seine eigenen Zwecke hervorzubringen und die mit ihnen einhergehenden ethischen Fragen zu reflektieren. Autonomie steht hier also immer in Kontext von regelgeleitetem und reguliertem Verhalten, das keineswegs eine Autonomie im Kantischen Sinn der Selbstdetermination des Individuums umfasst. Die gesellschaftliche Akzeptanz selbstfahrender Autos hängt hingegen an der Umsetzung ethischer Kriterien, denn die Maschine entscheidet im Zweifelsfall über Leben und Tod von Menschen. In dieser Hinsicht stellt die Autonomie selbstfahrender Autos die Souveränität des Menschen in Frage, weil solche Maschinen jene Eigenmächtigkeit zu zeigen scheint, die den Menschen vor anderen Lebewesen und Dingen auszeichnen soll. Unweigerlich stellt sich also für jede Beschäftigung mit autonomen Autos die Frage, was die Rede von ihrer Autonomie und die Anwendung dieses ursprünglich politischen Begriffs bedeutet.37 Diese Frage betrifft nicht nur die technische Umsetzung, den gesellschaftlichen Status und die ethische Relevanz autonomer Autos, sondern auch ihr Verhältnis zum Menschen. Entsprechend gilt es, anhand einer Klärung der drei Begriffe Autonomie, Automobil und Automat die Souveränität der Maschine und mithin das kontrastierende Selbstverständnis des Menschen zu reflektieren, um die ethischen und juristischen Debatten konzeptuell zu erden und neue Fragen zu stellen.38

Abbildung 2: SAE-Level der Autonomie

Society of Automotive Engineers: Taxonomy and Definitions for Terms Related to Driving Automation Systems for On-Road Motor Vehicles. Standard J3016_202104, 2021.

Technisch betrachtet gibt es klare Bedingungen für den Automatisierungsgrad von Fahrzeugen. Die Society of Automotive Engineers hat fünf Stufen der Automatisierung festgelegt, die weltweit als Richtlinie dienen (Abbildung 2). Zählt man auch Servolenkungen und Bremskraftverstärker hinzu, gibt es kaum noch Fahrzeuge ohne einen Grad an Automatisierung. Die teilweise Automatisierung der Stufen 1 und 2 umfasst über die Verstärkung von Kommandos hinaus die partiale Übernahme von menschlichen Leistungen etwa durch Spurhalte- oder Abstandsassistenten, Einparkhilfen, Lichtassistenten, Müdigkeitswarner und Auffahrschutz, aber auch automatische Notrufsysteme, die nach der Auslösung eines Airbags einen Notruf mit Positionsangabe absetzen.39 Der Fahrer/die Fahrerin muss auf diesen Stufen immer die Kontrolle über das Fahrzeug behalten – auf Stufe 1 im sogenannten hands onModus, in dem er/sie das Auto ununterbrochen steuert, auf Stufe 2 im hands off-Modus, in dem das Auto kurzzeitig selbst die Steuerung oder einzelne ihrer Aspekte übernimmt, die Aufmerksamkeit des Fahrers/der Fahrerin aber konzentriert bleiben muss, etwa bei einem Tempomat oder beim selbstständigen Einparken. In der EU ist rechtlich vorgeschrieben, dass bei aktiviertem Spurhalteassistent die Hände am Lenkrad bleiben, was von den meisten Herstellern mechanisch geprüft wird.40 Aufgrund der Sicherheitsvorteile von Fahrassistenzsystemen und gesetzlicher Regelungen, die in der EU-Notrufassistenten vorschreiben, werden heute kaum noch Neuwagen verkauft, die nicht mindestens Stufe 1 entsprechen.

Ab Ebene 3, die derzeit von einer Handvoll Fahrzeugmodellen für streng definierte Situationen etwa auf Autobahnen umgesetzt wird, soll das Auto in der Lage sein, Fahrfunktionen so weit zu übernehmen, dass der Fahrer/die Fahrerin zumindest kurzzeitig unbeteiligt sein kann: eyes off. Angeboten werden heute bereits Stau-Autopiloten, die die Steuerung des Fahrzeugs in spezifischen Situationen autonom regulieren, jedoch nicht ohne Befehl die Spur wechseln können.41 Die Grundlage dafür ist ein konstantes Monitoring der Fahrzeugumgebung, der Straße und anderer Verkehrsteilnehmer:innen, um auf Veränderungen zeitkritisch reagieren zu können. Abstandshalter, die nicht nur ein Warnsignal abgeben oder bei Kollisionsgefahr bremsen, sondern den gesamten Fahrvorgang incl. Bremsen und Beschleunigen übernehmen, zählen zu dieser Stufe.

Ab Stufe 4 beginnt die hochgradige Automatisierung – minds off –, in der das Auto zwar auf den Fahrer/die Fahrerin als Instanz für kritische Situationen angewiesen ist, aber alle seine Aufgaben – Steuern, Bremsen, Beschleunigen, Signale geben etc. – eigentätig leisten kann. Auf dieser Stufe potenziert sich das bislang ungelöste Problem, dass der Fahrer/die Fahrerin seine Aufmerksamkeit in Sekundenbruchteilen fokussieren muss. Auf Stufe 5 schließlich – steering wheel optional – soll das Auto in der Lage sein, alle Situationen gänzlich ohne Fahrer:in zu meistern. Hersteller könnten dann auf Interfaces und Steuergeräte verzichten und die Gestalt des Autos radikal verändern. Waymo bietet seit 2018 einen fahrerlosen Taxidienst auf diesem Level an, allerdings nur in durch geofencing räumlich begrenzten, genau kartographierten Gebieten ausgewählter Städte der USA. 2021 hat der Deutsche Bundestag mit einem neuen Gesetz die juristischen Grundlagen für autonomes Fahren auf deutschen Straßen geschaffen.42

Die abgebildete Tafel unterschiedlicher Automatisierungsgrade und ihrer Abhängigkeit von den Fahrenden macht zwar die Komplexität ihrer Verschränktheit – hands, eyes und mind – sowie die einzelnen technischen Schritte der Delegation von Aufgaben deutlich, erklärt aber noch nicht die Bedingungen der Autonomie, die hier kategorisiert wird. Es gilt also, diesen vielschichtigen Begriff näher in den Blick zu nehmen. Die Autonomie technischer Systeme hat dem Technikphilosophen Christoph Hubig zufolge drei Dimensionen: Erstens beschreibt Hubig eine operative Autonomie, deren Freiheitsgrade in der Wahl der Mittel liegen, ohne dass die Zwecke und Ziele des Handelns ebenfalls frei wären. Ein solches System muss anhand vorgegebener Sollwerte eine Situation analysieren und kann über die Mittel zu ihrer Lösung entscheiden. Maschinen mit operativer Autonomie sind also nicht deterministisch, weil sie in der Wahl ihrer Mittel nach Maßgabe von Effizienz, Sicherheit oder Geschwindigkeit frei sind. Sie sind jedoch determiniert, weil diese Maßgaben und die Ziele, zu denen die Mittel eingesetzt werden, vorgegeben sind. Ein Tempomat, der eine definierte Geschwindigkeit umsetzt, ist demzufolge nicht operativ autonom, während Brems- und Spurhalteassistenten operativ autonom agieren können, weil sie die Situation erkennen und unterschiedliche Mittel in unterschiedlichen Graden in Abhängigkeit von variablen Umgebungsfaktoren einsetzen können. Zweitens identifiziert Hubig eine strategische Autonomie, in der nicht nur die Wahl der Mittel vom System übernommen wird, sondern auch »die Wahl von Zwecken unter den vorgegebenen Zielen, und zwar nach Maßgabe von deren Verwirklichungschancen und risiken«43. Ein derart autonomes System ist zur Planung und Durchführung von Abläufen in der Lage, weil ihm nicht nur unterschiedliche Mittel zur Verfügung stehen, sondern es auch, abhängig von vorgegeben Zielen, die optimalen Zwecke zu ihrer Erreichung auswählen kann. Ein Beispiel für strategische Autonomie ist ein Autopilot-System, das nicht nur einzelne Aspekte des Fahrens, sondern in einem gegebenen Rahmen, z.B. auf einer Autobahn, den gesamten komplexen Prozess leisten und unterschiedliche Mittel für unterschiedliche Zwecke zum Einsatz bringen kann, z.B. überholen, ausweichen oder auf der Spur bleiben. Dabei kann dem Menschen weiterhin ein Grad an Eingriffsmöglichkeiten zugesprochen werden, ohne dass das System seine strategische Autonomie verlieren würde. Drittens schließlich betrifft die moralische Autonomie die Setzung von Prinzipien und Zielen des Handelns. Ihre Anerkennung und Rechtfertigung geht über das Erkennen und Umsetzen hinaus. Hubig betont, dass bei operativer und strategischer Autonomie »dasjenige, was die handlungsförmige Aktion im eigentlichen Sinne zur Handlung macht, nämlich nicht nur die Vorstellung (Repräsentation) des Handlungsschemas, sondern die Anerkennung seiner Wert- und Zielbindung im Zuge seiner Rechtfertigung, außen vor bleibt.«44 Für semi-autonome bis hin zu fahrerlosen Autos der Stufe 5 gilt Autonomie also nur im ersten und zweiten Sinn. Damit wird deutlich, dass sie keineswegs vollständig unabhängig vom Menschen sind und die Zuschreibung von Handlungsmacht genauen Kriterien folgen sollte, weil selbstfahrende Autos in komplexe Aushandlungen von Verhaltensoptionen eingebunden sind, deren Ziele sie nicht selbst festlegen können. Ihre Autonomie ist in diesem Kontext keine intentionale Selbstsetzung eines freien Willens, sondern eine situative Handlungsfähigkeit, die das Auto in die Lage versetzt, sich adaptiv an neue Situationen anzupassen und variable Lösungen zur Umsetzung definierter Ziele zu finden.

Autonom ist ein Fahrzeug im Sinne Hubigs also nur, wenn es zwar die Mittel zur Erreichung eines Ziels frei wählen kann, dieses Ziel ihm aber ebenso von außen gegeben wird wie die Regeln der Anwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Mit dieser engen Fassung der Autonomie autonomer technischer Systeme stellen sich weitreichende Fragen über die gesellschaftliche Dimension dieser Autonomie sowie der Projektionen, die automobile Autonomie einen weitaus mächtigeren Status zusprechen als sie de facto hat.

Wie vor allem die Science and Technology Studies sowie die Mobility Studies gezeigt haben, ist die Annahme einer »vollen« Autonomie, d.h. einer gänzlichen Unabhängigkeit des Autos vom Menschen, irreführend, weil jedes im Hubig’schen Sinne autonome technische System sowohl auf menschliche Arbeit in Form von Kontrolle, Wartung und Herstellung als auch auf eine Instanz der Zielsetzung und Anerkennung von Verhaltensregeln angewiesen ist. Technische Autonomie – in allen drei von Hubig beschriebenen Dimensionen – ist stets in ein Geflecht von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren sowie Institutionen mit unterschiedlichen Interessen eingebunden, die den Rahmen festlegen, in dem etwas – in unterschiedlichen Graden – autonom agieren kann.45 Die Faszination für autonome Automaten sollte die vielfältigen Arbeitsprozesse (und Ausbeutungsverhältnisse) nicht verdecken, die ihnen zugrundeliegen: Programmieren, Rechtsprechen, Reparieren, Schweißen, Testfahren, Tanken oder Laden. Entsprechend kann man das Zusammenwirken dieser Netzwerke von Akteuren beschreiben, um zu erklären, wie Autonomie als Handlungspotential zustande kommt und von welchen Vorleistungen sie abhängt. Das Ziel insbesondere der Science and Technology Studies liegt im Nachweis, dass in den Rekonfigurationen der Mensch-Maschine-Interaktion Handlungsmacht ein Effekt der Interaktion und nicht deren Voraussetzung ist: eine »reconceptualization of autonomy and responsibility as always enacted within, rather than as being seperable from, particular human-machine configurations.«46 Es geht nicht zuletzt darum, das Narrativ der Autonomie sowie seine Imaginationen und Versprechungen zu analysieren, um zu zeigen, wie sehr die vermeintlich autonome Technologie an soziale Aushandlungen und menschliche Entscheidungen gebunden ist.47

So bedeutsam die Beschreibung dieser Verflechtungen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure auch ist, so wichtig ist es ebenfalls, jene Aspekte dieser Technologien zu beschreiben, die die Kapazitäten des Menschen unterlaufen und ihn als entscheidende Instanz in Frage stellen. Fahrassistenzsysteme sind in der Lage, Situationen zu lösen, die der Mensch aufgrund seiner sensorischen, motorischen oder kognitiven Kapazitäten nicht zu verarbeiten in der Lage ist. Sie bieten in vielen Fällen nicht nur unterstützende Hilfsleistungen für die Fahrer:innen, sondern können etwas, was dieser nicht kann. Menschliche Subjekte fahren nicht immer vorsichtig, vorausschauend und effizient. Sie haben Begehren, ein Unbewusstes und kollektive Vorstellungen. Sie reflektieren jedoch – manchmal – was sie tun. Autonome Autos überschätzen sich hingegen nicht und verfügen über eine strikte Risikoregulierung – sie fahren keine Autorennen, sind nie betrunken, schneiden niemals Radfahrer:innen und werden vor einer roten Ampel nie ungeduldig. Sie haben jedoch Schwierigkeiten, Regeln zu übertreten, um einem Rettungsfahrzeug Platz zu machen, auf Anweisungen eines Verkehrspolizisten zu reagieren oder verkleidete Menschen zu kategorisieren. Fahrassistenzsysteme reagieren schneller, sind nie abgelenkt, können Entfernungen nicht nur schätzen und machen doch Fehler. Diese Gegenüberstellung von Kapazitäten zeigt jedoch bereits die Übergänge und Friktionen, die sich aus dem Zusammenwirken von Mensch und Maschine ergeben.

Um die Auswirkungen dieser Technologien zu verstehen, ist es wichtig, sie nicht nur vom Menschen her zu denken, sondern auch in den Blick zu nehmen, wie sie dessen Fähigkeiten unterlaufen und wie Maschinen mit Maschinen interagieren. Denn auch wenn man die Gemachtheit der Autonomie unterstreicht, stellt sich die Frage nach jenen Bereichen, in denen ein autonomes Fahrzeug über die Kapazitäten menschlicher Fahrer:innen hinausgeht und Formen des Verkehrs etabliert, die nicht als Fortsetzung der herkömmlichen Erscheinungsformen erklärt werden können. Die Perspektive der Science and Technology Studies kann in diesem Sinn mit einer medienwissenschaftlichen Betrachtung der nicht vollständig autonomen, aber operationsfähigen Eigenmacht der Technik verknüpft werden. Dies betrifft insbesondere die Sensordaten und ihr Verhältnis zur Welt, die Verschränkung von Sensortechnik und Filteralgorithmen zur Virtualisierung der Fahrzeugumgebung, die Zeitlichkeit von Mikroentscheidungen und die Kommunikation von Fahrzeugen untereinander.48 Ihre Temporalität liegt weit unter der menschlichen Reaktionszeit, ihre Sensorik erfasst den menschlichen Sinnen Unzugängliches (aber auch umgekehrt), ihre motorischen Reaktionen sind effektiv und zuverlässig, ihre Navigation tadellos und in Zukunft sollen Fahrzeuge in der Lage sein, untereinander Informationen auszutauschen.

Das Unterlaufen menschlicher Kapazitäten betrifft insbesondere die Temporalität der Interaktion im Straßenverkehr, die der Grund für viele Unfälle ist – bis hin zu der Zuspitzung, dass autonome Autos noch sicherer wären, wenn sie nicht mit der Unsicherheit menschlichen Verhaltens konfrontiert wären. Die Verschränkung avancierter Sensortechnologien, leistungsfähiger Filteralgorithmen und Machine Learning, die semi-autonome und selbstfahrende Autos auszeichnet, sorgt dafür, dass sie auf eine grundlegend andere Weise als die menschliche Sinneswahrnehmung ihre Umgebung registrieren können und in ihrer zeitkritischen Adaption an Veränderungen unter der menschlichen Reaktionsschwelle bleiben. Die Effizienz von Notbremssystemen zeigt dies deutlich: Nicht selten wäre in dem Moment, in dem Fahrer:innen intervenieren könnten, der Unfall schon geschehen. Damit ist jedoch nicht impliziert, dass autonome Systeme dem Menschen schlicht überlegen sind und ihn überflüssig machen. Nicht nur rechtlich ist derzeit seine ständige Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit erforderlich, wie schwierig dies auch immer umzusetzen sein mag.49 Gerade im Hinblick auf die Beurteilung von Situationen, das vorausschauende Erkennen von Gefahren oder die Kategorisierung von Objekten ist der Mensch der Maschine (noch?) überlegen – wenn auch offensichtlich alles andere als fehlerfrei. Selbstfahrende Autos werden, das zeigen auch Hubigs Analysen, den Menschen nicht durch die Maschine ersetzen. Stattdessen gilt es, ihr neues Verhältnis als eine Verschränkung ihrer Kapazitäten zu durchdenken, ohne dabei die Produktivität und Eigenmacht der Maschine aus dem Blick zu verlieren.

Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage, was es bedeutet, dass ein autonomes Fahrzeug ›besser‹ fahren könnte als menschlicher Fahrer:innen. Mark Andrejevic hat darauf hingewiesen, dass die Annahme, ein automatisierter Prozess könne menschliche Aufgaben effektiver erledigen als ein Mensch, eine idealisierte Vorstellung der optimalen Durchführung dieser Aufgabe impliziert. Dieses Optimum wiederum erscheint als grundsätzlich unerreichbar. Die Annahme, dass der Mensch durch die technische Überwindung seiner Schwächen optimierbar wäre, bedeutet Andrejevic zufolge nicht nur die Ineinssetzung eines Idealbilds des Menschen mit der Maschine, sondern auch eine Antizipation der »automation of subjectivity«50, weil Subjektivität unter diesen Vorzeichen nur noch anhand der Maschine gedacht werden könne. Dies gilt, wie Andrejevic zeigt, für unterschiedliche Anwendungsgebiete vom high frequency trading über predictive policing bis hin zu Gesundheitsalgorithmen. Am autonomen Fahren wird besonders deutlich, dass unter diesen Prämissen menschliches Verhalten als von »uncertainty, unpredictability, inconsistency, or resistance«51 geprägt erscheint und, so die Behauptung, allein durch technische Optimierung beherrschbar gemacht werden kann. Als Fehlerquelle für die »systems of control, management and governance«52 kann menschliches Verhalten, so das Versprechen, durch Automatisierung effektiv ausgeschaltet werden. Der Automat erscheint damit als das Gegenteil des Menschen oder vielmehr als seine Optimalform: sicher, vorhersagbar, konsistent und fügsam. Der Mensch hingegen kann in diesem Kontrast nur noch als das Gegenteil und somit als Risiko erscheinen. Doch ein genauer Blick auf die Verschränkungen von Mensch und Maschine sowie auf deren Eigenmacht führt die Komplexität der Autonomie von Automaten vor. Die mit der Automatisierung des Straßenverkehrs einhergehenden eigenen Formen von Gewalt, Unfällen und Störungen lassen die gekoppelte Idealfigur von Mensch und Maschine fragwürdig erscheinen. Will man also das Verhältnis von Mensch und Maschine reflektieren, gilt es, sie nicht nur gegen- oder füreinander aufzurechnen, sondern die neuen Effekte hervorzuheben, die aus ihrem Zusammentreffen resultieren.

In einer Wendung dieses Gedankens haben Robert Sparrow und Mark Howard darauf hingewiesen, dass in dem Moment, in dem autonome Autos sicherer fahren als Menschen, das Fahren eines Autos durch Menschen – zunächst für Fahrzeuge mit Autopilot, dann für alle Fahrzeuge – aufgrund des nunmehr zu hohen Risikos verboten werden müsste, auch wenn dieses Risiko gegenwärtig gesellschaftlich akzeptiert wird.53 Würden menschliche Fahrer:innen in einem autonomen Auto bei manueller Steuerung einen Unfall verursachen, so wäre dies fahrlässig und entsprechend zu ahnden. Parallel würde der Druck wachsen, manuell gesteuerte Fahrzeuge ganz abzuschaffen – abgesehen davon, dass manuelle Fahrzeuge höhere Versicherungs- und Mietkosten haben würden, wenn ihre Unfallquote höher liegt als die autonomer Autos. Entsprechend arbeiten Sparrow und Howard die Implikationen des ethischen Imperativs heraus, die größtmögliche Verkehrssicherheit durch Umgehung des Menschen zu garantieren.

Die bis hierhin erläuterten Perspektiven stimmen darin überein, die Autonomie eines autonomen Fahrzeugs nicht auf eine dem Bewusstsein gleichzusetzende Instanz zurückzuführen. Das Auto ist also kein anthropomorpher Roboter mit einem Elektronengehirn seine Agency beruht vielmehr auf der Verteilung von Kapazitäten auf unterschiedliche Systeme, der Interaktion mit der menschlichen und nicht-menschlichen Umgebung sowie der Verschaltung dieser distribuierten Elemente von Handlungsmacht. In diesem Sinn kann auf Katherine Hayles’ Beschreibung komplexer technischer Systeme als »cognitive assemblages« zurückgegriffen werden.54 Autonome Autos erscheinen dann als verteilte Systeme aus technischen und menschlichen Akteuren, deren Zusammenwirken kognitive Kapazitäten herausbildet. Mit diesem Ansatz gelingt es Hayles, die nicht-menschliche Zeitlichkeit ihrer Operationen als Grundlage einer Form der Kognition zu erfassen, die nicht über Bewusstsein läuft, sondern in einer »functionality by which parts connect«55 besteht. Die Möglichkeit technischer Autonomie besteht für Hayles darin, kognitive Kapazitäten auf eine Vielfalt von technischen wie organischen Instanzen zu verteilen und so eine distribuierte Handlungsmacht hervorzubringen, die nicht auf eine letzte Instanz des Bewusstseins zurückgerechnet werden kann, sondern aus dem Zusammenspiel heterogener Elemente entsteht. Autonomie ist in diesem Kontext ein Effekt des orchestrierten Zusammenwirkens verteilter Systeme. Ein autonomes Auto agiert und reagiert nie als Einheit, sondern durch das Zusammenwirken einer Vielfalt technischer Subsysteme, der Infrastrukturen der Straße sowie der Menschen in- und außerhalb des Fahrzeugs.56 Aufgaben und Entscheidungskompetenzen sind auf unterschiedliche Akteure verteilt, die gemeinsam eine »cognitive assemblage« bilden. Hayles liefert so eine Beschreibungssprache, um die nicht-bewusste Kognition technischer Systeme zu beschreiben, die nicht einfach Daten verarbeiten, sondern erst durch ihre kognitiven Kapazitäten jene Agency und Autonomie erlangen, die es ihnen ermöglicht, mit ihrer Umgebung und den in ihr enthaltenen Kontingenzen zu interagieren.

Autonomie ist auf allen fünf erläuterten Stufen eng an die Fähigkeit gebunden, sich in einer unvorhersagbaren, dynamischen und komplexen Umgebung zu orientieren, zu bewegen und auf Veränderungen zu reagieren. Um operational und strategisch autonom zu agieren, muss ein Fahrzeug in der Lage sein, zeitkritisch zu erkennen, was um es herum geschieht. Während die medienhistorische Verortung dieser Umweltlichkeit autonomer Fahrzeuge an anderer Stelle im Kontext einer kurzen Geschichte autonomer Fahrzeuge bereits näher beschrieben wurde,57 ist es an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass im Wechselverhältnis von Fahrzeug und Umgebung eine weitere Form der Autonomie liegt, die mit den von Hubig erläuterten Formen nicht vollständig erfasst ist. Diese Autonomie ist nicht ohne Heteronomie zu denken und liegt in einem Verhältnis der gleichzeitigen Un/Abhängigkeit, das man als ›ökologische Relation‹ beschreiben kann. Unter diesem Stichwort fasst der Systemtheoretiker Edgar Morin die gleichzeitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit komplexer Systeme von ihrer Umgebung.58 Die Autonomie von Organismen wird, so Morin mit Bezug auf den Physiologen Claude Bernard, durch ihre Abhängigkeit von der Umgebung konstituiert. Als lebende und damit sterbende, also entropische Wesen sind Organismen auf Energiezuflüsse aus ihrer Umgebung angewiesen, um ihre Organisation aufrechtzuerhalten und sich von dieser Umgebung zu lösen. Weil sie unabhängig sind, sind sie von ihrer Umgebung abhängig. Um unabhängiger zu werden, ist der Zufluss von Energie nötig, was die Abhängigkeit steigert. Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Autonomie und Heteronomie bilden für Morin keine Dichotomie, sondern sind operational miteinander verschränkt. Autonomie ist, wie Morin betont, nicht substantiell zu verstehen, sondern relativ und damit relational.59 Diese Relation gilt, wie Morin andeutet, auch für komplexe technische Systeme: desto autonomer ein selbstfahrendes Auto ist, desto komplexer werden seine Verschränkungen mit der Umgebung, denn es benötigt neben dem Energiezufluss immer mehr Information über deren Gegebenheiten und muss auf immer mehr Faktoren reagieren. Hebt man in diesem Sinn die gleichzeitige Un-/Abhängigkeit eines autonomen Fahrzeugs von seiner Umgebung hervor, wird deutlich, dass seine Autonomie auf seiner Verschränktheit und Wechselwirkung mit der Umgebung, eben auf ihrer ökologischen Relation beruht. Selbstfahrende Autos sind in diesem Sinn operativ und strategisch autonome Umgebungstechnologien, weil sie durch die Kombination von Sensorik und Filteralgorithmen virtuelle Umgebungsmodelle erzeugen, an die sie sich adaptieren, indem sie sich bewegen und mit ihnen interagieren.

3.Menschen und Maschinen

Die wohl fundamentalste Veränderung, die mit der Automatisierung des Straßenverkehrs einhergeht, betrifft das Verhältnis von Mensch und Maschine. Damit ist nicht nur die angedeutete Neuverteilung von Handlungsmacht in einem Geflecht menschlicher und technischer Akteure gemeint – dass Autos also Aufgaben von Menschen übernehmen –, sondern auch eine Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses: Wenn autonome Autos eigenständig agieren, (Mikro)Entscheidungen treffen und dabei unter Umständen präziser und schneller als Menschen operieren, während sie über das Leben von Menschen bestimmen, wird es notwendig, über ihre Souveränität zu diskutieren. Diese Herausforderung geht über juristische und ethische Debatten hinaus, weil sie das Selbstverständnis des Menschen im Wechselspiel mit der Technik betrifft. Autonome Autos können in diesem Sinn nicht länger als passive Instrumente verstanden werden, die von Menschen zu bestimmten Zwecken verwendet werden. Zugleich sind sie jedoch nicht so autonom, dass sie gänzlich unabhängig von Menschen operieren können. Sie müssen weiterhin gebaut, programmiert und repariert werden. In dieser Spannung liegt die Faszinationskraft solcher Maschinen, aber auch die Notwendigkeit, ihren Einfluss zu verstehen. Und dies wiederum führt zu einer Auseinandersetzung mit unserem Verständnis von Technik, das die Medien- und Kulturwissenschaften auf den Plan ruft.

Das Zusammentreffen von Menschen ist stets von der Kontingenz geprägt, dass die Folgehandlungen nicht feststehen und die Intentionen des Gegenübers unbekannt sind. Dem Straßenverkehr sind in dieser Hinsicht eine »hohe Interaktionsdichte und eingeschränkte Interpretations- und Korrekturmöglichkeiten«60 eigen, die in der Notwendigkeit resultiert, jene Mehrdeutigkeiten zu reduzieren, die das Aufeinandertreffen von Menschen notwendigerweise mit sich bringt. Für ein autonomes Fahrzeug birgt dies gänzlich andere Herausforderungen als für einen Menschen.61 Sie bestehen in einem sicheren Umgang einerseits mit der Unsicherheit des autonomen Systems über sein environment sowie andererseits mit der Unvorhersagbarkeit des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer:innen. Sicherheit im Umgang mit dieser doppelten Unsicherheit (des Systems über seinen eigenen Zustand wie der Umgebung) ist eine zentrale Komponente der Autonomie des Fahrzeugs. Diese Kontingenz unterscheidet die Herausforderungen des Straßenverkehrs vom Einsatz autonomer Fahrzeuge etwa in der Raumfahrt, im Bergbau oder in der Landwirtschaft

Stellen wir uns unter der Prämisse der Verkehrstauglichkeit selbstfahrender Autos als Beispiel eine alltägliche Verkehrssituation vor, d.h. eine Mensch-Maschine-Interaktion unter dem Vorzeichen der Kontingenz: Ein Passant möchte einen Zebrastreifen überqueren, dem sich ein fahrerloses Fahrzeug nähert. In dieser Situation treffen nicht zwei Menschen mit unterschiedlicher technischer Ausstattung, sondern Mensch und Maschine zusammen.

Nehmen wir an, es ist dunkel und der Passant kann nicht erkennen, ob das Fahrzeug fahrerlos ist oder nicht. Er bleibt also kurz an der Bordsteinkante stehen und beobachtet das Auto, um zu erkennen, ob es ihm Vortritt gewährt. Die Unsicherheit darüber, ob es sich um ein autonomes Auto handelt oder nicht, erzwingt besondere Aufmerksamkeit auf die Interaktion mit dem Fahrzeug. Dessen algorithmisches Regelwerk ist so programmiert, dass Fußgänger:innen immer Priorität zugesprochen wird. Es erkennt den Zebrastreifen und registriert, dass auf dem Bürgersteig eine Person steht, die in Richtung der Fahrbahn blickt. Bereits dieser Akt ist, dies demonstriert der Beitrag von Tobias Matzner, technisch höchst voraussetzungsvoll und beinhaltet eine Vielzahl von Verarbeitungsprozessen: Je nach sensorischer Ausstattung wird die Person mit ihrer Umgebung von optischen Kameras, Laser, Sonar oder von einem Lidar-Modul (Light Detection and Ranging) gescannt.62 Diese Daten werden an einen Erkennungsalgorithmus übergeben, der durch Machine Learning anhand von Millionen ähnlicher Bilder gelernt hat, einen Menschen am Straßenrand zu identifizieren63. Das Auto muss den Menschen von einem Verkehrsschild oder einer Mülltonne unterscheiden, was, wie Stefan Riegers Beitrag zeigt, nicht immer gelingt. Unter Umständen muss es Gehhilfen oder Rollstühle identifizieren und besonders bei Kindern (aber nicht nur bei ihnen) auf erratisches Verhalten vorbereitet sein. Welche weiteren Erkennungsmerkmale es kategorisiert – Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Kleidung, Haltung – hängt von seiner Programmierung und der Sensorik ab, die Lichtreflexionen von Hautfarben unterschiedlich aufnimmt und entsprechend alles andere als neutral ist.64 Dieser Akt der Registrierung ist keineswegs trivial, sondern eng verbunden mit der Fähigkeit des Fahrzeugs, die Person bei Bewegungen zu tracken und bei kurzzeitigen Sichthindernissen als identisch zu identifizieren – ein überaus komplexer Vorgang, denn das Auto verfügt nur über sensorische Daten und vorprogrammierte bzw. durch Machine Learning erworbene Kategorien.

In diesem Kontext werden die vielen Herausforderungen deutlich, die menschliches Verhalten an autonome Systeme stellt und für die es derzeit noch keine Lösungen gibt: Wie soll ein autonomes Auto auf gestische oder gar mündliche Anweisungen von Verkehrspolizist:innen oder auf einen Krankenwagen reagieren? Kann es eine Rettungsgasse bilden? Was soll ein leeres autonomes Auto im Fall eines nicht selbst verschuldeten Auffahrunfalls tun, wenn der Unfallgegner/die Unfallgegnerin Fahrerflucht begeht? Wie reagieren autonome Fahrzeuge auf Versuche, sie durch gefälschte Verkehrsschilder bewusst zu täuschen?65 Wie soll das Auto reagieren, wenn Tempo 100 erlaubt ist, alle anderen Fahrzeuge aber 130 km/h fahren und es situativ sicherer wäre, die Regel zu übertreten, um im Verkehrsfluss zu bleiben? Wie verhält sich ein autonomes Auto bei einspurigen Fahrbahnen an Baustellen?66 Wie reagiert das Fahrzeug, wenn an Halloween oder an Karneval Menschen als Verkehrsschilder oder Mülltonnen verkleidet an der Straße stehen? Die Einsatzgebiete für Machine Learning sind für solche komplexen Aufgaben derzeit beschränkt und es ist fraglich, ob es jemals möglich sein wird, die Kontingenzen der Interaktion an Orten, an denen keine Ampeln oder Zebrastreifen den Verkehr regeln, handhabbar zu machen.

Selbst wenn es dem Auto in der vorgestellten Situation gelingt, den Passanten als wartenden Menschen an einer zum Übergang vorgesehenen Position zu identifizieren, ist damit über dessen Intentionen oder sein zukünftiges Verhalten noch nichts gesagt. Zwischen der Identifizierung der Umrisse einer Person und der Einleitung entsprechender Reaktionen liegt für das Auto der Entwurf von Szenarien möglichen Verhaltens und unterschiedlicher Wahrscheinlichkeiten. Seine Handlung ist nicht aus einem Guss, sondern kann gemäß seiner technischen Systeme grob in die vier erläuterten Schritte Perception, Prediction, Planning und Action unterteilt werden. Was dem Passanten als Auftakt einer Interaktion erscheint, ist für das Auto ein komplexer Vorgang des Datenabgleichs, der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, der Prognose von Verhalten und schließlich der motorischen Umsetzung. Die Subsysteme des Fahrzeugs müssen so zusammenwirken, dass es auf die Handlungen des Passanten kurzfristig reagieren kann, ohne dessen Intentionen deuten zu können. Das Auto sollte in jedem Fall bereit sein, auf unerwartete Handlungen der Person so zu reagieren, dass diese auch dann nicht zu Schaden kommt, wenn die Gefährdung selbstverschuldet ist. Für das Auto ist die Person in jedem Fall ein Hindernis, dessen Verhalten die nächsten Aktionen festlegt. Es kann keinen Menschen als Subjekt mit unvorhersehbaren Intentionen wahrnehmen, sondern nur als Element einer Klasse von Objekten registrieren, die über einen hohen Kontingenzgrad zukünftiger Bewegungen verfügen.

Nehmen wir an, das Fahrzeug erkennt den Zebrastreifen und schließt aus der Haltung der Person, dass sie diesen überqueren will. Es verlangsamt also seine Geschwindigkeit – denkbar wäre auch ein optisches oder akustisches Signal für den Passanten67 – und wartet auf eine Reaktion der Person. Wenn diese so reagiert wie vom Auto prognostiziert und die Straße betritt, wartet das Fahrzeug und nimmt erst Fahrt auf, wenn die Person die Straße verlassen hat. Wenn sie nicht so reagiert wie kalkuliert und beispielsweise trotz des Stoppens des Autos ebenfalls stehenbleibt, steigt die zu kalkulierende Unsicherheit: Kann sich das Auto darauf verlassen, dass die Person auch dann stehenbleibt, wenn es anfährt? Oder soll es noch einen Moment warten?

Das Slapstick-Potential dieser Situation sich aufschaukelnder Unsicherheit durch Kontingenzmaximierung ist kein Zufall: Als Filmgenre reflektiert Slapstick, wie Dinge geschehen und macht aus ihrer Mechanik einen Witz, indem die vermeintlich toten Dinge mit der Lebendigkeit des Menschen kontrastiert werden und beides ineinander übergeht. Etwa bei Buster Keaton oder Charlie Chaplin stellt Slapstick Dinge so dar, dass wir nicht entscheiden können, ob sie lebendig und beseelt oder tot und mechanisch sind. Im Herzen des Slapsticks findet ein Kampf mit den Objekten statt, der sich mit autonomen Autos an jeder Kreuzung wiederholen kann. Solche Begegnungen sind die Essenz des Slapstick: Die Verlebendigung der Dinge und die Mechanisierung des Lebendigen greifen ineinander über. Die Unheimlichkeit und Faszination autonomer Autos liegt nicht zuletzt in dieser Ununterscheidbarkeit, die vom Potential des technischen Objekts begleitet wird, die Fähigkeiten des Menschen zu übertreffen und in Zeiten zu reagieren, die Menschen unzugänglich sind.

Der ›Verlebendigung‹ des Autos in der imaginierten Szene liegt eine enge Verknüpfung von Sensorik, Datenverarbeitung, Entscheidungskalkülen und Motorik zugrunde, welche die Interaktion des Autos mit dem Passanten ermöglicht. Das beschriebene Geschehen ist nicht nur technisch überaus voraussetzungsvoll: vorausgesetzt werden die Kenntnis der Verkehrsregeln und die Absicht, sie einzuhalten, vorausgesetzt wird die zuverlässige Registrierung der Umgebung durch beide Interaktionspartner, vorausgesetzt werden auf beiden Seiten die Intentionen des jeweiligen Gegenübers, vorausgesetzt wird aber auch, dass das Gegenüber die eigenen Intentionen erkannt hat. Die unterschiedlichen technischen Systeme des Fahrzeugs – Sensorik, Algorithmen, Motorik – müssen aufs Engste verknüpft sein, um diese Voraussetzungen zu erfüllen. Dass der Passant warten muss, um nicht angefahren zu werden, setzt seine Unterordnung unter die Maschine voraus, deren Dominanz als gegeben genommen wird. Er ist und bleibt ein Hindernis. Selbst wenn autonome Autos noch so vorsichtig und rücksichtsvoll programmiert sind, wird sich an diesem basalen Machtgefälle nichts ändern. Selbst wenn autonome Autos also das Mensch-Maschine-Verhältnis im Straßenverkehr fundamental verändern sollten, haben sie Teil an jener Gewalt, die den Infrastrukturen des Verkehrs inhärent ist.

4.Die Dispositive der Mobilität und ihre Transformationen

Die Dispositive der Mobilität, deren Zentrum das Auto bildet, sind derzeit massiven Transformationen ausgesetzt, die Auswirkungen auf zahlreiche Formen des menschlichen Zusammenlebens haben.68 Ein Dispositiv ist im Sinne Michel Foucaults ein »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.«69 In einem Dispositiv greifen heterogene Elemente ineinander und bilden gemeinsam eine Struktur, die Erfahrungen produziert und Subjekte formt. In einem Dispositiv sind technische Veränderungen stets an ästhetische, psychosoziale und politische Veränderungen gebunden. Versteht man Mobilität als ein Dispositiv, muss man die unterschiedlichen Techniken, die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendig sind, die durch sie ermöglichte Verteilung von Körpern im Raum und in der Zeit sowie die damit verbundenen Begehren zusammendenken. Damit ergänzen die Dispositive der Mobilität das von Urry und Sheller beschriebene System der Automobilität konzeptuell. Während mit letzterem der sich selbst verstärkende und eigene Ordnungen herausbildende Komplex aus Ökonomie, Ökologie, Psychologie, Technik, Konsum, Mobilität und Symbolik gemeint ist, liegt der Vorteil des Begriffs Dispositiv darin, keine direkten kausalen Abhängigkeiten zu implizieren – etwa, dass das Auto monokausal den Bau von Infrastrukturen erzwingt. Vielmehr benennt er ein Gefüge aus Dispositionen, die sich wechselseitig bedingen und als Struktur der Subjektivierung verstanden werden können.

Der Begriff des Dispositivs ist an dieser Stelle besonders geeignet, weil er keinen Mechanismus der Kontrolle oder der Repräsentation bezeichnet, sondern ein Instrument der Anordnung und Bewegung von Körpern – in den Worten Georges Canguilhems eine »Konfiguration fester Körper in Bewegung, die so beschaffen ist, dass die Bewegung die Konfiguration nicht zerstört.«70 Eben diese Anordnung oder vielmehr die Ordnung der Anordnung verschiebt sich derzeit. Mit der Automatisierung und Autonomisierung des Verkehrs, der Etablierung von elaborierten Fahrassistenzsystemen und der voranschreitenden Entwicklung selbstfahrender Autos stehen nicht nur die Verhältnisse menschlicher und nicht-menschlicher Verkehrsteilnehmer:innen sowie die ethischen und juristischen Grundlagen des Straßenverkehrs in Frage, sondern auch die Bedingungen des Umgangs miteinander und die Grenzen des öffentlichen Raums. Die Dispositive der Mobilität umfassen weitaus mehr als die Strategien und Technologien der Bewegung zwischen zwei Orten: Es geht darum, wie Menschen mit Menschen oder mit Dingen zusammentreffen oder sich nicht begegnen und wie dabei Menschen zu sich bewegenden oder bewegten Subjekten werden. Verkehr ist Kultur, weil die Dispositive der Mobilität darüber bestimmen, was sich wo befindet und welche Wege nimmt, wer welche Transportmittel verwendet, wer aufeinandertrifft und wer nicht, wer ankommt und wer nicht und welche Wege zum Ziel führen. Deshalb ist Verkehr immer ein Machtverhältnis, das nicht von einer den Infrastrukturen inhärenten Gewalt zu trennen ist – jährlich 1,3 Millionen Verkehrstote weltweit zeugen davon. Veränderungen der Technologien und Medien des Verkehrs verändern die Reichweite und Freiheit unserer Bewegungen und mithin das, was wir tun können.71 Mobilität ist die Grundlage der Netzwerke, die Menschen und Dinge eingehen.72 Wenn sich die Formen der Fortbewegung für Milliarden von Menschen derart grundlegend ändern, dann sind damit zahlreiche gesellschaftliche, kulturelle und soziale Herausforderungen verbunden.

Die voranschreitende Automatisierung des Straßenverkehrs erfordert, die Infrastrukturen der Fortbewegung, die Temporalität maschinischer Autonomie, die neuen sensorisch-algorithmischen Kapazitäten, die Produktivität von Big Data und Machine Learning sowie die Interfaces der Steuerung ebenso in den Blick nehmen wie die Transformationen der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Repräsentationen, die Verkehr inhärent sind. Diese beeinflussen auch die Aufteilung des öffentlichen Raums, geschlechtliche, ethnische sowie soziale Segregation und damit die Möglichkeiten von Teilhabe. Traditionsreiche Begriffe unseres Selbstverständnisses wie Sicherheit, Geschwindigkeit, Entscheidung, Unfall oder eben Automobil, Autonomie und Automation stehen unter diesen Vorzeichen zur Debatte. Den Horizont dieser Auseinandersetzungen bildet der Bedeutungswandel eines zentralen Objekts des Begehrens in westlich geprägten Industriegesellschaften: des Autos. Im Folgenden sollen einige der vielfältigen Dimensionen dieser Veränderung der Voraussetzungen menschlicher Fortbewegung angedeutet werden, um einen Überblick über die kultur- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen zu geben, die daraus resultieren.

4.1Ökonomien der Energie

Der Verbrennungsmotor und die Ausbeutung fossiler Energien – zusammengefasst unter dem Stichwort Petrocultures73– geraten trotz steigender Förderquoten zunehmend unter Druck, weil die Herausforderungen des Anthropozäns und des Klimawandels ein neues Durchdenken dessen erzwingen, was Verkehr heißt. Zwar steigen der Verbrauch und die Anzahl der Fahrzeuge weltweit kontinuierlich an, doch ist ein Rechtfertigungsvakuum für das Verbrennen fossiler Rohstoffe mit einer Petrochemie »maximaler molekularer Kontrolle«74 entstanden. In der Konsequenz steht die Ineinssetzung von gesteigerter Mobilität und Wirtschaftswachstum in Frage. Die Überfüllung von Städten mit Autos senkt deren Gebrauchswert. Außer Flugzeugen und Containerschiffen benötigt kein anderes technisches Objekt derartige Mengen an Ressourcen wie das Auto. Noch vor jedem Tropfen Benzin oder Diesel entsprechen einem durchschnittlichen Fahrzeug statistisch 200 Quadratmeter Asphalt. Zu seiner Herstellung werden schon vor der ersten Fahrt durchschnittlich 45 Tonnen CO2, 680 Kilogramm Stahl, 230 Kilogramm Eisen, 90 Kilogramm Plastik, 45 Kilogramm Gummi und 45 Kilogramm Aluminium gebraucht.75